Henry Benrath
Die Mutter der Weisheit
Henry Benrath

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Ich hatte mein Versprechen gehalten und die Pfingstferien bei Gottfried Möhl im »Hessischen Hinterland« verbracht, stille, verträumte Ferien in der Süße deutscher Frühsommerlandschaft – ausruhende, erfüllende Tage mit einfachen, deutschen Menschen . . .

Da mir Lorsch seine Ankunft aus Berlin angekündigt hatte, kehrte ich am 8. Juni nach Philippinenthal zurück.

Manfred war auf Wunsch seines Bundes zu burschenschaftlichen Tagungen nach Prag-Wien gefahren und frühestens Mitte Juni zu erwarten.

Kallenbach war verreist. Wohin, hatte er nicht bekanntgegeben . . .

Lorsch traf spät in der Nacht ein. Eine Woche lang verbrachten wir jede freie Stunde zusammen, die uns blieb . . . Weltstadt flutete gegen mich zurück – – Ich ahnte nicht, als ich mich am Abend des 14. Juni schlafen legte, mit welchem Zauber andere Weltstadt am folgenden Morgen in meine Zimmer hereinflattern werde . . .

Es mochte acht Uhr sein, als ich durch heftiges Klopfen an meine Tür geweckt wurde . . .

– Herr Benrath, rief Kädda, Herr Benrath, ei mache Se doch rasch emal uff! Mache Se uff! Mache Se uff!

Ich schrak in die Höhe . . . Ich sah am Licht, das durch die Vorhänge fiel, daß draußen ein strahlender Sommertag heraufkam . . . Ich sprang aus dem Bett, entriegelte die Tür, durch die sich, aufgeregt und kaum 220 ihrer Sprache mächtig, Kädda Mulch in mein Schlafzimmer drängte . . .

– Was ist denn los?

– Ach du lieber Gott! Morgens um acht Uhr schon! Jetzt kommt es an den Tag! Jetzt wird es ruchbar . . .

– Was?

– Wer weiß, wie das enden wird! O du mein Gott! In meinem Haus . . .

– Na wollen Sie mir denn nicht endlich sagen, was dieser ganze Zinnober soll?

– Herr Benrath, Herr Benrath! Denken Sie an Ihre Mama! An Ihre gute, treue Mama! Denken Sie an Ihre Gesundheit, an Ihre Zukunft!

Sie trat ganz dicht neben mich und tuschelte mir ins Ohr:

– Da draußen ist eine, die will bei Ihne . . .

– Wer?

– Ganz in Weiß . . . Schneeweiß . . . un riecht aus de Röck – ein wahrer Paradiesensduft . . . Aber etwas Genaues ist das nicht! Denken Sie an Ihr Vermögen! Wie schnell ist Hab und Gut verpraßt . . . Im Garte sitzt se, unterm Goldregebaum. Sie hätt' Zeit, hat se gesagt, Sie sollte sich nur ruhig fertigmache . . . Sitzt unterm Goldregebaum und spielt mit der Sulzmannin ihre Katz!

– Gehn Sie in die Küche, machen Sie das Fenster zu. Ich muß durch den Vorhang sehen, wer das ist . . .

– Jo, jo, jo . . . Gucke Se erst emol, eh Se se herinlasse! – – 221

Mein Gott – – träumte ich? Wachte ich? Da saß Germaine . . . Germaine . . .

Zurück ins Zimmer . . . Wasser in den Mund, Wasser ins Gesicht . . . Eau de Cologne auf die Haut . . . die Haare wie wütend glatt gebürstet . . . ein frisches Pyjama . . . welches? Hier, das blauweiße, das sie mir selbst geschenkt, das von Sulka, die Pumps an die Füße, das Bett zugeschmissen und glatt gestrichen . . . Und dann hinaus an die Gartentür . . .

– Germaine! Germaine! Name, seit sieben Monaten nicht mehr über die Lippen gebracht, über die nach Philippinenthal verbannten Lippen! Germaine! – –

Zurück ins Zimmer – fort aus den Neugierblicken – und nun ein Süßes, ganz Weißes, ganz Zartes, ganz Duftendes, das auf dich zufliegt, an deine Schulter, an deine Lippen – und fast auslischt in deinen Armen . . .


– Ich konnte, ich konnte nicht mehr, Henry, sagte Germaine, als wir am Frühstückstisch saßen . . . Ich mußte dich sehen, dich spüren . . . Die Briefe reichten nicht mehr aus . . . Ist es nicht wundervoll? Ist es nicht, als ob wir in der Avenue Velasquez im Gartenzimmer säßen? Dieses Licht . . . da draußen die Kastanienbäume . . . das Geschrei der Vögel . . .

– Und du, Germaine, und du, und du . . .

– Ach, Henry, daß uns das Leben manchmal so freundlich sein kann . . . Ist es nicht bezaubernd, daß 222 ich nun fünf lange Wochen mit Onkel Esteban Fuentes in Bad-Oos bin? Eine Stunde Schnellzug, eine Stunde Auto von dir entfernt? Daß ich einem alten Mann, der mich auf Händen trägt, die Freude machen kann, um ihn zu sein – – und dabei dich so nahe habe? Daß ich dich holen kann mit meinem Wagen, mit dir durch die Wälder und Täler fahren, so oft du willst, so oft du Zeit hast? Daß ich hier bei dir sitzen kann, dich erwarten, bis du aus der Universität kommst?


Ich hatte mich angezogen. Es war zehn Uhr vorbei. Als ich die Tür des Musikzimmers, in dem wir gefrühstückt hatten, etwas rasch öffnete, schlug sie gegen eine Gestalt, die zurücktaumelte und die Hand gegen die Stirne hob . . .

– Was ist denn das? sagte ich zu Kädda, die sich an eine Kommode lehnte . . .

– O meine Stirne, ach meine Stirne, seufzte sie. Wenn das kein Loch gibt . . .

– Wie kommen Sie denn so dicht an die Tür?

– Du lieber Gott, du lieber Gott! Herr Benrath, Herr Benrath, denken Sie an Ihre Mama! Jetz horch ich schon über eine Stunde am Schlüsselloch un hab kein Sterbenswörtche von dem Balewatsch verstanne, kein Sterbenswörtche . . . Ei du lieber Gott, was is denn das für e Sprach?

– So . . . gehorcht haben Sie! Auch geguckt? 223

– Ach meine Augen, o meine Augen . . . Auch wenn etwas zu sehen gewesen wäre, hätte ich nichts gesehen. Ich bin zu kurzsichtig, zu gottserbärmlich hochkurzsichtig . . . Wer weiß, wozu es gut war . . .

– Das spüren Sie ja nun an Ihrer Stirne . . . Machen Sie Bleiwasserumschläge . . . Und hören Sie: Ich bin den ganzen Tag auswärts. Wir gehen jetzt spazieren. Um zwölf komme ich noch einmal zurück. Bis dahin wird Baron Lorsch hier sein. Sagen Sie ihm, bitte, er solle einen Augenblick warten. Sonst gar nichts. Haben Sie verstanden? Und machen Sie alles tadellos sauber . . . Vor allem sorgen Sie, daß die Toilette im besten Zustand ist . . . Schlimm genug, daß wir keine Wasserspülung haben bei der Wärme – aber daran ist nun nichts zu ändern – und der schöne Duft muß halt mit in Kauf genommen werden . . .

– Der Doktor Schaub sagt, das ist Moniak, und der ist nur gesund und natürlich. Wie im Feld, wenn die Bauern die Puddel fahrn . . . Herr Benrath: die Dame bleibt doch nicht da heute nacht?

– Darüber ist noch gar nichts beschlossen. Das geht Sie auch gar nichts an . . .

– Eine feine Dame, eine gotteswunderfeine Dame! Die Frau Geheimrat Kugler aus'm ersten Stock hat sie auch gesehen . . . ›Frau Mulch, hat sie gesagt, da kommt unsereins nicht mit! Da is der Schnitt alles! Und die Füßchen – wie eine Prinzessin . . . An den Füßchen, hat sie gesagt, erkennt man die Herkunft. 224 Und am Nacken! Ein Haaransatz, hat sie gesagt – da können Sie mit der Laterne suchen!‹ Herr Benrath: ich bin e dumm Gans! Eine hocheinfache Frau wie ich, die weiß das alles nicht. Die schwätzt, was sie hört und liest . . .

»Wer allzufein in Kleidern ist,
Sehr oftmals die Moral vergißt!«

steht im Kalender . . . Herr Benrath, ist das Ihre Braut?

– Nein.

– Das ist nicht Ihre Braut?

– Nein. Das ist dieselbe Frau, deren Bild auf meinem Schreibtisch steht . . .

– Das? Die Germaine? (Sie sprach das Wort, das sie auf dem Bild gelesen hatte, deutsch aus.) Ach, gehn Sie heim . . .

– Ja . . .

– O meine Augen, ach meine Augen . . .

Germaine öffnete die Tür:

– Hältst du hier eine Kabinettssitzung ab?

– Germaine, sagte ich, ich möchte dich mit meiner Wirtin bekannt machen, von der ich dir ja schon allerlei geschrieben habe . . .

Germaine reichte Kädda die Hand. Kädda machte eine Reverenz.

– Ich kenne Sie schon ganz gut aus den Briefen Herrn Benraths, sagte Germaine . . . 225

– Was Sie nicht sagen . . . Ach ja, gelle, unser Herrgott sieht das Herz an, und nicht das Kleid . . . Sie haben ein gutes Herz, das merkt man gleich . . . Ich habe auch ein gutes Herz, ein viel zu hochgutes Herz! Aber Undank ist der Welt Lohn! Frauen, wie Sie und ich haben viel zu leiden. Wir werden ausgebeutet! Sehn Sie sich vor, sehn Sie sich vor! Die Welt ist nixnutzig und schlecht! Und wo eleganter ein Frauenzimmer ist, umso größer ist die Gefahr! Ja, ja, ja, die Gefahr ist groß, und es sind viele Netze ausgestellt! – – Ach, lasse Se sich doch emal aus der Näh betrachte . . .

Sie ging ganz dicht vor Germaine und schaute ihr ins Gesicht . . .

– Wie meine Ria, sagte sie, wie meine Ria. Schön, was schön heißt . . . Ja, die Jugend, die blühende, hochblühende Jugend! . . . Meine Tochter, wissen Sie, ist jetzt gerade wieder guter Hoffnung . . . Wenn's nur so gut geht wie beim erstenmal . . .

– Warum soll es nicht gut gehen? lächelte Germaine.

– Sie glauben's nicht! antwortete Kädda . . . Ein wahres Wunder war es! Es war der 10. September, und heiß, heiß, was heiß ist. Die Ria und ich saßen in der Küch, mein Mann war schon oben im Birnbaum, um die Birn abzumache . . . Wir hatten Ochsenfleisch mit Zwiwwelskartoffel un eingemachte Quetsche zum Mittagessen . . . Da sagt die Ria: ›Mutter, geh doch emal un hol mir e Dippche Bier!‹ ›Herr Jesses kreisch 226 ich, wie kannste in deim Zustand Bier in Quetsche drinke!‹ Denn wissen Sie, sie war schon hoch im Stand – und da muß eine Frau vorsichtig sein. Das kann sonst aufs Kindche drücke – und das darf nicht sein, sagt der Doktor Schaub. Aber die Ria lamentiert und lamentiert – da geh ich und hol ihr e Dippche Bier. Wupp, hat sie's drunne. ›Mamma, sagt se, ich bin wie erlöst! 'n Durscht hatt ich, 'n Durscht!‹ und geht in meine Schlafstub un legt sich auf Ihr'm Vater sein Bett . . . Ich dussel in. 's war heiß, was heiß is . . . Un schlaf, un schlaf . . . Uff einmal kreischt's vom Birnbaum erunner: ›Kädda, Kädda!‹ Ich wach uff . . . ›Kädda, kreischt's, Kädda, haste denn keine Ohrn? Die Ria ruft‹ . . . Die Ria! Weiß Gott! Da hör' ich: ›Mamma, Mamma, Mamma!‹ Bis in meine letzte Stunde vergeß ich net die Krisch – – un renn un lauf in die Stubb, wo se lag – – Was soll ich Ihnen sagen – Sie können's glauben oder nicht – Grad schlug die Kuckucksuhr vier: da hatt' se schon den Bub – – und lacht und sagt: ›Siehste Mamma, das kommt vom Bier in die Quetsche!‹ Und war ein gesundes, prächtiges Kind – und nach sechs Tagen ging meine Ria daher, als ob nichts gewesen wäre, auf Wespentaille! Ja, ja, Gott ist gerecht! Er hat die Ria dumm gemacht, aber er hat ihr eine große Körperkraft verliehen! Wissen Sie – es gibt Mensche, die wollen so eine Geburt nicht glauben! Die sage: ›Die Mulchin schneid't uff!‹ Aber so wahr die 227 Kartoffelsupp aus Kartoffel gemacht wird: ich schneide nicht auf! Nein, das tue ich nicht! Auch auf dieser Welt gibt es Wunder – und nur Dummköpp un Kameler wollen das nicht einsehen! Ich weiß, was ich weiß – und das lasse ich mir nicht nehmen:

»Den einen gibt's der Herr im Schlafe,
Die andern sehen's niemals ein – –
Drum glaube nur, so wirst du einstens
Gescheiter als die Klugen sein!«

– Bravo, rief Germaine, bravo, Frau Mulch!

– Sehn Sie, sehn Sie, Madame, Sie verstehn mich! Ja, ja, ja, vornehme Leute haben mich immer verstanden! Aber das gemeine Gezottel – die haben mich ausgespottet und gesagt: ›Die Mulchin spinnt‹ . . . Laßt sie spotten, laßt sie spotten – sie haben's ihren Lohn dahin! . . . Ich möcht' Ihnen noch was sagen . . . Sie haben es heute nicht gut getroffen. Wenn Sie ein Betürfnis haben, ist es besser, Sie gehn ins Hotel . . . Denn wissen Sie, Herr Benrath, heute nachmittag kommen die Puller aus Ritzenbornhausen, die Grub wird für den Sommer geleert . . . Wir haben nämlich noch keine Wasserspülung, Madame, weil erst letztes Jahr die Kanilasation gemacht worden ist . . .

Germaine schluchzte . . .

– Da lachen Sie, sagte Kädda. Ja, ja – das sind Sorgen, von denen Sie nichts wissen! Was glauben Sie, 228 wenn Sie das Haus voll Mieter haben – drei Stockwerk und die Mansard' und im Hinterhaus sechs Familien – was glauben Sie, wie oft wir da die Ritzenbornhäuser kommen lassen müssen! Und was das kostet! Dabei können wir uns noch »von« schreiben! Denn viele Häuser in Philippinenthal haben noch das alte Tonnensystem!

– Nun bist du auf dem laufenden, sagte ich zu Germaine, der die Tränen aus den Augen liefen . . .

– Komm noch einen Augenblick herein, Henry, ich muß mir das Gesicht frisch machen, ich kann so nicht ausgehen . . . Man würde denken, wir sind sentimentale Liebesleute, die sich eine Szene gemacht haben . . .

Cette femme, sagte sie, als wir nach einer Viertelstunde das Haus verließen, um einen Morgenspaziergang zu machen, cette femme est une véritable trouvaille. Je comprends parfaitement qu'elle soit le piment de ton séjour à Philippinenthal.

– Ich habe ihr einen Namen gegeben, erwiderte ich . . .

– Welchen?

Die Mutter der Weisheit.


Ich hatte zu Tante Malkomesius ein paar Worte geschickt, sie möge bei dem Abendessen, zu dem sie mich für heute eingeladen habe, ein Gedeck mehr auflegen. Ich werde ihr eine Überraschung mitbringen.

Tante Eugenie liebte es, an Abenden, wo – wie 229 heute – »Großes Promenaden-Gala-Konzert« in dem ihrer Villa gegenüberliegenden Schloßgarten stattfand, ihre wenigen Freunde zu Tisch auf die dem Eßzimmer vorgebaute Terrasse zu bitten. Man saß dort sehr geschützt, nicht allzu sichtbar, konnte das Treiben auf den Parkwegen beobachten und sich von dem Spiel der Militärmusik in jene seltsame Sommerabendstimmung hinübertragen lassen, die einem das fern Gelebte naherückt und die Nähe gegen ungewisse Horizonte fortschiebt. Tante Eugenie hatte ein Faible für Militärmusik, wie für alles, was an Gold oder Brokat erinnerte. Ein weicher Pistonklang konnte ihr das Auge feuchten. Ihre Lieblingsopern waren »Carmen«, »Mignon« und die »Cavalleria rusticana«. Sie wurde also bei keinem Konzert ganz enttäuscht, denn aus einer dieser Opern wurde bestimmt etwas gespielt . . .

Sie saß an solchen Abenden auf ihrer Terrasse wie ein gekröntes Haupt in der Fürstenloge – dem Trubel fern und doch in jener Berührung mit ihm, die man »Herablassung« nennt. Vielleicht fühlte sie sich in diesen Stunden noch als die ehemalige Herrin von Schloß Mellnau – vielleicht verschmolzen ihr noch einmal Leben und Vorleben zu einer Einheit im lässigen Auf und Ab der Melodien. Sie war in dieser Verfassung immer sehr gütig, sofern nicht irgend ein Außergewöhnliches sie in eine gereizte Stimmung versetzte . . .

Als ich mit Germaine gegen acht Uhr nach der Ahornallee unterwegs war, wurde mir etwas bange 230 vor der geplanten Überraschung, und ich überlegte, ob es nicht doch klüger gewesen wäre zu sagen, wen ich mitbringe. Da wir vom Ulmenberg her kamen, konnten wir schon von weitem die beiden wartenden Frauen auf der Terrasse beobachten. Es schien noch keiner der Geladenen gekommen zu sein . . . Plötzlich sahen wir, wie Renate ein Fernglas auf uns richtete, es ihrer Mutter reichte, wie diese es an die Tochter zurückgab und in großer Hast im Inneren des Hauses verschwand. Gleich darauf nahm auch Renate Reißaus.

– Du bist erkannt, Germaine, sagte ich. Die Panik hat begonnen . . .

– Nicht die Panik, Henry. Der Kabinettsrat, wie man sich zu verhalten habe. Ich wette auf etwas mitleidige Duldung meiner Person. Man ist ja beengt durch die Anwesenheit Dritter. Ohne diese würde es Ausbrüche geben, einmal weil ich in Lugano diese Freundin Renates verulkte, dieses Tratschweib da . . .

– Ist schon abgelöst durch eine andere, übrigens reizende Person, welche sich voraussichtlich mit Jacquemier verloben wird . . .

– So, tant mieux . . . und zweitens, weil ich mich gegen Kuno nicht allzu liebenswürdig verhielt . . . Enfin: qui vivra, verra! – –

Wir waren tatsächlich die Ersten.

– Die Damen werden sogleich erscheinen, sagte das Mädchen. 231

– Es wird noch einmal Toilette gemacht, für dich, Germaine, sagte ich.

– Komm, winkte Germaine, gehen wir aus diesem dumpfen Salon auf die Terrasse . . .

Lorsch kam . . .

Jacquemier kam . . . im Augenblick der Vorstellung schon hingerissen . . .

Anita Lorenz kam, Jacquemiers Freundin . . .

Der Graf Rastenburg kam . . .

Schließlich kamen, Grau und Kirschrot, Tante Eugenie und Renate . . .

Germaine ging ihnen entgegen und streckte beide Hände aus, mit der einen die Mutter, mit der anderen die Tochter fassend:

– Seid ihr sehr böse über das enfant terrible, das euch diesen Streich spielt?

– Dort steht das enfant terrible, sagte Tante Eugenie, während sie Germaine umarmte . . . Eine wahre Schande, daß Henry uns nicht gesagt hat, wer kommt . . .

– Und eine noch viel größere, ergänzte Renate, daß du uns nicht schon heute nachmittag aufgesucht hast . . .

– Wir sind ausgefahren, erwiderte Germaine. Es wäre unverzeihlich gewesen, wenn man einen solchen deutschen Sommertag nicht ausgenutzt hätte . . .

Nach der Begrüßung der anderen fragte Tante Eugenie:

– Du bist heute nachmittag gekommen? 232

– Nein, heute morgen in aller Herrgottsfrühe, mit meinem Wagen . . . Ich habe Henry aus dem Bett gejagt . . .

Renate warf Anita einen Blick zu . . .

– Und hast es nicht für nötig gefunden, deine alte Tante Eugenie zu besuchen?

– Ich hatte so viel mit Henry zu bereden . . . Ich wäre bestimmt am Nachmittag gekommen, wenn wir mit unserer Angelegenheit schon zu Ende gewesen wären . . .

– Ich hoffe, ihr habt sie gut erledigt, sagte Tante Eugenie.

– Ausgezeichnet. So gut, daß ich noch heute nacht nach Bad-Oos zurückfahre, wo ich mit Onkel Esteban für fünf Wochen sein werde. Ich habe mir den Wagen auf elf Uhr bestellt . . . Er ist zu deiner Verfügung, liebste Tante, wenn du ihn willst. Ein Anruf – und ich sende ihn dir . . .

– Wir fahren nicht gerne Auto, sagte Renate . . .

– Du nicht. Ich sehr gerne, sagte Tante Eugenie.

Die Mutter hatte gegen die Bevormundung der Tochter Partei genommen. Das Unwahrscheinliche war Tatsache geworden . . . Der Abend versprach, anregend zu werden.

– Wir werden drinnen essen, erklärte Tante Eugenie, und erst den Kaffee hier außen nehmen. Es ist bequemer. Die beiden Flügeltüren können offenbleiben. Wir werden die Musik auch so sehr gut hören – – 233

– Ich möchte eigentlich sehr gerne nachher einmal unter die Leute da drüben gehen, sagte Germaine plötzlich während des Essens. Wollen Sie mich begleiten, Herr von Lorsch? Eine Viertelstunde lang – nicht mehr. Mir macht diese Bewegung von Jugend so viel Freude . . .

– Wir gehen nie da drüben hin, sagte Renate.

– Ich weiß das. Eben deswegen bitte ich ja Herrn von Lorsch . . . Aber wenn du nicht gerne hast, Tante, daß man sich da zeigt . . .

– Ich bitte dich, Germaine! Tue ganz, was du willst . . .

– Sie werden mich doch des angekündigten Vergnügens nicht berauben? fragte Lorsch.

– Gewiß nicht . . .

Renate stellte jählings ihr Glas auf den Tisch zurück und wischte sich unnötig lange die Lippen . . .

– Darf ich mir eine Frage gestatten, sagte Rastenburg, indem er sich zu Germaine neigte, sind Sie aus der Linie Fuentes-Santillana?

– Mein Gott – wieso wissen Sie als Balte denn im spanischen Adel Bescheid?

– Ich habe – wie fast alle Balten – viele Marotten. Darunter die, daß ich die wichtigsten Adelsgenealogien der großen europäischen Länder im Kopf habe . . .

– Und das interessiert Sie? fragte fast entsetzt Jacquemier . . .

– Warum denn nicht, Herr Professor? Erstens lernt man verdammt viel Geschichte bei der Sache – und 234 zweitens lohnt sie sich wirklich . . . Sie glauben gar nicht, wie anders sich die menschliche Gesellschaft ansieht, wenn man einmal »Glanz und Verfall« dieser großen Familien studiert . . . Man wird ein unheilbarer Fatalist – und macht sich um viele Dinge keine Gedanken mehr, die einen vielleicht lange gequält haben . . .

– Um welche Dinge?

– Man erkennt sehr bald, Herr Jacquemier, daß das Blut arbeitet wie es will – und daß der Geist weht, wo er will. Zu berechnen ist gar nichts. Das geht vielleicht Ihrer rationalen französischen Gesellschaftsthese gegen den Strich, aber ich bin der festen Überzeugung, daß ich recht habe . . . Die Rolle der Atavismen ist unheimlich. Sehn Sie doch bloß mal eine Nummer wie mich an. Deutsch-litauisch-schwedisches Gemisch, seit 1227 nachweisbar. Was bin ich? 'n Raubritter. Glatt 'n Raubritter . . . Ich tauge zur »Arbeit« in der heutigen Gesellschaft wie der Igel zum Archivdiener . . . Und wie hat man sich bemüht, mich zu einem brauchbaren Glied dieser Gesellschaft zu machen . . . Es geht nicht. Ich bin und bleibe der tolle Rastenburg . . .

– Ich liebe Raubritter, sagte Germaine. Gehört sich auch so für die Enkelin eines Großkaufmanns . . .

– Charmantes Bekenntnis! rief Rastenburg, sein Glas leicht gegen Germaine erhebend . . .

– . . . aber ein überpersönliches, lächelte Germaine . . . 235

– Versteht sich von selbst, lachte Rastenburg. Bekenntnisse persönlicher Art – werden nur durch die Tat erhärtet . . .

– Wissen Sie was, Graf Rastenburg: Sie könnten mich eigentlich heute abend nach Haus begleiten. Meinem Freund Henry erlaube ich das nicht. Er muß für den höchstbürgerlichen Doktortitel arbeiten – aber Sie haben doch als Raubritter wohl in erster Linie Frauendienst en permanence . . .

– Nie einen anderen gekannt, außer den bei meinem Regiment.

– Also gut. Wir brechen um elf auf – und Sie haben den Einuhrzug, um hierher zurückzukehren. Es langweilt mich, allein durch diese Nacht zu fahren.

– Fährst du denn selbst? fragte Tante Eugenie mit entsetzten Augen . . .

– I wo! Ich habe einen Chauffeur, bei dessen Anblick allen Frauen das Wasser im Munde zusammenläuft . . .

Renate hatte ihr Trommeln auf dem Tisch begonnen:

– Allen Frauen, Germaine? Du übertreibst wohl etwas . . .

– Allen Frauen, Renate, sofern sie Blut in den Adern haben . . .

– Ah, Madame, schrie Jacquemier, dem der Wein ein wenig in den Kopf gestiegen war, Madame, vous êtes tout à fait épatante . . . vous êtes unique! Je 236 vous admire! Vous êtes la femme, la vraie femme, telle que Dieu l'a voulue!

Mon Dieu, quel enthousiasme! sagte Anita . . .

Oh, que cela fait du bien de pouvoir s'enthousiasmer, rief Jacquemier. La vie est si monotone – et les femmes d'aujourd'hui sont si sages!

– Ach – sagte Germaine, es ist schon ganz gut, daß die Frauen heute so – zurückhaltend sind . . . Die Männer, die armen, abgehetzten Männer hätten ja gar keine Verwendung für soviel Temperament!

– Es gibt noch andere Dinge, mit denen den arbeitenden Männern gedient ist, sagte Tante Eugenie, glücklich, dem Gespräch eine Wendung geben zu können . . .

– Ich weiß, ich weiß, nickte Germaine . . . La tendresse . . . Mais qui n'a pas de tempérament, n'a pas non plus la tendresse dont l'homme, le vrai homme, a besoin . . .

– Bravo, schrie wieder Jacquemier, bravo, Comtesse . . . Tout découle d'une source unique . . .

– . . . et qui nourrit le monde, schloß Germaine das Gespräch ab, während sie ihre Serviette zusammenfaltete – –

– Nun hat sie glücklich alle drei am Gängelband, platzte Renate heraus, als Germaine und die drei Herren in den Stadtpark hinüber gegangen waren . . .

Anita schaute vor sich hin und rührte mit dem kleinen goldnen Löffel in der Kaffeetasse. 237

– Na, und du? wandte sich Renate an mich . . .

– Ich freue mich.

– Lügner! Du bist am Bersten vor Eifersucht!

– Renate: man muß nicht von sich auf andere schließen . . . Ich hätte ja mitgehen können!

Tante Eugenie beachtete nicht unser Gespräch. Sie saß in einem hohen Korbsessel im Hintergrunde der Terrasse und träumte in ihren geliebten »Abendstern« aus dem »Tannhäuser«, der gerade mit viel Gefühl geblasen wurde . . . Als das Stück zu Ende war und Renate mit Anita einen Gang durch den Garten machte, sagte sie zu mir:

– Du hättest keine Möglichkeit, einmal einen Tag nach Greifswald zu Kuno zu fahren? Selbstredend würde die Reise auf meine Kosten gehen . . .

– Was ist denn?

– Ach Henry, mir bricht das Herz vor Sorgen. Ich glaube, der Junge arbeitet nicht. Er lebt als Grandseigneur. Die ganze Stadt ist schon wieder von ihm entzückt . . . Was soll da nur noch werden?

– Du schienst doch so zufrieden . . .

– Ja, am Anfang des Semesters . . . Heute nicht mehr . . .

– Ich will dir gerne den Gefallen tun, sobald ich meine Arbeit umgeschrieben und wieder abgegeben habe. Also Anfang Juli . . . Nur weiß ich wirklich nicht, ob sich diese Reise lohnt. Was soll ich Kuno sagen, das er nicht schon längst wüßte . . . 238

Tante Eugenie starrte in das laue Dunkel, das voll Lindenduft hing . . .

– Wir sprechen noch einmal davon . . . Jetzt rasch etwas ganz anderes: Germaine wird doch nun nicht dauernd hier bei dir sein – womöglich bei dir übernachten?

– Aber Tante Eugenie! Kannst du denn so schlecht Temperament und Haltung unterscheiden? Germaine ist die überlegteste und vorsichtigste Frau, die man sich denken kann! Es reizt sie, gewagte Dinge zu sagen – und eben deswegen gar nicht, sie zu tun . . .

– Aber wie kann man anderthalb Jahre nach dem Tod seines Mannes so ausgelassen sein?

– Tante Eugenie: Germaine war mit Alfonso Fuentes wenig glücklich . . . Kinder hat sie nie gehabt – – und was das Leben einer spanischen Frau ohne Kinder ist, das ahnst du ja gar nicht . . .

– Henry, sage mir die Wahrheit: wollt ihr euch heiraten?

– Ich weiß es nicht. Vielleicht. Jedenfalls haben wir uns sehr lieb.

– Das sehe ich . . . Und ich sehe auch, daß sie mit dir ganz anders ist als mit anderen Männern . . .

Das Intermezzo aus der »Cavalleria rusticana« ertönte. Tante Eugenie lehnte sich in ihren Sessel zurück – –

Renate und Anita kamen aus dem Garten herauf.

– Es ist doch ein starkes Stück, begann Renate, 239 einfach davonzulaufen und nicht wiederzukommen . . . Diese Frau ist unausstehlich . . .

– Nein, entgegnete mit außergewöhnlicher Schärfe Tante Eugenie. Nimm doch natürliche Dinge natürlich . . .

– Sollen wir noch etwas gehen, Anita?

– Ich bleibe lieber, Renate . . .

– Geh mit mir in den Schloßgarten, Renate, wir werden die anderen holen . . .

– Danke, Henry. Sehr nett von dir. Aber ich bleibe auch lieber hier.

Ich sah Renate an, zuckte die Achseln, schüttelte den Kopf . . . Sie ging ins Innere des Zimmers. Ich folgte.

– Ich weiß nicht, was du meinst . . .

– Renate: du weißt genau, was ich meine . . . Komm, die anderen sind wieder da . . .

– Ist das niedlich, sagte Germaine, diese promenierenden Mädchen mit ihren Studentenlieben . . . Wie aus der Arche Noah . . . Ein Pärchen nach dem anderen, eines so sauber wie das andere, eines so brav wie das andere – und immer wieder im Kreis um die Musik, und immer wieder . . . Und die Eltern an den Tischen unter den alten Kastanienbäumen – – und ein paar Militärs dabei – –

– Die gottgewollte Ordnung, sagte Rastenburg . . .

– Glauben Sie wirklich? fragte Lorsch . . .

Er nahm mich beiseite auf die Treppe: 240

– Sie haben mir etwas unterschlagen . . .

– Was?

– Daß Sie sich mit Manfred Bodenbach befreundet haben . . .

– Und?

– Ich würde ihn auch ganz gerne kennen. Er scheint mir der beliebteste Student zu sein, den es hier gibt.

– Das darf man wohl sagen . . .

– Übrigens ein Landsmann von mir . . . Rheinhesse . . .

– Weniger herber Wein . . .

– Danke!

– Sie werden ihm am 29. Juni bei Ihrem Onkel Ayhler begegnen . . .

– Wer nennt da den Namen Ayhler? rief Germaine von der Rampe der Terrasse . . .

– Ich, Germaine . . .

– Kommt herauf und sagt mir etwas von meinem Freunde Ayhler . . .

– Was ist denn mit Ayhler? fragte Tante Eugenie.

– Er gibt am 29. Juni sein großes Gartenfest.

– Gehst du hin?

– Und wie! Ich werde mir doch das gesellschaftliche Ereignis von Philippinenthal nicht entgehen lassen . . .

– Ich werde auch kommen, sagte Germaine . . . Ein entzückender Herr in den besten Jahren, dieser Gustav Ayhler . . . Wie war er nett mit mir in Paris! 241 Wenn er wüßte, daß ich in Bad-Oos sitze und es ihn noch nicht wissen ließ . . . Morgen werde ich ihn anrufen . . .

– Er ist mein Onkel, sagte Lorsch.

– Ach ja natürlich! Sehen Sie ihn? Bitte grüßen Sie ihn von mir . . . Das ist ein Mann! Sapristi!

– Warum ist Manfred Bodenbach eigentlich nicht hier? Warum haben Sie ihn nicht mitgebracht? fragte Lorsch, als wir wieder ein paar Schritte im Garten gingen.

– Er ist für seinen Bund verreist. In Wien. Er kommt erst in zehn Tagen zurück, da er die Gelegenheit benützt, sich das Tiefseeinstitut in Rovigno anzusehen . . .

– So . . . Sagen Sie: warum ist dieser Junge in einer Burschenschaft?

– Das fragen Sie ihn bitte selbst. Ich spreche nicht über diesen Punkt.

Germaine trat zu uns:

– Wollen Sie beide nächsten Sonnabend um acht bei mir essen? Später wird getanzt. Es sind entzückende Frauen im Hotel . . .

– Wie soll ich Ihnen danken?

– Indem Sie kommen . . .

Lorsch ging zu Renate, die ihm gewinkt hatte . . .

Germaine zog mich tiefer in den Garten . . .

– Henry: was ist das mit Kuno?

– Nicht jetzt, Germaine. Ein andres Mal . . . 242

– Gott – diese Renate . . .

– Pst . . .

– Henry – ich vergehe vor Traurigkeit . . . Könnte ich wenigstens eine Viertelstunde mit dir in deiner Wohnung sein . . .

– Das ist heute abend unmöglich. Bleibe, wenn dein Wagen kommt, hier noch zehn Minuten und lasse dich dann von Rastenburg heimbringen. Das paßt auch mir sehr gut – denn ich muß noch etwas mit Lorsch besprechen.

– Sei gut zu Tante Eugenie . . .

– Ich bin es, Germaine . . .

– Aufweinen könnte ich . . .

– Komm jetzt – –

– Wann?

– Morgen abend. Ich bin um halb neun bei dir.

– Willst du den Wagen?

– Nein. Ich nehme den Zug.

– Gute Nacht . . .

Ich hielt ihr Gesicht in meinen Händen . . .

– Gute Nacht . . . 243

 


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