Hans Bethge
Der gelbe Kater
Hans Bethge

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Der graue Jens

Nordwestlich von der grösseren Hallig Pellworm liegt die kleine Hallig Hooge. Wir sassen an einem nebeligen Septembernachmittag in dem Hause des Fischers Claas Brodersen, der der bejahrteste Mann auf Hooge und zugleich Vorstand der Insel ist, beim Grog. Das graue, von Regen und stürmischen Fluten verwaschene Haus Claas Brodersens liegt auf einer breiten Werft, die das gleiche ehrwürdige Alter wie das Gebäude hat, und macht aus einiger Entfernung, wenn der Nebel geht, mit seinem spitzen Giebel, über dem sich zwei weit hervorspringende heidnische Pferdeköpfe kreuzen, den Eindruck einer verwetterten Burg aus längst gelebten Zeiten. Ich war am vorhergehenden Tage über Pellworm her von Sylt heruntergekommen, um mit Claas während etwa einer Woche auf Enten und Seehunde zu jagen. Der alte Tim Nickelsen in Munkmarsch auf Sylt, weit herum als einer der besten Seehundsjäger bekannt, hatte mich an seinen gleichalterigen Freund und einstigen Schiffsgenossen auf Hooge empfohlen, und so befand ich mich, in herzlicher Weise aufgenommen, gleich seit der ersten Stunde auf Hooge wie ein vertrauter Freund in dem gastlichen Hause des Claas.

Wir hatten weder gestern noch heute an einen Jagdausflug denken können, denn der Nebel, in dem ich schon von Pellworm herübergekommen war, hatte sich noch nicht zerstreut, und Claas meinte, es sei auch gar nicht zu sagen, 81 wie lange er uns noch einhüllen und zur Untätigkeit verurteilen werde. Wir konnten durch die niedrigen Fenster, die aus endlosen kleinen, grünlichen Scheiben zusammengesetzt und von schneeweissen Gardinentüchern eingerahmt waren, nicht allzu weit in die Ferne blicken. Man erkannte nichts klar, und die Dimensionen waren verschoben. Ich sah die kahle Werft hinab, dann auf ein kurzes Stück graues Haideland, über das jetzt dichtere, jetzt leichtere Schleier trieben, und wo einige Schafe angepflöckt waren und regungslos, mit geneigten Schädeln, stumpf- oder tiefsinnig (wer weiss das) dastanden, als schliefen sie schon so in Verzauberung seit tausend Jahren oder mehr. Dann hinter der Haide kam die seltsam zerfressene und zerbröckelte Küste, die in ihren Einzelrissen nur noch schlecht zu unterscheiden war, und darauf das düstere, bleiige Meer, aus dem sich die undurchdringliche, ewig wogende und sich verschiebende, bald weiter nach vorn, bald weiter rückwärts tretende Nebelwand zum Himmel erhob. Wind ging fast gar nicht, aber es war empfindlich kalt draussen. In Claasens Stube brannte der alte Delfter Kachelofen, von dessen weissem Grunde sich unzählige blaue Holländer Windmühlen in etwas verschwommenen Konturen abhoben, und für die innere Wärme sorgte der Grog aus altem Rum, der dampfend vor uns auf dem blank gescheuerten Eschentisch stand. Ausser Claas und mir befand sich noch die greise Gemahlin des Fischers im Zimmer, ein kleines, zusammengeschnurrtes Frauchen mit blassblauen Friesenaugen. Sie sass vor dem Ofen und besserte an einem Netz herum, und an ihre Füsse schmiegte sich eine graue Tigerkatze, die hin und wieder ein behagliches Schnurren hören liess. Sonst war an Geräuschen nur noch das 82 eintönige Ticktacken der riesigen Wanduhr im Zimmer, deren breites, kostbares Gehäuse von den Dielen bis zur Decke emporreichte, mit sehr schönen Messingbeschlägen und Schnitzereien versehen, ein wirkliches Kunstwerk in ihrer altertümlichen Art.

Wir redeten wenig, denn wir befanden uns in einem Friesenhause. Das Neue, das ich von der Welt, die draussen liegt, erzählte, fand wenig Verständnis und wenig Interesse. Die beiden Alten hörten ihm schweigend zu, ohne zu wissen, was sie darauf zu antworten hatten, denn diese fernen Dinge hatten sie nie oder doch nur selten und flüchtig bewegt, so dass sie nicht gut imstande waren, eine Stellung zu ihnen einzunehmen.

Wenn wir aber aufs Wetter zu sprechen kamen, was in dieser Lage das nächste war und in jeder halben Stunde mindestens einmal geschah, so sagten sie das Ihrige, und ich durfte sicher sein, mich auf ihre wenig tröstlichen Worte verlassen zu können. Sie erzählten gelegentlich von anderen Wettern, von Stürmen und furchtbaren Fluten, die sie in ihrem langen Leben erfahren hatten, und wussten davon vieles Anziehende und Tieftraurige zu berichten.

So schlich der Nachmittag hin, düster und in einem einzigen, schweren, grauen Ton. Das schlammige Meeresbecken, das bis vor einigen Stunden in tiefer Ebbe gelegen hatte, so dass das Wasser ganz verschwunden und nach Westen hinausgetreten war, füllte sich allmählich wieder mit der schmutzigen, grau schäumenden Flut, die, ohne dass man es merkte, von Minute zu Minute kraftvoll stieg und langsam, aber unerbittlich einen Brocken nach dem andern von der wunden Küste der Insel in sich hineinfrass und so allmählich 83 Jahrhunderte oder Jahrtausende hindurch ein langsames, aber überaus sicheres Zerstörungswerk vollendete. Die dumpfen Klänge der draussen an die Küste schlagenden Wasser wurden lauter und nachdrücklicher. Aber der Nebel, der sich drohend emportürmte, wich und wankte nicht.

Claas Brodersen rauchte aus einer kurzen Tonpfeife und hatte zu gleicher Zeit ein Stück Priem in der Backe. Wir hatten uns wieder einmal eine geraume Zeit ausgeschwiegen, als Claas, indem er die Pfeife ausklopfte und sich eben anschickte, sie aus dem rotbraunen Tabaksbeutel von Juchtenleder aufs neue zu füllen, fragte:

»Seid Ihr gestern das erste Mal auf Pellworm gewesen, Herr?«

»Ja,« entgegnete ich »ich habe es freilich schon früher einige Male liegen sehen, wenn ich von Husum durch die Inseln nach Amrum oder Föhr hinausfuhr, aber genauer konnte ich doch immer nur den Kirchturm und die Mühlen unterscheiden. Wie man mir sagt, ist es ein reiches Stück Land.«

»Es giebt manchen reichen Mann dort, o ja. Aber auch manchen, den wir auf Hooge nicht haben möchten.«

Und nach einer Weile, da wir wieder geschwiegen hatten:

»Wie lange habt Ihr gestern gebraucht herüber?«

»Wenn ich nicht irre, sind es gerade zwei Stunden gewesen.«

»Das ist nicht viel bei dem Wetter. Das kleine Boot von dem Kröger ist man spack.«

»Sie bringen mich auf etwas, Claas,« sagte ich »was ich wohl schon früher hätte fragen sollen. Da ich nun an unsere trübe Fahrt zurückdenke, sehe ich auch wieder das 84 Sonderbare, das in unserem Boote sass. Wir hatten einen Mann am Steuer, der war stumm wie ein Fisch.«

»Wenn Ihr zu ihm sprachet, so antwortete er Euch nicht, sondern lächelte bloss wie ein Kind.«

»Ich habe nie etwas zu ihm gesprochen, ich weiss nicht warum. Wohl weil er so wenig wirklich war und mir, ohne dass ich es selber wusste und weiter darüber nachdachte, nur wie ein Traum erschien, der da hinten am Steuer hockte. Auch der Andere, der das Segel regirte, sprach nichts zu ihm, freilich mit mir nicht viel mehr.«

»Der Junge am Segel war der Sohn des Kröger und heisst Knut.«

Da liess sich die alte Mutter am Ofen vernehmen und piepte:

»Der Lange am Steuer war der graue Jens.«

»Was ist es mit ihm?« fragte ich.

»Das will ich Euch sagen,« sprach Claas »das heisst, das Wenige, das wir selber von ihm wissen. Das Viele, das wir nicht wissen und das in ihm wohnt, ohne dass es von den Menschen gedeutet werden kann, werdet Ihr so wenig wie wir jemals erfahren.

Der Jens stammt nicht von Hooge. Er ist auf Südfall, das im Südosten von Pellworm liegt, geboren und ist das einzige Kind seiner Eltern, die Grosses mit ihm vorhatten, denn sie waren durch eine Erbschaft reich geworden und wollten nun weit nach oben hinaus. Noch ehe das Kind geboren war, sagt man, schmiedeten sie schon die Pläne seines Lebens und zeichneten sich die Wege vor, die sie ihn führen wollten. Er sollte ein Studirter werden, ein Pfarrer, der später von Pellworm aus wie ein kleiner König 85 über die Seelen der Halligleute regiren sollte, und dann sollte es heissen, dass die Eltern dieses hohen Mannes auf Südfall sässen, Ole Bradelup und sein Weib Mauke, und wenn sie nach Pellworm hinüber zum Kirchgang kämen, so würde man sich heimlich in die Seiten stossen und flüstern:

›Seht, diese haben ihn als ihren Sohn.‹

Es ist anders gekommen, Herr. Das Kind wurde geboren, aber es war ein hageres Wesen, das wollte nicht schreien lernen. Es hatte müde, wässerige Augen, in denen es ewig wie eine Klage lag, und das Körperchen war verhutzelt und krumm. Die zarten, blassen Fingerchen waren still und wollten nach nichts zu greifen sich bequemen, selbst wenn es goldene und silberne Bänder waren, die man ihnen vorhielt. Kaum dass das Wurm die Brust der Mutter nahm und manchmal lächelte, wenn es die Sonnenstrahlen kitzelten; aber selbst dieses Lächeln war ein so sonderbares, verquiemtes, dass es eigentlich kaum als ein richtiges Lächeln gelten konnte.

Die Eltern merkten bald, dass sie ihre Träume und Hoffnungen zu Grabe tragen mussten. Das war kein zukünftiger Studirter, den ihnen der Himmel da geschenkt hatte, sondern bloss ein müdes, unglückliches Geschöpf, das lieber nicht geboren worden wäre. Sie hofften auf einen zukünftigen Segen, aber der blieb aus. So mussten sie sich mit dieser trüben Gabe des Himmels begnügen und schütteten alle ihre Liebe auf sie aus. Das Kind wurde gepflegt und besorgt, wie man es sonst bloss Fürstenkindern tut. Aber es war umsonst. Es lernte nicht ›Vater‹ und nicht ›Mutter‹ sprechen, denn der Himmel hatte es mit Stummheit geschlagen. Seine Eltern sprachen ihm die ersten, süssen Kinderworte mit unermüdlicher Geduld immer wieder vor, 86 aber hier erwies sich die grösste Liebe und Sorgfalt ohne Nutzen.

Als das Kind Jens zu einem Knaben herangewachsen war, begann es allmählich eine Vorliebe für alle die Dinge und Einrichtungen zu bezeigen, die zu dem Meere in einer Beziehung stehen. Es konnte stundenlang auf der Werfte des väterlichen Hauses oder an dem Rande von Südfall sitzen und den Bewegungen der Segel zuschauen, die sich draussen auf dem Watt schaukelten. Und als es das erste Mal mit seinem Vater zum Dorschfang auf das Meer hinausfuhr, wurden seine Augen so gross und glänzend, wie man es bis dahin niemals bei ihm gesehen hatte, und seine Hände griffen in das Segel, als wollten sie es regiren. Wenn Sturmnächte kamen und die Fenster an dem alten Hallighause zu zittern begannen und draussen die Wasser heulten, als nahe sich eine Brut ausgehungerter Wölfe, dann stieg der Knabe leise aus seinem Bettchen heraus, trat im Hemd an das Fenster und lugte gespannt hinaus in die Verwüstung, über die das fahle Mondlicht floss, und es war, als ob er in ein Wunder sähe, das ihn bannte. Wenn sein Vater dann aufwachte und den Burschen am Fenster stehen sah, wie er vor Kälte zitterte, und wenn der Vater nun aufstand, zu ihm hintrat und ihn rüttelte, um ihn in das Bett zurückzujagen, so bemerkte er, dass der Knabe im tiefsten Schlafe dort am Fenster stand. Jens war ein Nachtwandler geworden. Aber er wandelte nur bei Nacht, wenn es galt, das Meer zu sehen oder zu beobachten, wie der Mond durch die Nebel brach oder wie der Sturm zur Ebbezeit über den bleichen Schlamm hinfuhr.

Jens lernte in jüngeren Jahren und in kürzerer Zeit als die anderen Burschen auf den Halligen ein Netz auslegen, die 87 Segel setzen, rudern und das Steuer führen, und machte sich nützlich, wo er auch immer die Hand anlegte. Aber damit war sein Ehrgeiz nicht zufrieden. Er verfiel auf andere Dinge, an welche die Halligbewohner sonst ihr Lebtag nicht zu denken pflegen. Als ihm eines Tages ein Stück Rohr in die Hände kam, modelte er es sich kunstvoll zu einer Flöte um, und da den Stimmwerkzeugen seines armen Körpers keine Töne verliehen waren, wusste er sich nun vermittelst dieses Instrumentes Klänge und Lieder vorzuzaubern, wie sie bis dahin kein anderer Mensch auf der Hallig so schön hatte erzeugen können. Bei Tage lag er in den Booten herum oder strickte Netze oder ging den Enten und Rottgänsen nach, und wenn der Abend kam und die Sonne wie ein grosser Blutfleck hinter den Inseln niedertroff und die Winde sich mässigten, setzte er sich auf die Werft vor die Haustür oder auch auf den Haidehügel, der auf Südfall liegt und den sie das Königspull heissen, und indem seine blassen Augen weit über die Watten hinausgriffen nach Westen zu, wo das Rot der versinkenden Sonne war, hob er zu dudeln an, sehnsüchtig und in zarten Akkorden, wie sie sonst nicht über unsere Inseln ziehen, und die blöden Schafe auf dem Haidefleck lauschten mit schiefen Köpfen nach ihm hin, oder eine weisse Möwe oder ein Binsenhuhn flog neugierig um ihn her, und im Hause standen sein Vater und seine Mutter und fragten einander heimlich, ob das Glück sei, was ihr bleiches Kind da in den Abend bliese oder ob es ein Wünschen sei nach lichteren Tagen.

Jens war ein folgsamer Bursche, er zeigte guten Willen zu allen Dingen und liebte nichts mehr als die Einsamkeit. Wenn er sich mit seinen Gedanken und Gefühlen, die Keiner 88 zu ergründen vermochte, allein befand, war er am zufriedensten. Er fuhr am liebsten allein in seinem Boote auf das Meer hinaus, suchte allein an abgelegenen Plätzen die Krabben und Austern auf dem Schlammbecken des Watts, und seine Flöte hat man ihn bis zum heutigen Tage nur an vereinzelten Abenden in Gesellschaft anderer Menschen spielen hören. Auch sagt man, dass er sie besser spiele, wenn er sich allein wisse. Aber das ist wohl Täuschung. Es macht wohl nur, weil man sie dann aus der Ferne hört, wo sie durch die schwere Luft hindurch um vieles verlorener und trauriger klingt.

Das, was den Namen des grauen Jens seit langem über die meisten der Inseln hin verbreitet hat, ist aber nicht so sehr sein Flötenspiel oder sein Nachtwandeln oder Segelsetzen oder Rudern, sondern das ist sein Laufen über den Schlick. Auch hierin hatte er sich schon als Junge eine Fertigkeit anzueignen gewusst, dass er alle andern Halligburschen darin übertraf. Ihr wisst, Herr, dass, wenn wir tiefe Ebbe haben und das Wasser aus dem Watt bis auf vereinzelte Rillen und Prielen in die hohe See hinausgetreten ist, man über den Schlick hinweg zu Fuss von einer Insel zur andern gelangen kann. Aber es ist kein gefahrloses Tun und will kaltes Blut haben, denn der Schlick ist nichts weiter als eine grosse Tücke. Es verlangt nicht nur eine gute Kenntnis des Watts und seiner Bänke und Tiefen, sondern auch behende Füsse und eine ausdauernde Kraft. Und dann eine geschickte Verwendung der knapp bemessenen Zeit, denn die Flut kommt mit unabänderlicher Pünktlichkeit, und wen ihre Wasser einmal umspülen, der darf getrost sein letztes Vaterunser beten und darf sich ruhig hinstellen und zusehen, wie sein Grab mit nassen Zungen zu ihm hinaufleckt. 89

Und dann der Nebel, Herr. Er ist auf unseren Watten das, was Ihr in Eueren Wäldern im Binnenlande die Irrwische heisst. Wir haben hier helle Tage, an denen wir durch die silberige Luft hindurchschauen wie durch Kristall und wo wir meinen, die Sparren an den Mühlenflügeln auf Pellworm zählen zu können. Und plötzlich, sowie die Sonne unversehens durch einen seit Wochen verhangenen Himmel schiesst, ist er da. Es ist eine grenzenlose Wand, die sich bis zum Himmel emporreckt und durch die Klarheit schiebt, langsam, unheimlich, Alles begrabend, eine würgende Faust. Er giebt den Dingen ein anderes Wesen und den Tönen einen anderen Klang; er verwirrt die Richtungen des Himmels und narrt alle menschlichen Sinne und Gefühle. Wehe dem Läufer durch den Schlick, der eines Tages in eine Nebelwand hineingerät und in den trügerischen Schleiern, die sich nässend um ihn schlingen, die Richtung seines Weges und die Fassung seiner Seele verliert. Es sind nicht wenige Halligkinder, Herr, die im Nebel begraben liegen. Das Schreien ist ohne Nutzen, denn die Stimme trägt nicht weit. Nun irren sie, hierhin und dahin, aber ist die Richtung einmal verloren gegangen, so findet sie sich auch so leicht nicht wieder. Und nun laufen sie, mit aufgerissenen Augen, und sehen am Ende, dass ihre Sinne sie wieder und wieder betrogen haben, und dann meinen sie in der Ferne etwas wie eine aufstrebende Werft zu erkennen und eilen mit klopfender Hoffnung darauf zu und müssen erfahren, dass es nur dichtere Nebelschichten sind, und dann kommt die Verzweiflung, sie ballen die Faust und recken sie in den Nebel und möchten den Nebel ermorden, und sie schreien von neuem, wie die Tiere, bis ihre Kehlen heiser sind, und der Schweiss tritt ihnen aus, und ihre Zähne knirschen, und sie können nicht mehr.

90 Und dann, auf einmal, hören sie ein Rauschen. Erst leise und aus der Ferne, ein sanftes, liebliches Plätschern, das die Prielen und Gräben im Schlick langsam zum Schwellen bringt. Bald aber lauter und brausender, und plötzlich spült es um ihre Füsse herum, feucht und kalt, greift höher und höher, ein graues, ekelhaftes Gewässer, und sie können sich nicht mehr vorwärts und rückwärts regen, es schwillt und wogt um sie her und sprudelt: das ist die Flut, Herr, und das Ende.

Nur Einer ist hier herum unter den Schlickläufern, der auch den Nebel in seinen verschlagensten Spielen nicht scheut, das ist der graue Jens. Stumm, ohne dass seine Brust lauter schlüge, mit dem stumpfen Blick wie immer und mit sicheren Füssen schreitet er hindurch, und es berührt ihn nicht anders, als ob er durch die goldensten Strahlen der Sonne schritte. Es weiss sich Keiner zu erinnern, dass er einmal in die Irre gegangen sei oder dass seine Wege einmal längere Zeit erfordert hätten als sonst. Wir haben keinen besseren Schlickläufer als ihn, und es hat auf den Halligen niemals einen besseren gegeben.

Aber ich muss Euch noch erzählen, wie er hierher zu uns nach Hooge kam. Seine Mutter hatte eine Schwester, die hier verheiratet war an den Balduin Kröger, meinen Freund, dem das Boot zu eigen ist, auf dem Ihr gestern herübergekommen seid, und dessen Sohn Knut Ihr von der Fahrt her schon kennt. Den Balduin werdet Ihr auch kennen lernen, er ist nur wenige Jahre jünger als ich, und ich bin als junger Mensch mit ihm und dem Tim Nickelsen in Munkmarsch auf Sylt drei Jahre lang auf einem Ostindienfahrer stallirt gewesen. Die Frau des Balduin also, die nun tot ist, war eine 91 Schwester von der Mutter des grauen Jens. Als dieser, da er das Alter hatte, auf Pellworm die erste Kommunion genommen hatte, kam er mit seinem Vater und seiner Mutter herüber, um den Verwandten einen Besuch zu machen. Seitdem ist er bei uns geblieben. Er gab den Wunsch zu verstehen, als es auf dem väterlichen Segler wieder nach Südfall zurückgehen sollte, noch eine Zeitlang in dem Hause seines Oheims verbleiben zu dürfen, um erst nach einigen Wochen nach Südfall zurückzukommen. Seine Eltern erfüllten ihm diesen Wunsch gern, zumal ihn auch sein Oheim, der den stillen Burschen und sein bescheidenes Wesen lieb gewonnen hatte, lebhaft befürwortete. Was den Jens an Hooge festhielt, hat er selbst nicht zu verstehen gegeben. Die Leute erzählen, und das wird wohl das richtige sein, dass es die schmale Tochter des Balduin Kröger gewesen sei. Die war ein armes, junges Ding, von grosser Schönheit, aber bleich wie das Licht des Mondes und mit Augen, die stammten aus einer anderen Welt. Sie hustete von den ersten Tagen ihrer Kindheit an, und ihre Ärmchen blieben so schwach, dass sie nie ein Ruder von der Werfte nieder an das Wasser tragen konnten, und auf ihren schönen Händen waren alle die blauen Adern unter der Haut deutlich zu erkennen. Zwischen ihr und Jens spann sich eine Freundschaft an, und von seiten des armen Jens mag es wohl Tieferes gewesen sein. Der eine Kranke fühlte sich zu dem andern hingezogen, und während Jens bisher immer danach gestrebt hatte, dem Tage ein paar einsame Stunden abzugewinnen, trachtete er von nun an danach, die Einsamkeit mit dem weissen Mädchen zu teilen. Man konnte beobachten, wie er zuweilen an ihren kranken Augen hing mit einem Blick, so wie sonst nur die 92 Kinder an den Augen ihrer Mutter hängen, wenn diese ein Märchen erzählt. Er fuhr sie, wenn es Sonne gab, mit hutsamen Rudern auf das glänzende Wasser hinaus, aber nur bei schweigendem Winde, denn das aufgeregte Meer konnte sie nicht ertragen. Und des Abends, an freundlichen Tagen, wanderten sie zusammen über die Haide nach der Westspitze hin, und er blies die Flöte, und sie hörte ihm zu, und in ihren Augen spiegelte sich die Röte des Sonnenuntergangs. Das ging so drei Jahre hindurch, dann starb das Mädchen und Jens war wieder allein. Er schlug es ab, in das heimatliche Haus nach Südfall zurückzukehren. Er wollte da sein, wo die Gefährtin seiner drei glücklichsten Jahre ihren Hügel hatte, und verblieb deshalb weiter in dem Hause seines Oheims bis auf den heutigen Tag. Er wurde, nachdem die Tote in die Erde gelassen worden war, noch stumpfer und sonderbarer als zuvor. Die Einsamkeit wurde ihm immer mehr der beste Freund, und das Nachtwandeln, das sich schon seit geraumer Zeit ganz verloren zu haben schien, hob wieder an. Eines Nachts, als der Vollmond glänzte und ein rasender Westwind über die Insel stob, hörte man ein unausgesetztes Klappern und Krachen. Als man nachsah, fand man, dass es die Tür des Hauses war, die jemand geöffnet hatte, ohne sie wieder zu schliessen. Als man hinaustrat auf die Werft, sah man unten den Stummen mit flatterndem Haar langsam über die Haide schreiten, ein Ruder unter dem Arm, als wolle er zu den Booten hinab und eins besteigen, um in die Nacht zu fahren. Man führte den Schlafenden zurück, der erst erwachte, als es die Werft hinaufging, und dann, als er sah, wo er sich befand, die Anderen mit verwunderten Augen ansah, als wollte er sagen: »Was tut Ihr 93 denn mit mir?« Als man ihn darauf mit liebevollen Händen in sein Zimmer zurückgeführt hatte, was er sich willig gefallen liess, warf er sich über das Bett und fing bitterlich zu weinen an.

Andere wollen ihn bei Nacht an der Küste haben stehen sehen, regungslos, wie eine Säule, den Blick auf das Meer hinausgerichtet, umflossen von dem bleichen Mondglanz und dem Licht der Sterne. Auch auf dem Grabe von Krögers Tochter soll er des Nachts gesessen haben und im Schlafe die Flöte gespielt haben, so süss wie nie, und das Nachtgevögel soll um ihn her geschwiegen haben und soll auf den weissen Leichenstein herabgekommen sein und gelauscht haben auf die sagenhaften Klänge. Wer weiss, wie viel wahr ist von all diesem Geschwätz, aber dass nicht Alles aus der Luft genommen ist, dafür sprechen die mannigfachen, rätselhaften Dinge, die von getreuen Zeugen verbürgt sind.

Das Zimmer, das dem grauen Jens als Schlafgemach dient, sieht aus wie ein Museum. Er hat sich künstliche Schifflein aller Gattungen und viele andere Dinge mit grosser Geschicklichkeit anzufertigen gewusst, die hängen nun schwebend an Bindfäden von den Balken seines Gemaches hinab. Dann hat er sich Bretter an den Wänden befestigt, die tausend merkwürdigen Gegenständen als Stapelplatz dienen. Bei seinen Wanderungen über den Schlick hat er gar manches auf dem Meeresbecken gefunden, das sein Interesse in Anspruch nahm und das er darum aufhob und mit nach Hause schleppte: Schädel von im Wasser verreckten Geschöpfen, versteintes Seegetier, wie Igel und Seesterne, seltenen Tang und tausend verrostete und wertlose Sachen, die man einst von den Schiffen herab in das Wasser 94 geworfen hat. Er hütet diese kuriose Sammlung mit grosser Sorge, und immer wieder von Zeit zu Zeit fügt er ihr neue merkwürdige Exemplare hinzu. Zweimal in der Woche läuft er nach Pellworm hinüber, um die Zeitungen und Briefe zu holen. Auch heute ist er wieder hinüber gewesen, denn der Nebel kann ihn nicht schrecken, und er wird nachher in unserem Hause mit vorsprechen, um uns das Husumer Kreisblatt zu bringen.«

»Du hast den Kater vergessen, Claas,« klang es da von dem Ofen her.

»Ja, Frau, der Kater, Du hast Recht. Das sind nun vielleicht schon zehn Jahre her, dass er ihn eines Tages von Pellworm mit herüberbrachte, ein schwarzes, schleichendes Vieh, und Keiner weiss, wo er ihn aufgetrieben hat. Es ist ein Angorakater, so gross wie ein junges Schaf, und wenn er faucht und den Buckel krümmt, so ist es, als wolle die Hölle aus seinen Augen fahren. Er begleitet den grauen Jens auf Schritt und Tritt und schmeichelt um seine Füsse herum, nur auf den Schlick kann er nicht mit hinaus. Des Nachts schläft er im Bette des Langen auf dessen Füssen, und er frisst nur das Futter, das er aus den Händen seines Herrn erhält. Es ist wohl nicht anders, als dass der Jens ihm einmal etwas sehr Gutes angetan hat, wie soll man sonst diese übertriebene Liebe einer Katze zu einem Menschen erklären? Das Vieh folgt seinem Herrn auch in das Boot hinein und kauert sich still zu seinen Füssen hin, und wenn Spritzwasser in das Fahrzeug schlagen, so lässt es sie ruhig über sich ergehen und schüttelt nur das Fell ein wenig, aber es zeigt keine Angst, als wisse es genau, dass ihm nichts geschehen könne, wenn es zu Füssen seines Herrn 95 sei. Es sollte mich Wunder nehmen, wenn Ihr das Tier nicht gestern auch in dem Fahrzeug mit Euch geführt habt.«

»Ja, ich erinnere mich, es lag am Steuerkasten. Aber ich achtete nicht darauf, ich wusste nicht, dass der Mann am Steuer sein Herr sei und dass es so eng mit ihm verbunden wäre.«

»Ihr könnt Euch denken, Herr, dass die Leute seiner Zeit auch von dem Tiere manches Merkwürdige zu reden angefangen haben. Sie sagen, dass dem Jens nichts Schlimmes zustossen könne, wenn die Katze mit ihm auf dem Wasser sei, und sie wollen wissen, dass die Augen des Tieres nicht wie die Augen einer anderen Katze seien, sondern etwas Menschliches in sich hätten. Auch sagen sie, dass das Tier zuweilen Töne ausstosse, wie es die Katzen sonst nicht tun, und dass es an den nächtlichen Wanderungen seines Herrn teilzunehmen pflege. Aber ich mag nichts glauben von dem Geschwätz. Das Tier ist wohl nur eine gewöhnliche Angorakatze.«

Claas Brodersen griff nach seinem Glase, trank es aus, tat ein paar lange Züge aus der Tonpfeife und wollte sich dann anschicken, noch Mehreres zu erzählen, als er durch einen merkwürdig ängstlichen Klang vom Ofen her daran verhindert wurde. Wir sahen zu gleicher Zeit nach der alten Frau hinüber und mussten in demselben Augenblick etwas Anderes bemerken, worauf das alte Mütterchen schweigend und mit erschreckten Augen hindeutete. Dicht bei der Zimmertür, die auf den Pesel führte, stand der graue Jens. Auch Claas und ich erschraken heftig, denn es schien rätselhaft, wie der Stumme so lautlos zu uns hereingekommen war. Wir hatten die Tür nicht gehen hören und weder 96 Schritte vernommen noch einen Luftzug durch die Tür verspürt. Jens sah entsetzlich aus. Sein Gesicht war erdfahl, und seine Augen sprühten krankhaft aus schwarzen Höhlen. Er schien mehr ein Schatten als ein Lebender, seine Glieder waren erschlafft, nur aus der Brust keuchte es wild hervor, er rang nach einem Schrei oder einem Wort, ohne es finden zu können.

Claas war der erste von uns, der sich fasste und sprach:

»Was willst Du, Jens?«

Der Stumme erhob die Arme mit verzweifelten Gebärden und wies durch das Fenster hinaus. Wir richteten den Blick dorthin und sahen in den Nebel hinab. Da sprang Claas empor, dass die Gläser auf dem Tische klirrten.

»Es ist Einer im Wasser!« rief er, und damit war er auch schon zur Türe hinaus.

Ich hatte unterdessen auch durch den Nebel hindurch bemerkt, wie nicht weit von der Küste im Wasser etwas mit den Gliedern um sich schlug. Ich folgte Claas, der schon über die Haide hinflog, den Booten zu. Wir machten das erste beste frei, sprangen hinein und trieben unter den riesigen Ruderstössen des Claas hinaus. Aber wo war der ertrinkende Mensch hingekommen? Seine Kräfte mussten schon vergangen sein, es war nichts mehr von ihm und seinen Bewegungen zu bemerken, er war wohl schon für immer in die schmutzigen Wasser untergetaucht. Da trat plötzlich dicht neben unserm Boot sein Körper wieder aus der Flut hervor. Claas beugte sich weit über Bord und griff nach dem emporragenden Steiss des Unglücklichen. So zog er ihn herauf. Zwei lange, triefende Beine, ein hagerer Oberkörper wurden sichtbar, und dann lag er gekrümmt 97 und regungslos in unserem Boot. Ein Schauder ergriff mich, und Claas blickte mich mit einer stummen Frage an. Es war der Körper des grauen Jens, den wir aus dem Wasser gezogen hatten. Wir lenkten schnell nach der Küste von Hooge zurück und trugen den Körper des Ertrunkenen über die Haide fort dem Hause Claas Brodersens zu, da es das nächste war. Auf halbem Wege gesellte sich mit blitzenden Augen aus dem Nebel heraus der Angorakater zu uns und miaute zum Herzzerbrechen. Er sprang an dem Körper seines Herrn empor, aber die Augen dieses sahen ihn nicht mehr. Im Hause des Claas legten wir den grauen Jens auf ein Bett und entblössten ihm die Brust, um auf das Herz zu hören. Es war Alles still. Da lag er nun, ein toter, blöder Mann, den sich einst zwei alte, nun längst gestorbene Leute als den zukünftigen König über die Seelen der Halligbewohner geträumt hatten.

Wir machten Versuche, ihn wieder zu beleben ; legten ihn auf den Rücken und auf die Brust; klopften ihn und rieben ihm die Haut wund. Es blieb Alles vergebens. Er war maustot.


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