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Spätherbstnachmittag. Der Himmel wolkenverhangen, ein einziges, trostloses Grau. Die alten Platanen in der Strasse gaben ihre letzten, eingeschrumpften Blätter den Windstössen hin, die durch ihre Äste fuhren. Auf dem Pflaster standen Wasserlachen, in die mitunter eins der schmutzigen Blätter hineintrieb. Es war hässlich und füllte mit Trauer.
An diesem Tage war er zu ihr gegangen, ein paar Rosen in der Hand, und hatte ihr gesagt, dass er sie lieb habe.
Dann hatte er ihr die Geschichte seines törichten Lebens erzählt.
Sie sollte Alles wissen. Er durfte kein Geheimnis vor ihr haben; denn sie sollte nun sein Dasein und sein Streben in neue Bahnen leiten. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie die Macht dazu habe. Er fühlte sich auch selbst noch stark genug, um an ihrer Hand zurückzulenken. Nur ihre sichere, liebevolle Hand, die hatte er not dazu.
Er sass, während er ihr Alles erzählte, vor ihr am Fenster. Sie hörte schweigend zu. Als er zu Ende war, glitt er vor ihr nieder und drückte seinen schmerzenden Kopf in ihren Schoss. Sie beugte sich hinab und legte ihre Hände auf sein Haar. Da wurde ihm, als ob ein goldener Morgen auf ihn niedertaue. 31
Es war ganz still in dem Zimmer. Nur die Uhr an der Wand ging leise, und aus der Freiheit draussen liess sich zuweilen das verhaltene Sausen des Windes hören, der durch die Strassen griff und sich in den dürren Ästen der Bäume fing.
Endlich stand er auf, und auch sie erhob sich. Sie schritten nach dem altmodischen Sofa hinüber, das die Mitte der einen Wand einnahm und liessen sich auf ihm nieder.
Sie legte die Rosen, die er ihr gebracht hatte, vor sich auf den Tisch. Nun sassen sie eng beieinander. Jeder hatte den einen Arm um den Leib des Andern geschlungen. Sie hatten die Augen halb geschlossen, ganz dem Gefühl des Glückes hingegeben. So träumten sie und sprachen von tausend Dingen ihrer goldenen Zukunft, von dem Lande der Erfüllung, dem sie auf weissem Kahn entgegenfuhren.
Da schlug die Uhr die vierte Stunde.
»Es ist vier Uhr« sagte Lena. »Wir müssen uns trennen, Liebster.«
Er widerstrebte.
»Ich darf nicht, Liebster. Die Probe beginnt. In wenigen Minuten muss ich dort sein.«
So standen sie auf. Sie holte ein wollenes Jäckchen aus dem Schrank, und er half ihr hinein. Dann trat sie vor den Spiegel und setzte den Hut auf. Als die Nadel, die ihn im Haar befestigte, hineingeschoben war, kam der Schleier.
»Nicht den Schleier« sagte er. »Ich sehe Dich dann nicht, wie Du bist. Was brauchst Du einen Schleier? Du hast nicht nötig, Dein Gesicht zu verhüllen.« 32
Aber Lena sagte, zu diesem Hut müsse man einen Schleier tragen. So fügte er sich und band ihr den Knoten am Hinterkopf, wobei seine seligen Hände den Reichtum ihres Haares streiften.
Nun ergriff sie einen Schirm und das blaugebundene Buch, in dem die Rolle stand. Er nahm Mütze und Handschuhe. Darauf gingen sie.
Als sie schon im Korridor waren, lief sie noch einmal zurück.
»Deine Rosen« sagte sie.
Sie sprang zum Tisch und steckte sich die Blüten vor die Brust.
Darauf schritten sie langsam die nassen Strassen entlang. Lena, indem sie mit leis emporgehobenem Kleide die zahlreichen Pfützen zu vermeiden suchte. Manchmal veranlasste sie ein Windstoss, die Hand an den Hut zu legen. Das Theater war nicht weit. Der Eingang für die Schauspieler und Schauspielerinnen lag auf der Rückseite, nach einer Gasse zu, und es führte eine kleine Treppe hinan. Die Häuser, welche die andere Seite der Gasse bildeten, waren baufällig und eng. Hier wohnten die Maschinisten und Coulissenschieber und das andere niedere Personal mit ihren Familien.
An der Treppe sagten sich die beiden Lebewohl. Lena zögerte noch und warf einen schnellen Blick die Gasse entlang. Zu gleicher Zeit schämte sie sich dieser Bedenklichkeit. Sie zog den Schleier empor und gab ihm ihren Mund.
Dann eilte sie die Treppe empor. Er sah ihr nach, bis sie hinter der Tür verschwunden war. Dann zog er die Uhr und überlegte, was er beginnen solle. Es war noch 33 eine halbe Stunde bis zum Anfang der Fechtübungen. Er beschloss hinzugehen. Vielleicht war es das letzte Mal.
Zuvor konnte er noch einen Spazirgang unternehmen. Er hatte das Bedürfnis, im Freien zu bleiben, so unwirtlich es auch war. Und allein. Damit er immer nur an seine Seligkeit denken konnte.
Er schritt langsam am Theater entlang, aus dessen unteren Räumen die Maschinen stampften. Die Gasse senkte sich und führte auf eine platzartige Erweiterung, in deren Mitte sich Anlagen befanden. Im Sommer gab es hier Beete in blühenden Farben und Kinderscharen, die am Wege spielten. Jetzt war es kahl und leer. Die empfindlicheren Pflanzen waren mit Strohhüllen umgeben, die der Regen aufgeweicht hatte. Die Rosen hatte man umgelegt und ihre Kronen eingegraben. Die Kieswege waren von totem Laub verweht, über das der Wind hinfuhr.
Der Student ging an dem verlassenen Platze vorbei und bog, nachdem er eine belebtere Strasse passirt hatte, von neuem in ein enges Gassenviertel ein. Am Ende führte eine kleine Brücke über einen Arm des Stromes, an dem die Stadt gelegen war. Nun befand er sich ausserhalb der Mauern. Es war eine parkähnliche Anlage, die sich in ziemlicher Ausdehnung an dem Wasser entlang zog.
Er war jetzt der einzige hier. Er konnte das Gelände weit übersehen, denn die Bäume waren kahl. Er ging gemächlich, den Kopf geneigt, überdachte noch einmal Alles, was er tat und wollte, und war zufrieden mit sich.
Nun war er an den eigentlichen Fluss gekommen, der breit, in flachen Ufern, vor ihm lag. Das Wasser war lehmig und zwängte sich unheimlich lautlos vorüber. Auf 34 der andern Seite stand ein Fährhaus. Dahinter dehnten sich Wiesen, soweit man sehen konnte.
Sein Auge glitt stromaufwärts. Ein schwerfälliger Lastkahn schlich heran. Der Student unterschied eine singende Stimme. War es möglich? An diesem Tage sang wer? Es war ein junges Weib, das am Steuer stand und es lenkte. Der Student blieb stehen und sah den Kahn näher gleiten. Er war mit Quadersteinen beladen, das Wasser ging ihm bis dicht zum Bord. Aus dem Ofenrohr der Kabine, auf deren Bedachung die Frau stand, zog eine feine Rauchwolke, die schnell in der Luft zerstob.
Das Weib hatte den Wanderer am Ufer bemerkt und sah zu ihm hinüber. Er zog die Mütze und schwenkte sie. Sie erwiderte den Gruss mit der Hand, ohne sich im Singen stören zu lassen. So zog das Fahrzeug langsam vorüber. Der Student blickte ihm noch lange nach. Als er die singende Stimme nicht mehr unterscheiden konnte, wandte er sich wieder zum Gehen und begab sich nach der Stadt zurück.
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Er erreichte das alte Gebäude, in dem die Fechtsäle lagen, als die Übungen schon begonnen hatten. Er schritt die breite Eichentreppe hinan, durchquerte einen Korridor, aus dessen Türen das Klappern der Rappire und die dumpfen Puffe auf die Bandagen klangen, und öffnete dann die Tür zu dem letzten Saal, in dem seine Freunde um diese Zeit zu schlagen pflegten.
Man war vollzählig beisammen und stand fechtend in kleinen Gruppen beieinander. Man liess sich durch den 35 Eintritt des Verspäteten nicht stören. Aber es schien diesem, dass die Gesichter, die sich auf ihn richteten, ein Staunen ausdrückten. Es begrüsste ihn auch niemand. Er wusste nicht, was er davon denken sollte. Was war denn vorgefallen?
Er wollte zu einem herantreten und fragen, was dies Benehmen zu bedeuten habe, da kam schon der auf ihn zu, mit dem er am meisten befreundet war.
»Was ist denn geschehen?«
»Du weisst es noch nicht?«
»Nein; was –«
»Heut Mittag – – hast Du die Zeitung nicht gelesen?«
»Die Zeitung? Was ist es mit der Zeitung? Ich habe sie nicht gelesen.«
Jener wurde betreten und schwieg. Es war ihm zu grässlich, es dem Freunde mitzuteilen.
»Mensch, rede!«
»Lieber Junge – siehst Du – – Dein Vater – man muss Dich wieder verklatscht haben – – Deine dummen Schulden – und – er – er hat wohl die Geduld verloren – er hat – eine Anzeige – in die Zeitung, weisst Du – – er – – er warnt vor Dir – – –«
Der Andre sagte kein Wort. Vor seinen Augen brannte es. Dazu ein Gefühl, als habe man ihn mit einem Beil vor den Kopf geschlagen. Er meinte, dass jetzt ein Blutsturz kommen müsse. Aber es wurde nur ein Schwindel, der vorüberging.
Er stand mit weitgeöffneten Augen, in denen aller Glanz vergangen war, und fühlte sich elend wie ein krankes Kind. 36 Es war in ihm etwas entzweigegangen, etwas, das nicht mehr gesunden konnte.
Er sah durch das Fenster, das ihm gegenüber war, in die Äste einer Kastanie. Im Sommer hatte er hier oft hinausgelehnt und mit seiner Waffe übermütig in das volle Laub geschlagen. Jetzt waren die Fenster verschlossen und das Laub verdorrt und in die Welt verweht.
Nach einer Weile spürte er, wie ihn jemand am Arm ergriff. Es war sein Freund.
»Komm zu Dir, Junge. Es ist ja entsetzlich – aber um Gottes Willen nicht verzweifeln, Du musst Dich zu fassen suchen.«
»Ich bin ja ganz ruhig. Ich muss es doch tragen, natürlich. Übrigens entschuldigt bitte, dass ich Eure Mütze noch auf dem Kopf habe; aber ich ahnte ja nichts. Leb wohl.«
»Ich werde Dich begleiten.«
»Nein, bitte nicht. Bleib.«
»Doch, ich komme mit Dir.«
Er wollte sich schon wenden, um die Bandagen abzutun und sich anzukleiden. Aber der Andre hielt ihn fest.
»Lass das, ich bitte Dich, es ist ja lächerlich.«
»Versprichst Du mir, dass Du vernünftig sein willst?«
»Liebster Freund –«
»Ich war heut Nachmittag in Deiner Wohnung, aber ich fand Dich nicht zu Haus.«
,Ja, ich war – – ich machte einen Besuch.«
Auf einen Augenblick sah er Lena vor sich. Aber nur wie einen Blitz. Dann war wieder Alles grau.
Sie drückten sich die Hände; die des Einen war müde 37 und kühl. Als der Andere in seine Augen sah, graute ihm. Sie waren wie ein Trümmerfeld; und trocken, wie verdorrt.
»Es zerreisst ihn« dachte er.
Jener schritt langsam die Treppe hinab. Es war dämmerig hier, fast dunkel. Das tat ihm wohl. Der Kopf brannte ihm zum zerspringen. Es drang heute auch zu viel auf ihn ein.
Unten vor der Haustür machte er halt; er wagte nicht zu öffnen und hinauszutreten, denn dort draussen gab es Menschen, die ihn ansehen würden.
Er starrte reglos auf das dicke, verrostete Eisenschloss vor sich und hätte noch lange so gestanden, wäre die Tür nicht plötzlich von aussen geöffnet worden. Mehrere Studenten traten herein. Er schrak zusammen. Jene schritten an ihm vorüber die Treppe hinan. Er vermied es, sie anzusehen; sie wussten ja auch schon jedenfalls.
Er benutzte nun die geöffnete Tür, um hinauszutreten. Jetzt war er unter Menschen. Er bog in die erste Seitenstrasse ein, wo es stiller war, und ging schnell, das Auge zur Erde geneigt. Wohin, wusste er nicht. Irgendwohin, wo er nachdenken konnte. Aber nicht nach Haus, nicht in ein enges Zimmer. Übrigens würde da jetzt auf dem Tisch das Zeitungsblatt liegen. Und er wollte das nicht sehen! Nicht das! Es hätte ihn verrückt gemacht!
Aber wohin?
Zu Lena?
Er hielt ein. Zu Lena. Würde er das überhaupt jemals wieder –? Nein. Das war ja nun auch vorbei.
Es wurde menschenstiller um ihn her. Zwischen die Häuser begannen leere Räume zu treten, die immer zahlreicher 38 wurden. Die Häuser selbst waren hohe, zierlose Mietskasernen; er befand sich hier in dem neuesten Viertel der Stadt.
Bald war er dann überhaupt ausserhalb der Menschen. Die Strasse lief in eine Chaussee aus, die mit Pappeln bestanden war. An den Seiten zogen sich in gewissen Abständen Haufen kleiner Steine entlang, dazu bestimmt, dereinst schlechte Wegstellen auszufüllen. An einem davon sass ein alter Mann mit einer blauen Gazebrille und klopfte grössere Stücke entzwei. Eine vom Regen durchnässte Strohwand diente ihm als Schutz gegen den Wind.
Der Student bog vorher in einen lehmigen Feldweg ab, der tiefe Wagenfurchen trug. Die Äcker ringsumher waren kahl; die meisten trugen schon die Frucht für das kommende Jahr in sich; nur wenige, die brach lagen, waren von Unkrautstauden überwuchert.
Der Himmel war noch immer niedrig wie schon den ganzen Tag, und die Wolken zogen unablässig, wie wehende Trauerschleier.
Der Student sank zuweilen tief in den Boden ein, ohne dass er es bemerkte. Er war jetzt allein, und das war ihm genug, alles Andere gleich.
Von Zeit zu Zeit, wenn die brausende Angst ihn fasste, lief ein heisser Strom durch seinen Leib, der ihm den Schweiss aus den Poren trieb. Er hätte sich jetzt züchtigen mögen. Seine Vergangenheit trat ihm gleich einer marternden Fratze vor die Seele, die ihm keinen Augenblick Ruhe liess.
Er gelangte, indess der Abend zu dunkeln begann, an einen Holzsteg, der über einen Graben führte. Dieser war 39 breit und wasserreich, von verkrüppelten Weiden eingefasst. Er machte auf dem Steg halt und sah in das Wasser hinab; es schlich schwer, schmutzig, geräuschlos, eine bleierne Masse, und welke Blätter und Zweige trieben darauf.
Der Graben war tief genug, dass ein Mensch darin ertrinken konnte. Der Student gab sich mit Wollust dem Gedanken hin, dass es jetzt in seine Hand gegeben war, schnell aller Qual ein Ende zu machen. Er erinnerte sich, dass man immer sagte, das Ertrinken sei der Tod, der die schönsten Empfindungen gäbe. Freilich in diesem Pfuhl – es musste doch hässlich sein.
Plötzlich lächelte er. Es war ja gar nicht möglich, dass er hier ertrank. Er war ja Schwimmer, er konnte ja gar nicht untergehen.
Wenn er aber ein paar Stricke gehabt hätte und jemanden, der sie ihm anlegte. Einen um die Füsse und einen um die Hände. Ja, dann wäre es möglich gewesen.
Er schritt über den Steg fort. Die Dunkelheit nahm zu. Er dachte nicht daran, umzukehren. Nur immer weiter in die gute Einsamkeit.
Jetzt zeichnete sich ein Eisenbahnwall vor ihm ab. Als er ihn erkannte, schoss ihm ein neuer vernichtender Gedanke durch den Kopf: Wenn jetzt ein Zug käme . . .
Er kletterte die kleine Anhöhe hinan und stand nun dicht vor dem Schienenstrang. Neben ihm summte eine Telegrafenstange. Er sah nach beiden Richtungen hinunter. Erst bemerkte er nichts. Dann sah er nach der Stadt zu zwei feurige Augen, die wuchsen und näher kamen.
Er war in Aufruhr. Alles pochte und glühte in ihm, und alle Eindrücke begannen sich langsam zu verwischen. 40 Das war die Erlösung, was da kam. Nur ein einziger Schritt – wenn er den Mut hatte. Denn es war ein Mut.
Der Zug wurde grösser und grösser. Der Student vernahm schon das ruckweise Hämmern in den Schienen. Seine Erregung steigerte sich bis ins Grenzenlose. Er fühlte sich schwach zum umfallen, und die Kniee brannten ihm.
Sein Auge war starr auf die glühenden Lampen gerichtet, doch sah er sie eigentlich nicht. Er sah nur ein kreisendes Etwas, ein Zeitungsblatt, das ihm die Augen verbrannte, Freunde, die sich von ihm wegwandten, und Lenas Augen, und Alles schwamm und wogte durcheinander.
Nun war der Zug ganz nahe. Er verursachte einen markerschütternden Lärm. In einiger Entfernung klang die Warnungspfeife. Er unterschied sie noch klar. Noch einmal umwirrten ihn all die Bilder, die Zeitung, das hässliche Gesicht seiner Vergangenheit, die Augen der Lena und wieder die Zeitung mit dem quälenden Schandfleck. Zuletzt noch einmal Lenas winkende Augen, die ihn zaudern machten . . .
Und dann tat er's doch, und die Maschine zermalmte ihn.