Hilda Bergmann
Vom Glöckchen Bim und andere Geschichten
Hilda Bergmann

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Die Märchentrulle.

»Mutter,« sagte die kleine Liese und sah mit großen Augen von ihrem Märchenbuche auf. »Ich möchte gerne wissen, wo die Märchen eigentlich herkommen!«

Die Mutter lachte: »Ja, weißt du, Liese, die kommen aus der Märchenmühle. Die steht am Rande der Welt, am Ende der Erde. Oben wirft man die Prinzen und Prinzessinnen und gestiefelten Kater hinein und unten kommen die fertigen Märchen zum Vorschein.«

»Ach nein, du scherzest nur,« entgegnete Lieschen und schüttelte den Kopf. »Aber ich möchte doch wirklich wissen, wo die Märchen alle herkommen.«

Die Mutter hatte keine Zeit zu antworten, sie wurde in die Küche gerufen, wo die Bäuerin mit Butter und Eiern stand. Im Zimmer dämmerte es langsam, die bunten Bilder des Märchenbuches und seine Buchstaben verschwammen.

»Jetzt kommt das Abendessen herein und ich muß schlafen gehen und niemand wird mir sagen, wo die Märchen herkommen,« 28 dachte Liese. Die große Pendeluhr in der Zimmerecke holte zum Schlag aus.

»Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben« schlug sie mit ihrer tiefen, ein wenig rasselnden Stimme. Plötzlich raschelte es vor Liese. Puck, das zahme Eichhörnchen, saß da, machte ein Männchen und sah mit seinen schwarzen Spitzbubenaugen zu dem kleinen Mädchen auf. Das war merkwürdig, denn Puck hatte ja schon eine ganze Weile in seinem Körbchen geschlafen. Noch merkwürdiger aber war, daß Puck mit einem Male zu sprechen anfing, ganz deutlich und verständlich, was er doch bisher nie getan hatte:

»Höre, Lieschen, ich weiß ganz genau, wo die Märchen herkommen, und wenn du willst, so führe ich dich hin!«

»Ist es aber nicht zu weit und können wir bis zum Abendessen zurück sein?« fragte Liese ängstlich und zaudernd. Aber Puck zwängte schon seinen schmalen, rotbraunen Körper mit dem langen, buschigen Schwanze durch die Türspalte und sprang voraus über Hausflur, Treppe und Gang ins Freie.

»Wenn nur Mutter sich nicht ängstigt und nicht böse ist, daß ich fortgelaufen bin,« dachte Liese mit schlechtem Gewissen. Aber sie mußte sehr aufpassen, daß sie Puck nicht aus den Augen verlor, der behend und in langen Sätzen dahinsprang. Es ging über Wiesen zum Wald. Puck erkletterte die Bäume, schnellte sich von Wipfel zu Wipfel, von Ast zu Ast. Endlich lichtete sich das grüne Dunkel des Waldes. Eine fremde, unbekannte Gegend tat sich vor Liese auf, eine Wiese, dergleichen sie noch nie gesehen hatte, schimmerte in allen Farben des Regenbogens.

»Das ist die Märchenwiese,« sagte Puck zu Lieschen.

»Wachsen vielleicht die Märchen hier?« fragte das kleine Mädchen neugierig. »Und kann man sie am Ende pflücken wie die Blumen?« 29

»Das gerade nicht!« erwiderte Puck. »Aber von hier aus muß der Weg zur Märchentrulle führen. Laß mich nur ein wenig suchen.«

Während er suchte und zwischen den wogenden Gräsern verschwand, sah sich Liese auf der Wiese um. An allen Stielen schaukelten blaue, rote und gelbe Märchenblumen, an den Grasspitzen hingen Tautropfen wie goldene und silberne Glöckchen und bimmelten im Windhauche. Das gab ein feines und liebliches Geläute, wie es Liese in ihrem Leben noch nicht vernommen hatte. Die großen, gelben Schwalbenschwänze und Segelfalter flogen in Scharen von Blüte zu Blüte, Spinnennetze spannten sich durch die Luft und die Spinnen darin waren funkelnde Edelsteine.

Endlich kam Puck dahergesprungen: »Jetzt habe ich den richtigen Weg entdeckt! Wir laufen sogleich zur Märchentrulle.«

»Märchentrulle?« fragte Liese erstaunt und machte wieder große Augen. »Den Namen habe ich doch noch nie gehört!«

Aber Puck, der es scheinbar sehr eilig hatte, gab keine Antwort, sondern huschte schon wieder voraus, schlüpfte durch die hohen Gräser und an den bunten Märchenblumen vorbei und sprang endlich über eine freie Matte auf einen Weg, der steil bergauf führte. Es wurde wilder und wilder, große Felstrümmer lagen umher und zuletzt endete der Weg am Rande eines ungeheuren Abgrundes, von dem man in unermeßliche Tiefen hinabsah. Ihr könnt euch denken, daß Liese, die bisher ganz vergnügt hinter Puck einhergelaufen war, Angst bekam und in ihrem kleinen Herzen Reue empfand, daß sie so mir nichts dir nichts von daheim, der dämmerigen Stube und der guten Mutter fortgegangen war, noch dazu vor dem Abendessen und ohne jemandem ein Wort zu sagen.

»Das ist der Rand der Welt,« sagte Puck jetzt zu der betrübten Liese. »Von hier sind es nur noch ein paar Schritte zur Märchentrulle. Die wird dir alles sagen, was du wissen willst!«

Damit machte Puck kehrt und setzte in langen Sprüngen bergab, um zwischen Gestein zu verschwinden. 30

»Puck, Puck, so höre doch!« rief Liese aus Leibeskräften hinter dem Flüchtling drein. Aber Puck hörte und sah nichts mehr.

»Das ist doch zu häßlich von Puck, mich hierherzulocken und dann allein zu lassen,« schluchzte Liese verzweifelt. Aber wiewohl sie laut weinte und unter Tränen nach Puck rief, kam er nicht zurück und das kleine Mädchen stand mutterseelenallein am Rande der Welt. Endlich trocknete Liese ihre Tränen und sah um sich. Einige Schritte weiter oben stand ein steinernes Häuschen, aus dessen Fenster lieblicher Gesang drang. Auch eine Wegtafel war in der Nähe, auf der in großer, deutlicher Schrift »Zur Märchentrulle« stand.

Ein wenig beruhigt ging die kleine Liese auf das Häuschen zu. Wenn hier Menschen wohnten, konnte sie ja nicht gar so weit von daheim sein und gewiß führte jemand sie nach Hause. An den Fenstern des Häuschens blühten bunte Blumen, die Wände waren mit farbigen Malereien geschmückt, alles sah heiter und beruhigend aus. Auch der Gesang klang stärker und schöner aus dem Hause. Jetzt konnte Liese schon die einzelnen Worte verstehen:

»Märchen, Märchen, wandert aus,
geht zu jedem Kind ins Haus,
bringt ihm bunte Dinge: 31
Vögel, Blumen, Wälder, Wiesen,
Königstöchter, Zwerge, Riesen,
Elfen, Schmetterlinge.
Unterm Strauch von Waldholunder
blüht und duftet manches Wunder,
sollt's den Kindern weisen.
Auf, ihr Märchen, in die Ferne!
Kinder hören Märchen gerne,
darum geht auf Reisen.«

Liese staunte noch mehr, als sie durch die offene Türe ins Zimmer sah. Ein riesiger Webstuhl stand mitten drin, ganz wie beim Weber Klaus im Städtchen unten, aber er war nicht mit gelblichen Flachssträhnen bespannt, wie bei Vater Klaus, sondern mit Fäden, die in allen Farben schimmerten und zwischen denen es wie Gold und Silber glänzte. Es sah aus, als wäre alles Engelshaar des Weihnachtsbaumes auf den alten, braunen Webstuhl gespannt. Vor ihm saß eine kleine, weißhaarige Frau, die warf das Weberschiffchen hin und her und sang weiter:

»Geht im Städtchen in die Stuben,
gebt den Mädchen und den Buben
meine schönen Gaben:
von Schneewittchen und Schneeweißchen,
von der Hex' im Knusperhäuschen
und den sieben Schwaben.
Klopft ans Fenster mit dem Finger,
zieht als rechte Freudenbringer
hin, um zu erzählen.
Wo noch wahre Kinder leben,
wird es immer Märchen geben,
bunte Märchenseelen.« 32

»Die Märchentrulle!« rief Liese, als die fremde Frau geendet hatte, hielt sich aber gleich erschrocken die Hand vor den Mund und wurde rot. Aber schon stand die Weberin vom Webstuhle auf und kam mit ihrer freundlichen Miene auf Liese zu, die noch immer an der Schwelle stand.

»Ja, die Märchentrulle,« sagte sie und ihre Augen lächelten Liese an. »Aber wer bist du, kleines Mädchen, und was suchst du bei mir?«

Liese fühlte alle Bangigkeit schwinden und sah nur immer in die hellen Augen der Märchentrulle.

»Ich wollte wissen, wo die Märchen herkommen,« sagte sie und erzählte von Puck, dem Eichhörnchen, von dem Weg über die Märchenwiese an den Rand der Welt und wie sie endlich von dem Gesang angelockt an das Haus gekommen wäre.

»Ja, wenn du wissen willst, wo die Märchen herkommen, dann tritt herein,« sagte die Trulle und ging in die Stube zurück. Vom Webstuhle ging ein grüngoldenes und blausilbernes Leuchten aus. Er begann sich unter den Tritten der Weberin zu bewegen, das Schiffchen flog abermals hin und her und dort, wo bei Vater Klausens Webstuhl die feste Hausleinwand zum Vorschein kam, erschien das zarteste und lieblichste Gewebe, das man sich vorstellen konnte. Aus den vielfarbigen Fäden und Strähnen wurde eine bunte Folge von Bildern, wie ein großes, fortlaufendes Bilderbuch anzusehen, mit Märchenblumen und Tieren, mit Schlössern, Springbrunnen und weißen Pfauen.

»Pass' auf, kleine Liese, ob du keine Bekannten siehst,« lächelte die Märchentrulle.

»Das ist ja der Wolf mit den sieben Geislein!« schrie Liese und bekam vor Aufregung einen roten Kopf. In der Tat, man sah im Gewebe der Märchentrulle die Stube mit den Geislein, die alte Ziege, den Wolf, ja sogar den Uhrkasten, in dem sich das siebente Geislein versteckte. 33

»Ach bitte, bitte, liebe Märchentrulle, webe mir noch eine Geschichte!« bat das kleine Mädchen, als das Märchen zu Ende war. Man konnte sich gar nicht sattsehen an dem wunderbaren Webstuhle und an den fleißigen Händen der weißhaarigen Frau.

»Schneide zuerst das Märchen da ab und lege es in den Korb zu den andern,« gebot die Trulle. »In einer Weile kommt der Knecht Ruprecht und trägt den ganzen Geschichtenkorb zu den Kindern auf die Erde hinunter.«

Liese gehorchte. Dann stellte sie sich wieder zum Webstuhle, voll Erwartung, was die Trulle jetzt weben würde. Neue Märchenbilder kamen, mit Riesen und Wichtelleuten, Elfen und Wasserjungfrauen. Zuletzt erschien im Gespinst eine bekannte Gegend, Lieses Heimatstädtchen, das Haus, in dem sie wohnte, die Märchenwiese mit den klingenden Glöcklein, das Eichhorn Puck und sie selbst, die kleine Liese, wie sie in ihrer blauen Spielschürze unter den Märchenblumen stand. All dies hatte die Märchentrulle in ihre Geschichten verflochten.

»Jetzt ist es aber genug für heute!« sagte endlich die Trulle. »Jetzt soll der Ruprecht kommen und die Märchen forttragen.«

Sie schnitt die letzte Geschichte vom Webstuhl und legte sie in den Korb, wo es glitzerte und flimmerte. Draußen hörte man Schritte. Knecht Ruprecht kam ins Zimmer, er hatte einen weißen Bart und eine große Pelzmütze wie mitten im Winter. Er gab Liese freundlich die Hand und schmunzelte:

»Ja, ja, kleine Liese, du kannst allen Leuten erzählen, wo die Märchen herkommen. Und siehst du, jetzt trag' ich sie hinunter von Stadt zu Stadt und bringe sie den Kindern. Was meinst du wohl, wie die sich freuen werden!« 34

Er nahm den großen Korb mit den Märchen auf den Rücken, griff nach seinem Stocke und ging mit langen Schritten bergab.

»Wenn ich nur auch einmal ein Märchen weben könnte,« sagte Liese; »und wenn es nur ein ganz winzig kleines wäre. Aber es müßten auch so wunderschöne Blumen und so lustige Tiere drin vorkommen wie in den deinen, liebe Frau Märchentrulle!«

»Dazu bist du noch zu klein, Liese!« sagte die Trulle. »Du mußt vorher noch tüchtig wachsen, denn deine Hände können noch nicht die Fäden spannen und das Schiffchen werfen. Aber wenn du groß sein wirst, darfst du wiederkommen und auf meinem Webstuhle die schönsten Geschichten weben.«

Weil aber Liese ganz betrübte Augen machte und sich auf die Zehen stellte, um nur ja groß auszusehen, ging die Trulle hinaus und brachte einen Topf und ein paar Strohhalme herein.

»Damit du nicht sagst, ich sei unfreundlich, wollen wir einmal Märchenkugeln blasen,« sagte sie. Sie tauchte einen Halm ein und Liese den andern und nun bliesen sie um die Wette große, schillernde, regenbogenfarbige Märchenkugeln. Das war etwas ganz anderes als die Seifenblasen daheim, denn in den Märchenkugeln konnte man alles sehen, was man sich wünschte, Wälder mit Tieren, Teiche mit Seerosen, Gärten mit bunten Pfauen und rosenfarbigen Flamingos. Immer eifriger blies Liese ihre Wunderkugeln in die Luft und sah ihnen nach, wenn sie zum Fenster hinausflogen und immer höher und höher schwebten, bis sie endlich verschwanden.

»Jetzt will ich allein blasen,« rief sie endlich, nahm Topf und Strohhalm und lief ins Freie. Die Kugeln, große und kleine, blaue und rote, goldene und silberne, flogen lustig davon und Liese zauberte immer neue hervor. Dabei näherte sie sich, ohne darauf zu achten, immer mehr dem Rande der Welt.

»Achtung auf den Abgrund!« sagte hinter ihr die Stimme der Märchentrulle. Liese lief eben eifrig einer besonders schönen 35 Kugel nach. Da wich mit einem Male der Boden unter ihren Füßen, sie stürzte tiefer und immer tiefer, sie hörte sich selbst einen lauten und entsetzten Schrei ausstoßen und fühlte endlich, wie sie hart auf den Boden auffiel.

»Märchentrulle, hilf mir doch!« wollte sie eben rufen, da tat sich die Stubentüre auf und mit besorgtem Gesicht kam die Mutter herein.

»Was ist denn geschehen? Warum hast du so geschrien, Liese?« fragte sie und machte Licht. Da saß Liese mit erschrockenen Augen neben ihrer Bank auf der Erde und wußte durchaus nicht, wie sie hergekommen war. Wo war das Haus der Märchentrulle? Wo war der geheimnisvolle Webstuhl und der Knecht Ruprecht? Sie sah sich im Zimmer um. Da war alles wie an anderen Abenden, Tisch und Stühle standen an ihrem alten Fleck, die große Pendeluhr holte zum Schlage aus und schlug mit ihrer tiefen, ein wenig rasselnden Stimme ein Viertel nach sieben Uhr.

»Ich glaube gar, Liese, du hast geschlafen und bist von der Bank gefallen,« sagte die Mutter. 36

»Ich war doch eben mit Puck auf der Märchenwiese und habe dann zugesehen, wie die Märchentrulle ihre Geschichten webte,« entgegnete Liese. »Du kannst ja Puck fragen.«

Aber das zahme Eichhörnchen lag mit dem unschuldigsten Gesichte der Welt in seinem Körbchen, hatte die Nase in dem buschigen Schwanze verborgen und blinzelte verschlafen mit den Augen.

»Du hast geträumt, Kind,« sagte die Mutter. »Komm nun rasch dein Abendbrot essen, dann gehst du zu Bett und magst weiter schlafen. Vielleicht träumst du wieder von deiner Märchentrulle.«

»Ach ja,« erwiderte Liese und bemühte sich, die Augen offen zu halten. »Es war zu schön bei der Märchentrulle. Vielleicht finde ich den Weg an den Rand der Welt noch einmal. Ich muß mir ihn gut merken, denn die Märchentrulle hat mir versprochen, daß ich die schönsten Geschichten auf ihrem Webstuhle weben darf, wenn ich erst groß bin.« 37

 


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