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Träumgern lag auf der Sommerwiese. Über ihm tanzten die Eintagsfliegen in den letzten, schrägen Sonnenstrahlen. Dann verschwand die Sonne mit einem Blinzeln ihrer freundlichen Augen und der Vollmond, der als blasse Scheibe am Himmel stand, wurde mit jedem Augenblicke goldener und glänzender, bis er wie eine große, runde, gelbe Frucht in der nächtlichen Bläue hing.
»Vollmondnacht,« murmelte Träumgern. »Da kommen die Blumenelfen aus den Kelchen und tanzen. Das will ich mir ansehen.«
Nebel spannen dünne Schleier über die schlafende Wiese. Als sie sich verzogen, bemerkte Träumgern ein hundertfältiges Regen 102 weißer Schmetterlingsflügel und als er näher hinsah, waren es gar keine Schmetterlingsflügel, sondern die Flügel der schwebenden, tanzenden, sich lautlos von Kelch zu Kelch bewegenden Blumenelfen. Nie hatte Träumgern etwas Schöneres gesehen. Der Mond stand hoch am Himmel, seine Strahlen fielen senkrecht auf die Waldwiese. Alle Dinge schwammen in Silber und Blau, Silber tropfte von den schwarzen Nadelbäumen, Silber rieselte von den betauten Blumen. Über den Kelchen erklang ein leises Singen.
»Nachtelfenvolk, heran, heran
zu Spiel und Ringelreihn.
Der Mond schwebt überm dunkeln Tann
und ladet freundlich ein.
Er hat ein goldnes Angesicht
und spendet milden Glanz.
Die Nacht ist lau, die Nacht ist licht,
Nachtelfen, kommt zum Tanz!«
Träumgern bekam Herzklopfen, als er das scheue Völklein also belauschte. »Daß nur kein Zweiglein knackt und kein Blatt von den Bäumen fällt, sonst verschwinden sie alle,« dachte Träumgern und wagte nicht, sich zu rühren, obwohl ihm die Füße eingeschlafen waren vom unbequemen Sitzen.
Das Tanzen und Flattern war eben im schönsten Gange und die Elfen kamen so nahe an den lauschenden Träumgern heran, daß er selbst ihre Gesichter und die Farben ihrer Blumenkleidchen unterscheiden konnte. Da kam aus der Luft etwas wie ein Stöhnen, ein Klagelaut und im Nu war das lustige Völkchen zerstoben wie eine Handvoll Blütenblätter im Wind. Zornig über die Störung sah Träumgern in die Luft. Hatte ein Nachtvogel diese störenden Töne hervorgebracht?
Was aber Träumgern, das Wichtelmännchen, jetzt sah, das war ihm in seinem ganzen Leben nicht vorgekommen, ja, das hätte 103 es nie für möglich gehalten. An einem der silbernen Mondstrahlen schien sich eine große Spinne herunterzulassen, hielt ein, kam näher und haspelte sich also langsam der Wiese zu, wobei von Zeit zu Zeit die Klagelaute hörbar wurden, die die Elfen verscheucht hatten. »Eine Riesenspinne,« dachte Träumgern auch wirklich. »Woher kommt sie und was will sie hier?« Denn das seltsame Wesen, das sich auf so ungewöhnliche Art der Erde näherte, war zumindest so groß wie ein ausgewachsener Wichtelmann. Als es aber ganz nahe war und mit zwei Füßen auf die Erde sprang, sah Träumgern, daß es gar keine Spinne war, sondern ein Weiblein, silbern von Angesicht, Haar und Gewand, und daß es mit beiden Händen an seinen Fuß faßte und leise jammerte.
»Ja, wer sind Sie denn eigentlich?« fragte Träumgern voll Erstaunen und kam aus seinem Versteck heraus. Das silberne Weiblein erschrak nicht wenig, als so mit einem Male der Kopf des Wichtelmännchens zwischen den schlafenden Glockenblumen auftauchte. Als es aber Träumgerns freundliche Augen sah, faßte es Mut und sagte:
»Ach, liebes Männchen, kannst du mir nicht sagen, wo hier das Kräutlein Heilgut wächst? Ich brauche es so notwendig für meinen kranken Fuß, der gar nicht heilen will!«
»Das Kräutlein Heilgut kenne ich wohl,« versetzte Träumgern. »Es hat gezackte Blätter, wächst ganz versteckt am Boden und atmet würzigen Duft aus, wenn man es pflückt. Wollen sehen, wollen sehen, liebe Frau, ob es hier wächst!«
Und beide, Träumgern und das vom Himmel gefallene Weiblein, begannen eifrig zu suchen, wobei das Weiblein freilich seinen Fuß nachzog und bei jedem Schritte ächzte und stöhnte. Trotzdem raufte es eine Handvoll verschiedener Kräuter aus der Erde und hielt sie Träumgern fragend unter die Nase.
»Hm, Löwenzahn, Gundelrebe, Taubnessel, Fetthenne, Mauerpfeffer,« murmelte dieser. »Alles gute und nützliche Kräuter; doch 104 das Kräutlein Heilgut ist nicht dabei. Ich will noch am Waldrand suchen, vielleicht finde ich es dort.« Wirklich kam Träumgern nach einem Viertelstündchen gelaufen, beide Hände voll des grünen Kräutleins mit den gezackten Blättern und dem würzigen Geruch.
Das Weiblein steckte die Blätter eilfertig in die Taschen, haschte dann wieder nach einem Mondstrahl und sagte:
»Vielen Dank, Wichtelmännchen, du hast mir einen großen Dienst geleistet. Ich bin nämlich die Mondfrau und wohne dort oben auf dem glänzenden Mond. Jahraus, jahrein spinne und wirke ich mit meinen Töchtern, den Mondmädchen, die schimmernden Fäden und Strähne des Mondlichts und werfe sie in schönen Nächten als kostbares Gewebe über euere Erde. Gestern aber habe ich mich mit der Axt ins Bein geschnitten, die mein Mann, der Mann im Monde, sonst über der Schulter trägt. Und weil bei uns oben alles aus Silber ist, von den Tannenbäumen angefangen bis zu den Blumen und Gräsern, und weil mein Fuß gar so weh tat, bin ich heute bei Vollmond auf die Erde herab geklettert, um mir das Kräutlein Heilgut von hier zu holen. Jetzt ist es aber höchste Zeit, daß ich wieder heimkomme. Leb wohl und schönen Dank!«
Mit offenem Munde stand Träumgern da und sah zu, wie die Mondfrau nun trotz ihres kranken Fußes an dem silbernen Mondstrahl in die Höhe kletterte, wirklich wie eine Spinne an ihrem unsichtbaren Faden, kleiner und kleiner wurde und dann in einem Wölkchen verschwand, nachdem sie noch heruntergerufen hatte: »Heute über vier Wochen, beim nächsten Vollmond bin ich wieder hier!«
»So eine seltsame Bekanntschaft habe ich doch in meinem Leben nicht gemacht!« sagte Träumgern und schüttelte den Kopf. Der Mond war am Untergehen, der Frühwind schauerte durch die Bäume und Träumgern ging nach Hause. Zu Beginn der nächsten Vollmondnacht war er wieder auf der Wiese. »Wenn die 105 Mondfrau kommt,« sagte er zu sich selbst, »will ich sie bitten, mir doch einen kleinen Ausflug auf den Mond zu gestatten! Für mein Leben gern würde ich den Mond in der Nähe sehen!«
Der Vollmond ging auf und tauchte Wald und Wiese in zartes Licht. Die Elfen kamen hervor und tanzten noch schöner als das erstemal. Aber soviel Träumgern auch in die Höhe blickte, von der Mondfrau war kein Zipfelchen zu erblicken. »Da hat man's,« brummte der enttäuschte Wichtelmann. »So halten die Mondleute ihre Versprechungen!« Trotzdem kam er nach vier Wochen wieder und versteckte sich im Grase, nachdem er sich noch die Taschen mit dem Kräutlein Heilgut gefüllt hatte. »Wer weiß,« murmelte er, »vielleicht ist der Fuß schlimmer geworden und die Mondfrau hat das letztemal die Reise auf die Erde nicht unternehmen können!«
Wie Träumgern so vor sich hinbrummte und ab und zu nach dem Monde guckte, da baumelte mit einem Male wieder etwas an einem silbernen Strahl, kam näher und näher und war nicht das Mondweiblein selbst, sondern etwas Junges, Silbernes, Anmutiges, mit einem Wort, ein Mondmädchen. »Bist du Träumgern, das Wichtelmännchen?« fragte es in lustigem Ton. »Ich bin von der Mondfrau, unserer Mutter, zu dir geschickt, um dich zu einem kleinen Ausfluge nach dem Monde einzuladen. Eine Handvoll der heilsamen Kräuter sollen wir auch mitbringen. Kannst du klettern?« Natürlich konnte Träumgern das, saß er doch manchmal wie ein Eichhörnchen im Wipfel der höchsten Tannen. Das Mondmädchen zog sich also wieder an einem Mondstrahle in die Höhe, das Wichtelmännchen folgte und so kletterten die beiden Griff um Griff dem schönen, lachenden Vollmonde entgegen. Je höher sie kamen, desto schwärzer wurde die Nacht, desto unheimlicher der Raum, desto tröstlicher und heller aber auch der Mond, der um so größer aussah, je kleiner die verlassene Erde unter Träumgern zurückblieb. Schon unterschied das Auge die Berge und Täler am Mond, alle 106 wie aus blitzendem Silber, und silbern waren, als er näherkam, Tannen und Fichten, Blumen und Sträucher und alle Dinge, die man ringsum erblickte.
Nach einer letzten Anstrengung fand sich Träumgern, dem es zuletzt doch ein wenig schwindlig geworden war, von dem freundlichen Mondmädchen an der Hand gefaßt und auf den Mond gezogen und ihr könnt euch denken, daß er froh war, nun wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.
»Schön habt ihr es hier oben,« waren Träumgerns erste Worte, als er ein wenig verschnauft hatte. »Ich hätte das nie gedacht, wenn ich den Mond so hoch oben am Himmel wandern sah.«
»Komm jetzt zur Mondfrau!« sagte seine Begleiterin und führte den verwunderten Träumgern zu einem Häuschen, das am Rande des silbernen Waldes stand und natürlich auch aus purem Silber war. 107
»Hier wohnen wir und weben Nacht für Nacht aus dem schimmernden Mondgarn den milden Glanz euerer hellen Nächte,« sagte das Mädchen. »Du kannst dir denken, wie fleißig wir sein müssen! Und da ist auch schon meine Mutter!«
In der Tür des Hauses stand die Mondfrau und begrüßte den Ankömmling wie einen guten, alten Bekannten. »Mein Fuß ist schon viel besser,« sagte sie. »Dir und dem Kräutlein Heilgut Dank. Ich wäre schon beim letzten Vollmond gekommen, dich zu einem Besuche hier oben einzuladen, denn ich weiß, ihr Erdenleute zerbrecht euch den Kopf, wie es auf dem Monde zugeht. Aber da hatte ich zu viel zu tun. Nun komm herein und iß und trink.«
Mit großen Augen sah sich Träumgern im Hause der Mondfrau um. Tische und Kästen, Teller und Krüge, alles war aus blinkendem Silber. Auch die Mondfrau selbst strahlte noch mehr wie auf der Wiese unten silbernen Glanz aus und gar erst die Mondmädchen, die unter Singen und Lachen damit beschäftigt waren, strahlendes Garn zu mildem Mondschein zu verspinnen, leuchteten von Angesicht und Gliedern, daß das Wichtelmännchen sich selbst als einen recht störenden dunklen Fleck in der allgemeinen Helle empfand. »Ja, ihr auf der Erde seid ein bißchen dunkel und schwer,« sagte die Mondfrau. »Bei uns ist alles leichter, durchsichtiger und schwebender. Jetzt sollst du auch etwas erblicken, was kein irdisches Auge je sah. Den Tanz der Mondmädchen.«
Sie klatschte in die Hände und von allen Seiten kamen ihre schimmernden Töchter herbei, hauchzart, wie der liebe Mondschein selbst. »Es sind fleißige Kinder,« sagte die Mondfrau. »Sie bauen den silbernen Flachs, sie hecheln und brechen ihn; sie spinnen die Fäden und wirken das Garn. Ihr Vater, der Mann im Monde, läßt sich entschuldigen; er hatte heute anderweitig zu tun.« 108
Abermals klatschte sie in die Hände und jetzt vernahm man feinen, leisen Gesang, die Mondmädchen nahmen Träumgern in die Mitte, schwangen sich im Reigen und sangen dazu:
»Wir wirken und spinnen,
wir Mondweberinnen,
den irdischen Dingen
das silberne Licht.
Das Fließende weben,
das Strahlende geben
bei Tanzen und Singen
ist unsere Pflicht.
Wir hellen das Dunkel
durch mildes Gefunkel,
wir spinnen das Holde
und weben den Glanz;
wir schenken der Erde
mit linder Gebärde
die Mondstrahlendolde,
den himmlischen Kranz.«
Damit drückten sie Träumgern einen Kranz aus Mondstrahlen auf den Kopf, der Gesang ward leiser und leiser, die Mondmädchen schienen durchsichtiger und zerflossen endlich wie silberner Hauch. Träumgern verspürte eine unbezwingliche Schläfrigkeit und konnte die Augen kaum offen halten. »Du bist müde geworden,« hörte er die Stimme der Mondfrau wie aus weiter Ferne sagen. »Das kommt von der dünnen Luft bei uns hier oben. Geschwind, ihr Mädchen, holt ein besonders kräftiges Strahlenseil herbei, damit unser Gast ungefährdet auf die Erde zurückkehren kann. Es ist ohnedies höchste Zeit für ihn.«
Da waren die munteren Mondmädchen wieder zur Stelle, schleppten einen festgeflochtenen Strahl herbei und warfen ihn mit 109 einer wohlgezielten Bewegung gerade auf die Waldwiese, von der Träumgern hergekommen war. »Nun halte dich gut an und rutsche hinunter,« sagte die Mondfrau. Das Wichtelmännchen bedankte sich also für die freundliche Aufnahme, ließ sich auch noch dem Mann im Monde empfehlen und machte sich, das Mondseil zwischen Händen und Knien wie die Knaben eine Kletterstange, auf die Heimfahrt. Hei, war das eine geschwinde und lustige Reise! Der Mond über dem Wichtelmännchen wurde kleiner und kleiner, die Erde unter ihm größer und größer. Schon konnte man die Berge und Täler erkennen, dunkle Wälder und die blinkenden Augen von Teichen und Seen, ja ein Fluß bog sich in Windungen wie eine silberne Schlange durch die Landschaft. Immer rascher und rascher ging die Abfahrt, der Mondstrahl war wirklich besonders glatt und fest und Träumgern dachte dankbar an die guten Mondmädchen, die ihn gesponnen hatten. Da schob sich eine große, schwarze Wolke heran. Ritsch, ratsch, schnitt sie wie mit einer Schere den glänzenden Mondstrahl entzwei. Es war mit einem Male dunkel geworden im weiten Raum. Das Wichtelmännchen aber fühlte sich fallen und es stürzte, stürzte wie es ihm vorkam, Ewigkeiten lang aus einer ungeheuren Höhe, bis es mit hartem Aufprall auf dem Erdboden landete.
»Na, hast du wieder einen wunder-, wunderschönen Traum gehabt?« fragte eine Stimme und als Träumgern um sich sah, lag er auf der Waldwiese, die Sonne schien, die Blumen lächelten ihn an und unter dem großen Schirmpilze saß behaglich Freund Eßgern mit Kaffeetasse und langer Pfeife.
»Du machst ja ein Gesicht, als wärest du vom Mond gefallen,« lachte Eßgern, als sich Träumgern nun im Grase aufsetzte und verwundert um sich schaute. »Ja, ja, du kannst eben das Träumen nicht lassen. Was mich betrifft, mir ist mein Kaffee und mein Pfeifchen lieber.« 110
Aber Träumgern lächelte nur in sich hinein und dachte: »Lache mich nur ruhig aus, ich weiß es besser. Ich bin ja doch diese Nacht bei der Mondfrau und den Mondmädchen gewesen. habe ihren Silberstrahlentanz gesehen und ihren Gesang gehört. Und wer weiß, in der nächsten Vollmondnacht steige ich vielleicht wieder zu ihnen auf den Mond!« 111