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Die Gasse bewohnen viele solcher kleinen Leute, in der Mehrzahl zugereiste arme Juden, aber unter sie verstreut auch andere verschlissene und unscheinbare Existenzen. Diese Minderheit, christlich, besteht aus Kutschern, Glasern, Rentenempfängern, Jahrmarktsbeziehern, Schreibern, Boten, einem Schutzmann, einem Leichendiener; in ihrer Hand sind Holz- und Kohlenhandlungen, Obstgeschäfte, ein Wasch- und Plättbetrieb, bescheidene Werkstätten, winklige Läden. In der Gasse lebt auch eine Anzahl alteingesessener Juden, ganz arme, halb arme, wohlhabende, die sich von der Welt nicht lösen können, in der ihre zugewanderten Eltern gelebt haben. Aber auch selbst zugewanderte und wohlhabend gewordene gibt es, und nicht einmal vereinzelt, Eiergroßhändler, Möbelhändler, Lumpengroßhändler, Geldverleiher, Radioverkäufer, die sich hier wohl fühlen und keine Straße der Stadt wüßten, in der sie sich wohler fühlen würden. Und zwischen all diesen Menschen endlich leben in der Gasse noch, und machen sie verrufen, gewerbs- und gewohnheitsmäßige Verbrecher, höchst bedenkliches Gesindel mit seinem unvermeidlichen weiblichen Anhang, eine besondere Welt, in der Juden nur eine unbedeutende Rolle spielen und Jüdinnen vollends keine. Trotz dieser Gegensätze herrscht Ruhe in der Gasse, man verträgt sich. In eine lebhafte Unruhe versetzte die Gasse erst ein Mann, der vor kurzem in einer Droschke angefahren kam und nichts sehnlicher wünschte, als die Wochen oder Monate, die er hier zum Aufenthalt verurteilt war, unbehelligt zu verbringen und nicht in die Angelegenheiten der Gasse verwickelt zu werden. 38
Die Droschke, die ihn in die Gasse führte, war mit Gepäck betürmt gewesen und träge angefahren. Es war eine Pferdedroschke, eine der wenigen, die es noch gab, und sie fuhr so langsam und in einer Weise außerhalb aller Zeit, als seien die Insassen darin schon aus Polen hergereist und Gaul und Gäste übermüdet, oder als vertrügen die Gäste nicht die leiseste Erschütterung. Eine beträchtliche Schar von Juden schoß langgekleidet aus den Häusern, als der Wagen immer langsamer und langsamer rollte und endlich anhielt. Er blieb vor dem größten jüdischen Gasthof stehen und sofort sprang dort zum Tor ein Mann heraus, der sich den braunen Stoppelbart schon längst hätte abkratzen lassen dürfen, der Hausdiener Esra Lachs. Noch ehe die Gäste ausstiegen, erschien der Wirt persönlich, ein kleiner Mann mit rötlichem Vollbart, Herr Lesser Joel. Er verbeugte sich, ein wenig steif und ohne sich an Höflichkeit zu übernehmen. Dem Schlag entstieg eine Frau und danach ein Mann; eine dunkle Brille vor den Augen, tastete sich der Mann am Arm der Frau die Stufe zu dem Bürgersteig hinauf und weiter ins Haus; dann hatte ihn das Tor verschluckt. Der Wirt folgte; nur der Hausdiener blieb zurück, um zusammen mit dem Kutscher das Gepäck herunterzunehmen und ins Haus zu tragen.
Auf der Gasse tuschelte man: »Was meinen Sie, wer wird das sein?« Wie er hieß und woher er kam, wußte man wenige Minuten später, dank dem Hausdiener Esra Lachs. Von da aus fand man weiter, denn zu einem Juden, und käme er aus dem Ural, ist von Juden fast immer leicht eine Verbindung geschlagen. Nach einer Stunde konnte man auf der Gasse hören: »Acht Güter und zehn Kinder hat der Mann«, und geantwortet wurde: »Er soll nischt kommen auf zehn Güter und acht Kinder.«
Man versuchte, zu ihm vorzudringen, die kühnsten Armen machten ihre Aufwartung, dennoch hielt man sich im ganzen zurück. Der Mann war reich, aber reich 39 bedeutete hier in der Gasse nicht gleich Überlebensgröße. Man kannte das Wort: auf dem Gelde steht die Welt und wußte, wie wehe Armut tut, es hieß sogar, ein armer Mann zahlt für ein schlechtes Stück Fleisch mehr als der reiche für das gute – dennoch machte Geld hier nicht den Eindruck wie anderwärts, wo ein Mann noch die Freude an einer Million verliert, weil ein anderer zwei hat. In der Gasse fühlte der Arme zuerst: das ist ein Jude und ein Jude bin ich auch; das nahm etwas von dem Respekt, denn was einem Juden gelungen war, das konnte einem jeden Juden, also auch ihm selbst gelingen. Außerdem gereichte der Wohlstand eines jeden Juden der Gesamtheit zur Ehre, das machte auf den Reichtum sogar noch stolz. Überdies aber wischte Gott selbst einen Teil der Unterschiede weg, indem er fast stündlich dem Reichen Pflichten schuf genau wie dem Armen, ja, dem Reichen gar noch mehr. Endlich gaben Frömmigkeit und Reichtum nur gleichen Rang, und der Unterschied zwischen arm und reich, so wichtig er war, verlor dadurch die Schärfe.
In dem Gasthof wohnte man zu dritt und zu viert in einem Zimmer. Das Ehepaar wünschte ein Zimmer für sich allein, eines im ersten Stock. Aber im ersten Stock gab es keines, wenigstens nicht sofort, obwohl das Ehepaar eine schriftliche Zusage erhalten hatte. Der Gasthof war stark besucht und alle Räume waren für lange Zeit besetzt.
In den ersten Wochen suchten die Eheleute drei Augenärzte auf, sonst verließen sie nicht das Haus. Ausschließlich auf sich angewiesen, behandelten sie sich zuvorkommend, dennoch waren beide Teile, was bei dieser Art des Lebens fast unvermeidlich war, gelegentlich gereizt.
»Sara, gib mir deine Hand«, sagte Weichselbaum. Die Hand war dünn wie die ganze Frau. Offenbar hatte sie ihren vierzehn Kindern von denen drei nicht lebten, ihr Fleisch und ihre Kraft gegeben. Wie meist in späteren Jahren, glänzte ihre Hand. 40
»Sara, deine Hand ist heiß.«
»Laß sie heiß sein! Ich will nicht, daß du so viel angibst mit mir. Stell ein' Topf Wasser aufs Feuer und er wird auch heiß.«
»Du weißt ganz gut, du bist kein Topf mit Wasser.«
»Wenn ich wieder werd zu Haus sein, wird die Hand sich abkühlen.«
Gerade diese Worte entsprachen nicht seinen Wünschen. Seine Behandlung hatte kaum begonnen, und wenn ihn die Ärzte nicht rasch entließen, was er für unwahrscheinlich hielt, mußte er sich hier ein wenig einrichten. Wem die Zeit nicht lang werden sollte, in einer fremden Stadt, der durfte nicht immer nach Haus zurückdenken, und ließ sich besser dieses oder jenes Geschäft durch den Kopf gehen. Ob er denn wieder Geschäfte machen wollte, fragte seine Frau. Er machte sie doch wohl nicht für sich, sondern für die Kinder. Sie wolle es nicht berufen haben, aber ihr schiene, für die Kinder sei gesorgt.
Gut, wenn sie das sicher wisse, wolle er sich zufrieden geben, und ingrimmig setzte er hinzu, im Wohlstand, da benähmen sich die Frauen, als sei er angewachsen, aber wenn er weg sei, dann könnten sie nicht genug jammern, da war kein Ende: hättest du doch das getan, hieß es dann, und wäre ich doch dabei gewesen und warum hast du mich nicht gerufen! Dann können sie schreien, wir wollen nicht mehr leben, aber das hätten sie sich alles früher überlegen sollen.
Er stieß entschieden auf Widerspruch.
»Von deinen Worten ist doch nicht eines richtig und jedes einzelne falsch. Wer hängt sich auf, wenn er sein Geld verloren hat, und wer geht ins Wasser? Der Mann oder die Frau? Immer der Mann! Die Frau? Die gönnt sich keinen Bissen, sie hungert, aber leben bleibt sie. Aber was reden wir? Du weißt genau so wie ich: aussorgen läßt sich von keinem.«
Aussorgen ließ sich von keinem? Gewiß, früher schon nicht, erst recht nicht heute. Aber sollte man sich da nicht 41 wenigstens auf schlechte Zeiten einrichten? Eines Tages gefiel es vielleicht den Herrschaften in Polen, den Juden ihre Güter fortzunehmen! Aus der jüdischen Geschichte sollte man doch eins wissen: die Juden wurden seit dem frühesten Mittelalter überall vertrieben, zum mindesten gebrandschatzt und bestohlen, meistens auch gemartert und verbrannt. In Spanien, in Portugal, in Frankreich, in Deutschland, in Rumänien, in Polen, in Rußland, ach, man konnte es kürzer sagen: in ganz Europa, wahrscheinlich kein einziges Land ausgenommen, hatten sie das seit tausend Jahren in dieser und in jener Form erlebt und nur ein Pferd von einem Juden hatte es nicht im Kopf.
Sie schwieg. Natürlich, Mütter glauben immer, es kämen gute Zeiten, wie sollten sie sonst das Leben rechtfertigen, das sie geben?
Er fühlte es und zerrte an ihr herum: »Du bist nicht meiner Ansicht? Schön, du mußt nicht meiner Ansicht sein. Aber du weißt von keinem Pogrom? Du hast keinen Onkel Chone besessen? Deinem Onkel Chone ist nichts passiert? Er lebt noch heute in Kischinew! Oder hat man ihn vielleicht zwei Tage vor Pessach aus dem Laden geholt und . . .«
»Um Gotteswillen, Weichselbaum, bitte, red nicht, wozu mußt du mir das antun?«
Da sah man, jetzt stöhnte sie, jetzt schrie sie, jetzt konnte sie es mit einem Male nicht hören. Aber wenn er vorsorgen wollte, hieß es: was willst du vorsorgen, Weichselbaum? Aussorgen kann man für keinen. Und dann setzte er ihr seine Ansichten auseinander über die Bolschewisten, die er Verbrecher nannte. Sie trieben es nach seiner Ansicht noch ärger als die Judenfeinde, mit denen hatte im alten Rußland sich hie und da verhandeln lassen, die Bolschewisten aber nahmen über Nacht den Gutsbesitzern ihre Güter fort, heute saßen noch die Besitzer darauf, morgen waren sie herunter. Wenn vor zehn Jahren nicht Polen geschaffen worden wäre, säßen heute bei ihnen kleine Muschiks auf den Gütern und schneuzten 42 sich die Nase in die gute Stube, schade, daß man die Mägde all die Jahre den Boden hatte scheuern lassen – aber was gestern nicht die Bolschewisten getan hatten, konnten morgen die Antisemiten tun.
»Gut, also mach, was du willst . . .« Frau Weichselbaum war nicht überzeugt, nahm aber Rücksicht auf seinen Zustand; sie warf sich vor, ihn aufgeregt zu haben.
»Wenn du so sprichst, das ist etwas anderes«, erklärte Weichselbaum und tätschelte ihre Wange. »Aber eines mußt du mir versprechen, Sehnsucht nach Hause darfst du nicht haben.«
»Geh, Weichselbaum«, sagte sie weich, »Sehnsucht solltest du mich haben lassen.«
Es klopfte, Weichselbaum schrie: »Herein!« und der Wirt erschien, Lesser Joel. Die gelegentliche Frage, ob er Geld anlegen wolle, hatte Weichselbaum nicht geradezu verneint, und schon schleppte Joel Vermittler an; er war das einem Gaste schuldig. Trotzdem fühlte Joel sich dabei nicht wohl und entzweite sich mit Weichselbaum nach den ersten Worten, ehe die Vermittler auch nur eintraten. Weichselbaum fragte nämlich: »Sind die Männer auch verläßlich?«
Joel sagte zwischen den Zähnen: »Werde ich Ihnen unverläßliche bringen? Aber wozu fragen Sie mich?«
»Soll ich mir unverläßliche Vermittler nehmen?«
»Sie machen doch Verträge«, versetzte Joel verbissen.
»Nu und?«
»Und wenn Sie Verträge machen, werden es doch wahrscheinlich Verträge sein, die sich sehen lassen können, Verträge mit Köpfen und Nägeln, und sind es wieder Verträge mit Köpfen und Nägeln, dann kann der Vermittler so unzuverlässig sein, wie er will, der Verkäufer so wenig vertrauenswürdig, wie immer – es hilft ihm nicht, er sitzt fest, aus den Verträgen kommt er nicht heraus.«
Weichselbaum wurde unsicher. War das leeres Gerede oder war es mehr? Gab es hier Männer, die davon lebten, einem Rechtsanwalt gegen Teilung der Gebühren 43 Prozesse zuzuschanzen? Aber weshalb sagte Joel dann alles geradeheraus?
In Wirklichkeit waren die Worte ein Zeichen von Joels Widerwillen gegen Weichselbaum. Er litt darunter, daß ihn Weichselbaum sichtlich nicht für voll nahm, ihn wahrscheinlich verachtete, er, der Herr über große Güter, ihn, den Besitzer eines simplen Gasthofs. So verächtlich aber war er nicht. Er gab nicht gern das polnische Städtchen an, aus dem er einstmals zugezogen war, aber das kam ihm selbst schon nicht mehr wahr vor, etwa dreißig Jahre lag es zurück, daß ihn Verwandte in der Gasse hatten unterschlüpfen lassen. Sie steckten ihn damals in ein Hanfgeschäft, ein sonderbares Geschäft, man brauchte nichts darin zu tun und es ging doch. Aber welches Geschäft ging lange so? Der Inhaber war klug genug, es rechtzeitig zu verkaufen, und der Nachfolger ging daran kaputt. Der alte Inhaber erwarb dies Haus und vermietete, als es wenig abwarf, die Zimmer einzeln. Später wurde das Haus überhaupt in einen Gasthof umgewandelt. Doch tat das schon nicht mehr der alte Mann, das unternahm seine Tochter, zusammen mit Joel, der sie zur Frau erhielt.
Der Gasthof blühte auf, das machte wohlhabend, allmählich angesehen. Mit der Zeit nannte man in den Judenstädten des Ostens immer häufiger Joels Namen und die meisten Juden, die von dort kamen und Berlin besuchten, stiegen in der Gasse ab und in der Gasse bei ihm, in seinem Gasthof. Joel machte ihn vollends zum Mittelpunkt, als er noch das Bethaus auf den Hof brachte; dahin drängten sich nun die Einwohner der Gasse zweimal täglich.
Weichselbaum schickte seine Frau hinaus, er bat sie, ein Glas Wasser zu bringen, inzwischen wollte er dem Gespräch eine verbindlichere Form geben. Aber das scheiterte an Joel. Joel empfand die Verpflichtung, seine abweichende Meinung über Grundstücksgeschäfte vorzutragen, denn er irrte wohl nicht in der Annahme, daß Herr 44 Weichselbaum Geld in dieser Form anlegen wollte. »Ich will Ihnen etwas sagen«, fing er an, »und zwar will ich offen zu Ihnen reden . . .«
»Bester Herr Joel«, unterbrach ihn Weichselbaum, »ich bitte Sie, wozu wollen Sie das? Wenn ich einen Menschen sagen höre, er wolle offen reden, dann weiß ich schon, er will mir etwas Unangenehmes sagen, und Unangenehmes höre ich nicht gern. Was gibt es nicht schon alles Unangenehmes auf der Welt – was sag ich? Unangenehmes? Schreckliches, Fürchterliches, Abscheuliches! Was wollen wir es vermehren?«
Frau Weichselbaum kam zurück, man wurde förmlich. Joel verabschiedete sich.
»Welchen Eindruck hattest du von den Männern vor der Tür?«
Sie hatte nur den einen gesehen, der andere mußte für einen Augenblick weggegangen sein.
»Und von dem einen, wie war dein Eindruck? Sah er übel aus?«
»Man soll wahrscheinlich nicht nach dem Aussehen gehen. Übel kann ich nicht sagen, aber ich wurde ein unsicheres Gefühl nicht los!«
Weichselbaum fühlte sich offenbar nicht wohl, denn er ging aus dem Zimmer, nicht nur, um den Männern zu sagen, daß er sie nicht empfangen könne. Als er zurückkam, faßte er die Kanne und goß dreimal Wasser über die Hände. Umständlich trocknete er sie ab und lobte Gott, der das Waschen der Hände befohlen, den Menschen voll Weisheit gebildet und ihm Höhlungen und Öffnungen gegeben habe. Es war Abend, so brauchte er nicht hinzusetzen, was er am Morgen voll Dank gesagt hatte: Wenn auch nur eine dieser Höhlungen offen oder eine dieser Öffnungen geschlossen bliebe, so würde es nicht möglich sein, vor Deiner Herrlichkeit zu bestehen!
Er trat ans Fenster und sah die Gasse hinab. »Was steht da?« fragte er und deutete auf einen Laden, der etwas abseits lag. Es war ein Ausschank und mit großen 45 Buchstaben stand auf Stein darüber der Name ›Salomon‹ geschrieben.
»Weißt du, was von König Salomo erzählt wird?« fragte Weichselbaum.
»Vieles.«
»Aber eines wirst du nicht wissen. Salomo, so heißt es, besaß eine Decke, sechzig Meilen lang und ebensoviele Meilen breit, auf dieser Decke fuhr er, so oft es ihn anwandelte, durch die Luft, er frühstückte in Damaskus und aß zu Mittag in Medien.«
»Wirklich, das wollte zu jener Zeit schon etwas heißen«, stimmte seine Frau zu. »Aber wenn schon Salomo solche Macht besaß, welche Macht muß erst Gott haben und wie leicht muß es Ihm sein, dich zu heilen.«
Dankbar ergriff Weichselbaum ihren Arm: gerade das hatte ihn verlangt zu hören.
Das ›S‹ in Salomo entzifferte er noch, aber schon das ›o‹ verschwamm vor seinen Augen. Immer wieder Schleier und Federchen, die sich jagten . . .
»Du hast dich aufgeregt, Weichselbaum, du wirst dich erinnern, der Professor sagte, keine Aufregung.«
Ein Seufzer war die Antwort: ein Mann in den besten Jahren, fünfundfünfzig, und keine Aufregung!
»Komm, Sara, nimm die Zeitung!« Sie sollte die amtlichen Ankündigungen der Zwangsversteigerungen vorlesen, weil die veröffentlichten Steuerwerte und Erstehungskosten ein Urteil über die Preise in den verschiedenen Stadtgegenden erlaubten; das war nicht unwichtig, wenn man zwar nicht entschlossen war, aber doch mit dem Gedanken spielte, ein Haus zu erwerben.
Er hörte von überlasteten Häusern, die von den Eigentümern nicht zu halten gewesen waren.
»Offenbar alles unzuverlässige Leute.«
»Die Leute können zuverlässig gewesen sein und Unglück gehabt haben.«
»Für die Zuverlässigkeit, um die es hier geht«, sagte Weichselbaum, »kommt es nicht auf das Herz an, 46 sondern darauf«, und er machte mit zwei Fingern die Bewegung, mit der man Geld zählt.
»Warum sprichst du so häßlich von verarmten Leuten? Wie sollen dann die Armen von den Reichen sprechen?«
»Nun, laß sie reden. Es ist das einzige, was sie haben.«
»Weichselbaum, tu dich nicht versündigen. Es ist Gottes Gnade, die dem einen viel gibt, dem anderen wenig.«
»Habe ich etwas gegen Gottes Gnade gesagt? Wie werd ich?«
»Nein, du hast nicht«, sagte sie entschlossen und dachte an seine Augen.
»So, ich versteh dich jetzt erst«, fing Weichselbaum nach einer Weile an, »warum sprichst du nicht klar heraus? Du glaubst, ich will ein Haus in einer Versteigerung erwerben? Gott behüte! Da klebt Blut dran.«
Sara strahlte.
»Siehst du«, sagte er befriedigt, »man muß sich nur ein bißchen Mühe geben, dann wirst du zahm und man kann dich lenken.«
Sie hatte ihre heimatliche Zeitung hervorgezogen, die in jiddischer Sprache geschrieben war und die sie nachgesandt erhielten.
»Nun, und was steht da drin?«
»Ich werd dir die Überschriften vorlesen.«
»Aber du hast doch schon gesehen!«
»Ich meine, es ist heut nicht viel, bloß ein merkwürdiger Fall.«
»Und wie ist der?«
»Er ist nicht glaubwürdig.«
»Also soll ich erst neugierig werden?«
»Ein Lehrer hat sich nicht beherrschen können und hat sich mit einem schönen Mädchen eingelassen, das im gleichen Hause wohnte und von früh auf mit seinem Verstand nicht in Ordnung gewesen ist. Das Mädchen bekommt ein Kind und durch die Geburt wird ihr der Verstand zurechtgerückt. Aber die Eltern hatten den Lehrer bereits angezeigt, als sie hinter seine Schliche 47 gekommen waren, und der sitzt nun in Haft und wartet auf die Verhandlung. Wird er verurteilt werden?«
»Aber das Mädchen ist doch bei Vernunft!«
»Aber sie war nicht bei Vernunft, als es passierte.«
»Ja«, sagte Weichselbaum, kopfschüttelnd, »was alles für Sachen! In zwei Jahren könnte dein zweiter Sohn den Mann verteidigen und ich denke, bei seinem Kopf würd es ein Freispruch werden.«
»Gott geb es!«
»Wem?«
»Was fragst du? Beiden!«
»Du bist also für den Lehrer?«
»Du fragst wie ein Kind!« 48