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In Joels Gasthof wurde eine Hochzeit abgehalten, Herr Tennenbaum richtete sie aus. Herr Tennenbaum lebte seit einem Menschenalter in einem unbedeutenden deutschen Landstädtchen, und sein Geschäft, ein Warenhaus, gedieh. Zum ersten Mal enttäuschte ihn die Welt in seiner Tochter. Ihre Wahl fiel auf einen nicht im Lande geborenen Kaufmann, einen Vetter, der aus Galizien zu Besuch kam. Vielleicht war es peinlich für Tennenbaum, den Rückschlag zuzugeben, vielleicht scheute er, die Verwandtschaft in das abgelegene Städtchen zu bitten, vielleicht sollte der Aufwand verborgen bleiben – in jedem Fall lud er, ein vorsichtiger Kaufmann, die Gesellschaft hierher, in Joels hochberühmtes Haus, zu seiner angesehenen Küche, und die reiche Tafel war beides, ein Dankgebet an Gott und eine Stiftung für das Leben.
Ein warmer Abend im August. Zum offenen Fenster hinaus erklang Musik. An einem Fenster erschien ein Mädchen und blickte hinter der leicht zurückgeschobenen Gardine hinunter, das Weinglas in der Hand. Es war die Schwester der Braut und stellte sich vor, sein Leben werde verlaufen wie dieser Abend, hoch über der Menge, tief im Glück. Unten erbitterte es die Schaulustigen, daß so wenig zu sehen war – allein wann dachten Genießende an Ausgeschlossene? Doch gut war das schon, jung zu sein, Geld zu haben, Hochzeit zu machen, mitten unter Juden, im August . . .
Unerwartet trat ein alter Mann unter die das Tor Umlagernden. Sein Gang war unsicher, sein Geist nicht hier. Aus dem riesigen, grauen, gelbgefleckten Bart summte er einen messianischen Vers – die messianische 251 Verwirklichung stand unmittelbar bevor und beglänzte sein Gesicht. Beweiner des alten, Erbauer des neuen Jerusalem, sang er, erst leise, dann lauter:
»Meschiah wird kummen haintigen Johr.
Werd er kummen zu raiten,
Wern mer hob'n gute Zaiten;
Werd er kummen gefohren,
Wern mer hob'n gute Johren.«
Männer traten auf ihn zu: »Gehen Sie hinein, Eisenberg, Sie wohnen hier!« Aber er hielt sie wohl für Engel und hob die Hände wie in Anbetung zu ihnen auf.
In der leichten Fröhlichkeit des Abends ließ der Leierkastenmann Piontek die Vögel, wie er seine Lieder nannte, über dem Tuch des Kastens kreisen. Der erste, der aufstieg, brach in die aus dem Fenster schwimmende Musik und empörte die Menge. Doch Piontek fing seine ausgeflogenen Vögel nicht ein für nichts und wieder nichts, er stand und schimpfte und schimpfte und stand so standhaft, bis er endlich einige Kupfermünzen einheimste und wie in einen Erdspalt in den Sauermannschen Keller verschwand.
Vor dessen Stufen erschien jetzt eine alte Vettel, seine Freundin. Sie wollte ihn nicht verlieren, getraute sich aber wegen ihrer geächteten Beziehung nicht hinein. Wenn unten die Tür ging, verrenkte sie den Kopf und starrte dem Heraufkommenden aus eingesunkenen Augen ins Gesicht. Schließlich zog sie ab, jaulend und drohend, mit dem Stock im Weghumpeln einen Zeitungsbogen aufspießend, von dem sie die Überschriften las: Unglücksfälle, Giftmord. Sie schüttelte sich und warf zum Schluß den Fetzen fort. Aber als er aufgelesen wurde, stürzte sie auf den Sammler los; dieser hatte rascher das Papier zerknüllt und schleuderte es nach ihr. Sie schimpfte und torkelte in ein Haus, wo sie bald in einer Luke auftauchte, eine Eule. Stundenlang starrte, blakte, fauchte sie hinab. 252
In dem Gasthof nahmen Fröhlichkeit und Hitze zu. Die Musikanten strichen ihre Geigen. Eine Weise, die man liebte, löste eine andere ab, die man geliebt hatte. Sehnsüchtig hielten die Gäste die Köpfe schief, so paßten sie zu den krummen Rücken, und sie nickten in Erinnerung: wie war das damals schön in Tarnopol! Wißt ihr noch? Der alte Großvater Cheskel? Man sagte, aber es war wohl nicht wahr – um den Prozeß nicht zu verlieren, trug er den Sporn eines Hahns in der Tasche, er verlor den Sporn, aber nicht den Prozeß.
Wißt ihr noch? So fing jeder Satz an – wißt ihr noch, was in der kleinen, heute geschlossenen Betschule angeschlagen stand? ›Es wird verboten zu plaudern. Wer stört dem Lernen mit Plaudern, wird gespeist im Jenseits mit glühender Kohlen vun Wacholder.‹ Andere bestritten, daß das dort gestanden, aber einig waren sich alle, daß der alte Hausrabbiner Bodanzky dem Schüler, der nicht verstand, mit dem kleinen gelben Stöckchen zuerst einen leisen Hieb auf die Handfläche gab, beim zweiten Versagen aber auf den Handrücken. Heute habt ihr ein Kaufhaus, aber damals hatte die Tante Blümchen einen Stand in der Verkaufshalle, was verkaufte sie? Fünf Ellen Kattun, vier Ellen Barchent, eine Elle Gummiband . . . Und Tante Schönchen, die von der Arzneikunst soviel verstand wie ein halbes Dutzend Professoren?
»Mir hat sie ein Mittel gegeben für die Galle.«
»Mir gegen Krampfadern!«
Und eine dritte Frau flüsterte einer vierten lachend etwas ins Ohr, was diese nur deshalb nicht erröten machte, weil ihre Backen schon wie aller Backen wie Feuer brannten. »Es laßt sich nischt erzählen«, wies sie Fragen ab.
»Warum laßt es sich nischt . . .«
»Weil es sich nicht gut anhört.«
»Ach Gott ja,« beteuerten alle, »das waren noch Zeiten, wenn man so denkt, das ist erst her, wie lange? dreißig Jahre – wie ein Jahrhundert.« 253
Es störte keinen, daß eine Magd durch Zeichen Joel vor das Tor rief.
Eine Frau, neuangekommen, faßte ihre drei auseinandergeschwärmten Kinder an die Hand und bat ihn um ein Bett. Joel sah in das schöne bleiche Gesicht und kostete, er wußte nicht, weshalb, die Grausamkeit, mit seiner Zusage zu zögern. Aber mit fliegender Brust beschwor ihn die Frau: ihr Mann hatte sie verlassen, sie hatte sich nach New York an das Rabbinat gewandt, um wenigstens die Scheidung zu erreichen, aber er kümmerte sich nicht um das Rabbinat, so hatte sie sich aufgemacht, um den Scheidebrief zu holen. »Mit den Kindern?« Ja, denn von den Kindern wollte sie keines zurücklassen, in Polen kam man nicht voran. Und da nahm sie gleich alle drei mit? Nun gab sie zu, bei den leisesten Zeichen einer Sinnesänderung blieb sie selbst dort, mit allen zusammen.
»Und ohne Geld?« Sie hatte es sich leichter gedacht . . .
Noch vor einer Antwort hielten Hände aus der Menge kleine Münzen hin. Sie riß die Kinder zurück, als sie die Münzen nehmen wollten – nicht diese Erniedrigung! Nach einem dankbaren Blick in die Runde, einen bittenden auf Joel: in einer Sekunde verschaffte ihr der Blick das Bett. Dankbar, ein zauberhaftes Lächeln um den Mund, schritt sie in das Tor.
Zwei junge Leute wollten das gleiche: ein Bett! Aber Joel war mit der Frau zusammen in den Torgang verschwunden. Was wollten die Herren, erkundigte er sich, als er wiederkam, ein wahrhaft großer Mann, der nichts vergaß – ebenfalls in die Vereinigten Staaten, um geschieden zu werden?
Nein, ihre Wanderschaft ging nach Algier, aber ihre Mittel waren ausgegangen, der Hilfsverein, ihre Hoffnung, ließ sie im Stich. Ein Bett für die Nacht – morgen fand sich Rat!
Die Geldscheine hingen nicht einfach zum Abreißen an den Bäumen, belehrte sie Joel. Aber da sie frisch und flott erwiderten, schob er sie vor sich in das Haus, 254 scheinbar faßte es alle, die es fassen sollte. Bald saßen sie in der Küche vor einem umsonst gereichten Mahl, nachher sollten sie in einer überfüllten Kammer auf dem Boden schlafen.
Auf der Treppe traf Joel noch einmal diese Frau und erlag erneut ihrem zauberhaften Lächeln. Wieder war es unbeschreiblich, wieder berückend unbestimmt, so daß er sich versucht fand, etwas für sie zu tun. Sicher widersetzte sich seine Frau, aber ein neuer Blick, ein anderes Lächeln, und er nahm sich vor, unter den Hochzeitsgästen für sie zu sammeln. Es schien, sie erriet den Plan. Sammeln Sie! sagten ihre Augen, aber sprechen Sie nicht von einer Scheidung, auf einer Hochzeit hört es sich besser an, eine Frau will sich drüben mit ihrem Mann vereinigen, eine irregeführte Frau, schändlich von ihm um ihr Recht betrogen . . .
Aber es kam nicht zu der Sammlung. Joel hatte von dem Ankömmling noch nicht gesprochen, als ihn schon wieder eine Magd hinausrief unter Anzeichen von Schrecken: Polizei!
Bis zu ihrer Ankunft hatten sich die Juden vor dem Tor gezankt, wie immer, wenn sich eine Gefahr zusammenzog.
Julchen hatte der Festlichkeit wegen den Keller, wie sie sagte, für einen Augenblick geschlossen und stand in der Menge vor dem Gasthaus.
»Sämtliche Frauen sind verrückt, wenn einer Hochzeit macht«, erklärte sie kräftig.
»Was redet ihr für einen Unsinn«, sagte ein Mann. »Seht euch lieber die Braut an!« Er glaubte, einen weißen Schleier am Fenster hinhuschen zu sehen.
»Die Braut werde ich mir ansehen, wenn meine Tochter Lea Hochzeit macht«, sagte die Frau des Gastwirts Teich, die unter den Schaulustigen einen ziemlichen Platz beanspruchte.
»Was stehen Sie dann hier, wenn Sie doch nichts sehen wollen?« 255
»Warum sie dasteht?« griff Julchen ein. »Sie steht da, weil sie Lust hat zu stehen.«
»Und weil Sie nicht wollen, daß ich hier stehe, darum stehe ich da«, verteidigte Frau Teich sich selbst.
»Die Frauen scheinen heute alle verrückt, ich habe die Frau Teich so überhaupt noch nicht gesehen.«
»Ich weiß nicht, wie red't der Mann mit mir? Bin ich ein Stück Mist?«
»Ein Juwel sind Sie«, begütigte Julchen.
»Ein Juwel faßt man anders an«, murrte Frau Teich.
»Ein, nicht an«, verbesserte Tauber.
»Ein, an, an, ein«, machte Julchen, »was habt ihr die Frau zu ärgern?« Mit einem Blick auf Jechiel Asch, der in der Nähe stand, wandte sich Julchen an Frau Warszawski. »Und Noah geht weg von dem?«
Vor wenigen Tagen hatte Noah trotz seiner kurzen kaufmännischen Erfahrung, ungeachtet seiner noch nicht vollendeten Art zu sprechen, in der Stadtmitte eine Anstellung gefunden. Das Stoffgeschäft war nicht klein, das Gehalt durchaus nicht winzig, jedenfalls reichlich für einen nicht verwöhnten Sohn von Piaseczno. Noah war somit nicht mehr ohne Aussichten. Asch hatte neun Kinder, die er, wie wir wissen, stets gleichmäßig in sein Gebet schloß, aber immer hatte er noch vor ihnen Noah der Güte und Allmacht Gottes anempfohlen, denn er diente allen neun, wenn er für Noah um Segen bat. Am liebsten hätte er ihn zu sich in sein Haus genommen; wo neun waren, konnten zehn sein; und bei fünf Töchtern war der Platz für einen jungen Mann. Aber eine kluge Frau hatte den Plan durchkreuzt – ein junger Mensch von Noahs Gaben, meinte Frau Warszawski, durfte alles tun, nur nicht sich früh binden.
»Der Jechiel Asch sieht aus, als sei ihm die Kehle zugedrückt«, flüsterte Julchen Frau Warszawski zu, so laut, daß es gehört wurde. »Den Frajim geben Sie doch nischt hin zu ihm?« fuhr sie fort. »Ein guter Junge. Aber hier«, und sie wies auf ihre Muskeln, »das muß ein Mensch 256 haben heutzutage. Ich seh nischt, daß er davon was hat. Mit Weichheit lassen sich Stoffe nischt verkaufen.«
Seraphim zog Frajim fester an sich und sagte seinen Hörern: »Einmal gab Rabbi Jehuda Hanassi ein Mahl seinen Schülern und ließ ihnen Zungen vorsetzen, weiche und harte. Alle stürzten sich auf die weichen Zungen und die harten blieben stehen. So, meine Schüler, sagte der Rabbi Hanassi, merkt Euch das und laßt Eure Zungen auch immer sanft sein zueinander.«
»Ich weiß nischt! Geht das auf alle? Soll es auf mich gehen? Hab ich was gesagt, was ich nicht soll? Ein Schüler von Rabbi Haparness bin ich nischt, sanft bin ich auch nischt und hierbleiben tu ich auch nischt länger.«
»Recht haben Sie, wenn Sie gehen«, sagte Frau Teich, »die Männer sind heute unausstehlich.«
Aber Julchen ging nicht – wie hätte sie können? Gerade in diesem Augenblick erschien die Polizei, und es standen weittragende Ereignisse im Begriff, sich unmittelbar vor ihren Augen abzurollen.
Die Nachricht hatte die Hochzeitsgäste aus dem Saal auf die Treppe getrieben, wo jetzt viele aus dem Haus hinunter drängten, wenige hinauf – hinauf nur, in abgelegene Bodenwinkel, Verdächtige und Schuldige.
Die Mannschaft der Feuerwehr schreitet in einem brennenden Haus die Treppen fest, aber langsam, hinauf zum Dachstuhl. So langsam schritten die Schutzleute, immer zwei, eine ganze Kolonne, Stufe auf Stufe empor. Vor ihnen leerten sich die Treppen, alles flüchtete in die Stuben, die Hochzeitsgesellschaft drängte in den Saal zurück.
Eine tiefe Lautlosigkeit löste dort das lärmende Gebaren ab. Wenige wagten sich zu setzen, einige horchten an der Tür, prallten aber zurück, als verängstigt ein Mensch hereinschoß, um sich in dem größeren Kreis zu verbergen. Aus Versehen rührte ein Geiger mit dem Bogen an sein Instrument, der Ton fuhr allen in die Glieder.
Die Polizei war hergeführt durch die Beschädigung der Decke. Das wenig streng gehütete Geheimnis war bis zu 257 einem Beamten gedrungen, dieser hatte es gemeldet. In keinem Fall war Wahrhaftigs Schreiben der Anlaß, sein Schreiben betraf ein anderes Haus. Eingelaufen bei der Polizei war es, es hatte auch Beachtung gefunden, um so leichter, als eben eine ähnliche Meldung schon für das Gasthaus vorlag. Ein Assistent in Zivil wurde beider Häuser wegen abgesandt, Uniformierte erreichten nichts bei dem festen Zusammenhang der Leute – er sollte sich umhören, aber die Häuser nicht betreten. Nach seinem Bericht zeigte das Lewkowitzsche Haus kaum eine Vernachlässigung, wenigstens wollte die verschlossene Bevölkerung sie nicht wahrhaben. Dagegen sprach man offen von dem Deckensturz bei Joel, übertrieb sogar und wollte wissen, ein Bettler sei dabei umgekommen, überhaupt schien dieser Gasthof baufällig, auch ungemein überfüllt, und schien auch neben soliden dunkle Elemente zu beherbergen. Die Baupolizei wandte sich an die Fremdenpolizei. Bei dieser war vor kurzem die Bitte einer fremden Regierung eingelaufen, von ihren Staatsangehörigen ihnen diejenigen namhaft zu machen, die in gewissen zweifelhaften Gassen untergekommen waren. So griff auch die Fremdenpolizei ein, was für die Bewohner das Dunkel über der Sache noch vermehrte.
Joel hatte vor, als man ihn rief, sich unwissend zu stellen: die beiden Kammern seien feucht gewesen, längst geschlossen, der Einsturz müsse kürzlich erfolgt sein und sei von ihm noch nicht bemerkt worden. Aber neben dem Anschlag auf das Haus fühlte er den Anschlag auf die Menschen, der eine oder andere war ohne Paß oder hatte nur mit einem abgelaufenen die Grenze überschritten, sie hielten sich hier unangemeldet auf. Er hatte es geduldet, es waren Juden, morgen waren sie in einem anderen Land, übermorgen fragte keiner mehr nach ihnen. Vielleicht, wenn er sich vor sie stellte, gnadete ihm Gott, und die Gefahr ging an seinem Haus vorüber. Er zitterte um alle – wenn er doch in jeder Kammer sein und jedem raten dürfte: bittet mit allen Zeichen schuldiger 258 Ergebenheit um Nachsicht . . . Statt dessen sah er sie unbotmäßig, festgenommen, und während ihrer Haft und seiner trug man das Haus ab, Stein vor Stein, Geschoß um Geschoß, ihre Unterkunft, sein ein und alles . . .
Von dem Haupttrupp lösten sich einige Schutzleute ab und stiegen in den dritten Stock hinauf in die Sterbekammer Fischmanns, einige stiegen noch eine Treppe höher. Unten gab die Tür auf die ersten Tritte nach, oben öffnete man, der Schlüssel fehlte, mit einem Dietrich. Es stimmte, unten war die Decke eingedrückt, weißer Staub und Putz hatten sich gelöst und lagen auf dem Boden. Ein Beamter wollte hinuntersehen von oben, doch ein eigentliches Loch hatte sich nicht gebildet. Man nahm die Maße, klopfte angeflogene Teilchen ab, stellte Wachen aus und stieß wieder auf den Haupttrupp.
Der Haupttrupp ging peinlich streng von Tür zu Tür. Man suchte Joel. Er erschien, ging vorauf, die Beamten stapften hinterdrein. Wände wurden beklopft, Leute gemustert, Papiere verlangt, jeder Name in ein Taschenbuch eingetragen. Die nächste Kammer!
Sie hatte Fischmann nicht bei seinem Tod, doch vorher, beherbergt. Außer London, Eisenberg und Himmelweit, ihren dauernden Bewohnern, lagen hier noch immer drei Gäste flüchtig hingebettet – der vierte, Koigen, war abgereist. Der Händler Feigenbaum war wegen eines schmerzenden Blasenanfalls geblieben, die jüdischen Ärzte in Berlin waren berühmt. Selig Jankel hätte längst in Manchester sein und die Blitzentfleckerei übernommen haben müssen, verschob aber seine Abreise. Täglich hieß es: morgen fahre ich, doch er fuhr nicht, aus Angst vor den scharfen Augen der Beamten an der Grenze. Erst hatte er die Zahl im Paß gefälscht, weil das pünktliche Eintreffen in Manchester so dringlich gewesen war, jetzt versäumte er sich gerade wegen dieser Fälschung. Grundmann war durch ein anderes kleines Hindernis nicht abgereist, Grundmann, der Dienstmann, der auf der Straße gestanden und niemals eine Last gehoben hatte. Fischmann, 259 der ihm die Wahrheit gesagt, war tot, den schamhaften überlebte der schamlose Bettler; Grundmann war ein Opfer der Herrlichkeit der Gasse geworden, er fand sie so außerordentlich, daß er sich Paris nicht schöner vorstellte. Seit Tagen hatte er sich festgetrunken und seine Papiere aus Vorsicht einem anderen anvertraut, der weniger trank; von diesem mußte er sie erst beschaffen.
Wie immer, wenn er Polizei witterte, war Jankel unter das Bett gekrochen, Feigenbaum hielt sich die Seiten, Grundmann lehnte kalkweiß an der Wand, und nur Himmelweit stand ohne Kümmernis; London und Eisenberg, auf den Bettkanten sitzend, sahen unbeteiligt zu, sie gehörten schon zu einer anderen Welt.
Die Prüfung ergab nichts, was nicht vorherzusehen war.
Himmelweit schwamm geradezu in einem Überfluß von Nachweisen; London und Eisenberg konnten ordnungsgemäß Papiere vorlegen, allerdings stark zerknittert und nicht mehr wohlriechend.
Ein Beamter blickte unter das Bett und holte Jankel hervor, der starr und unbeweglich dalag. Er wurde einem Schutzmann auf dem Korridor übergeben, weil er keinen Paß hatte – er hatte ihn versteckt.
Dasselbe geschah Grundmann. Auf sein Gesicht hin, dieses rohe, verwitterte, schnauzbärtige, galt Grundmann für den besten Fang – ein Irrtum, in einigen Tagen mußte er sich aufklären.
Gegen Feigenbaum fand die Polizei keinen Anlaß einzuschreiten.
Die ganze Belegschaft der Kammer war geprüft, der Trupp zog ab. Kammern, Kammern, Menschen, Menschen! Das Haus erwies sich als eine Stadt, und von außen belagerten sie Menschenhaufen. Der Führer des Zuges bekam Bedenken, ob er nicht in eine Festung gelockt und eingeschlossen sei. Telefonisch erbat er Hilfe.
Der anmarschierende Trupp fand sich zweifelhaften Zurufen ausgesetzt, aber die Menge riß vor ihm auseinander. Die Spitze gewann das Tor. Einer nach dem 260 anderen, bis auf eine zurückgelassene Wache, trat durch den schmal zurückgenommenen Flügel in das Haus.
Auf unwahrscheinliche Weise hatte das Gerücht der Phantasie der Menschen den Vorgang überliefert. Das ungeheure Hinterland fand sich aufgerufen und hatte seine Massen in die Gasse entleert. Mit immer neuem Zuzug erschienen Bewohner selbst entlegener Quartiere, man erkletterte Laternen, besetzte Vorsprünge. Vom ersten Stock ab lagen die Einwohner in den Fenstern, in den Erdgeschossen gingen die Rolläden nieder. In einem Laden leuchtete plötzlich die Gardine auf, aber das schwache Feuer war rasch erstickt, und der Rolladen fuhr herunter.
Nach einigen Stunden verließ das Aufgebot von Schutzleuten das Haus. Ein Kraftwagen war vorgefahren. Von Schutzleuten flankiert, trat eine kleine Zahl von Juden aus dem Tor, stieg in den Wagen, er ruckte an, und bald war er den Blicken der Wartenden entschwunden. Man johlte nicht bei der Abfahrt, im Gegenteil, es war so still, als habe sich ein Krankenwagen in Bewegung gesetzt. Die Polizei hatte ihre Beute und war Siegerin.
Die Menge begann sich zu zerstreuen. Die Schankstuben des Gelichters machten auf und sogen wohltätig den nicht abgeflossenen Schlamm ein. Andere unsichere Bestandteile flossen in die Nebengassen ab. Die Schankstuben der Juden öffneten nur den Hintereingang und waren doch rasch voll, das Bedürfnis zu reden war zu groß. So leicht man aus nichtigem Anlaß sich erregte, bei großem war man gefaßt. Allerdings – ein schreckliches Wort fiel, wenn auch nur im Ton der Frage: Austreibung?
Ein junger Mann freute sich auf sie. Er hieß Frajim Feingold und hatte Grund, sie nicht zu scheuen. Wie lange hielt er sich noch in dieser zweifelhaften Lage, wie bald mußte er die Reise zurück nach Piaseczno antreten, Schande über Schande! Aber vertrieben war er ein Opfer, und keiner warf ihm mehr die Rückkehr vor.
Auch eine Frau hoffte auf die Auskehr: Frau 261 Weichselbaum. Weggetrieben – das hieß wieder auf die polnischen Güter kommen, und mußte sie auch dort ihren Mann am Arme führen, er sah kaum noch einen schwachen Schein vor den Augen, endlich ein Ende dieses Lebens, endlich ein Ende mit der Fremde, endlich die Vereinigung mit ihren Kindern.
Auch Weichselbaum wollte fort und nicht länger hier in dem Durcheinander sitzen. Die Ärzte waren ihm nicht präzise genug in ihren Äußerungen, ob es einen Sinn hatte, zu bleiben. An den Verkauf seines Hauses, mit dem er vorübergehend gespielt, war nach den letzten Vorgängen nicht zu denken – er hätte zuviel verloren.
Eine alte Frau, die allein in einer Kammer wohnte und niemanden auf der Welt hatte, auch keinem zur Last fallen wollte, nahm ein Andachtsbuch für die Frauenwelt zur Hand und las darin beim Lampenschein. Sie schlug eine beliebige Seite auf und fand da von einem Geschlecht erzählt, das übermütig geworden war von Reichtum und Üppigkeit und das also sprach: wohlan, laßt uns eine Stadt bauen und einen Turm darin, dessen Spitze in den Himmel ragt, damit der Schöpfer nicht allein dort oben herrsche. Und sie bauten, las sie, einen Turm bis zu einer Höhe von siebenundzwanzig Meilen; einen neuen Baustein hinaufzutragen, war so schwer, daß sein Niederfallen bitterer beklagt wurde als der Absturz eines Menschen. Aber alle wurden bestraft, alle. Die im Himmel selbst vorgehabt zu wohnen, verstreute Gott über die Erde, die Anhänger fremder Gottheiten verfielen der Sprachverwirrung, und die Ihn bekriegen und den Himmel hatten stürmen wollen, verwandelte Er in Affen und Dämonen. Aber noch andere, las sie, hatten überhaupt nichts weiter als Öffnungen in den Himmel bohren und Schläuche in ihn leiten wollen, damit das Wasser bei einer neuen Sintflut dahin zurückströme, von wo es ausgelaufen war. Die alte Frau seufzte und schlief fast ein: was hatte es nicht alles schon gegeben und was gab es nicht alles noch immer neu! 262
Noch am Abend hieß es, die Polizei habe zu verstehen gegeben: in einer gewissen Frist hätten alle das Gasthaus zu verlassen, und auch das Bethaus sei zu räumen. Daraufhin erschienen am Morgen fast alle Juden, auch die lässigsten, zum Gottesdienst. Der Hof im Gasthaus war zu klein, man stand bis auf die Gasse, da Donnerstag war, in Gebetmänteln, in Lederriemen, die um die Stirn, den linken Arm, die linke Hand geschnürt waren. Die Stimmen klangen lauter im Gebet als sonst, wo sie den Schlaf der nicht Erwachten schonten. Wie brüllende Rinder, über deren Haupt der Stall in Feuer steht, so schrien alle. Ein Mann hatte seine Mutter genau vor fünfzehn Jahren, einen Tag vor ihrer goldenen Hochzeit, verloren. Er dankte Gott dafür, daß sie gerade an diesem Tag gestorben war und ihn dadurch begnadet hatte, heute der verzweifelten Gemeinde vorzubeten. Im hergebrachten Ton sang er die vorgeschriebenen Gesänge mit geringer Kunst, er pfiff mehr, als er sang, und wenn er den Chor übertreffen wollte, überschrie er sich so spitz, als habe er eine Nadel verschluckt und wolle sie aushüsteln. Aber keiner lachte, als dieser alte, arme und verhutzelte Hosenhändler Asriel Geduldig den Herrn mit übersinnlichen Liebkosungen anrief und ihm einen seiner Namen nach dem anderen zur Besänftigung anbot. Von hinten überrollten ihn die Stimmen wie eine Sturzsee; indes er den Bart mit beiden Händen kämmte, beugte er den Rücken, daß die Wogen hingingen über ihn. Während sie schrien: »Höre, Israel, der Ewige unser Gott, der Ewige ist einzig«, schienen sie in die diamantene Wohnung im Firmamente Gottes einzugehen und die Häuser tief zurückzulassen, Piloten, die in die Wolken auffuhren, die Welt, ihr Dunst und ihre Qual blieben unter ihnen. 263