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Cork

Dann war es ein trüber nebliger Morgen. Wir stehen auf dem Bootsdeck, an der Stelle, die von der Dampfmaschine angenehm gewärmt ist. Vor uns, auf dem unsympathischen Deck dritter Klasse stehen (jetzt muß es wohl wieder erlaubt sein) zwanzig irische Boyscouts in Uniform, mit aufreizend irisch-grünen Halstüchern und mit gelb gestickten Harfen auf den Rockärmeln, von grünen Shamrock-Kleeblättern ganz zu schweigen. Geputzt mit nationalen Symbolen, und vor allem hochwichtig durch diese Symbole, stehen die langen Burschen da, machen irische Nasenlöcher weit auf und wittern ihr Land. Dort hinten beginnt es. Ein grüner Küstenstreifen; er öffnet sich liebenswürdig und läßt den Dampfer ein.

Und nun kommt ein Labyrinth von Kanälen und Buchten, von Inseln und Vorgebirgen. Es ist wie ein norwegischer Fjord, nur nicht so resolut, weicher, gemütlicher. Das Meer stattet dem Land einen freundschaftlichen Besuch ab und rinnt tief hinein. Kleine Städte mit großen Kathedralen stehen am Ufer und jeder Ort hat seine netten Villenvororte mit gepflegten Gärten. Dann wird die Bucht enger; ein Kanal, schließlich eine Flußmündung. Zwischen grünen Höhen (man versteht sofort, warum Irland die »Smaragdinsel« genannt wird) liegt eine Stadt. Reizend. Der Dampfer hält. Die Stadt liegt noch immer da. Schon etwas zu lange. Gut, wir steigen aus. Man bemerkt, daß es eine Hauptstraße gibt; nur ist das Hotel, das sie verziert, etwas mäßig. Immerhin, man säubert sich und geht aus. Also das ist die Stadt Cork in Südirland! Es gibt eine Hauptstraße und ferner noch eine Hauptstraße. Letztere heißt the Grand Parade; mein Reisehandbuch erzählt, es sei eine sehr schöne Straße und ihr Hauptschmuck sei eigentlich eine Reiterstatue des Königs Georg II., aber die Statue sei nicht mehr da, weil sie loyale irische Untertanen eines Tages in den Fluß geschmissen haben. Es war nicht schön von ihnen, denn wenn sie auch schon rebellisch gesonnen waren, hätten sie einem armen Reisenden das bißchen Sehenswürdigkeit stehen lassen dürfen.

Indessen, wozu besitzt der Mensch ein Reisehandbuch, als auf daß es ihm die nötigen Sehenswürdigkeiten beschaffe? Also was sagt mein grüngebundenes Reisehandbuch mit den vielen Illustrationen?

Es meint, daß Sankt Finn Barr im siebenten Jahrhundert eine Abtei gegründet hat. Hm, aufregend! Ferner hat sich Desmond Macarthy, König von Munster, im Jahre 1172 dem englischen König Heinrich II. ergeben. Natürlich; sobald man Irland betreten hat, fangen die alten irischen Könige an; es ist ein Stichwort gefallen. Nichtsdestoweniger kann ich mir den König Desmond Macarthy nicht besehen; er ist nämlich allerhöchst tot.

Das Reisehandbuch schlägt mir vor, ich könnte mir ja das Gebäude der Bank von Irland ansehen. Oder auch das Haus des Grafschaftsklubs. Mir wird die Wahl schwer; schließlich gehe ich zur katholischen Kathedrale und erlebe eine angenehme Überraschung. Die Kirche ist erst 1879 (von W. Burgess) erbaut worden und ist dennoch ein bedeutendes Kunstwerk. Es gibt in Irland – außer malerischen Ruinen – nicht sehr viele alte katholische Kirchen; die meisten Kathedralen sind seit der Emanzipation der Katholiken neu erbaut worden und, wie es scheint, nicht immer mit Glück. Diese Kirche hier, eine funkelnagelneue und dennoch romanische und – welches Wunder – dennoch schöne Kirche will etwas ausdrücken und sagt es mit starkem Laut: »Ich bin die alte Kirche der irischen Apostel – ich die neue Kirche, die nicht gestorben ist, die über Cork regiert und über die ganze Insel!«

Der Sakristan sagt, die Kirche sei eins der schönsten Werke der altfranzösischen Gotik. Er irrt sich, aber ich gebe ihm dennoch drei Pence. Da bringt er mir ein Buch und meint, ich müsse mich unbedingt eintragen. Solch ein Gentleman wie ich komme nicht alle Tage in seine Kirche.

(Ein düsterer Verdacht betrübt mich: sollte, ja sollte der Mann an meiner Aussprache des Englischen bemerkt haben, daß ich ein Fremder bin? Ich hatte so stark auf Irland gerechnet! Hier sprechen die Leute ein schlechtes Englisch – ich spreche auch ein schlechtes Englisch, also könnte man mich freundlichst für einen echten Iren halten.)

Nach dem Besuch der Kirche entsteht in der Folge der Corker Sehenswürdigkeiten und Vergnügungen wieder eine peinliche Pause. Diese überaus angeregte und anregende Provinzstadt liegt fortgesetzt an den Ufern des Flusses Lee und rührt sich nicht. Folglich muß der Mensch Mittag essen gehen. Die Lokale, die es gibt, sind erschrecklich verlockend. Am Ende einer Wanderung durch die Hauptstraße, oder nein, durch beide Hauptstraßen, sitzen wir an einem leidlich gedeckten Tisch und nun können die irischen Nationalspeisen beginnen. Aber nein, die Speisekarte ist genau so, wie bei Lyons in London, wo ich mir den Magen so sehr verdorben habe. Ich kann ein Roastbeef haben, ein zu wenig oder ein zu stark gebratenes Beefsteak, eine große Auswahl von Erdäpfeln, eine Tasse Tee. Es kostet nicht mehr, als ein nettes Luxus-Frühstück in einem guten deutschen Weinrestaurant ersten Ranges. Immerhin, wenn man ein englisches Mittagessen der Reihe nach mit scharfer Worcestershiresauce begießt, mit Senf bestreicht, mit Pfeffer bestreut, mit Fruchtgelee beträufelt, kommt schließlich doch ein Geschmack in das harmlos biedere Zeug.

Ich sehe manchmal auf die Uhr, aber es ist noch immer nicht morgen früh. Ich bummele durch die Straßen und entdecke zwei Kategorien: schmutzige und langweilige. Die Läden werden mir vor der Nase geschlossen, denn es ist einer der unzähligen irischen Feiertage.

Auf einmal lese ich ein Plakat: irgendwo da draußen wird eine Pferdeschau abgehalten. Ha, ich stürme geradezu auf das Verdeck der elektrischen Straßenbahn. Und nun geht es wieder durch ganz reizende Villenviertel, deren Gärten unter trübem Himmel eine italienische Vegetation umfassen. Ein umzäunter Platz. Bettler. Gedränge. Tickets, please.

Ich gehe durch die Drehtür und weiß plötzlich, daß ich unrecht habe. Ich komme direkt aus London nach Cork und verlange – weil gerade kein geeigneter Zug geht – daß Cork, Südirland, so belebt und interessant sein soll, wie dieses brausende, brüllende London. Hingegen bin ich in einem Lande, wo treffliche Schweine gemästet, edle Pferde gezüchtet werden. So ein Land braucht Marktstädte und sie müssen genau so aussehen wie Cork.

Auf dem großen Platz wirbeln unzähliche landwirtschaftliche Maschinen, Dampfmotoren stampfen. Rechen, Dreschflegel, Sensen werden rhythmisch bewegt. Es ist ein buntes Bild. Gutgenährte Farmer mit Sportkappen stehen sachlich vor den Maschinen, bilden kleine Gruppen und sehen zu.

In großen Holzbaracken stehen Pferde; sie werden gleich im Ring vorgeführt werden. Aus einem Schuppen tönt lautes Krähen – und wahrhaftig, klein sind irische Preishühner nicht.

Mein Begleiter ist unzufrieden. Er hat sich Sensationen versprochen, mindestens etwas Jahrmarktstreiben. Nein, das gibt es nicht. An einem einzigen Stand werden künstliche Blumen verkauft, und einige Provinzdamen kaufen diese Blumen, und ihre Urenkel werden sie noch in den ererbten Vasen stehen haben. Sonst – Sämereien, Dungmittel. Eine Bar, in der breitbeinige Männer ohne Leidenschaft, aber mit Hingabe irischen Whisky trinken. Ein bescheidenes Teezelt für die Damen. Das ist alles. Und doch ist ganz Cork hier draußen.

Ich sehe es meinem Begleiter an: er bezweifelt, ob er deswegen extra nach Irland gekommen ist. Ich sage ihm, daß ich deswegen gekommen bin. Heute früh die Buchten und Inseln – morgen die Berge und Seen, ja, das ist die angenehme Zugabe. Was dazwischen liegt, das ist langweilig – und ist der Kern der Sache, ist das Leben. Unselig das Land, das nur dem Touristen etwas bietet; auf dieser Erde sind fast alle malerischen Gegenden unfruchtbar und alle interessanten Bevölkerungen verlumpt. An beiden fehlt es in Irland nicht; aber es gibt auf dieser armen Insel auch Mastschweine und Kartoffeln. Das ist minder interessant und ist die Zukunft und die Hoffnung des Landes. Irland liegt wenige Stunden von London, und London bezieht sein Fleisch aus Australien, und Irland hungert, und beide könnten sie vom irischen Speck satt werden, wenn Irland noch etwas langweiliger würde. Die Engländer haben solche Angst, daß ihnen im Falle eines europäischen Krieges die Zufuhr von Lebensmitteln für ihre Industriestädte abgeschnitten werden könnte. Dennoch dulden sie, daß in ihrem eigenen Lande immer mehr vom fruchtbaren Ackerboden in Lustgärten und Jagdgründe für die Gentry verwandelt wird, und auf der irischen Nachbarinsel haben sie es durch eine beispiellos unsinnige junkerliche Agrarpolitik dahin gebracht, daß die Ackerbauer aus Not zu Hunderttausenden auswanderten, daß heute der beste Teil des irischen Bodens brach liegt, der Rest unrationell bewirtschaftet wird. Jetzt, wo eine antijunkerliche Majorität regiert, sieht England ein, daß jedes neue Kornfeld in Irland, jede neue Kuh auf den luxuriösen irischen Weiden die Position ihres Weltreiches festigt. Ein gesunder Ackerbau in Irland schützt London und Birmingham vor der Kriegsgefahr besser als hundert Dreadnoughts, die hungrigen Bürgermägen nichts zu essen geben können. Mit jeder Kartoffel aber, die ein irischer Bauer einem englischen Importeur verkauft, wird zugleich das rebellische Irland fester an das Reich gefesselt. Wenn es dem irischen Bauern gut geht – wem soll er seine Produkte verkaufen, als dem englischen Konsumenten? So etwas verbindet zwei Länder stärker als zehn Foliobände voll politischer Phrasen. Es gibt zurzeit nichts Wichtigeres und Interessanteres in Irland, als die Kartoffelfelder.

Von diesem Standpunkt aus müßten alle guten Iren und noch mehr alle guten Engländer dafür sein, daß man die berühmten Seen von Killarney zuschüttet und auf dem gewonnenen Land Kartoffeln baut. Man möge dieses Löbliche tun, aber bitte, noch nicht in dieser Woche. Ich fahre jetzt bald nach Killarney und ich will dort immergrüne, wild duftende Wälder haben und dunkle Wasserflächen. Ich werde davon träumen. Ich bin nämlich, nachdem ich die Pferdeschau gesehen habe, durchaus dafür, daß es solche Ackerbauzentren gibt wie Cork – aber ich denke, nach einem Corker Tag muß man angeregt schlafen und von etwas anderem träumen. Daß ich von Kartoffeln träumen soll, kann kein glühender irischer Patriot von mir verlangen.


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