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Kallenbach hatte mich zum Abendessen bei »Hassel« gebeten. Es gab noch eine andere, vielleicht um einige Schattierungen feinere Weinstube, die »Esplanade-Bar«. Da es aber in Strömen regnete und Wagen in Philippinenthal im besten Falle am Bahnhof aufzutreiben waren, zogen wir den näheren Ort vor. Kallenbach war dort häufiger Gast. Er wurde als solcher begrüßt, und ich als »Neuer« gemustert. Der hübsche Raum, in dem höchstens zwölf mittelgroße Tische standen, hatte kleine Nischen, was ihm sehr zum Vorteil gereichte. Es gab bequeme Sessel und nicht minder angenehme Sofabänke, die mit Seidenrips gepolstert waren. Weiß, Rot und Gold waren die vorherrschenden Farben. Die »pièce de résistance« deutscher Wein- und Frühstücksstuben jener Epoche fehlte: das eichene Büfett mit Renaissanceschnitzereien, und ebenso die echte oder falsche Palme.
Die »pièce de résistance« dieser Gaststube war vielmehr Fräulein Milli. Fräulein Milli war ein vielleicht dreißigjähriges weibliches Wesen von beträchtlicher, aber wohlgegliederter Körperfülle. Sie trug ihren hübschen Kopf recht hoch und drückte das Kinn gegen den Hals. Ihr viel zu kleiner Mund hatte einen leichten Zug von Verbissenheit. Fräulein Milli war das verkörperte Beleidigtsein. Scherzte man mit ihr, so fand sie, man trete ihr zu nahe und vergesse, wer sie sei. Ihr Vater habe ein Hotel in Weinheim – und sie habe es eigentlich gar nicht nötig . . . Bekümmerte 103 man sich nicht um sie, so fühlte sie sich zurückgesetzt und – wie sie sich ausdrückte – ›nix estemiert‹. Ihr Vater habe ein Hotel in Weinheim – und sie habe es eigentlich gar nicht nötig . . . Wer es ihr wirklich recht machte, war im Augenblick nicht zu erfahren. Einige sagten, ein verwitweter Forstmeister, Kallenbach meinte, ein etwas korpulenter Rechtsanwalt versuche in seinen Bemühungen um sie eine Abmagerungskur. Der Fall reizte mich nicht sehr. Es genügte, Fräulein Milli anzusehen, um zu wissen, daß sie ausschließlich für das »Solide« zu haben war. Ihre Geschenke bekundeten das unzweideutige Hinstreben in bürgerliche Sicherung: so wie ja auch ihr einfaches Dasein alle unsicheren Elemente aus dieser Weinstube fernhielt.
– Wer verkehrt denn eigentlich hier? fragte ich Kallenbach.
– Studenten, wenigstens im Winter, so gut wie gar nicht. Im Sommer sitzt manchmal hinten, in der Gartenhalle, eine Verbindung bei einer Bowle. Aber Sie sehen hier Herren vom Gericht und von der Regierung, manchmal ein paar Privatdozenten, vor allem Dr. Wollenhaupt, der sich schon als zukünftige Berühmtheit aufziehen läßt . . .
– Warum?
– Kennen Sie nicht seine Anpöbelungen Georges?
– Ach, das ist dieser Streber, dieser Schaumschläger? Seit wann ist der Kerl denn hier?
– Ich glaube seit zwei Jahren . . . Man sagt, daß 104 er die größten Chancen hat, den Lehrstuhl für deutsche Literaturgeschichte zu bekommen, der über kurz oder lang geschaffen werden soll, um Waizenwälzer zu entlasten . . . Er hat sich offenbar »oben« sehr beliebt gemacht. Auch spricht man von einer einschlägigen Heirat. Sie werden ihn übrigens wahrscheinlich noch zu sehen bekommen. Er pflegt hier seinen Schoppen Aßmannshäuser Roten zu trinken für seine »schöpferische Nachtinspiration«, wie er einmal erklärt hat . . .
– So, so. Für die »schöpferische« Nachtinspiration. Seit wann nennt man Arbeit, wie er sie verrichtet, »schöpferisch«?
– Sodann verkehren hier, nahm Kallenbach das eigentliche Thema wieder auf, die Forstleute Philippinenthals. Auch Fabrikanten und – last not least – einige Offiziere, die sich noch nicht völlig als Sonderkaste empfinden. Darunter ist ein Oberleutnant, Herr von der Wernitz, der an einer theosophischen Grippe leidet . . . Und schließlich tagt hier zweimal die Woche der seltsamste Stammtisch, den es in Philippinenthal gibt: der »Stammtisch der Dummschwätzer«.
– Was ist denn das?
– Das werden Sie eines Tages mit eignen Augen sehen. Wenn es sich lohnt, überhaupt an einen Stammtisch zu gehen, so nur an diesen. Er ist – was hier als ein Wunder angesehen werden muß – übergesellschaftlich. Es sitzen an ihm Leute aller Stände, 105 Handwerker, Kaufleute, Fabrikanten, Akademiker, Adlige, Verbindungsstudenten, Volksschullehrer – ja sogar ein alter Oberstleutnant a. D., den man aber nur ›Herr Rittmeister‹ anreden darf, weil ihn, wie er sagt, das Wort »Rittmeister« sowohl an seine glanzvollsten Tage als auch an seine noch in heftiger Blüte stehenden besonderen Fähigkeiten und Verpflichtungen geziemend erinnert.
– Wer ist denn dieser kostbare Mann?
– Es ist der Herr von Zasstorff-Stangenhahn, das liebenswürdigste und gewissenloseste Original von Philippinenthal: der »Witwenbewohner«, wie ihn sein Gegenstück nennt, der Graf Witiko von Rastenburg.
– Und wer ist dieser?
– Ein junger baltischer Magnat – Sie sind im Bilde? – »ein fahrender Ritter mit reichlichem Sold«, wie es im Lied heißt, der hier angeblich Forstwissenschaft studiert, in Wirklichkeit aber nur im näheren und weiteren Lande umhermimt. Er ist Hans Dampf in allen Gassen, alle liebend und aller Liebling . . . Er hat überall Schulden, die er bezahlt. Er versorgt bedürftige Damen und läßt sich von sehnsüchtigen Mädchen streicheln – kurz: ein Kavalier zeitlosen Gepräges. Er hat außerdem eine bezaubernde Gabe, seine Erlebnisse in Verse zu kleiden, die er manchmal zum besten gibt. Sein berühmtestes Gedicht heißt: »Das Tennistournier«. Hoffähig ist das nicht. Aber sehr 106 schön. Da Sie ihn sicher kennenlernen werden, wird er es Ihnen eines Tages aufsagen . . .
– Nun sagen Sie mir bitte: was ist der Sinn dieser klassenversöhnenden Runde, für die ich, ohne sie zu kennen, eine ausgesprochene Sympathie habe?
– Das sagt doch schon ihr Name: »Stammtisch der Dummschwätzer«. Man erhebt sich über den Stumpfsinn von Philippinenthal, indem man ihn pflegt, indem man ihn – würde der Altmeister der Philosophie an der Kunibertiana sagen – durch Superlativierung in die Ebene der Annullierung hinaufhebt und ihn dort durch Multiplikation mit sich selbst – minus mal minus gibt plus – zu einem positiven Wert unserer Seinsebene umgestaltet.
– Dieses höchste aller Wunder bringen die Leute fertig?
– Und wie! Sie sind vollendete Lebenskünstler und müßten den schwärzesten Pessimisten bekehren, wenn sich ein solcher bekehren ließe . . . Es darf an diesem Stammtisch nur Unsinn geredet – oder schweigend getrunken werden. Schon der Ansatz zum vernünftigen Gespräch kostet Strafe. Das Strafgeld kommt in eine gemeinsame Kasse und wird bei besonders festlichen Gelegenheiten dann »zur weiteren Hebung der Weltkraft, welche Blödsinn heißt«, versoffen.
– Ich kann nur sagen: es lebe Philippinenthal!
– Herr Benrath: als ich auf Wunsch meines Vaters von München hierher übersiedelte, war es mir, wie 107 Sie sich denken können, nicht gerade rosig zumute. Wenn ich auch schließlich jeden Samstag nach Wiesbaden fahren konnte, so kam ich mir doch an den übrigen Tagen der Woche mehr als verraten und verkauft vor . . . Bis ich lernte, Augen und Ohren aufzumachen, die eignen Ansprüche an das Leben vorübergehend zurückzuschrauben und einfach festzustellen, was um mich her eigentlich gespielt wurde.
– Sie sagen genau dasselbe, was mir vor einer Woche Professor Toggenburg ans Herz gelegt hat.
– Ich habe erst hier begriffen, Herr Benrath, daß die Notwendigkeit wirklich unter Umständen eine Gunst sein kann. Ich habe Dinge verstehen lernen, die meiner Natur entgegengesetzt sind.
– Ihr Instinkt hat sehr ausgesprochene Bejahungen und Verneinungen?
– Gott sei Dank – oder leider, ich weiß nicht, wie ich sagen soll.
– Es geht mir genau wie Ihnen. Menschen unsrer Art haben oft größeres Unbehagen, aber bestimmt auch ebenso oft größeren Genuß . . . Sehn Sie: meine Zurückhaltung gegenüber allem, was man studentische Bünde nennen kann, kommt im Grunde von einer sehr großen körperlichen Empfindsamkeit, der natürlich die seelische und geistige gleich läuft. Ich denke nicht daran, das natürliche Gemeinschaftsbedürfnis junger Menschen nach meiner auf ein dichterisches Gesetz gestellten Natur zu bemessen. Ich 108 weiß, aus meinen entscheidenden Erlebnissen, daß schon die Grenzen von Ich zu Ich undurchbrechbar sind. Ich weiß also auch, daß die Frage der Neigung oder Nicht-Neigung zum »Bund« nur eine Gradfrage ist.
Kallenbach schwieg eine Zeitlang, spielte mit dem kleinen Salzfaß und fuhr dann fort, während er vor sich hin sah:
– Sehn Sie, Herr Benrath, ich habe meine Urteile in all diesen Fragen, mit denen sich ja schließlich jeder denkende junge Mensch einmal auseinandersetzt, doppelt und dreifach nachgeprüft, weil ich immer meiner Abstammung Rechnung trage. Meine Familie ist sehr einfacher Herkunft. Mein Großvater war ein Besenbinder im Oberbayrischen. Mein Vater betrieb in seiner frühen Jugend das Küferhandwerk. Er verdankt seinen heutigen Wohlstand und seine angesehene bürgerliche Stellung nur seiner außergewöhnlichen Tatkraft und Klugheit. Sie wissen, daß ihm drei der größten deutschen Gasthöfe gehören. Meine Mutter ist die Tochter eines Seilermeisters aus Amberg. Daß der einzige verstorbene Bruder meines Vaters der Bischof von Passau war, habe ich Ihnen gesagt. Sie sehen, es ist allerhand Grund vorhanden, über die Kräfte nachzudenken, die sich in mir auswirken und mich zu dem Menschen geprägt haben, als der ich heute in Erscheinung trete. Und es ist mir eine wertvolle Bestätigung, wenn Sie, der Mensch eines ganz anderen Milieus, aus den gleichen Grunderwägungen heraus zu 109 ganz den gleichen Schlüssen kommen wie ich. Es kann also, was und wie ich denke, nicht auf das Konto einer atavistisch bedingten Denkweise gesetzt werden . . . sondern es muß wohl typisch sein für eine ganz bestimmte Stufe geistiger oder charakterlicher Entfaltung, die mit gesellschaftlicher Lagerung nichts zu tun hat. Ich habe keinerlei Voreingenommenheit gegen die Verbindungen. Ich habe mich niemals feindlich geäußert. Ich weiß aber einfach nicht, womit diese jungen Leute den eigentlichen Raum ihrer Jugend ausfüllen, der doch nach Ausfüllung schreit.
– Halt! Hier muß ich Ihnen entgegnen. Denn sehen Sie: wenn wir auch die Ebene, auf der sich Verbindungsleben überhaupt abspielen kann, nur in eine mittlere Höhe legen, dürfen wir das Irrationale, das die vielen jungen Menschen an diese Ebene bindet, nicht zu gering einschätzen. Ich behaupte, daß die allermeisten Verbindungen – vor allem die burschenschaftlichen und burschenschaftähnlichen – geradezu von diesem Irrationalen leben! Von diesem »Traum«, der als eine der allergrößten Wirklichkeiten der ungeübten jugendlichen Seele gebucht werden muß. Glauben Sie mir: es kommt nicht so sehr auf die selbst nur vorübergehende Erfüllung dieses Traumes an: es kommt nur darauf an, daß sein Weben spürbar sei, daß man ihn läuten höre, wie man eine schöne Glocke läuten hört, näher oder ferner, auch wenn man sie nicht sieht. Dieses Läuten nehmen solche Menschen 110 bis an das Ende ihres oft mühsamen und unglücklichen Lebens mit sich – und hören es vielleicht in ihrer letzten Minute noch einmal, ehe sie hinübergehen. Sie hören es auch, wenn sie als »alte Herren«, manchmal als weißhaarige, graubärtige, oft von weither zu den Stiftungsfesten ihres Bundes gefahren kommen, wenn sie in den alten Kneipen sitzen, den Tannengeruch der Festgirlanden einatmen und die vergriffenen, zerlesenen Kommersbücher wieder aufschlagen . . . Natürlich kann man erstaunt sein, wenn man sieht, was alles in diesen Kommersbüchern als »Lied« steht: aber es ist ja nicht ein vollendet Gegebenes, das eine Wirkung auslöst – es ist immer und immer wieder nur der von verlangenden Seelen in diese Strophen hineingewebte Traum, welcher zündet und als eine gegenständlich gewordene Wirklichkeit empfunden wird.
– Ich sehe mit Staunen, sagte Kallenbach, welcher große Realist Sie sind! Ich hätte nie geglaubt, daß Sie solche Erwägungen anstellen können, um einer Sache, die nicht Ihre ist, gerecht zu werden. Ich kann das nicht. Denn diesen Traum kann ich nicht mehr erkennen, geschweige denn verstehen – und dieser Traum würde in meinem Leben keinerlei wirkende Kraft haben . . .
– Auch in meinem nicht. Denn mein Leben ist – durch eine unerhörte Gnade meines Schicksals – seit meinem siebzehnten Jahre so gefügt und gefüllt worden, daß ich dieses Traumes niemals bedurfte . . . 111
– Hier ist eine Brücke zu dem, was ich vorhin einwenden wollte. Ich glaube, daß, was Sie von dem »Traum« gesagt haben, nur in geringem Maße für diejenigen Bünde gilt, welche sich »Corps« nennen.
– Möglich. Ich weiß jedenfalls, was Sie sagen wollen und warum.
– Die wirtschaftliche Basis des Corpsstudenten, die gesellschaftliche vor allem, und auch die geistige, ist in achtzig Fällen von hundert eine ganz andere als die des Burschenschafters oder seines Artverwandten. Ich habe zwei Schwäger, welche Corpsstudenten waren. Der eine ist der Sohn eines Bankdirektors, der andere der Sohn eines Arztes. Mit diesen beiden Männern, mit denen ich auf freundschaftlichem Fuße stehe, habe ich oft über Corpsangelegenheiten gesprochen. Ich darf mich also zumindest auf das stützen, was sie mir gesagt haben. Von einzelnen Ausnahmen abgesehen, gibt es in den Corps nicht die »Traum«-Romantik, von der Sie soeben sprachen. Die Corps sind Verbände mehr oder minder vornehmen Anstriches, die man vielleicht gesellschaftliche und kameradschaftliche Solidaritätsverbände nennen kann. Sie stehen also meinem persönlichen Empfinden weit näher als das burschenschaftliche Element. Daß sich auch im Rahmen solcher Corps gelegentlich einmal rudimentäre Sentimentalitäten entfalten und wirksam werden können, versteht sich von selbst. Denn die deutsche Seele ist gefühlvoll – zum mindesten 112 gemütvoll. Da aber den allermeisten Mitgliedern der Corps schon von Haus aus mehr Möglichkeiten gegeben sind als den Angehörigen der meisten anderen Verbindungen: da von ihnen außerdem diese reicheren Möglichkeiten als ganz selbstverständlich empfunden und ausgenützt werden: so fehlt ihnen das allgemeine Bedürfnis, Romantik als einen wesentlichen Bestandteil, als eine erfüllende Wirklichkeit ihres Wesens anzusehen. Wo sich der Romantiker in das Corps einschleicht und betätigt, gibt es Schwierigkeiten. Genau so, wo sich der »zeitgemäße« Umgestalter regt, den mein Schwager einmal den »Neuromantiker« genannt hat. Das ist der Mann mit dem englischen »Club«-Ideal. Man kann aus einem Corps keinen Club machen, der dem Charakter unserer Zeit entspricht. Man kann höchstens ein Corps auflösen und seine früheren Mitglieder unter Clubbedingungen zu einem Club neu vereinigen. Aber dann ist eben ein Corps kein Corps mehr . . . Glauben Sie nicht, daß ich recht habe?
– Ich glaube, daß Sie durchaus recht haben . . . Ich möchte jetzt noch eines wissen: scheint Ihnen die Seins-Ebene der Corps höher gelagert als die der übrigen Verbindungen?
– Kaum. Hier gilt wohl dasselbe Gesetz des notwendig bedingten Generalnenners wie bei allen anderen Verbänden.
– Also?
– Locutum est, sagte Kallenbach. Im übrigen – und 113 er machte eine sorgenvolle Geste in die Luft – im übrigen ist in meinem Denken wenig Raum für diese Fragen. Ich nehme an, auch Sie werden sich ihnen gegenüber nicht minder neutral verhalten als ich.
– Stimmt . . . Sich gegenseitig gelten lassen: Das ist der einzige modus vivendi. Und bestimmt mit Höflichkeit ohne jede Reibung durchzuführen . . .
Kallenbach starrte vor sich hin. Auf seiner Stirn hatten sich Falten gebildet, und sein Auge schaute fast traurig. Als er den Kopf hob, kam sein Blick aus großen Fernen. Ich legte ihm die Hand auf den Arm:
– Was ist denn?
– Es quält mich vieles, lieber Herr Benrath. Ich beneide Sie um eine Ruhe des Wesens, die ich kaum fasse . . . Ich kann mich irren: aber mir erscheinen Sie als die Ruhe selbst . . .
– Ich kann nicht sagen, daß ich Sie bis zu dieser Minute weniger ruhig empfand als mich selbst . . .
– Es sind keine persönlichen Dinge, die mich beunruhigen. Persönlich habe ich im Augenblick, was ich mir wünsche . . . Gott, vielleicht wünsche ich mir nicht sehr viel . . .
– Ich glaube auch, daß Sie, was Ihre Person angeht, sehr anspruchslos sind.
Kallenbach errötete eine Sekunde lang. Dann nahm sein Gesicht sogleich wieder die ebenmäßige, elfenbeinerne Farbe an, die es gewöhnlich hatte. 114
– Ja, sagte er, ich glaube, ich bin – ohne mich loben zu wollen – anspruchslos. Ich liebe alles, was schön und gut ist, auch schöne Kleider und gutes Essen: aber ich bin nicht »erpicht« darauf. Ich verliere mich auch nicht daran . . .
– Und die Liebe?
Kallenbach lächelte . . . Ruhig, mild:
– Die Liebe? Ich sehe mich nicht als Tristan. Auch nicht als Romeo.
– Dann also – haben Sie nie eine Frau geliebt?
– Nein. Ich liebe die Liebe. Ja, ich liebe die Liebe. Vielleicht werde ich eines Tages ein einziges Wesen lieben, und dann nie mehr ein anderes . . . Aber ich glaube nicht, daß das bald sein wird . . .
Seine schwarzen Augen standen groß und glänzend in der Stille des Raumes – – Dann loschen sie wieder, langsam, wie sie aufgegangen waren. – –
– Haben die Studenten eigentlich sehr viel »positive« Liebschaften mit den Töchtern des Landes? fragte ich nach langer Pause.
– Ach was! Diese Dinge werden ja namenlos übertrieben. Sehr viele haben einen ehrbaren Flirt. Andre flirten, wo es gut zu essen gibt. Wieder andere haben ein Verhältnis mit einer Angestellten – – aber das sind die Ausnahmen. Die Furcht vor dem Hängenbleiben und vor dem Klatsch ist doch zu groß . . . Wie überhaupt die gesellschaftliche Befangenheit sehr 115 stark ist, besonders bei den erst durch den Eintritt in ihre Verbindung »hoffähig« Gewordenen.
Wir schauten uns an . . .
– Die »gesellschaftliche Befangenheit«, sagte ich. Ein schönes Wort.
– Ein wunderbares Wort . . . nicht wahr?
Kallenbachs Augen funkelten auf . . . Er hielt sie etwas gekniffen:
– Glauben Sie, lieber Herr Benrath, glauben Sie, sagte er dicht vor meinem Gesicht, daß ein Einziger von all diesen »gesellschaftlich Befangenen«, von all diesen eben im Schutzhafen gelandeten Jungen, sich nur eine Sekunde lang einmal Gedanken darüber gemacht hat, was das eigentlich ist, diese »Gesellschaft«, diese höchst fragwürdige Gesellschaft, vor der er sich fürchtet? Und glauben Sie, daß ein Einziger auch nur ahnt, was sich in den Kulissen aller Gesellschaften aller Länder heute tut? – Ich gebe zu, fuhr er etwas ruhiger fort, daß ich in einer sehr bevorzugten Lage bin. Ich habe einen außergewöhnlich klugen Vater, der zu seinem Sohne wie ein älterer Freund spricht . . .
Können Sie jetzt begreifen, warum ich Ihnen vorhin sagte, daß mich manchmal vieles quält, was über mein persönliches Dasein hinausreicht? Hätte ich nur halbwegs Gewißheit, wohin die Dinge der Welt treiben: ich wüßte, was tun, und in welchem Grade. Ich sehe es aber nicht. Ich fühle nur, daß die ganze Welt treibt wie Treibeis im entfesselten Strom – und daß 116 wir mittreiben, wir alle . . . Sie und ich und alle . . . Wer gibt mir Antwort? Ob ich hier frage – ob ich dort frage: Keiner weiß, keiner weiß! Und oft am wenigsten, wer sich am meisten bemüht! Sie meinten, ich sei ruhig? Nach außen, ja. Inmitten dieser »Gesellschaft«: ja. Das ist Erziehung, das ist auch eingeborenes Selbstschutzgefühl . . . Und wenn Sie wirklich ruhig sein sollten: so ist es auch nicht, weil Sie beruhigt sind, sondern weil Sie wissen, daß das geistige Wollen Ihres Lebens nur Früchte zeitigen kann, wenn Sie sich – vorläufig wenigstens – Wirkungen von Dingen verschließen, deren grenzenlose Gefahr Sie genau so wittern wie ich. Wenn einer so um die Trennungen von Ich und Ich weiß wie Sie: so weiß er auch um die unheimlichen Trennungen der Volksschichten, welche heute die Welt erschüttern . . . Und wenn er das weiß, so ahnt er auch, was kommen kann . . . sofern nicht ein Genie den großen Ausgleich schafft! Lesen Sie die Zeitgedichte und Sprüche in Georges »Siebentem Ring« nach! Dieses »kann« ist das Fragezeichen über meinem Leben – und es will mir manchmal scheinen, ich sei mit meinen dreiundzwanzig Jahren um Jahrzehnte an Ahnungskraft älter als alle die hochgelehrten Herren, die von den Lehrstühlen der Universitäten herunter ihre Stimme in eine ahnungslose Gaudeamus-Welt schicken . . . Sagen Sie mir, bitte, daß Sie mich verstehen . . . sagen Sie mir, daß Sie diesen Ausbruch nicht als einen Übergriff, 117 nicht als einen Überfall auslegen . . . Ich wollte das alles nicht sagen – es war stärker als ich – und ich wußte, daß ich es Ihnen sagen durfte, nachdem Sie mir das von Ich und Ich anvertraut hatten! Anvertraut, jawohl! Denn wenn man eine solche Erkenntnis, deren Gewinnung mehr als qualvoll gewesen sein muß, preisgibt: so sagt man dem Menschen, dem man sie preisgibt, ein Alleräußerstes von sich selbst aus . . .
Ich reichte Kallenbach meine Hand – –
– Niemals, sagte Kallenbach nach langem Schweigen mit ganz beruhigter, ganz ausgewechselter Stimme . . . niemals hat ein menschliches Wort mich trösten können in dem, was mich erschüttert. Aber ein Trost ist, ein einziger, großer Trost, der weit jenseits aller Worte steht: Mozart . . .
Und im selben Augenblick fuhr er hoch, sah auf die Uhr an seinem Arm – und dann auf mich:
– Hören Sie, mir fällt eben ein: heute abend ist ja das Mittwochkonzert in der Aula. Es hat um halb neun begonnen – es ist jetzt halb zehn – kommen Sie, kommen Sie – wir werden gerade noch die »Jupiter-Symphonie« hören . . . Was kann ich mir – was kann ich uns – Schöneres wünschen an diesem Tag . . . 118