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Die Waldwiese strahlte im Sonnenschein. Hunderte von Blumen hielten ihre Gesichter den goldenen Strahlen entgegen, die Glockenblumen läuteten, die Nelken leuchteten in ihrem freudigen Rot, die Zittergräser tanzten im Winde. Mitten unter dem bunten Allerlei stand eine Sternblume. Ihre weiße Blumenkrone war groß und regelmäßig und wenn die Schmetterlinge vorüberzogen, die Pfauenaugen und die Trauermäntel, die Weißlinge und die Bläulinge, dann hörte die Sternblume sie untereinander in der Schmetterlingssprache sagen. »Seht nur, Kameraden, das ist die allerhübscheste, weiße Sternblume auf der ganzen Wiese.« 92 Auch der Wind schmeichelte ihr und die Hummeln summten ihr Artigkeiten ins Ohr, obwohl das doch sonst garnicht ihre Gewohnheit ist. Und rund um die Sternblume herum blühte und duftete es, freute sich groß und klein und pries jedes Geschöpf in seiner Sprache und nach seiner Art den schönen Tag und die wundervolle Heimat, die Waldwiese. Ja, die kleine Sternblume hätte wahrhaftig alle Ursache gehabt, glücklich und zufrieden zu sein.
Dennoch war sie weder glücklich noch zufrieden. Am Morgen trug sie länger als alle andern Blumen eine Tauträne in ihrem Kelche, am Abend schloß sie früher als die andern ihre Blüte zu und mit den Nachbarinnen sprach sie nur das allernötigste. Man hielt sie deshalb für hochmütig, aber sie war es nicht. In ihrem kleinen Blumenherzen war eine große, große Sehnsucht nach der Weite und Ferne, nach Unerhörtem und Niegesehenem. Die Sternblume beneidete die ziehenden Wolken am Himmel um die Freiheit ihres Fluges und die Libellen und Falter um die Leichtigkeit ihrer Bewegung.
»Ihr habt es gut,« sagte sie zu ihnen. »Ihr könnt fliegen, wohin es euch gefällt. Ihr wißt nicht, was es heißt, mit allen Wurzelfasern in der Erde zu stecken und nicht fortwandern zu können.«
Aber die Libellen und Falter hörten nicht auf ihre Klagen, sondern schwirrten und flatterten her und hin und die weißen Wölkchen sangen, ehe sie hinter dem Walde verschwanden.
»Wir können nicht verweilen
am blauen Himmelszelt;
wer mit will, muß sich eilen
zur Reise um die Welt.
Wir sind die lust'gen Brüder
und bleiben niemals stehn,
bis wir zur Erde nieder
als sachter Regen gehn.« 93
Nein, da war keine Hilfe zu erwarten, das sah die kleine Sternblume wohl. Auch vom Wind nicht, der ihr gern jeden Wunsch erfüllt hätte. »Schön ist es hinter dem Walde, wo die hohen Berge beginnen,« sang er der Sternblume ins Ohr. »Schön ist es auf den grünen Ebenen und an dem blauen, blauen Meer. Wärest du ein Samenkörnlein, ich führte dich um die ganze Welt und ließe dich ihre Schönheit sehen. Aber wie soll ich eine Pflanze mit Wurzeln und Blättern mit mir nehmen?«
Da kam eines Tages der Bergfink von den hohen Bergen herübergeflogen, wetzte den Schnabel und sang von dem Eis und Schnee seiner Heimat, von ihren tausend Wässerlein, von den grünen Almweiden mit den bunten Bergblumen darauf. »Schön ist eurer Wiese Blumenflor,« rief er. »Schön sind eure Täler und Wälder. Aber tausendmal schöner ist es auf meinen Bergen oben.« »Erzähle von deinen Bergen,« bat die kleine Sternblume und bekam Herzklopfen vor Erwartung. Denn das war ja gerade das Unerhörte und Niegesehene, nach dem sie so großes Verlangen trug.
»Grau sind die Häupter meiner Berge,« sang der Fink. »Sie haben Kronen und Stirnreifen aus blitzendem Schnee. Sie haben Mäntel aus blaugrünem Eis. Sie ziehen Schleppen von roten Alpenrosen hinter sich her und ihre Gewänder sind mit blauem Enzian bestickt. Und wenn die Sonne untergeht, beginnt der Fels, der Schnee, das Eis zu glühen wie Purpurrosen oder Feuersglut. Die Bäume wagen sich nur kniend in jene Gebiete. Denn der Geist der Berge ist ein strenger und furchtbarer Herr. Eisiger Wind pfeift um die drohenden Gipfel. Gewaltig und schön, groß und erhaben ist meine Heimat in den Bergen.« Damit hob der Bergfink die Flügel und flog davon, ohne sich noch einmal umzusehen.
In der folgenden Nacht träumte die Sternblume, daß sie sorgfältig ein Würzlein nach dem andern aus dem Boden gezogen hätte und fortgewandert wäre nach den hohen, fremden Bergen. 94
»Sollte das möglich sein?« dachte sie beim Erwachen. »Ich will es einmal versuchen!« Und sie zog ein Würzelchen und noch eines aus dem taufeuchten Boden. Es tat zwar weh, aber es ging. Da zitterte die Sternblume vor Freude am ganzen Leib und beschloß, am Abend, wenn alles schliefe, sich aus dem mütterlichen Erdreich zu lösen und die Wanderung nach dem Lande ihrer Sehnsucht zu beginnen. Nie war der Sternblume ein Tag so lang geworden wie dieser. Die Sonne schien gerade diesmal besonders lange am Himmel zu stehen, die Nachbarinnen wollten gerade heute die Kelche nicht schließen und ein paar nimmersatte Hummeln flogen noch immer über die Wiese, um nach einem offenen Blütenwirtshaus zu suchen. Endlich wurde es dunkel, Tau aus unsichtbarer Hand befeuchtete Gräser und Blumen und die kleine Sternblume zog den letzten ihrer vielen Wurzelfüße aus dem Boden und begann ihre Wanderung. Erst sah sie sich noch ängstlich um; aber Glockenblumen und Hahnenfüße, Nelken und Gänseblumen hatten die Augen fest geschlossen und träumten von neuem Sonnenschein.
»Die werden morgen früh schauen, wenn ich nicht mehr da bin,« dachte die Sternblume und rollte die Blätter für die Reise sorgfältig zusammen. Dann ergriff sie einen Stab, der am Wege lag, und machte sich auf die Reise.
Tief, tief schlief der Wald und regte sich kaum. Die Fichten standen nachtschwarz da mit langen, wallenden Bärten und träumten. Niemand bemerkte die kleine Sternblume, die tapfer über Moos und Nadeln hinschritt. Sie ging die ganze Nacht hindurch, obwohl es ihr im Finstern ein bißchen unheimlich war und sie auch auf Schritt und Tritt über ihre Würzlein stolperte, die ja gewohnt waren, fest im Boden zu stecken, und die jetzt wandern mußten. »Ach, meine Wurzelfüße tun mir so weh,« seufzte die kleine Sternblume. »Aber wenn ich mich jetzt hier im Walde festsetze, dann sehe ich wieder nichts von der Welt und den hohen, hohen Bergen; 95 ich muß weitergehen, koste es, was es wolle.« Inzwischen wurde es langsam heller zwischen den Bäumen, ein Vogelruf kam aus dem Gezweig, ein Sonnenstrahl brach durch die Äste und beleuchtete alles mit rötlichem Schein. Ein Wässerlein rieselte und plauderte talwärts und eine Drossel nahm plätschernd darin ihr Morgenbad. »Bin ich hier recht auf dem Wege zu den hohen, hohen Bergen?« fragte die Sternblume und hielt ein wenig im Gehen inne.
»Der rechte Weg ist es schon,« erwiderte die Drossel und sprang aus dem Wasser. »Aber es ist weit und steil bis dahin, viel zu weit und zu steil für eine kleine Sternblume. Bleibe lieber bei uns und wurzle dich hier ein!«
Ja, es hätte der Sternblume gefallen hier im Wald. Lärchen standen da in ihrem ersten Frühlingsflaume, Anemonen guckten noch treuherzig aus dem Grase, während die Wiese im Tal schon im vollen Sommerfestkleid prangte. Aber die Sternblume mußte weiter. »Vielen Dank, vielen Dank,« sagte sie zur Drossel. »Aber ich muß ins Gebirge, ich kann nicht hier bleiben.« Und sie stieg weiter. Jetzt endete der Wald, Alpenmatten traten an seine Stelle und die trotzigen Föhren waren niedrig und klein geworden und krochen gebückt am Boden hin.
»Die knienden Bäume!« rief die Sternblume und verschnaufte ein wenig, denn von dem steilen Wege klopfte ihr das Herz. »Da kommen wohl auch bald die roten Schleppen und die blauen Sterne, von denen der Bergfink sprach.« Und es dauerte nicht lange, da standen Büsche am Berghang, über und über rot von leuchtenden Blüten. Im kurzen Grase aber wuchsen die blauen Sterne und sahen so aus, als trügen sie den dunklen, wolkenlosen Himmel in ihren Kelchen.
»Ich bin die Prinzessin Alpenrose,« sagte die rote Blume und verneigte sich ein wenig. »Und das hier ist mein Freund, Prinz Enzian. Wir stehen jeden Sommer auf den Alpenmatten, aber wir haben noch niemals eine Sternblume hier oben gesehen. 96 Woher kommst du und wohin willst du, weiße Sternblume?« »Mich führte die Sehnsucht her,« entgegnete die Sternblume. »Der Bergfink erzählte im Tale unten von den hohen Bergen seiner Heimat, von ihren roten Schleppen und blauen Sternen. Es ist über alle Maßen schön bei euch, Prinzessin Alpenrose und Prinz Enzian!«
»Dann bleibe bei uns, weiße Sternblume,« sagte der Enzian und sah die neue Bekannte mit seinen blauen Augen strahlend an. »Der Boden ist gut, die Mutter Sonne schickt ihre wärmsten Strahlen hierher und wir werden uns sehr mit deiner Gesellschaft freuen!« Die kleine Sternblume wäre gerne geblieben. So freundliche Kameraden fand man nicht alle Tage und sie war auch schon etwas müde von der langen Wanderung. Aber sie hatte sichs nun einmal vorgenommen, das Ungeheuere und Niegesehene zu erblicken. »Schönen Dank,« sagte sie also. »Ich muß aber weiter bis zu den Gipfeln der hohen Berge.«
»Bedenke die Gefahren der Berge,« rief der Enzian. »Eisig weht oben der Wind. In dem felsigen Boden kannst du nicht Wurzel fassen. Unter Eiskörnern und Schneeflocken wirst du zugrundegehen, kleine Sternblume!« Die aber hörte ihn nicht mehr. Sie ging den steilen Weg zu den Gipfeln der Berge.
Längst hatte der Pflanzenwuchs aufgehört. Geröll und Sand versperrten den Weg, Schnee lag in den Schluchten. Das Vorwärtskommen wurde immer mühsamer für die kleine Blume, das Atmen fiel ihr schwer. Vor einem Loch im Gestein saß ein braunes Murmeltier und pfiff.
»Ei sieh, eine weiße Sternblume,« sagte es und war sehr erstaunt. »Wie kommst du hierher in die Felsen, wo nicht einmal Gras mehr wächst?« Die Sternblume hielt sich an ihrem Bergstock, um nicht umzusinken, denn sie fühlte sich äußerst schwach. Mühsam erzählte sie dem Murmeltier von ihrer Heimat im Tale und ihrer Sehnsucht nach den Bergen. Das Murmeltier schüttelte den Kopf; es war alt und sehr weise und hatte noch nie gehört, 97 daß Leute aus dem Tale auf die Berge klettern wollten. »Nur die Adler nisten dort oben,« sagte es und wies auf die Eis- und Felsgipfel des Gebirges, um das graue Nebel zogen. »Kein irdisches Wesen wagt sich außer ihnen hinauf. Denn oben wohnt der Geist des Gebirges und vernichtet jeden, der ungerufen naht.« Aber die Sternblume ließ sich nicht abhalten. »Ich muß auf den hohen Gipfeln stehen,« sagte sie, »ich muß in die Täler der Erde und in die Weite der Welt blicken. Laß mich, ich muß, ich muß!«
»Wem nicht zu raten ist, dem ist nicht zu helfen,« erwiderte brummend das Murmeltier. »Ich habe doch einen warmen Pelz und bin die Gebirgsluft gewohnt und ich möchte nicht hinaufsteigen.« Und es verkroch sich in seiner Höhle.
Die Sternblume stieg und stieg. Sie fror erbärmlich in ihrem dünnen Blätterkleidchen. Die Wurzelfüße wollten sie nicht mehr tragen, der Saft in ihren Adern erstarrte.
»Ich kann nicht mehr weiter,« sagte die Sternblume und ließ das Köpfchen hängen. »Vor mir ist Schnee und Eis, neben mir Fels. Ich kann hier nicht Wurzel fassen. Ich werde nie auf dem Gipfel stehen und die Weite der Welt erblicken. Ich muß hier sterben.« Eine Träne rann aus ihren Augen und erstarrte sofort zu einem Eistropfen.
Da fühlte sich die sterbende Sternblume vom Boden gehoben und eine Stimme sprach:
»Kleine Blume des Tals, was führte dich hierbei in Einöde und Wildnis?« Die Sternblume erwiderte mit matter Stimme: »Die Sehnsucht nach den Gipfeln der hohen Berge!«
»Kleine Blume des Tals,« sprach die Stimme wieder, »möchtest du denn hier bleiben zwischen Fels und Eis?« »Ach ja,« sagte die Sternblume leise, »ich möchte nie wieder ins Tal zurück!«
Da fühlte sie sich von warmem Hauch umfangen und gewahrte mit Verwunderung, daß sie sich zu verändern begann: aus dem dünnen Stengel wurde ein kräftiger Stiel, die zarten Blätter 98 wurden hart und jedem der weißen Blütenstrahlen wuchs unversehens ein dichtes, wolliges Pelzchen.
»Jetzt bist du fürs Gebirge ausgerüstet,« sagte die Stimme wieder und da die Sternblume schüchtern die Augen aufmachte, fand sie sich in der Hand eines bärtigen Alten mit weißbuschigem Haar. Ihr erstarrtes Blut rann wieder fröhlich durch die Adern, das neue Kleid hielt auch dem schärfsten Winde stand. Nun fühlte sie sich in die Höhe getragen, wo die Nebel um die Felsgipfel zogen.
»Standhaft und edel ist dein Sinn, weiß ist dein Kleid, kleine Sternblume; heiße von heute an Edelweiß und wohne auf den Gipfeln der Berge,« sagte der Geist des Gebirges und setzte die verwandelte Sternblume hoch oben in eine Felsmulde, die ihren Wurzeln ein wenig Nahrung bot. »Die tapferste Blume bist du und die seltenste, die einzige, die in Höhen wohnt, wo sonst nur noch der Adler horstet. Höchster Kühnheit Zeichen bist du von heute. Sei gegrüßt, Königin Edelweiß!« Der Geist des Gebirges verschwand, das Edelweiß stand allein auf dem Berggipfel. Es 99 wandte seine silbernen Strahlen der Sonne hin. Es ließ sich vom rauhen Bergwind schaukeln. Fest und sicher klammerten sich die Würzlein an den Felsen.
Es sah hinaus, da blaute die Weite der Welt, da erhoben sich Berge, da standen Wälder, da blinkten Flüsse und Seen. Unermeßlich weit sah die kleine Blume. Tief unter ihr waren die roten Schleppen der Alpenrosen, die blauen Sterne des Enzians und die knienden Bäume. Tief unter ihr lag die heimatliche Wiese mit dem bunten Sommerflor, waren Bergfink und Murmeltier. Das Edelweiß schaute und schaute und jauchzte in seiner standhaften Seele. »O Welt, wie bist du weit und schön! O Sehnsucht, wie hast du recht behalten. Ich darf auf der Höhe stehen und in die Weite sehen! Ich darf dem Winde trotzen und dem Unwetter standhalten! Der erste Gruß der Sonne trifft mich wie der letzte und ich stehe im Licht, wenn unter mir alles dunkelt. Ich bin die glücklichste Blume der Erde!«
Es war Abend geworden, die Sonne ging unter und mit einem Male strahlten Fels und Eis wie mit Purpur übergossen.
»Alpenglühen,« sagten die Leute in den fernen, dunklen Tälern und starrten hinauf. Sie wußten nicht, woher es kam. Es war das freudige Erröten der Berggipfel zur Begrüßung der Blume Edelweiß. 101