Henry Benrath
Die Mutter der Weisheit
Henry Benrath

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Etwa zwei Stunden später, als wir im Salon saßen, wo uns Renate etwas zu langsam das Nocturne posthume von Chopin vorspielte, klingelte es gedämpft vom Vestibül her.

– Aha, sagte Tante Eugenie, ihre großen Holzstricknadeln, mit denen sie eine weitmaschige Untertaille aus weißer Wolle herstellte, in den Schoß gleiten lassend, aha, das ist Kuno. Er hat sich beeilt, denn es ist ja kaum elf vorbei.

Sie horchte. Renate ließ die Finger von den Tasten sinken und horchte ebenfalls mit angespannten Zügen. Es wurde auf dem Vorplatz leise gesprochen.

– Das ist nicht Kuno, sagte sie. Was kann denn das um diese Stunde noch sein? Es ist mir ganz unheimlich zumute . . .

Ich lachte.

– Da ist gar nichts zu lachen, Henry. Alle Minute kommen Geschichten vor. Neulich erst hat sich ein Kerl hier, zwei Häuser weiter nach oben, eingeschlichen und das Silber ausgeräumt . . . Dieses Volk wird immer frecher . . . Und Polizei ist natürlich in diesen entlegenen Vierteln nie zu sehen . . .

– Warum legt ihr euch denn keinen Hund an?

– Ach, einen Hund! Den schaffen sie mit vergifteter Wurst beiseite!

Es wurde an die Tür geklopft. Hanna, das Mädchen, erschien:

– Baron Lorsch ist draußen. Er läßt fragen, ob ihn 36 die Damen noch empfangen wollen. Er komme mit einem Auftrag von Herrn Kuno . . .

– Baron Lorsch, flüsterte Renate . . . Um Gottes willen, wie sehe ich aus . . . Die Palme neben dem Flügel hat mir die ganze Frisur zerstochen . . .

Und sie stürzte durch das Speisezimmer davon.

– Führen Sie ihn bitte herein, sagte Tante Eugenie.

In der Türöffnung erschien ein schlanker, sehr gut angezogener Mensch mit einem schön gemeißelten Kopf. Die Schläfen standen eng an einer niedrigen Stirn, das dunkle Haar war tief an der rechten Seite gescheitelt und schräg nach rückwärts gekämmt. Er verneigte sich mit einer knappen Bewegung aus dem Kreuz heraus:

– Ich bitte tausendmal um Verzeihung, meine gnädige Frau, daß ich es wage, um diese Stunde noch hier einzudringen. Aber ich komme auf ausdrücklichen Wunsch, ich möchte fast sagen auf Befehl von Kuno.

Tante Eugenie hielt ihm die Hand hin, die er küßte.

– Sie wissen, Herr von Lorsch, daß Sie mir immer willkommen sind. Mein Bedauern ist nur, daß ich Sie nicht öfters bei mir gesehen habe . . . Darf ich die Herren bekannt machen . . .

Wir maßen, bewerteten uns mit der raschen und sicheren Witterung aller Menschen, welche durch lange Übung in solchen Dingen geschult sind.

– Was ist denn mit Kuno? fragte Tante Eugenie . . . Warum kommt er nicht? 37

– Das ist ja eben die Sache, sagte Lorsch, während er sich setzte. Wir hatten die Absicht, um elf Uhr spätestens hier zu sein. Aber die Besprechungen auf dem Corpshaus wollen und wollen nicht vorankommen. Es ist deshalb im Augenblick Kuno wirklich unmöglich, nach Hause zu kommen. Er bittet Sie ganz besonders, Herr Benrath, in seinem Fernbleiben keine Unhöflichkeit sehen zu wollen, und läßt Sie gleichzeitig fragen, ob Sie ihm nicht den Abend des Freitag freihalten könnten. Er habe Sie nicht angerufen, weil es ihm widerstrebe, das erste Gespräch nach fünf langen Jahren mit Ihnen am Draht zu führen . . .

– Was gibt es denn so Wichtiges? fragte ungeduldig, fast etwas ängstlich, Tante Eugenie . . .

– Es geht um die Wahl des Ersten Chargierten. Da ich mich geweigert habe, noch einmal die Vertretung dieser Charge zu übernehmen –

– Du mußt wissen, Henry, ergänzte Tante Eugenie, daß Baron Lorsch, obwohl er längst Inaktiver war und eigentlich nur einem Kartellcorps angehört, auf Kunos besonderes Bitten hier im letzten Sommer diesen wichtigen Posten in der Burgundia innehatte . . . Also, da Sie sich weigerten, die Charge noch einmal zu übernehmen – –

– so ist – wenigstens nach der Meinung vieler Corpsbrüder – die Frage, wer an meiner Stelle wirken soll, um die von Kuno unternommene und bisher so 38 tadellos durchgeführte Reformarbeit zu Ende zu führen, fast unlösbar, sofern nicht – –

Tante Eugenie schnellte den Kopf hoch und sah Lorsch erregt an:

– sofern nicht?

Lorsch dämpfte ein wenig die Stimme:

– sofern nicht Kuno selbst für mich einspringt.

– Ausgeschlossen! rief Tante Eugenie. Ausgeschlossen! Also das war des Pudels Kern! Das war der Umweg zur Einholung meiner Zustimmung!

– Ich habe mich eines Auftrages entledigt, meine gnädige Frau, lächelte Lorsch. Weiter nichts. Wirklich weiter nichts. Ich bin unbeteiligt an Kunos Entschlüssen.

– Aber haben Sie ihm denn nicht sofort gesagt, daß seine Absicht ein Unfug ist? Kuno ist sechsundzwanzig Jahre alt, hat noch keinerlei Examen gemacht und soll abermals ein ganzes Semester opfern? Nein! Nein! Und nochmals nein! Diesmal streike ich! Warum beauftragt man nicht den jungen Hösch? Oder Lindtner? Oder den energischen und grundgescheiten Wartensleben?

– Es würde zu weit führen, wenn ich Ihnen hier den ganzen Kampf aufrollte, der sich da, geschürt von einigen alten Herren, in den Kulissen abspielt . . . Im übrigen ist ja tatsächlich die Entscheidung schon gefallen . . .

– So. Nun, Herr von Lorsch: Entscheidungen können 39 rückgängig gemacht werden. Meine Geduld ist zu Ende. Das Studentspielen hört auf. Ich habe keine Lust, mich lächerlich zu machen und als die ewigschwache Mutter durch die Mäuler der hiesigen Gesellschaft gezogen zu werden. Wollen Sie mir sagen, warum Sie die Charge nicht weiterführen?

– Meine Arbeit erlaubt es mir nicht.

– Bravo! Auch Kunos Arbeit erlaubt es nicht. Wollen Sie das bestreiten?

– Gnädige Frau: ich habe keine Meinung in dieser Angelegenheit . . .

– Und du, Henry?

– Ich noch viel weniger.

– Gott, Mama, sagte Renate, welche offenbar vom Speisezimmer aus schon eine Zeitlang dem Gespräch gelauscht hatte und nun zu uns trat, rege dich doch nicht auf! Warten wir ab, bis Kuno nach Hause kommt und uns selbst die Dinge in allen Einzelheiten darlegt . . . Guten Abend, Herr von Lorsch . . . Sie haben sich rar gemacht in der letzten Zeit.

Lorsch küßte ihr die Hand, ohne zu antworten. Renate war frisch frisiert und gepudert. Ein Hauch von Parmaveilchen war mit ihr in den Raum geweht. Ich konnte feststellen, daß sie ein ganzes Spiel von goldnen Armreifen angelegt hatte.

– Kuno wird heute abend schwerlich noch nach Hause kommen, sagte Lorsch.

– Warum nicht? 40

– Er wird mit Wartensleben um halb zwölf nach Lauenburg fahren, wo die Verhandlungen mit einigen alten Herren des Kartellcorps fortgesetzt werden . . .

– Und auch daran haben Sie nicht mehr teilnehmen wollen?

– Nein. Ich habe meine Auffassung in einem Briefe niedergelegt, den Kuno mitnimmt. Ich darf Ihnen offen sagen, daß ich an all diesen Dingen nicht mehr sehr viel Anteil nehme, weil ich ja eigentlich schon nicht mehr hier bin.

– Sie gehen nach Berlin, um dort Ihren Referendar zu machen?

– Ja, gnädige Frau. Mein Vater wünscht, daß ich meine Kenntnis des politisch-diplomatischen Französisch aufbessere – und an den Übungen des Orientalischen Seminars teilnehme. Es gibt diesen Winter Sonderkurse in Arabisch und Persisch für Anfänger.

Tante Eugenie seufzte und zog die Maschen an einer Holznadel auseinander . . .

– Und dann? fragte sie wie aus sehr großer Ferne . . .

– Dann werde ich zunächst hier im kommenden Sommer promovieren. Und zwar bei dem Staatsrechtler, Professor von Sellin, mit einer Arbeit über die Konferenz von Algeciras, die schon fast fertiggestellt ist. Darnach erst werde ich in Berlin den Referendar machen.

– Das wäre also jetzt in einem Jahr.

– Jawohl, gnädige Frau. 41

– Und wie alt werden Sie dann sein?

– Vierundzwanzig.

Tante Eugenie putzte sich die Nase und ging in das Speisezimmer, wo sich gerade das Mädchen zu schaffen machte.

– Sie können die Bestecke fortnehmen, Hanna, es wird heute abend niemand kommen. Bringen Sie Rotwein und Obst in den Salon.

– Sie werden also im Sommer bei uns sein? fragte Renate, sich zu Lorsch hinwendend.

– Ja, gnädige Frau. Von Pfingsten an.

– Hoffentlich sieht man Sie dann öfter als seither . . .

– Sie wissen, wie gerne ich bei Ihnen bin – aber ich fürchte, meine Dissertation wird mich noch weit mehr in Anspruch nehmen als das Corps.

Where is a will, there is a way, sagte Renate, während sie langsam mit der schönen Hand über den Rücken des Seidensessels strich.

– Man kann auch sagen: Where is a way, there may be a will, lächelte Lorsch.

Er schälte eine Banane und tauchte die Finger in die opalisierende Glasschale, ein Aufschauen vermeidend. Dann fragte er, immer den Blick gesenkt haltend, mit fast ungezogener Nachlässigkeit:

– Wollen Sie uns nicht etwas Musik machen?

– Ja, mein Kind, rief Tante Eugenie, welche gerade zurückkam, spiel uns die »Träumerei« oder den »Prolog« . . . 42

Renate ging an den Flügel.

Lorsch sah auf seine Armbanduhr – und dann plötzlich auf mich. Lange. Ich neigte den Kopf und schloß – eine Sekunde lang – bestätigend die Augen.


– Glauben Sie nur eine Minute, daß Kunos Mutter wirklich standhaft bleibt? sagte Lorsch, als wir schließlich auf der Straße standen.

– Noch nicht eine Sekunde lang! Morgen abend würde sie mir – wenn ich wieder hier äße – beweisen, daß Kuno das einzig Richtige getan habe, als er dem ›Drängen des gesamten Corps‹ keinen Widerstand entgegensetzte, und mich der völligen Unfähigkeit zeihen, einer erlauchten Sache ein Opfer zu bringen . . . Aber nun sagen Sie mir doch einmal ganz ehrlich: was wird denn da eigentlich gespielt?

– Ist Ihnen das nicht klar?

– Offengestanden: nein. Ich bin zu wenig bewandert in diesen Dingen, um sie zu durchschauen . . .

– Na – Kuno will die Charge haben! Es sind starke Gegenströmungen gegen seine – übrigens durchaus guten – Bestrebungen vorhanden. Diese Widerstände will er – à tout prix – besiegen. Und zweitens gibt ihm, da er während des Sommersemesters wieder nicht genügend gearbeitet hat, die Arbeit am und im Corps einen sehr erwünschten Vorwand für das abermalige Aufschieben seines Examens. 43

– Glauben Sie, daß er dieses Examen jemals machen wird?

– Wer will den Propheten spielen? Und wer den Richter?

– Von diesem Letzten kann keine Rede sein. Ich möchte nur wissen, ob Sie Kuno die Fähigkeit zutrauen, planmäßig auf ein wissenschaftliches Ziel hinzuarbeiten?

– Kaum. Ein Mensch wie Kuno – nota bene: ein äußerst begabter Mensch – hätte knappere äußere Lebensbedingungen gebraucht, um Disziplin zu lernen. Seine Nerven hatten zuviel freien Spielraum. Sie haben seinen Willen überwuchert. Typisches Beispiel für die dritte Generation nach den Großvätern, die es, wie man sagt, »geschafft« haben. Und dann: die Affenliebe dieser Mutter! Eheliche Unbefriedigung sucht späten Ersatz. Das schwache Herz aber ahnt nicht, welches Unheil es anstiftet – welches Leid es sich schließlich großzieht.

– Ja. Ich sehe Kunos Fall genau wie Sie. Was ich heute weiß, habe ich als Schuljunge schon geahnt. Kuno hätte niemals studieren sollen. Eine kaufmännische Ausbildung wäre vernünftiger gewesen. Er hätte längst seine Stellung bei den Werken, könnte für die Auslandaufträge reisen und im übrigen seinen Liebhabereien nachgehen.

– Eine solche Jugend hätte seinem ritterlichen Ideal nicht entsprochen . . . Sie wissen doch, in 44 welchem Maße die Romantik der »Akademia« in ihm lebt . . .

– Die Romantik der »Akademia«! Mein Gott! Gibt es so etwas wirklich? Heute noch? Nach der Gleichstellung der sogenannten drei »höheren« Schulen? Nach der jammervollen Degradierung des humanistischen Gymnasiums? Was nennt sich denn heute alles »akademisch«?

– Na – Sie brauchen sich ja nur umzusehen. Sie werden zu erstaunlichen Ergebnissen kommen.

Wir waren an der Ecke des Südwalles und der Kunibertstraße vor dem Café Böhler angelangt.

– Wollen wir nicht noch eine Tasse Kaffee trinken? fragte Lorsch. Wir sind hier am ungestörtesten. Es gibt keine Musik, und auch allzu viele Gäste werden wir nicht mehr antreffen. Vielleicht noch ein paar jüdische Kaufleute und allerhand Studenten, meistens Mediziner und Veterinärmediziner, welche Skat dreschen – –

Lorsch lachte.

– Warum lachen Sie?

– Ach Gott – ich habe so meine Augenblicke, wo ich alles menschliche Gebaren namenlos komisch finde. Auch mein eignes! Ich stellte mir plötzlich vor, daß wir beide, Sie und ich, eine Säbelkiste zum Austrag brächten – etwa, weil Sie meiner Angebeteten den Hof machten . . . 45

– Ich sehe eine sehr schöne Frau neben Ihnen, aber wirklich nicht, was man eine »Angebetete« nennt.

– Ich auch nicht. Sagen Sie aber hier nie etwas gegen die »Angebeteten«. Es gibt viele glühende Herzen, die schon an Hausstand denken. Die Delikatessengeschäfte leben von den Hoffnungen der Mütter. Brr . . .

– Was ist denn?

– Eng ist es. Man ist auf die paar Ausnahmen angewiesen – und das ist nicht schön, auch nicht gut . . .

– Machen Sie mir doch das Herz nicht so schwer! Ich habe hier ein Jahr auszuhalten und kenne außer Kuno und einem anderen Schulfreund keinen einzigen jungen Menschen.

Lorsch rauchte vor sich hin, gesenkten Auges. Ich betrachtete seinen Kopf und entdeckte über dem Mund den Schatten einer Traurigkeit, die mir in diesem sehr männlichen Gesichte befremdend erschien.

– Sie kommen nicht einmal nach Berlin im Laufe dieses Winters, begann er wieder das Gespräch.

– Nein . . . Sagen Sie, Herr von Lorsch: warum sind Sie eigentlich Corpsstudent geworden?

– Weil es mir Vorteile bringt.

– Sie haben sich nie für die Sache selbst begeistert?

– Kaum. Ich habe mich für manchen feinen Menschen begeistert, den ich in diesem oder jenem Corps fand. Ich habe – allerdings – dafür doppelt so viel mir gleichgültige mit in Kauf nehmen müssen.

– Ist der Corpsgedanke noch sehr lebendig? 46

– Sehr, so veraltet auch die Form des Corpslebens sein mag.

– Glauben Sie, daß man diese Form verändern, unserer Zeit anpassen könnte?

– Vielleicht. Sprechen Sie darüber einmal mit Kuno. Sie werden ihn glücklich machen. Mir liegt an diesen Dingen nicht viel. Diese Form oder jene Form: ich habe ja die Sache hinter mir, ein für alle Mal. Ich bin kein Träumer. Ich will meinen Weg machen. Einen guten, anständigen Weg unter Einsetzung aller meiner Kräfte. Einen Weg, wie ihn mein Onkel Mansfeld gemacht hat . . .

– Wer? Mansfeld, der deutsche Botschafter in Washington? Er ist Ihr Onkel?

– Jawohl. Er hat die Schwester meines Vaters zur Frau . . . Sehn Sie: Ich könnte es viel bequemer haben. Sie kennen doch meinen anderen Onkel – einen Bruder meiner Mutter – den Geheimrat Ayhler auf Krofft, den Inhaber und Begründer der Philippinenthaler Cement- und Betonwerke? Er hat mir mehr als einmal von einem Abend mit Ihnen gesprochen, von all den schönen Dingen, auf die Sie ihn aufmerksam gemacht haben. Er hat ein Faible für Sie. Dies in Klammer. Also: Dieser Onkel Gustav Ayhler hat seine erste Frau und die beiden Söhne, die er mit ihr hatte, verloren. Er hat dann – unbegreiflicherweise – die Witwe des Hofmarschalls Eichler von Eichengrün geheiratet, die ihm einen Stiefsohn mitgebracht hat. Wäre 47 dieser Junge, der sich zu einem ebenso einfältigen wie anspruchsvollen Snob entwickelt, nach Onkel Ayhlers Geschmack gewesen, so hätte er ihn wohl zum Erben eingesetzt. Da aber genau das Gegenteil der Fall ist, so bekümmert er sich überhaupt nicht um den jungen Eichler, sondern möchte mich zu seinem alleinigen und ausschließlichen Nachfolger haben. Ich will aber nicht. Keinesfalls will ich mich jetzt in dieser Sache festlegen, so sehr man mich auch drängt. Ich will in die Außenpolitik. Ich will in das große Spiel der Dinge, nicht in das kleine. Ich will arbeiten bis aufs Blut – aber ich will für das arbeiten, was mich lockt. Ich bin sehr ehrgeizig, manche sagen, ich sei ein ganz gemeiner Streber. Sollen sie! Jedenfalls weiß ich, was ich will. Und das – und nichts anderes – wird getan! Glauben Sie ja nicht, ich gehe nach Berlin, um mich zu »amüsieren«! Was ist das überhaupt?

– Ich weiß es auch nicht, Herr von Lorsch. Ich weiß, was Glück ist, ich weiß, was Freude ist, ich weiß, was Lachen ist – und wenn einer gerne lacht, so bin ich es.

– Sie wissen, was Glück ist, sagen Sie?

– Ja.

– Was ist es denn?

– Alles Äußerste liegt jenseits der Begriffe, jenseits der Worte.

Lorsch stützte seinen Kopf in die Hand. Nach langem Schweigen – und wie wenn es ihn eine Überwindung koste – sagte er: 48

– Da ich mich Ihnen aufgeschlossen habe wie niemals einem Menschen in einem ersten Gespräch, möchte ich mir erlauben, eine Bitte zu äußern. Ich weiß – zufällig oder auch nicht zufällig, wie Sie wollen – durch Kuno, daß Sie mit dem Historiker . . .

– Herr von Lorsch, unterbrach ich, seien Sie überzeugt, daß es schon seit unserem Aufbruch aus dem Hause in der Ahornallee für mich eine beschlossene Sache war, Sie mit Adrian Amersfoort bekannt zu machen, der oft in Berlin ist . . .

– Ist das wirklich wahr?

– Glauben Sie, daß ich Ihnen in dieser Stunde eine Phrase sagen würde?

– Verzeihen Sie . . . Aber Sie wissen gar nicht, wie glücklich Sie mich machen. Ich habe eine grenzenlose Verehrung für diesen Gelehrten, seit ich sein prachtvolles Werk über die Tolteken gelesen habe.

– Und wenn Sie eine mindestens ebenso große haben wollen, lesen Sie sein neuestes Buch: »Der Zauber der baskischen Sprache«.

– Wie lange sind Sie jetzt mit ihm befreundet?

– Sieben Jahre . . . siebzehn plus sieben gibt vierundzwanzig.

Lorsch senkte wieder den Kopf und rauchte vor sich hin.

– Sieben Jahre . . . sagte er schließlich . . . Sieben Jahre ist eine lange Zeit . . . 49

– Kommen Sie, lassen Sie uns noch zwei Schritte durch die Luft und dann nach Hause gehn . . .

– Mehr als einverstanden. Wo wohnen Sie?

– Im Bristol.

– Haben Sie sich schon nach einer Wohnung umgesehen?

– Was ich heute betrachtet habe, war grauenvoll. Ich will in einer Dachstube wohnen, wenn es nicht anders geht – aber sie muß bewohnbar sein.

– Gehn Sie doch einmal Schloßallee 8. Dort soll etwas Hübsches zu haben sein, das noch frei ist, weil diese Leute unter keinen Umständen an Verbindungsstudenten vermieten.

– Ich danke Ihnen für den Wink.

– Und wenn das nicht mehr zu haben ist, kann Ihnen mein Onkel Ayhler bestimmt eines der sehr hübschen Zimmer verschaffen, die er immer für seine Angestellten bereitstellen läßt.

– Da Sie den Namen Ayhler nennen, fällt mir etwas ein, das ich vorhin schon fragen wollte: besteht denn kein Verkehr zwischen den Häusern Ayhler und Malkomesius?

– Nicht der geringste. Die Dynastie Malkomesius de Vannier hat niemals geruht, die um eine Generation jüngere Dynastie Ayhler für ebenbürtig zu halten . . .

– Scherzen Sie?

– Nicht im entferntesten. Als Eugenie Malkomesius seinerzeit nach dem Tode ihres Mannes von Schloß 50 Mellnau nach Philippinenthal übersiedelte, erwartete sie allen Ernstes, daß Gustav Ayhler nun die lang versäumte Gelegenheit ergreifen und ihr als Zeichen seiner Botmäßigkeit die Honneurs machen werde. Sie übersah, daß es an ihr, der Zugezogenen, war, ihm ihre Karte zu schicken, wenn sie Beziehung wollte. Sie wartet heute noch. Das heißt: sie wird wohl heute nicht mehr warten. Und als ihr ältester Sohn – Eduard – vor zwei Jahren die Schwierigkeiten mit der Braunkohlen A.G. bekam, nahm sie – trotz ihres Versäumnisses – an, Ayhler werde ihn im Triumphzug in seine Firma einholen – nur weil es sich um einen Malkomesius handelte . . .

– Aber was waren denn da für Schwierigkeiten?

– Ach, das wissen Sie nicht? Wein, Weib und Halali . . . Schließlich fand man den Ausweg mit den Wäldern in Amerika . . .

– Arme Tante Eugenie . . .

– Ja, das kann man wohl sagen . . .

Wir waren vor dem Bristol angekommen. 51

 


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