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Es war auf Westerland-Sylt, der letzte Tag vor meiner Abreise. Ich schritt noch einmal den Strand entlang und sah dem schaumgekrönten Wasser zu. Es war besonders wild heute. Die Wellen der Brandung gingen gelb von aufgewühltem Sande. Die Sonne stand an einem wolkenlosen Himmel. Es war sinkender Nachmittag.
Ich schritt südwärts, der Halbinsel Hörnum zu. Die buntbeflaggten Burgbauten des Neutralstrandes lagen schon hinter mir; es wurde immer menschenstiller. Die Badekabinen des Damenstrandes folgten, dann war ich fast ganz einsam. Nur ein paar Kinder mit nackten Füssen wateten noch vor mir durch das flache Wasser der heranschiessenden Wellen und retirirten jubelnd, wenn ein grösserer Wogenschwall auf sie eindrang. Und dann einige klagende Möwen in der Luft; und eine Schar pfeilgeschwinder Seeschwalben, die elegantesten Flieger, die ich kenne.
Meine Schritte knirschten auf bunten Muschelschalen, die das Meer ausgespieen hatte. Hin und wieder bückte ich mich, um eine besonders schöne aufzunehmen und in die Tasche zu stecken, oder um irgend ein Seegewächs zu betrachten, das gerade zu meinen Füssen lag. An einer der Buhnen suchte ich nach einem Seestern, konnte aber keinen entdecken. Als ich von dem Bollwerk auf den Strand 19 zurücksprang, sah ich ein Ende vor mir etwas am Fuss der Dünen liegen. Es war ohne Bewegung und schien ein Mensch zu sein, der dort der Ruhe pflegte. Langsam kam ich näher. Ich bemerkte bald, dass ich mich nicht getäuscht hatte. Es war eine weibliche Gestalt, die auf einem Plaid ausgestreckt lag.
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Ich stand neben ihr. Da lag sie, schlank, bleich, verlockend. Sie hatte den einen Arm unter das blauschwarze Haar gelegt und die Augen, aus denen ein Paar auffallend starke Wimpernkämme hervorstachen, geschlossen.
Es war eine Jüdin. Das zeigte einmal das krause, prachtvolle Haar, dann überhaupt der Typus des Gesichts. Nur die Nase war gar nicht jüdisch. Sie war zierlich, von griechischer Art, süss zum küssen. Der Mund von einer ausgesprochenen Sinnlichkeit, aber es war eine seltsam keusche Sinnlichkeit: er war von dem zarten Rot der Koralle und schien noch nie die Lippen eines Mannes besessen zu haben.
Ihr Leib war schlank, ich sagte es schon. Die Brust sehr schmal, aber von köstlicher Form. Das Fleisch des Armes, den sie unter dem Kopfe hielt, und dessen Spitzenbekleidung bis zum Ellenbogen hinaufgerutscht war, glänzte milchweiss und hatte einen Ton wie Atlas. Ein paar lichtblaue Adern durchliefen ihn und erhöhten noch seine Blässe.
Sie trug eine dunkelblaue Robe, den Rock schmuck- und faltenlos, den Hals bis oben hinauf bedeckt. An ihren Füssen sassen braune Strandschuhe, mehr Stiefel als Schuhe, 20 am Fuss ein Ende emporgeschnürt. Über ihnen bis zum Saum des Kleides war noch ein Rand der schwarzseidenen Strümpfe zu sehen.
Neben ihr lag ein grosser, roter Schlapphut von Rembrandtform. Die eine Hand (auch hier dies weiche, blasse, an Atlas erinnernde Fleisch) lag, nach der Seite hin ausgestreckt, im Sande, mit den Knöcheln nach oben, während sich die Finger ein wenig in den Sand gegraben hatten.
Ich kann dies Alles noch so eingehend beschreiben, denn ich hatte Zeit, sie aufs genaueste zu betrachten, und das reizvolle Bild ist mir fest in der Erinnerung geblieben. Ich stand, da ich langsam, von dem lautlosen Sande begünstigt, dicht an sie herangeschlichen war, ich weiss nicht wie lange neben ihr, berauscht, hingerissen.
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Ich rührte mich nicht. Ja, ich bestrebte mich, den Atem leiser gehen zu lassen. Aber plötzlich, während sie sonst ganz reglos blieb, taten sich ihre Augen auf. Sie richteten sich voll auf mich, sehr gross, doch ohne Verwunderung, schwarz und kühl. Sie machten mich irre an dem Geschöpf, dem sie gehörten. Sie passten nicht in dieses Gesicht. Geschlossen, mit den langen Wimpern – wundervoll. Aber in dieser ruhigen, weltlichen Offenheit – nein. Es waren schöne Augen, zweifellos. Aber sie waren leichtfertig, voll Überlegenheit, und es lag eine Welt voll Erfahrungen darin. Sie kamen mir vor wie ein paar unliebe Flecken in diesen guten Zügen und liessen einen Zweifel in mir erwachen an der Reinheit, von der das unverändert schöne Mündchen sprach. 21
»Nun?« fragte das Mädchen gedehnt, indem sie ihre Lage beibehielt.
Auch ihre Stimme war schön. Aber sie passte zu den Augen. Als sie sprach, liess sie durch die Finger der seitwärts gestreckten Hand langsame Sandkörnchen rinnen.
»Ich kam hier vorüber und sah Sie, mein Fräulein. Da betrachtete ich Sie. Durfte ich das nicht?«
»Ich kann es Ihnen nicht verbieten. Aber ich finde es nicht nett.«
»Verzeihen Sie. Doch ich muss gestehen: fände ich Sie noch einmal so – wahrhaftig, ich täte es wieder.«
Nach einer kleinen Pause sprach sie mit verändertem Ton:
»Aber jetzt muss ich Sie erst einmal begrüssen.«
Sie reichte mir die Hand, die eben noch mit dem Sande gespielt hatte. Ich bückte mich, nahm sie und führte sie an den Mund. Dann sagte ich:
»Ich heisse –«
»Pst!« fiel sie ein, »bitte nicht. Es ist so nebensächlich, und ich liebe es gar nicht. Höchstens den Rufnamen. Aber auch das ist überflüssig.«
»Willi.«
»Willi? Ah – sehen Sie; hübsch. Ich mag den Namen gerne. Er klingt so – wie soll ich sagen? Ja: offenherzig. Er erinnert . . . an die Kindheit . . . an die Heimat . . .«
»Und der Ihrige?«
»Es ist wirklich nicht nötig.«
»Ich bitte Sie darum.« 22
Sie sah mich einen Augenblick blinzelnd von der Seite an. Dann legte sie beide Hände übereinander auf die Stelle ihrer Brust, wo sich das Herz befindet, sah schmachtend zum Himmel auf und hauchte mit übertriebenem Pathos:
»Martina!«
Ich hätte diese reizende Komik gar nicht bei ihr vermutet. Sie bestrickte mich damit. Ich fühlte schon, wie es in mir zu brodeln begann. Die Leidenschaft, die rote, verzehrende Flamme. O dieses berückende Geschöpf! Ich fing an Alles um mich her zu vergessen. Und sonderbar – auch ihre Augen nahmen mich jetzt gefangen. Ich sah nichts mehr an ihnen von dem, was mich vorhin daran erschreckt hatte. Sie waren schön, bildschön. Wie hatte ich nur erst so filisterhaft filosofiren können. Und dann der Mund, dieser weiche, runde Mund.
»Ich will jetzt aufstehen« sagte sie. »Wir wollen ein wenig gehen.«
Und dann:
»Helfen Sie mir.«
Ich gab ihr die Hände, und sie richtete sich auf. Sie war fast so gross wie ich. Ich nahm ihr Plaid zusammen, das noch von ihrem Körper warm war, und warf es über die Schulter. Dann reichte ich ihr den Hut, den sie mit einer langen Nadel im Haar befestigte.
»Dort hinunter« sagte sie, indem sie nach Süden zeigte, also dem Bade und den Menschen abgekehrt.
Ich bot ihr den Arm. Sie legte den ihrigen ohne Zögern hinein. Dann gingen wir: in einem sonderbaren Schweigen, unter dem sich unsere Empfindungen verbargen wie die Glut unter der Asche. Wenn wir zuweilen Einiges sprachen, 23 galten unsere Worte den silbernen Möwen, die sich über uns tummelten und schrieen. Wir lockten sie und streckten die Hände nach ihnen aus, indem wir mit den Fingern schnalzten. Es war ein übertriebenes Interesse, das wir an ihnen nahmen, und das bald ein Ende finden musste; ich war mir dessen auch wohl bewusst; und während ich noch daran dachte, spürte ich plötzlich mit zwiefacher Gefühlsstärke den fremden, blutwarmen Arm in dem meinigen. Und wieder wallte es in mir auf. Ich sah die törichten Möwen nicht mehr und fühlte ein scharfes Prickeln auf der Haut, dort, wo der Arm lag, dessen alabasterne Weisse mich so entzückt hatte. Es schoss mir verwirrend durch den Sinn, und ich begann diesen Arm zu pressen; heftiger, immer heftiger. Erst schien sie es nicht zu bemerken. Dann wurde sie ganz still. Aber sie liess mir den Arm. Ich spürte keine Regung in ihm. Und ich presste ihn schliesslich so stark, dass es ihr Schmerzen verursachen musste.
»Sie tun mir weh« sagte sie nun, und ich bemerkte, dass sie ein wenig fröstelte.
»Es wird kühl,« entgegnete ich »der Abend kommt. Soll ich Ihnen das Tuch umlegen?«
Sie nickte und benutzte die Gelegenheit, den Arm schnell aus dem meinigen fortzuziehen.
Ich nahm das Plaid, faltete es, trat hinter sie und legte es ihr um die schmalen Schultern. Aber da ich es ihr umgetan hatte, liessen es meine Arme, die sie dabei umfasst hatten, noch nicht los. Ich legte sie eng um ihren Leib und bog diesen sanft hintüber, so dass ihr Kopf mit dem reichen Haar an meine Schulter zu liegen kam. Und nun drückte ich den Mund auf diese blassroten, leis geöffneten Lippen 24 und trank mir eine goldene Seligkeit, indem ich fühlte wie sie unter dem Kuss erschauerte.
Ich weiss nicht, wie lange mein Mund sie so besass und wieder und wieder küsste, während sie mit geschlossenen Augen, ganz wieder so wie ich sie zuerst gesehen hatte, an meiner Brust lag, ohne sich zu rühren, mit matten Gliedern, in Ergebenheit, fast in Demut, oder wie in einem schönen Traum.
Da wir so aneinander ruhten, ging die Sonne sterben. Als sie hinab war, kam wieder Leben in das Mädchen an meiner Brust. Sie machte sich hastig los, zog das Tuch fester um die Schultern und sagte, ohne mich anzusehen:
»Wir wollen ein Ende machen. Kommen Sie, es ist unerträglich einsam hier. Ich sehne mich nach Menschen. Kommen Sie.«
Ich wusste nicht, was ich entgegnen sollte. Wundersames Wesen. Was wohl in dieser jungen Brust vorgehen mochte?
Sie eilte, nachdem sie meinen Arm kopfschüttelnd abgewiesen hatte, nach Norden zu, mit Schritten, dass ich ihr kaum zu folgen vermochte.
»Wir wollen doch langsamer gehen,« warf ich einmal ein »wir sind doch keine Verfolgten.«
»Kommen Sie,« flüsterte sie wieder fast unhörbar, »ich muss unter Menschen. Ich komme um so.«
Sie flog weiter. Ich, in der seltsamsten Stimmung, die ich je empfunden habe, hinter ihr, immer die weiche, elastische Gestalt vor Augen, das scharfe Profil und das schwarze, starke Haar, das sich im Wind bewegte.
Als der an Menschen noch immer reiche Strand von 25 Westerland vor uns lag, wurden ihre Schritte langsamer. Als wir uns dann unter die ersten Leute mischten, machte sie Halt.
»Ich bin wieder ruhig« sagte sie, mehr für sich als für mich. Dann, lauter, indem sie mir die entblösste Hand unter dem Tuch hervorgab (und wieder entzückte mich der untere Teil des unvergleichlichen Armes):
»Wir wollen uns nun trennen. Haben Sie Dank. Und denken Sie nicht mehr an mich. Vergessen Sie mich, – hören Sie?«
Sie blickte mich nicht an, indem sie dies sagte. Ihre Augen irrten heimatlos an mir vorüber, in die Ferne, über das Meer hinaus, in ein weites Land, dahin, wo die Sonne gestorben war und jetzt ein schwefelgelber Glanz am Himmel stand. Ich zog die Hand noch einmal an meine Lippen. Auch den Arm küsste ich, unbekümmert der Menschen, die um uns waren.
Dann hatte sie mir den Arm entzogen. Sie wandte sich und schritt eine der Treppen zu den Dünen hinauf, langsam, Stufe für Stufe, indem ihre Hand sich müde auf das Geländer stützte. Sie sah sich nicht um. Ich stand und blickte ihr nach, bis sie verschwunden war. Dann begab ich mich zu Bekannten. –
An diesem Abend war ich der Letzte, der den Strand verliess. Der Mond stand schon lange, fast gefüllt, hinter mir über der Haide, die Lichter in den Strandhallen waren ausgelöscht und keine menschliche Stimme mehr zu vernehmen. Ich aber sass immer noch auf meinem Schemel, sah auf die silbergrüne Flut hinaus und lauschte den geheimnisvollen Klängen des Wassers, das durch die Nacht 26 ging, steigend und fallend, raunend und verklingend – unaufhaltsam – unaufhaltsam – –
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Ich verschob meine Abreise.
Am nächsten Tage, gegen Mittag, begab ich mich, während der Wind aus dem Pavillon der Kurkapelle abgerissene Klänge der Tannhäuserouverture durch die Luft verwehte, zum Strand, in der Hoffnung, dem jüdischen Mädchen wieder zu begegnen.
Nach längerem Suchen sah ich sie über ein Buch geneigt in einem Strandkorb sitzen. Sie trug die Toilette von gestern, nur einen andern Hut. Das Plaid lag neben ihr. Ich näherte mich ihr, ohne dass sie es merkte.
»Guten Morgen« sagte ich dann, als ich vor ihr stand.
Sie blickte überrascht auf, nachdem sie ihre rechte Hand auf die Stelle des Buches gelegt hatte, wo sie soeben las.
»Guten Morgen« entgegnete sie. »Ah – Sie sind es? Ich habe es mir gedacht, dass Sie wiederkommen würden; natürlich.« (Da lachte sie.) »Aber ich frage Sie: Was wollen Sie von mir? Haben Sie an gestern nicht genug? Und übrigens: Heut Abend kommt mein Baron. Ich bitte Sie inständig, mich in Zukunft nicht mehr zu kennen; um Unannehmlichkeiten zu vermeiden, wissen Sie.«
Ich stand verdutzt. Da machte sie eine flinke, sehr ungeduldige Handbewegung:
»Gehen Sie doch.«
Es lag ein Klang in ihrer Stimme, der heraufkommenden Groll verkündete.
Nun war ich gefasst und stiess, wie sie zuvor, ein stilles Lachen aus. Dann ging ich. Über mir machten zwei Möwen 27 einen zänkischen Lärm. Die eine suchte der andern einen Brotbrocken abzujagen. Diese Wut. Ich sah den Tieren, deren glänzend weisses Gefieder entzückend gegen den hellblauen Himmel abstach, eine Weile zu. Dann schritt ich weiter, hart am Wasser entlang, und liess mir die Schuhe von dem Schaum der zerfliessenden Wellen netzen.
Am folgenden Morgen reiste ich ab.