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Der Leser möge uns erlauben, ihn wieder in das kleine, strohgedeckte Haus in Eimsbüttel zurückzuführen, in welchem wir – es sind seit der Zeit ungefähr sechs Wochen verflossen – unsere Freunde, die Eheleute Lüders und ihre jüngste Tochter Louise, unter Verhältnissen verließen, die in hohem Maße geeignet waren, unsere Theilnahme für diese hart geprüften Menschen in Anspruch zu nehmen.
Treten wir in das uns bekannte Stübchen.
Wir finden hier dasselbe einfache, fast ärmliche Mobiliar, aber auch dieselbe Ordnungsliebe, die bei unserem ersten Besuche unsere Aufmerksamkeit fesselte.
Dort sehen wir das kleine Sopha mit dem Ueberzuge von gestreiftem Kattun, die lackirten Rohrstühle und den großen, wackeligen Tisch, dort an der Wand den Spiegel mit dem gesprungenen Glase. Auch die Vorhänge von verschossenem Seidendamast sehen wir an den Fenstern und auf jenem kleinen Tische die Tafeluhr von Pariser Arbeit. Sie geht auch jetzt nicht, weil das Werk noch immer in Unordnung ist. Alles ist noch wie vordem, nur die zierlichen Nippsachen, die früher neben der Uhr hingestellt waren, vermissen wir. Man hat sie nach und nach verkaufen müssen, um, wenn die Haushaltungs-Casse der Madame Lüders leer war, mit dem geringen Erlös die täglichen Bedürfnisse zu bestreiten.
Könnten wir in die früher so wohl gefüllten Leinenschränke und Commoden – sie waren ja der Stolz der armen Hausfrau – einen Blick werfen, so würden wir auch hier eine traurige Leere entdecken; denn gar manches feine Leinentuch, manches Tischgedeck von geblümtem Damast, manches seidene Kleid wurde zu demselben Zwecke verwendet, wie die Nippsachen von Achat und Alabaster.
Wie steht es wohl um die unglücklichen Bewohner dieses ärmlichen Hauses?
Ach, bei ihnen hat die kurze Zeit, in welcher wir sie nicht sahen, einen noch viel traurigeren Zustand hervorgebracht; denn das bleiche, hohläugige Gespenst »Not« hat mit seiner knöchernen Hand an ihre Thür gepocht!
Ja, die Noth ist hier eingezogen mit ihrem schrecklichen Gefolge, der quälenden Sorge um das Heute, der folternden Angst um das Morgen, der Rath- und Hoffnungslosigkeit, der Verzweiflung endlich; und welche Seelenmarter vermöchte wohl schneller das Haar zu bleichen und die Stirn zu furchen, die Gestalt zu beugen und das Gemüth herabzustimmen, als die Sorge um das tägliche Brod?
Dort in der Ecke des Sophas sehen wir Herrn Lüders sitzen. Er scheint in den letzten sechs Wochen um ebenso viele Jahre älter geworden zu sein, und kaum erkennen wir in der zusammengesunkenen Gestalt den früher so stattlichen Mann. In den matten eingefallnen Zügen suchen wir vergeblich eine Spur des freundlichen Lächelns, das fast immer um seinen Mund spielte, vergeblich den heitern Blick seines Auges, vergeblich den Ausdruck von Sorglosigkeit und Gemüthlichkeit, der ihm früher in so hohem Grade eigen war.
Mit halbgeschlossenen Augen und der Miene einer stumpfen Gleichgültigkeit sitzt er da. Man könnte denken, daß er schlafe, wenn nicht hin und wieder ein schwerer Seufzer oder ein öfteres Schütteln mit dem Kopfe dem widersprächen.
Auch Madame Lüders hat ihren gewöhnlichen Sitz am Fenster inne. In ihrem Haar sehen wir zwar mehr Silberfäden, auf ihrer Stirn mehr Furchen, als da wir ihr zuletzt gegenüberstanden; aber das Gemüth des Weibes ist elastischer als das des Mannes; es erträgt daher oft leichter die harten Schläge des Schicksals. Die Augen der Madame Lüders starrten nicht wie ihres Gatten unbeweglich, halb unbewußt ins Leere; sie haben noch Thränen, und Thränen erleichtern das Herz. Oft sieht sie mit einer tief bekümmerten Miene nach ihrem Manne hin, dann aber strickt sie wieder fleißig an dem Strumpfe, den sie in der Hand hält; denn das Paar muß noch heute fertig werden; sie hat versprochen, es am Abend abzuliefern, und es trägt ihr sechs Schillinge ein. Plötzlich erhebt sich Madame Lüders, sie geht auf das Sopha zu und setzt sich neben ihren Mann. Er scheint es nicht zu bemerken. Sie legt sanft die Hand auf seinen Arm. Er beachtet es nicht.
Horchen wir dem folgenden Gespräch; es wird uns besser in die jetzige Lage der Familie versetzen, als wenn wir alle Unglücksfälle, die sie in der letzten Zeit betrafen, herzählen wollten.
»Andreas«, sagte Madame Lüders mit ihrer weichen, wohlklingenden Stimme, »lieber Andreas!«
Es erfolgte keine Antwort.
»Andreas«, wiederholte sie, »ich möchte mit Dir sprechen.«
»Ich höre,« erwiederte nun endlich Lüders, indem er seinen matten Blick zu seiner Frau erhob.
»Thäten wir doch nicht wohl daran, uns zu entschließen – – –«
»Wozu, Annette?«
»Die Tafeluhr zu verkaufen. Mir scheint der Preis, den uns der Uhrmacher bietet, recht annehmbar zu sein.«
Lüders schüttelte verneinend den Kopf.
»Wir sind völlig von Geld entblößt, lieber Mann.«
»Wird nicht bald wieder von Ida Geld kommen.«
»Ach, Du weißt, es pflegt erst am 5ten oder 5ten jeden Monats einzutreffen. Wir schreiben aber heute den 20sten Mai.«
»So?«
»Du siehst also – – –«
»Ist denn nicht Louise zur Stadt gegangen, um ihre Arbeit abzuliefern?«
»Ja, aber das arme Mädchen hat sich, wie Du weißt, von ihrer letzten Krankheit noch immer nicht so recht erholt. Mit der Arbeit geht es daher langsam, und was sie heute abliefert, wird nicht viel einbringen. Und dann erhält man auch nicht immer gleich das Geld.«
»Es war schlimm, Annette, daß sie nicht bei der Putzmacherin – wie hieß sie doch gleich – –?«
»Madame Eberhardt.«
»Daß sie nicht bei der Eberhardt bleiben konnte.«
»Du wolltest es selbst nicht, Andreas, als Du hörtest, in welch' kränkender Weise man sie da behandelte.«
»Gewiß, gewiß, Annette, ich konnt' es nicht ertragen, meine Tochter einer solchen Behandlung ausgesetzt zu wissen.«
»Sie kann auch so mit dem Weißnähen ebenso viel verdienen, wie bei der Eberhardt; denn Madame Pietschmann hat versprochen, ihr immer Arbeit genug zu verschaffen. Wenn das liebe Kind nur erst wieder kräftiger wäre. Aber, um wieder auf die Uhr zu kommen – – –«
»Sprich nicht davon, Frau; es ist das letzte werthvolle Stück, das uns zu verkaufen übrig bleibt, darum müssen wir es für den äußersten Nothfall zurückhalten.«
»Indeß hab' ich heute unser letztes Geld ausgegeben.«
»Brauchst Du denn gerade heute etwas zu kaufen?«
»Wir haben nichts im Hause, bester Mann.«
»So nimm auf Rechnung, was Du eben nothwendig brauchst.«
»Aber Du weißt doch, Andreas, daß man uns nur ungern borgt. Der Schlachter und der Bäcker dringen auf Zahlung, und der Krämer – – –«
»Nun, der Krämer?«
»Ach, er war gestern so entsetzlich grob.«
»Annette,« sagte Lüders mit einem tiefen Seufzer »habe nur noch einige Tage Geduld; der Doctor muß ja doch endlich von seiner Reise zurückkehren.«
»Ach, der Doctor!« entgegnete Madame Lüders und rang verzweiflungsvoll die Hände, »wenn uns von ihm die Hülfe kommen soll – – –«
»Er ist indeß der Einzige, der uns helfen kann und will.«
»Du bist ihm aber doch jetzt schon so viel schuldig – o mein Gott, viel zu viel! Wann wirst Du es je zurückzahlen können?«
»Das ist gewissermaßen eben mein Trost, Frau.«
»Dein Trost? Ich verstehe Dich nicht, Andreas.«
»Sieh, Annette, ich will's Dir erklären. Der Doctor Schönfeld wünscht natürlich sein Geld wieder zu bekommen.«
»Ja, er wird es endlich fordern.«
»Aber er weiß, daß ich es ihm nicht zahlen kann, wenn er es mir nicht selbst möglich macht. Sein eigenes Interesse gebietet ihm daher, sein Versprechen zu zu halten und mir den Posten zu verschaffen, von dem er gesprochen hat.«
»Den Posten eines Magaziniers?«
»Ja, er wird ihn mir verschaffen, wär' es auch nur, um wieder zu seinem Gelde zu kommen. Er wird es aber auch thun, weil er an unserem Unglück den lebhaftesten Antheil nimmt.«
»Du glaubst, Andreas – –?«
»Wie bekümmert und theilnehmend war er nicht, als er hörte, daß mein Holzhandel so gänzlich ins Stocken gerathen sei.«
»Ja, er sprach sehr viele, rührende Worte – – –«
»Nun, Frau, Du zweifelst doch wohl nicht auch an seiner guten Gesinnung, wie die schmähsüchtige Madame Pietschmann? Mir scheint doch, er hat sich gegen uns immer nur großmüthig und aufopfernd benommen.«
»Nein, Andreas, ich zweifle nicht an ihm; es wäre so unrecht, als thöricht.«
»Nun gut, so laß uns auch diesmal auf seine Hülfe rechnen, und sprich nicht mehr davon, die Uhr zu verkaufen.«
Es entstand eine Pause.
»Ach, es ist doch hart« begann Madame Lüders wieder, indem sie sich mit der Schürze über die Augen fuhr, »es ist doch hart, so arm zu sein.«
»Ich bedaure noch mehr,« entgegnete Lüders mit einem bittern Lächeln, »daß ich je reich gewesen bin.«
»Wie meinst Du das, Andreas?«
»Der Reichthum taugte für mich nicht.«
»Ich verstehe Dich nicht, lieber Mann. – – –«
»Er machte mich stolz und eitel,« fuhr Lüders mit erhobener Stimme fort, und seine Stirn legte sich in finstere Falten, »er verschloß mein Herz der Theilnahme und Nächstenliebe.«
»Aber, Andreas,« rief fast erschrocken Madame Lüders, »Du thust Dir selber Unrecht!«
»Nein,« erwiederte er, »ich lasse mir nur Gerechtigkeit widerfahren. Spräche ich nicht so, und zwar aus voller Ueberzeugung so, dann wäre diese harte Prüfung an mir fruchtlos gewesen; aber das ist sie nicht. An Hab und Gut bin ich zwar arm geworden; aber hier« – er legte die Hand auf das Herz – »hier, Annette, um vieles reicher.«
»Mein bester Mann,« sagte Madame Lüders, »bedenke doch, wie Du mit vollen Händen gabst, als Du reich warst.«
»Weil es meiner Eitelkeit schmeichelte, aber nicht weil ich Mitleid empfand.«
»O sprich nicht so! Du gabst den Armen auch, wenn es Niemand sah und Du nicht denken konntest, daß Jemand davon etwas erfahren würde.«
»Weil mir der Anblick der Noth zuwider war, nicht, ich wiederhole es Dir, nicht aus wahrem Mitgefühl. Und dann, Annette, weil ich Dank ernten wollte.«
»Man hat Dir indeß mit Undank gelohnt.«
»Weil ich nicht zu geben verstand. Ich kränkte durch meinen Hochmuth den Beschenkten. Mein Benehmen gegen Hugo beweist es. Ach, Hugo! mein Sohn!« klagte der alte Mann, indem er beide Hände vor die Augen drückte, »wird er je zurückkehren, damit ich mein Unrecht gegen ihn wieder gutmachen kann!«
»Ja, wäre nur Hugo hier!« stimmte Madame Lüders ein, und eine Thräne perlte in ihrem Auge.
Die beiden Eheleute sprachen nicht mehr. Was ihnen auf dem Herzen lag, konnten ja auch Worte nicht ausdrücken. Nach einigen Augenblicken erhob sich Madame Lüders und nahm wieder ihren Platz am Fenster ein.
Die nun im Zimmer herrschende Stille wurde eine Zeit lang durch Nichts unterbrochen, als durch das Spinnen der Katze im Ofenwinkel und das leise Klirren der Stricknadeln, wenn sie während der Arbeit der Madame Lüders einander streiften.
Eine fliehende Minute reihte sich an die andere, sie wurden zu viertel, halben, ja ganzen Stunden – doch immer dieselbe lautlose Stille! Mitunter wurde der Athemzug des alten Mannes tiefer. Seine Frau sah dann zu ihm hinüber, sie mochte glauben, daß er schlafe: aber er schlief nicht, und sie strickte ruhig weiter. Schon wurden die Schatten der in dem kleinen Garten stehenden wenigen Obstbäume länger und immer länger, schon begann drüben hinter den alten Weiden am Ententeich die Abendröthe den westlichen Horizont zu färben, endlich brach die Dämmerung an – noch immer dieselbe Stille, noch immer dasselbe dumpfe Brüten der beiden alten Leute über die Noth, die sie umgab, über das vielleicht noch größere Elend, das sie bedrohte!
Da sah Madame Lüders von ihrer Arbeit auf; ein Geräusch draußen vor dem Hause hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Es konnte Louise sein, die nach Hause kam. Aber sie war es nicht; ein Mann näherte sich der Gartenpforte. Madame Lüders sah einen Moment aufmerksam hinaus, dann erhob sie sich und ging quer durch das Zimmer dem Sopha zu.
»Andreas,« sagte sie, »der Doctor kommt.«
»Der Doctor?« fragte Lüders erstaunt, indem er schnell den Kopf erhob. »Der Doctor – heute?«
»Gewiß, lieber Mann, er wird sogleich hier sein; er kommt schon durch den Garten.«
»Laß mich mit ihm allein, Annette.«
»Du willst also wirklich – – –« stammelte Madame Lüders. Ein leises Klopfen an der Thür unterbrach sie, und der Doctor trat ins Zimmer.
Er trat ins Zimmer, schleichend, katzenähnlich, wie gewöhnlich. Ein Lächeln umspielte seinen fest zusammengekniffenen Mund, ein lauernder, forschender Blick schoß unter seinen herabgesenkten Augenlidern hervor. Mit einer tiefen Verbeugung, und indem er ihre Hand ergriff und ehrerbietig zu seinen Lippen erhob, begrüßte er Madame Lüders; dann näherte er sich ihrem Manne. Dieser aber hatte sich erhoben und reichte ihm die Hand entgegen.
»Freut mich, Sie zu sehen, lieber Herr Doctor,« sagte der alte Mann, seinem Gaste freundlich zulächelnd, »freut mich um so mehr, da ich heute auf dieses Vergnügen nicht gerechnet habe.«
»Ich bin um einige Tage früher, als ich erwarten durfte, von meiner Reise zurückgekehrt« entgegnete der Doctor in seinem gewöhnlichen leisen, einschmeichelnden Tone, »und da mußte ich denn gleich nach meinen lieben und verehrten Freunden sehen. Sie befinden sich hoffentlich wohl, gnädige Frau?«
»Ich danke, Herr Doctor, recht wohl.«
»Ihr frisches Aussehen beweist es mir. Und Sie, verehrter Herr Lüders?«
»Nun es geht, es geht, man soll nicht klagen. Aber legen Sie gefälligst ab, Herr Doctor, und nehmen Sie Platz – nein, wenn ich bitten darf hier – auf den Rohrstühlen sitzt es sich schlecht – bitte – hier im Sopha.« –
Aber der Doctor zog einen Rohrstuhl dem weicheren Sitz auf dem Sopha vor, und zwar setzte er sich so dem Herrn Lüders gegenüber, daß er dem Fenster den Rücken zukehrte. Dies verschaffte ihm den Vortheil, daß er selbst in tiefem Schatten saß, während er die von dem röthlichen Scheine des durch das Fenster fallenden Lichtes beleuchteten Züge seines vis-à-vis genau beobachten konnte. Madame Lüders hatte mittlerweile, der Aufforderung ihres Mannes gehorsam, das Zimmer verlassen.
Zwischen Herrn Lüders und dem Doctor entspann sich nun ein Gespräch, das sich erst um Gegenstände von ganz allgemeinem Interesse drehte, allmählig aber auf die Verhältnisse des alten Mannes überging.
»Sie bringen mir wohl keine Nachricht in Betreff des bewußten Postens, bester Herr Doctor?« fragte Lüders mit ängstlicher Spannung.
»Heute noch nicht, Herr Lüders,« entgegnete der Doctor, »ich habe seit meiner Rückkehr noch keine Zeit gefunden, mich danach zu erkundigen. Indeß mögen Sie sich in dieser Hinsicht beruhigen. Man sucht für diesen Posten einen Mann von anerkannter Redlichkeit und Unbestechlichkeit, denn die Magazine, über welche ihm die Controle anvertraut wird, sind sehr bedeutend, und da Sie auf's Wärmste empfohlen sind – man hat sich, wie Sie wissen, in dieser Angelegenheit an mich gewandt – so ist der Erfolg so gut wie gesichert.«
»Sie wollen mir nicht sagen, wer der Besitzer dieser Magazine ist?«
»Die Discretion verbietet mir, seinen Namen zu nennen, Herr Lüders; nur so viel darf ich Ihnen sagen, daß es einer der Aristokraten unserer Börse ist.«
»Verzeihen Sie mir meine Frage. Ach, Herr Doctor, Sie wissen nicht, wie sehr ich mich nach Thätigkeit sehne, wie sehr dieses Nichtsthun meine trüben Gedanken nährt, mich körperlich und geistig abspannt. In der That, ich fühle, daß ich dieses nicht mehr lange würde ertragen können.«
»Geduld, verehrter Herr Lüders, es wird bald besser werden.«
»Der Posten ist doch einigermaßen einträglich, nicht wahr?«
»Einträglich und durchaus nicht beschwerlich; Sie werden, hoffe ich, in jeder Beziehung damit zufrieden sein.«
»Lieber Herr Doctor, ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie sehr dadurch die Schuld der Dankbarkeit vermehrt würde, die ich Ihnen – – –«
»Sprechen Sie nicht davon, Herr Lüders, ich bitte Sie.«
»Ich würde doch endlich Aussicht haben, Ihnen die geborgten Summen – – –«
»Davon später, Herr Lüders, wenn Ihre Angelegenheiten geordnet sein werden.«
»Wie gütig Sie sind. Ach, könnte ich Ihnen doch je lohnen, was Sie für mich und die Meinigen thun.«
»Die geringen Dienste, die ich Ihnen zu erweisen Gelegenheit hatte, werden Sie mir überreichlich lohnen, wenn Sie mir das Versprechen geben, in jeder Verlegenheit, in die Sie ferner kommen könnten, unbedenklich meine Hülfe zu benutzen.«
»Ach, Herr Doctor,« entgegnete Lüders mit einem trüben Lächeln, »wenn ich Ihnen meine Dankbarkeit dadurch beweisen soll, so bietet sich – leider – schon heute – – –«
»Ich verstehe, Herr Lüders, Sie brauchen einiges Geld.«
»Aufrichtig gestanden, seit mein Holzhandel so völlig darniederliegt – – –«
»Nun, ich begreife, daß Sie in Verlegenheit sein müssen. Glücklicherweise werden Sie bald aller Sorgen überhoben sein.«
»Das gebe Gott,« seufzte Lüders.
»Und nun, lieber Herr Lüders, mit wie viel kann ich Ihnen heute dienen?«
»Ich weiß wirklich nicht, Herr Doctor, ob ich Ihr gütiges Anerbieten annehmen darf. Ich bin Ihnen schon so viel schuldig, daß – – –«
»O, nicht sehr viel,« sagte der Doctor, »es mögen höchstens etwa 600 bis 700 Mark Banco sein.«
»Entschuldigen Sie, Herr Doctor, es sind bereits 850 Mark ohne die Zinsen, die – – –«
»Ei, wer spricht von Zinsen, bester Herr Lüders, unter Freunden sollte ich meinen – – –«
»Ich dächte doch – – –«
»Nun, das wird sich später finden.«
»Aber 850 Mark sind es bereits. Ich weiß es gewiß, ich habe erst heute wieder nachgerechnet und wenn es Ihnen beliebt – – –« er zog ein Notizbuch aus der weiten Tasche seines Schlafrocks.
»O, das ist nicht nöthig. Wenn das aber die Summe ist, könnten wir ja gleich das Tausend voll machen. Sie bekämen dann noch von mir hundert und fünfzig Mark.«
»O, so viel brauche ich wirklich nicht.«
»Nun, es ist immerhin besser, ein wenig reichlich versehen zu sein. Erlauben Sie mir also – – –« Und der Doctor nahm aus seinem Portefeuille ein Paquet Banknoten und begann die Summe abzuzählen.
»Aber, Herr Doctor – – –«
»Kein Aber, Herr Lüders. Unsere Rechnung stellt sich so auch am allereinfachsten.«
»Indeß werden Sie mir erlauben, Ihnen sogleich einen Schuldschein auszustellen.«
»Nun, wenn Sie wollen. Die alten – ich sehe, daß ich sie zufällig bei mir habe – stelle ich Ihnen alsdann zurück. Da sind sie – vernichten Sie dieselben.«
Lüders empfing die Schuldverschreibungen und zerriß sie. Er empfing dann auch mit einem Gemisch von Freude, Kummer und Beschämung, das schwer zu beschreiben sein würde, die hundert und fünfzig Mark. Der neues Empfangschein auf tausend Mark sollte nun ausgestellt werden, und Lüders zog daher die vor ihm befindliche Schublade des großen Tisches heraus, in welcher sich seine sämmtlichen Schreibmaterialien befanden. Er legte das Papier vor sich hin und zog den Stöpsel aus dem gläsernen Tintenfaß. Dann begann er auf dem Tisch umherzutasten, sowie auf dem Sopha, sah in die Schublade, unter den Tisch, kurz, es war unverkennbar, daß er etwas suche.
»Vermissen Sie etwas, Herr Lüders?« fragte der Doctor.
»Meine Brille. Ich begreife nicht – hm – sie pflegt doch sonst immer – hm, hm – – –«
»Vielleicht ist sie hinter eines der Sophakissen gefallen,« sagte der Doctor und begann nun auch eifrig zu suchen. Doch vergeblich, die Brille war nirgends zu finden. Es darf uns nicht wundern, denn sie steckte in diesem Augenblicke in der Rocktasche des Doctors und wurde erst, nachdem er fortgegangen war, in dem Spucknapfe neben dem Sopha gefunden. Und das darf uns gleichfalls nicht wundern, denn wir kennen ja jetzt den würdigen Doctor. Was das Verschwinden der Brille zu bedeuten hatte, werden wir später erfahren.
»Es ist aber recht schlimm,« sagte endlich Herr Lüders, »daß wir die Brille nicht finden können. Es ist schon so dunkel geworden, daß ich ohne Brille schlechterdings nichts schreiben kann, und bei Licht seh' ich erst recht nichts.«
»Nun, die Brille wird sich finden,« entgegnete der Doctor mit der unbefangensten Miene von der Welt, »und was den Schuldschein betrifft – mein Gott, das hat ja keine Eile – morgen – – –«
»Nein, nein, bester Herr Doctor, ich würde die Nacht nicht ruhig schlafen können. In solchen Dingen muß man pünktlich sein.«
»Nun gut, Herr Lüders, so lassen Sie mich schreiben; ich sehe noch ganz gut. Sie brauchen dann bloß den Schein mit Ihrer Unterschrift zu versehen.«
»Wenn Sie die Güte haben möchten, Herr Doctor – – –«
»Herzlich gern, da Sie einmal darauf bestehen, daß es noch heute geschieht.«
Und der gefällige Doctor schrieb einen wohlverclausulirten Schuldschein. O, er kannte sehr wohl die rechtsgültige Form, der gute Doctor; er war bewandert in dem Geschäftsstil und in Formularen zu jeder Art von Documenten; er war eingeweiht in die tiefsten Geheimnisse des Wechselrechts und der Hypothekenordnung, er war vertraut mit allen Schleichwegen, auf welchen man übernommene Verpflichtungen umgeht, vertraut mit den Kniffen, durch welche man Anderen ungerechterweise solche auferlegt.
»So,« sagte der Doctor, indem er den letzten Federzug machte, »wenn es Ihnen jetzt gefällig wäre, zu unterschreiben.«
Herr Lüders griff nach der Feder.
»Der Schuldschein lautet folgendermaßen,« fuhr der Doctor fort und begann zu lesen.
»Schon gut schon gut,« murmelte Lüders. Der Doctor las aber weiter. Lüders hörte mit zerstreuter Miene zu. Darauf legte er ihm die Verschreibung vor, indem er mit dem Zeigefinger die Stelle bezeichnete, an welcher der alte Mann seinen Namen zu setzen hatte. Er bedeckte dabei mit der Hand einen Theil des Papiers; indessen las Lüders die groß und deutlich geschriebene Zahl 1000, auf welche ihn der Doctor noch speciell aufmerksam machte, und unterschrieb. Der Doctor nahm dann ruhig den Schuldschein zu sich, wartete höchst gelassen, bis die Tinte trocken war, faltete das Papier recht zierlich zusammen und legte es in sein Portefeuille. Nicht die mindeste Veränderung zeigte sich dabei in seinen liebreich lächelnden Zügen.
»Die Form wäre somit Ihrem Wunsche gemäß, beobachtet, Herr Lüders,« bemerkte der Doctor, »indeß vergessen Sie nicht daß es auch nur eine Form ist. Nach abgelaufener Frist werden wir den Schein erneuern.«
»Wenn ich bis dahin nicht in der Lage sein sollte, ein Abkommen mit Ihnen zu treffen, lieber Doctor, so rechne ich natürlich auf diese Gefälligkeit.«
»Nun, versteht sich – doch davon später.« –
Madame Lüders kehrte nun aus dem Garten zurück, in welchem sie sich mittlerweile aufgehalten und ein großes Bouquet Blumen gepflückt hatte. Es war von jeher eine Lieblingsneigung der Madame Lüders gewesen, ihr Zimmer mit frischen Blumen zu schmücken, und sie that es auch jetzt noch; nur daß die kostbaren, reich vergoldeten Porcellanvasen, welche früher die Blumen aufnehmen, mit den übrigen Luxusartikeln verkauft worden waren, und jetzt ein Paar einfache Gläser deren Stelle einnahmen.
»Ach, gnädige Frau,« redete sie der Doctor mit seinem süßesten Lächeln an, »welch' schöne Levkojen bringen Sie da. Ich habe mich recht über den herrlichen Flor gefreut, als ich vorhin durch den Garten ging.«
»Und nicht wahr, Herr Doctor,« entgegnete Madame Lüders, »unser kleiner Garten ist auch recht hübsch gehalten?«
»Man sieht daß Sie viele Sorgfalt darauf verwenden, gnädige Frau.«
»Ich nicht so sehr, Herr Doctor, als mein Mann. Leider,« fügte sie mit einem Seufzer hinzu, »hat er ja jetzt Zeit genug dazu.«
Der Doctor seufzte gleichfalls aus tiefster Brust.
»Es ist eine gar angenehme Beschäftigung,« sagte er dann, von dem wieder ablenkend, worauf Madame Lüders angespielt hatte, »eine Beschäftigung, an der auch ich – Sie wissen es – viele Freude habe.« –
»Sie haben wohl recht viele schöne Blumen, Herr Doctor?«
»Besonders einen reichen Flor von Fuchsien. Wenn Sie es mir erlauben, gnädige Frau, werde ich Ihnen einige neue Sorten schicken, die ich der Güte eines Freundes, eines großen Blumisten, verdanke.«
»Sie sind sehr freundlich, Herr Doctor.«
»Ist Louise noch immer nicht zurückgekommen?« fragte plötzlich Lüders, der dieses kleine Zwiegespräch nicht beachtet hatte, mit einer zerstreuten Miene.
»Noch nicht lieber Mann,« entgegnete seine Frau.
»Fräulein Louise,« sagte der Doctor mit leiser, bebender Stimme, die deutlich verrieth, oder richtiger verrathen sollte, welche Ueberschwänglichkeit von bittersüßen Gefühlen die Nennung dieses Namens in ihm hervorriefe, »Fräulein Louise hat ohne Zweifel den schönen Abend zu einem Spaziergange benutzt?«
»Sie ist zur Stadt gegangen,« entgegnete Madame Lüders, »und wird gewiß bald nach Hause kommen.«
Ein leichtes Zucken zeigte sich für einen Augenblick um den Mund des Doctors. Schärferen Beobachtern, als den harmlosen alten Eheleuten, würde es kaum entgangen sein. In Worten ausgedrückt sagte es etwa so viel wie: »Gut, das eben wollte ich wissen.«
Als noch einige höfliche Redensarten gewechselt worden waren, ergriff der Doctor seinen Hut und empfahl sich, nachdem er Madame Lüders wieder ehrerbietig die Hand geküßt und die des Herrn Lüders mit rührender Treuherzigkeit geschüttelt hatte.
Folgen wir ihm.