Martin Beradt
Die Straße der kleinen Ewigkeit
Martin Beradt

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Julchen, Riwka und Israel

In einem Nebenhaus, schräg unter den Fenstern von Frau Warszawski, waren zwei schmale Stände in die Torfahrt eingelassen. Man schlug sie am frühen Morgen auf und schlug sie am Abend ab, den Tag über aber waren sie begraben unter Ware: Frauenkleider, Shawls und Tücher auf dem einen, Wäschestücke, Trikotagen auf dem andern. Ein Name war an keinem Stand zu lesen, an keinem ein Schild angebracht; sie hätten nicht großartig sein können.

Des Morgens wurden neben die Stände zwei Stühle gesetzt, weit in die Torfahrt hinein, nur mit den Vorderbeinen auf der Gasse. Sie standen kaum, so ließen sich zwei Frauen nieder und erhoben sich nicht mehr, bis die Stände am Abend auseinandergenommen wurden, es sei denn, es erschien eine Käuferin mit besonderen Ansprüchen. Sie konnten sich das leisten, denn sie brauchten nur zur Seite oder hinter sich zu fassen, so erreichten sie mit der Hand jedes Stück ihres dürftigen Magazins. Erhoben sie sich aber, so reute es sie hernach bestimmt, die Kundin kaufte nicht, im besten Fall erklärte sie: »Das nächste Mal vielleicht!« Die Verkäuferin schmeichelte: »Beehren Sie mich wieder!« in ihren Rücken aber zischelte sie: »Verschwarzt sollst du werden!« Aus den Worten sprach eine besinnungslose Wut, denn schwarz war die Person meist ohnehin, selbst eine Blonde mußte meistens aufpassen, daß das Haar nicht dunkel im Nacken und am Scheitel nachwuchs. Allerdings gab es auch wirklich blonde und selbst rötliche Frauen, und bei älteren ließ sich das Haar überhaupt nach seiner Farbe nicht bestimmen, grau war selten eines, alle älteren Frauen trugen gehorsam dem 18 Gesetz eine Perücke, und nur die jüngeren entzogen sich dieser Vorschrift der Religion.

Von den beiden Frauen auf den Stühlen war die eine massig, die andere dünn. Im übrigen ähnelten sie sich. Beide waren häßlich, beide hatten krauses schwarzes Haar, jede ein Gesicht von Pergament, jede eine furiose Nase. Beide saßen da in abgerissenen schwarzen Kleidern, um die Schultern an warmen Tagen dünne Tücher und an kalten wollene Mäntel, die Hände vergraben in die Manteltaschen oder tief in die Ärmel hineingeschoben, die Füße in dicken Filzschuhen, wahrscheinlich waren die Zehen zurückgekrallt, damit sie nicht erstarrten und erfroren.

Dieses Sitzen, Tag für Tag, zwölf Stunden auf dem Stuhl, das strengte an. Jede Stellung wurde versucht. Nach den ersten Stunden, in denen sie halbwegs anständig dagesessen, stemmten die Frauen einen Arm auf einen Schenkel und gruben das Gesicht darüber in die Hand und schließlich rutschten sie nach vorn, streckten die Beine von sich und lümmelten die Arme rückwärts auf die Stände. Leicht fiel ein dünngesessenes Kissen auf die Erde; wenn nicht ein Kind es aufhob, mußten sie sich selber bücken, die Dicke ächzte, so kniffen sich Brust und Bauch zusammen.

Sie waren selten einig, obwohl sie Schwägerinnen waren und sogar zusammen wohnten. Zehn Jahre nebeneinandersitzen, meist in Sorgen, das macht hart und zanksüchtig. Eben hatten sie sich gerade schwer gezankt, und die Dicke versuchte einzulenken.

»Ein Tuch den ganzen Tag verkauft! Davon soll man leben, essen, trinken und, Gott bewahre, auch noch Steuern zahlen!«

»Mach eine Eingabe, vielleicht erläßt man sie», erwiderte die Dünne.

»Mir wird man was erlassen, dir wird man was erlassen, ausgerechnet Julchen und Riwka Hurwitz!«

»Sei nischt zu süß, man soll dich nischt aufessen, sei nischt zu bitter, man soll dich nicht ausspeien.« 19

»Wieso nicht? Ich laß mich ausspeien. Es ist schon gleich, wie man zu Grunde geht.«

»Wenn ich wollt weggehen aus der Welt, weil ich hätt genug von ihr, ich tät ein Messer nehmen oder tät mich aufhängen.«

»Schönes Gespräch! Ist es nicht besser, wir fangen wieder an und zanken uns ein bißchen?«

»Anfangen? Haben wir aufgehört?« erwiderte die Dünne verwundert.

Ein junges Mädchen verlangt Strumpfbänder: Alexandra Dickstein, die von ihrem Chef eingeladen ist für den Abend, in eine Konditorei. Er hat nicht die leiseste Chance, festzustellen, ob die Bänder straff sitzen; aber sie fühlt sich besser, wenn sie weiß: ich bin gut angezogen.

Beide geben ihr gute Wünsche auf den Weg, die Dicke: »Mögest du sie in Freuden tragen!«, die Dünne: »Und sie in Gesundheit zerreißen.«

Sie sind kaum allein, so fragt die Dicke: »Wer kommt da?« und mit dem leicht behaarten Kinn deutet sie auf die andere Seite, wo ein unscheinbares Männchen näherkommt.

»Wer da kommt? Israel Wahrhaftig! Er sieht heute aus wie eine Spitzmaus.«

Die Dicke: »Hat er jemals anders ausgesehen?«

Die Dünne: »Aber heute ist er schmächtig wie noch nicht dreizehn.«

Die Dicke: »Nun, sag mir, wo bekommt so ein Männchen die Kraft her, so viel Geld zu machen?«

Die Dünne: »Erstens ist es wahrscheinlich nie so viel gewesen, wie man sich hat erzählt, außerdem hat er fast ebensoviel oder noch mehr verloren, und dann, sieh dir den Bart an, so kannst du sehen, was für ein Stückchen Mund da rausspringt.«

Die Dicke: »Als wenn er hätt sein Vermögen mit dem Mund gemacht.«

Die Dünne: »Mit dem Mund nicht, aber mit der Kraft vielleicht, die darin steckt. Aber er hat schöne schwarze Augen, die sind ganz anders, sanft und gut, und liegen 20 merkwürdig tief unter dem . . . nun, wie nennen sie es bloß? Mir ist, sie sagen Stirnbein.«

Die Dicke: »Was . . .?«

Die Dünne: »Man nennt das so.«

Die Dicke: »Seit wann?«

Die Dünne: »Wahrscheinlich seit morgen früh!«

Ein Fabrikmädchen nimmt an dem Stand der Dicken einen Wollshawl in die Hand und unterbricht das Gespräch über Israel Wahrhaftig. Julchen bedient sie, Riwka, die Dünne, sitzt weiter grollend da. Sie kann den Vorwurf der Kinderlosigkeit, den ihr die Schwägerin im Hin und Her ihres Zankes gemacht hat, nicht verwinden. Der Vorwurf trifft sie durch seine Ungerechtigkeit. Kurz nach der Hochzeit, vielleicht schon vorher, hat ihren Mann die Schwindsucht befallen, zwei Jahre nach der Hochzeit hat er im Grab gelegen. Keine Kinder, das war seine Schuld oder vielleicht sogar sein Verdienst. Julchen hat keinen Anlaß, es ihr vorzuhalten. Wessen Bruder war er denn? Doch ihrer nicht!

Julchen ist heute alles andere als gut aufgelegt, sonst hätte sie die Schwägerin nicht gereizt, und sie kann daher auch das Mädchen nicht zum Kaufen überreden. Das Mädchen besinnt sich und geht davon. »Behalt deine paar schmutzigen Kröten für dich!« denkt Julchen, und mit einem verkniffenen, eigentlich schon vertraulichen Blick zur Schwägerin hinüber, beginnt sie sich und sie zu trösten: »Wahrscheinlich hat sie nicht einen Pfennig!« Denn auf die Dauer tut es nicht gut, böse zu sein, ebensowenig wie die Trauer guttut über ein mißlungenes Geschäft. Wie viele sind schon mißlungen! Heutzutage wird alles bloß in die Hand genommen, zerdrückt, zerknüllt – aber gekauft?

»Kann ich diesen Shawl für meine Frau in die Tasche stecken?« fragt im Vorübergehen der wohlhabende Möbelhändler Altertum. Er sieht den Shawl kaum an, seine Frau tauscht ihn ohnehin um, und er langt nach Silbergeld in die Hosentasche. 21

»Heut noch ein Käufer!« sagt Julchen erstaunt zu ihm.

»Immer, wenn man ihn nicht erwartet. Wenn euch wohl zu Mut ist, sollt ihr weinen, wenn euch schlecht zu Mut ist, sollt ihr lachen! Immer das Gegenteil!«

»Und wenn ich hunger, soll ich nischt essen? Und wenn ich nischt hab Hunger, soll ich essen?«

»Was übertreiben Sie? Übertreiben kann man alles. Nächstens wird man sagen, ich hab gemeint, alles muß umgekehrt sein, wer ein Mensch ist, muß zum Fisch werden, und wer ein Igel ist, eine Maus.«

»Ein anderes Tier hat Herr Altertum für mich nicht zum Vergleich«, sagt Julchen. »Aber, Riwka, du wirst für mich mit dem Igel wahrscheinlich einverstanden sein.«

»Hätt er Kalb gesagt, hätt'st du eingeworfen, du hast drei Kinder!« So, nun ist Riwka wohler.

»Ich ziehe Riwka vor«, sagte Tauber, der gerade in der Nähe stand; Altertum war weitergegangen.

»Wieso sie? Wieso Riwka?« fragte Julchen.

»Ich habe gerade in dem Buch der Könige von dem Propheten Elija gelesen. Der lief die meilenweite Strecke vom Berge Karmel nach Jesreel dem Königlichen Wagen voran, und Sie müssen wissen, es steht geschrieben, der Wagen fuhr im schnellsten Galopp. Riwka könnte vielleicht so laufen, aber Julchen?«

»Und Tauber?« gab Julchen gutmütig zurück.

»Tauber ist aus den Jahren, in denen man ein Läufer ist«, versetzte Tauber.

»Und in dem Alter, wo man ein Prophet wird!«

»Versündigen Sie sich nicht«, sagte Tauber ernst, »mit dem Propheten Elija darf man nicht Späße machen.«

»Und Ihr, habt Ihr nicht mit ihm gespaßt?«

»Mit ihm nicht, mit euch, aber vielleicht hätte ich auch so nicht reden dürfen.«

»Ja, gehen Sie ruhig in sich, Tauber, und gleich für mich mit!« sagte Julchen mit einem Blick auf ihre Schwägerin. »Ich habe mich heute auch nicht richtig betragen.«

»Es wird nicht gar so schlimm gewesen sein.« 22

»Doch, es war schon schlimm. Nischt, Riwka?«

Aber Riwka blieb stumm.

 

Israel Wahrhaftig war auf der Straße stehen geblieben, dann weitergegangen und zuletzt verschwunden. Die Frauen hatten recht, er sah sonderbar aus, ein Knabenkörper und zu seinem Nachteil in einem Gehrock. Aber viele Juden, die noch nicht lange den Kaftan abgelegt hatten, trugen ihn als eine Art von Buße. Es beschwichtigte ihr Gewissen nicht, zu sagen: man kann nicht mehr im Kaftan gehen, im langen Kleid, die Zeiten haben sich geändert, wie will man sonst Geschäfte machen, in Berlin, der fortgeschrittensten Stadt der Welt? Denn kaum haben sie das gesagt, so tauchen vor ihnen die Gestalten ihrer Väter auf, ihrer Großväter, alle gekleidet in den Kaftan und alle sprechen: Israel, du bist wohl ein so großer Mann geworden, daß du nicht mehr gehen kannst wie deine Väter gingen? So tragen die Juden hier den Gehrock. Ein Gehrock ist nicht dasselbe wie ein Kaftan, aber fast dasselbe, wenigstens der dunkle, doch sind auch hechtgraue zu sehen, tabakbraune, hellblaue. Israel, seiner Väter eingedenk, trägt einen schwarzen Gehrock. Sein Gehrock schlägt Falten auf dem Rücken, ist abgeschabt und nicht selten schmutzig. Schmutzig sollte er nicht sein, aber im übrigen trifft er das Richtige. In manchen Stadtteilen mag man gutangezogen sein müssen; in der Gasse nicht.

Mehr als der Gehrock fällt an Israel eine Bewegung auf. Er stößt vorn den Hut hoch, wischt mit der Hand über das Leder und läßt ihn in die Stirn klappen. Der Hut fällt hin, Israel hebt ihn auf, streicht mit dem Ärmel über den Filz – besser, der Ärmel ist schmutzig als der Hut. Ist ihm zu warm? Es ist noch April und empfindlich kühl. Eben erst reibt sich ein alter Mann die Hände und seufzt: Es will doch heint gor nischt machen warm!

Israel verschwindet, nein, stürzt in ein Haus, das zweite neben dem Stand der Schwägerinnen. Hier wohnt er 23 und hier hat er es gut. Er braucht nicht von Stube zu Stube zu gehen und seine Frau zu suchen. Ihm ist die Klage anderer fremd: immer ist sie weg! Dazu heirat man! Was muß sie auf der Gasse stehen und tratschen! Seine Frau steht niemals auf der Gasse und man begreift es, denn die früher möglicherweise sehenswerte Frau ist gänzlich auseinandergegangen und geradezu der Gestalt beraubt. Polster lagern bis zum Kinn, Polster bis zum Knie, Polster vorn, Polster hinten. Gehen macht ihr Atembeschwerden, sie verträgt kein festes Kleid und in ihrer losen Überjacke wagt sie sich nicht aus der Wohnung zu ebener Erde über das Haustor hinaus, die hohen Feiertage ausgenommen, an denen sie in großer Aufmachung, mit schwarzen Spitzen und sehr viel Schmuck, keuchend und feuerrot die Synagoge betritt und die Andacht empfindlich stört.

Ist Israel zu bedauern, der engbrüstige, der fast zusammengeknickte Mann, an dem nichts auseinandergegangen ist als sein zerzauster, tintenschwarzer Vollbart? Aber er hat nichts an Gottes Schöpfung auszusetzen; auch hat Rosa winzige Füße, winzige Hände und, wie eine letzte Erinnerung an einst, schmale Arme bis fast hinauf zur Schulter, dazu ist ihre Haut unwahrscheinlich zart, unbegreiflich blaß. Er macht sich sehr viel aus diesen Vorzügen, im Gegensatz zu ihr, der die Vorzüge ihrer Kinder wichtiger sind als ihre eigenen und die im übrigen ausschließlich den Geschäften ihres Mannes lebt.

Israel liegt sehr bald ausgestreckt auf dem Sofa und wälzt sich hin und her. »Wenn mir bloß einer sagte, was ich tu!«

Bei Wagnissen hat er fast ganz das kleine Vermögen verloren, das er sauer im Pelzgeschäft verdient. Er hat sich im Stoffgeschäft versucht, aber ohne Erfolg. Zuletzt hat ihm ein Bekannter geraten, einem Diebe Stoffe abzunehmen, der sie zu einem auch nur einigermaßen anständigen Preis nicht loswurde, so viele Einbrüche waren gerade in Stoffgeschäften im Zentrum der Stadt 24 vorgekommen. Hatte Wahrhaftig aus Verzweiflung über sein eigenes geschäftliches Mißgeschick gekauft oder um den Dieb, der viel gewagt hatte, nicht alles verlieren zu lassen? Er wollte so gern das Letztere glauben. Sicher war, daß er weit mehr gezahlt hatte, als die anderen, gewinnsüchtig wie sie waren, geboten hatten, obwohl er die Ware für ebensowenig hätte haben können. Aber seine Qualen in den letzten Monaten bewiesen, daß er sich nicht betrog, das Geschäft sprach mehr gegen als für ihn, und die letzten achtundvierzig Stunden hatten seine Qualen verdreifacht!

»Hör auf mich, Israel! Sei verständig! Werd ich dir was Schlechtes raten? Verkauf! Du verdienst Schläge, wenn du die Ware liegen läßt und sei's bloß einen Tag!«

»Schlag mich«, stöhnte er, denn er wagte nicht, sie zu verkaufen.

Wirklich, wenn ihr Herz sie nicht behinderte, sie täte das, sie schlüge ihn. Der Bursche, der die Ware gestohlen hatte, war nun tot und trotzdem sollte die Ware im Keller liegen und verfaulen?

»So rasch verfault sich's nicht.«

Aber die Mode wechselte. An sich war es richtig, auf solche Weise erworbene Ware im Keller lagern zu lassen, bis der Einbruch vergessen war, erhielt man später auch nicht viel mehr als den Preis, den man selbst gezahlt. Aber hier hatte sich eben erst der Dieb auf der Flucht erschossen, und diese Beute aus einem lang zurückliegenden Einbruch sollte noch immer nicht verkäuflich sein? Sie lagerte schon drei, was sagte sie? vier Monate. Demnächst konnte man sie billiger im Ausverkauf erstehen als bei ihm.

Israels Gesicht war totenblaß, sein Körper schweißnaß. Er wischte sich die vom Bart nicht bedeckten Stellen des Gesichts, den mageren Hals, den Haarboden.

»Sei gut zu mir!« Er drehte sich ihr zu. Sie hatte einen Sessel vor das Sofa gerollt und bettete seinen kleinen Kopf auf die breite Rundung ihrer Schenkel. 25

Die Kinder kamen hereingesprungen.

»Hinaus!«

Auf den entschiedenen Befehl verschwanden sie durch die eine, um gleich danach durch eine andere Tür wieder zu erscheinen, zusammen mit einer Tante Frau Wahrhaftigs. In dieser Gasse lebte in jedem Hause eine. Diese hier, Ida Perles, sehr lang, sehr dünn, hatte niemals einen Mann gehabt und von ihren Jahren die meisten unter Verwandten hingebracht, die letzten zwölf bei diesen. Sie hatte jedes Kind erzogen, nun war sie fast überflüssig, die älteste Tochter half erziehen. Ida Perles litt, denn sie wollte sich verschwenden. Sie ließ nicht gelten: wenn man dir gibt, so nimm! Sie dachte umgekehrt: wenn man dir gibt, gib doppelt! Und der Stachel wurde nicht weniger spitz, weil sie in ihrer Anspruchslosigkeit fast verkümmerte. Seit Ewigkeit sah man an ihr dasselbe Kleid, sie wagte kaum, sich darin zu setzen. Ihre Strümpfe sahen pockennarbig aus, so eng standen die Stopflöcher beieinander. In einem Glase ihres Kneifers war ein Sprung, die weißen Blitze zuckten nach allen Seiten, nur jemand, der sich völlig überwunden hatte, konnte durch ein solches Glas noch sehen.

Ida Perles verzog den Mund, als wollte sie etwas Süßes sagen, es war nicht ihre Schuld, wenn sie stattdessen krächzte. Vielleicht gab es Heilmittel, die solche Töne milderten, aber sie kosteten Geld und nie hätte sie Geld von Israel gefordert. So fragte sie in einem Ton, der ihr selber Unbehagen machte: »Rosa, hast du mich gerufen? Was rufst du mich, Rosa?«

Israel lag mit geschlossenen Augen, ohne Blick für seine Kinder. Sonst sah er sich nie satt an ihnen, an ihrer zarten Haut, ihren schönen Augen, nie vor allem an der entzückenden Vertiefung ihrer Oberlippe. Wie war sie wohlgebildet, wie reizte sie zum Lachen! Ein alter Mann hatte ihm die Herkunft dieser Vertiefung erklärt. Im Himmel, vor ihrer Geburt, lernten die Kinder bei einem Engel, der las vor aus der Heiligen Schrift und sie hörten 26 so in Andacht versunken zu, daß sie nicht hinunter auf die Erde wollten und lieber ewig bei dem Engel blieben. Da gab er ihnen einen Nasenstüber für den Sturz zur Erde – so kam die Kerbung in die Lippe.

Beim Anblick ihrer Kinder verlor die Mutter den Mut. »Gut, Israel«, sagte sie, »laß sein!«

»Was soll er sein lassen?« fragte die älteste Tochter.

»Was wollen sie von dir wissen, Rosa, mein Gutes?« erkundigte sich die Tante, denn leider hörte sie nicht mehr gut.

»Ob Israel sich soll lassen machen einen neuen Rock«, schrie ihr wütend Frau Wahrhaftig ins Ohr.

»Israel soll sich lassen machen einen neuen Rock? Das ist aber einmal schön! Wie alt ist jener?« und sie wagte einen Ärmel von Israels Rock zu fassen und mit einem schüchternen Lächeln zu äußern: »Speckig! Ein Großkaufmann in einem speckigen Rock!«

Aber Frau Wahrhaftig, von neuem ungeduldig, wies mit Nachdruck Kinder und Tante hinaus.

Israel hatte die Beine angezogen wie ein Kind vor der Geburt.

Plötzlich kam der Frau eine Erleuchtung. Fast jubelnd verkündete sie: »Ich weiß etwas.«

Mitzujubeln war Israel außerstande.

»Du fragst nicht?« sagte sie enttäuscht. Schließlich riet sie ihm, den Keller von Sauermann aufzusuchen. Dort konnte er feststellen, ob man ihn mit dem Toten in Verbindung brachte. Wenn nicht, nun dann, nicht wahr, dann sah er ein, es stand ihm frei, er konnte verkaufen.

Israel richtete sich auf.

»Ich . . .? Und wann?«

»Er wird am Nachmittag beigesetzt – geh gegen Abend!«

»Und allein? Dorthin?«

»Wer sagt allein? Du wirst dir jemand nehmen, laß sehen, beispielsweise, wie wär es? Nimm dir . . .« 27

 


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