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III.

Es war noch früh am folgenden Morgen. Die Sonne hatte sich kaum über den Gipfel des Bernina erhoben und schien von dem tiefblauen Himmel in das herrliche Thal herab, schnell die leichten Nebelflocken auflösend, die hie und da an den Thalgehängen der mächtigen Gebirgsketten hingen. Es versprach ein schöner, wenn auch heißer Tag zu werden, und Hugo war, so bald er sich von seinem Lager erhoben hatte, in den Garten gegangen, um noch vor dem Frühstück die erfrischende Kühle des Morgens zu genießen.

Aber es war leicht zu ersehen, daß er weit mehr mit sich selbst beschäftigt war, als mit der prachtvollen Scenerie um ihn her. Er lenkte seine Schritte nicht nach einem der Punkte, die weite, herrliche Fernsichten über den See und die jenseit desselben liegenden Berge darboten, sondern verlor sich in den tiefen Schatten einer aus uralten Eichen und Ulmen bestehenden Allee; und wer ihn genauer hätte beobachten können, während er hier mit hastigen Schritten auf und ab ging, würde aus dem Ausdruck seiner Gesichtszüge geschlossen haben, daß die Betrachtungen, denen er nachhing, ihn ernstlich beunruhigten, denn auf seiner gerunzelten Stirn lag nicht die sonstige feste Ruhe, in seinen Augen aber flammte es, wie von einem heftigen inneren Drang, den er nicht zu bewältigen vermochte.

»Dieses träge Nichtsthun,« sagte er bei sich selbst, »wird mir mit jedem Tage drückender; ich muß dem ein Ende machen, ich muß fort, fort von hier. – Aber wohin? – Habe ich nicht schon alle Zonen der Erde bereist? Und doch, ich will nach Italien, will die erhabenen Ruinen jener untergegangenen Größe und Herrlichkeit kennen lernen, und nicht etwa will ich sie müssig angaffen, mit jenem stupiden Erstaunen, mit jener albernen Neugierde, welche die Mehrzahl der Reisenden an den Tag legt; nein, ich will sie gründlich studiren, mich ganz zurückversetzen in jene thatenreiche Zeit, die sie gebar – vielleicht vergesse ich darüber die, in welcher ich lebe. – Oder ich gehe nach Griechenland, der Wiege der Kunst, der Poesie und Wissenschaft, oder nach Aegypten, Syrien – nur fort von hier, wo die Unthätigkeit nur zu sehr meine Erinnerungen nährt. – – Aber werd' ich dort, werd' ich irgendwo Ruhe finden? – Nein, aber anregende Beschäftigung, die Ruhe ist es ja eben, die ich fürchte, die mich ängstigt, die mich martert, weil – ja, weil mein Herz keine hat, sie nie haben wird und haben kann. – Gleich' ich nicht,« fuhr er nach einer längeren Pause fort, »dem Albatros, nach welchem ich mein Schiff genannt habe, jenem ruhelosesten aller Vögel, den die Seefahrer oft viele hundert Meilen vom Lande entfernt antreffen? Auch er ist in immerwährender, rastloser Bewegung, durchschneidet mit seinen hurtigen Schwingen pfeilschnell die Lüfte oder schaukelt sich auf der nimmer ruhenden Welle; und keine Insel, kein gastliches Gestade erspäht während ganzer Tage und Wochen der vom Sturm Verschlagene von der Höhe der Wolken aus, keinen Fuß breit Land, keine noch so kleine aus dem Meere tauchende Klippe, die seinen müden Gliedern einen festen Stützpunkt böte.«

Plötzlich stand Hugo an dem Ende der Allee still. Von hier aus konnte er in eine abgesonderte Abtheilung des Gartens blicken, den Comtesse Amalie den ihrigen nannte, weil sie ihn unter ihre besondere Obhut und Pflege genommen und daselbst mit vielem Geschmack und, indem sie selbst mit Hand anlegte, einige zierliche Blumenbeete hatte herstellen lassen. Sie war gerade in diesem Augenblicke damit beschäftigt, die Ranken einer Klematis an eine kleine Laube aufzubinden, welche sie sich aus rohen Birkenstämmen und Aesten hatte anfertigen lassen. Ein helles Morgenkleid legte sich ohne den Zwang der beengenden Schnürbrust in natürlichen Falten um ihre schlanke Taille, ein breitrandiger Strohhut, dessen Bänder über ihren Schultern herabhingen, bedeckte ihren Kopf. Sie stand so, daß sie ihm den Rücken zukehrte, und es ihm also gestattet war, sie einige Secunden lang zu betrachten, ohne von ihr bemerkt zu werden.

Sein erster Impuls war, sich zurückzuziehen; aber es wurde ihm schwer, seine Blicke von der lieblichen Gestalt abzuwenden, wie sie, in jeder ihrer Bewegungen leicht und anmuthsvoll, ihre Arbeit so geschickt verrichtete. Und während er, so plötzlich aus seinem düstern Brüten geweckt, in ihren Anblick verloren dastand, fielen ihm unwillkürlich die Worte seines Freundes Werner ein: »Brüten Sie nicht zu sehr über Vergangenes und sehen Sie mit frischem Muth in die Zukunft;« waren doch jene Worte gerade in Bezug auf dieses junge, reizende Mädchen gesprochen worden. Aber dann schüttelte er mit einem schmerzlichen Lächeln den Kopf und ein tiefer Seufzer und der Name »Louise« entfuhr seinen Lippen. Er wollte sich abwenden, um von der Comtesse unbemerkt fortzugehen, als diese eine rasche Bewegung machte und seiner ansichtig wurde. Er konnte nun nicht umhin, sich ihr zu nähern und sie zu begrüßen.

»Ei, Herr Falkner!« rief ihm die Comtesse entgegen, während ein tiefes Roth ihre Wangen färbte, »wie lange stehen Sie denn schon da, wenn ich fragen darf?«

»Verzeihung, Comtesse,« entgegnete Hugo in nicht ganz so unbefangenem Tone wie sonst, »höchstens vier oder fünf Secunden.«

»Das ist gerade um vier oder fünf Secunden zu lange,« sagte in ihrer gewöhnlichen, leichten, launigen Weise das junge Mädchen. »Nennen Sie das ritterliche Sitte, sich leise und unbemerkt an eine Dame heranzuschleichen und sie bei ihrer Beschäftigung zu beobachten. Wenn ich nun die garstige Gewohnheit der in Romanen handelnden Personen hätte, ganz laut meine geheimsten Gedanken auszuplaudern?«

»So würde ich mich mit mehr Discretion, als die Herren Verfasser zeigen, schleunigst zurückgezogen haben.«

»Wer weiß aber, ob nicht zu spät; wer weiß, ob Sie nicht dennoch gehört hätten, wie ich so eben in pathetischer Weise mein Leid den Lüften klagte.«

»Nun Comtesse, wer weiß, ob ich dann nicht auch so glücklich gewesen wäre, die Ursache ihres Kummers heben zu können.«

»O, das werden Sie nicht können,« sagte lachend die junge Dame.

»Dennoch will ich Sie gern in dieser hochwichtigen Angelegenheit zu meinem Vertrauten machen. Also hören Sie: ich bedauerte, nicht abergläubig zu sein.«

»Mein Gott, Comtesse,« entgegnete Hugo, auf dessen Stirn die düsteren Wolken nachgerade gänzlich verschwunden waren, die noch vor wenigen Augenblicken auf derselben lagerten, »könnten Sie einen Genuß darin finden, an Gespenster, Kobolde, Zauberer und finstere Berggeister zu glauben, oder an die Auslegungen einer Kartenlegerin oder Somnambüle, oder an die Prophezeiungen aus dem Kaffeesatze, oder dem geschmolzenen Blei, das man in der Sylvesternacht in ein Glas Thauwasser gießt, oder etwa an die mit Namen bezeichneten Zettel, welche die Köchin in eben dieser Nacht in Mehlklöse einknetet und ...«

»Um des Himmels willen, halten Sie ein,« lachte die Comtesse, »das ist ja ein entsetzlich langes Register von abergläubischen Narrheiten. Nein, damit Sie besser von meinem – Verstande darf ich kaum sagen – also von meinem ästhetischen Sinne denken mögen, ich bedauerte, nicht so recht fest und mit voller Ueberzeugung daran glauben zu können – denn halbwegs glaube ich es allerdings – daß in der Blume ein unbewußtes Seelenleben schlummert, ähnlich wie in dem Kinde.«

»Und Sie möchten ferner glauben, Comtesse,« erwiederte Hugo, »was eine geschäftige Dichterphantasie ersonnen hat, daß die verwandten Geister, die sich hier im Leben begegnen, während eines früheren Daseins in der Hülle zarter Blumen gelebt und ihre gegenseitige Liebe in süßen Düften ausgetauscht haben; ja, daß eine dunkle Ahnung davon es eben ist, welche sie im jetzigen Leben wieder zu einander hinzieht?«

»O wie gern möchte ich es glauben.«

»Gewiß, Comtesse, haben solche Phantasiegebilde einen eigenthümlichen Reiz, indeß – – –«

»Wenn Ihr ›Indeß‹ einen Einwand gegen meinen leider schon wankenden Aberglauben einleiten soll, so schweigen Sie lieber, ich mag Ihre klugen Argumente gar nicht hören. Läugnen können Sie doch nicht, daß der Duft jeder einzelnen Blume etwas Charakteristisches hat, besondere Gedanken und Empfindungen hervorruft, oft auch Erinnerungen weckt, kurz, etwas in sich schließt, das wir gern in Worten ausdrücken möchten, wenn wir uns nicht bewußt wären, daß unsere Sinne zu stumpf sind, es klar und deutlich aufzufassen, und daß unsere Sprache zu unbeholfen ist, es auszusprechen.«

»Ich läugne gar nichts, Comtesse. Was Sie da sagen, erinnert mich übrigens an den Ausspruch eines großen Naturfreundes, daß ihn nämlich, wenn er allein in einem Gewächshause oder Blumengarten sei, ein Gefühl belebe, das er nicht immer unter den Menschen habe, ein Gefühl, als befinde er sich in guter Gesellschaft, die ihm eine viel bessere Unterhaltung biete, als – – –«

»Ich sehe wohl,« fiel ihm die junge Dame in's Wort, »man kann nicht ernsthaft mit Ihnen reden.«

»Verzeihen Sie, Comtesse,« entgegnete Hugo, »ich spreche im vollsten Ernst. Ich habe oft gedacht, daß zwischen den verschiedenen Gerüchen, Farben, Tönen und Formen, kurz, zwischen den verschiedenen Kundgebungen der Natur, die wir mittelst unserer Sinne aufzufassen vermögen, eine innere und recht innige Verwandtschaft besteht, die zu constatiren den Gelehrten, so viel ich weiß, nur bei den beiden letzteren geglückt ist.«

»O, Sie deuten auf die Klangfiguren hin, von denen Sie neulich mit Papa sprachen.«

»Ganz recht; und so halte ich es denn auch nicht für eine bloße phantastische Grille, wenn ein anderer eifriger Naturbeobachter behauptet, die Singvögel sängen grün, blau, roth oder weiß. Eben so gut aber könnte man sagen, diese oder jene Blume dufte so, wie die Lerche, die Amsel singt oder schlage in unsrem Innern diesen oder jenen Accord an, der wiederum einen bestimmten Gedanken entspräche.«

»Aus dem, was Sie sagen,« entgegnete Comtesse Amalie, »erklärt es sich wohl auch, daß die beschaulichen, schweigsamen Bewohner des Orients, die überhaupt eine feinere Organisation zu besitzen scheinen, als andere Nationen, eine eigene Blumensprache ersonnen haben. Nur ist die Beredsamkeit derselben für uns Kinder des Nordens zu feurig und scheint mir auch mehr der Form und der Farbe der Blumen entlehnt zu sein, als deren Düfte.«

»Bilden Sie selbst eine Blumenduft-Sprache, Comtesse; mir scheint, es fehlt Ihnen dazu nicht an der nöthigen Erfindungsgabe.«

»Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen gestände, daß ich es schon längst versucht habe, das heißt, mit Hülfe meiner Freundin, der Tochter unseres Pfarrers, die mir getreulich geholfen hat.«

»Ich würde Sie bitten, mich in die wohlriechenden Geheimnisse dieser Sprache einzuweihen.«

»Damit Sie Gelegenheit hätten, mich auszulachen?«

»Nein, damit ich eine neue Gelegenheit hätte, Ihre reiche Phantasie zu bewundern. Was sagt z. B. der würzige Duft dieser Nelke?«

»Er spricht von der treuen Ergebenheit eines tapferen Ritters für die Dame seines Herzens,« entgegnete die Comtesse mit komischem Pathos.

»Und dieses Nachtveilchen?«

»Dem Nachtveilchen haben die blinkenden Sterne von den ewigen Bahnen erzählt, welche sie im Himmelsraume durchlaufen.«

»Und die Hollunderblüthe dort?«

»O, der starke Duft der Hollunderblüthe ist mir unheimlich. Er erzählt mir wunderbare Märchen von Feen, welche die Menschen in ihren geheimnißvollen Zauberkreis ziehen und ihre Sinne bethören.«

»Wenn ich Ihnen aber nun diese halbgeöffnete Rosenknospe gäbe, welche Bedeutung hätte das?«

Er wollte sich bücken, aber sie kam ihm schnell zuvor, brach die Rose und reichte sie ihm, indem sie lachend sagte:

»Die Rose spricht überall und in allen Sprachen denselben Gedanken aus. Die müssen Sie behalten und derjenigen geben, die Sie – an die Sie am liebsten denken!«

Hingerissen von dem leichten, scherzenden Tone, in welchem das Gespräch bis jetzt geführt worden war, hätte Hugo beinahe gesagt: »Alsdann erlauben Sie mir, daß ich sie Ihnen gebe.« Aber plötzlich mochte das Bild Louisens vor seine Seele treten, denn seine Hand zitterte leicht, als er die Blume nahm, und er schwieg, wie in Gedanken verloren.

Welche Deutung das junge Mädchen seinem Schweigen und der unverkennbaren Veränderung in seinen Zügen gab, ist eine Frage, deren Beantwortung wir füglich der Divinationsgabe des Lesers überlassen können. Ein höheres Roth, als das der Rose stieg in ihre Wangen, und sie streckte schon die Hand aus, wie um die bedeutungsvolle Gabe zurückzunehmen; aber sie mochte fürchten, daß sie dadurch nur noch deutlicher verrathen würde, was sie in diesem Augenblicke beunruhigte, und sie wandte sich zaudernd ab.

Das Erröthen und die Verwirrung Amaliens entging Hugo nicht, und ein ähnliches Befremden wie das, welches er am vorhergehenden Abend empfunden hatte, bemächtigte sich seiner von Neuem. »Bin ich früher blind gewesen,« fragte er sich, »oder täusche ich mich jetzt? Seit wann hat sich denn das Kind zur Jungfrau umgewandelt?«

Sie faßte sich indeß schnell und sagte, indem sie sich bemühte, den früheren Ton wieder zu treffen:

»Ich denke, Sie werden an dieser Probe von meinen kindischen Blumen-Tändeleien genug haben. Nur gut, daß Papa nicht gehört hat, was ich Ihnen da vorgeschwatzt habe, er würde sonst wiederholen, was er mir schon öfter sagte, wenn er mich so eifrig in meinem Garten beschäftigt sah, ich müsse einmal von einem tollen Gärtner gebissen worden sein. Nicht wahr?« fügte sie dann, wieder ernster werdend hinzu, »ich bin recht albern? Die in großen Städten erzogenen jungen Damen würden Alles, was ich jetzt geplaudert habe, für Ergüsse eines überspannten, schwärmerischen Gemüthes gehalten und mitleidig belächelt haben?«

»Comtesse,« sagte Hugo, »in der großen Welt hat gar Vieles keine Geltung, worauf Sie mit Recht einen hohen Werth legen. Die in großen Städten erzogenen jungen Damen haben oft keine Ahnung von dem veredelnden Einfluß, den die Natur auf den Menschen ausübt.«

»Da sagen Sie doch wohl zu viel, Herr Falkner. Wie sollte es möglich sein, daß ein weiches weibliches Gemüth unberührt bleiben könnte von den Einwirkungen der uns umgebenden Natur?«

»Sie sind in ländlicher Zurückgezogenheit aufgewachsen, Comtesse, und Ihrer ganzen Geistesrichtung nach für eine solche geschaffen. Das bewegte, ruhelose Leben in großen Städten kennen Sie nicht.«

»Sie haben Recht.«

»Wenn Sie aber das eitle Treiben der großen Welt durch eigene Anschauung kennen lernen, so werden Sie sehen, daß das Interesse der jungen Damen von ganz anderen Dingen gefesselt wird, als von den erhabenen Schönheiten der Natur. Lärmende Zerstreuungen, Theater, Bälle, Concerte und Assembleen gelten ihnen weit mehr, als stille Freuden in Wald und Flur, der bunte Flitter, womit sie sich selbst schmücken, mehr als die Pracht und Herrlichkeit, womit Gott Berge und Thäler geschmückt hat.«

»Wenn das Leben in großen Städten so ist, wie Sie es schildern,« sagte Comtesse Amalie nach einer kurzen Pause, »so möchte ich es gar nicht näher kennen lernen.«

»Sie würden sich auch bald überzeugen,« entgegnete Hugo, »daß Enttäuschung und innere Leere den glänzenden Zerstreuungen auf dem Fuße folgen, und nur zu bald würden Sie sich nach Ihrer früheren Einsamkeit zurücksehnen.«

»Sie scheinen für das stille, ruhige Landleben sehr eingenommen zu sein,« fuhr das junge Mädchen fort.

»Ja, in der That, das bin ich.«

»Wie kommt es denn, daß Sie ein so bewegtes, ruheloses Leben zur See und in vielen großen Städten geführt haben?«

»Es lag an mannigfachen, nicht immer glücklichen Umständen, Comtesse, in die ich mich fügen mußte. Uebrigens bin ich weit entfernt, mich darüber zu beklagen; denn für einen Mann ist es gut, das Leben nach allen Richtungen hin kennen zu lernen.«

»Aber in Zukunft – –?« fragte sie zögernd und schüchtern.

»Was mir die Zukunft bringen wird, weiß ich nicht.«

»Indeß sind Sie doch jetzt keinem Zwange unterworfen, sondern Herr Ihrer Handlungen; und inmitten des geräuschvollen Treibens der großen Welt zu leben, dazu sind Sie gewiß nicht geeignet.«

Die ernste Miene fester Ueberzeugung, womit sie dies sagte, nöthigte Hugo ein Lächeln ab.

»Warum glauben Sie das, Comtesse?« fragte er.

Sie erröthete wie vorhin, als sie ihm die Rose gegeben hatte, und stammelte verwirrt:

»Verzeihen Sie, Herr Falkner, ich lasse mich zu einer Offenherzigkeit hinreißen, zu der ich nicht berechtigt bin.«

»Die mir unendlich viel Freude macht, Comtesse. Sagen Sie mir, ich bitte darum, weshalb halten Sie mich für nicht geeignet, in der großen Welt zu leben?«

»Nun denn, weil Sie, – wie mir scheint – ein für die Eindrücke der Natur zu empfängliches Gemüth haben, um an der Unnatur gesellschaftlicher Formen großen Gefallen zu finden. Doch ich schwatze wie ein thörichtes Kind, das die Welt nicht kennt und keine Erfahrung besitzt.«

»Sie besitzen etwas weit Besseres, Comtesse,« sagte er »als die Kenntniß der Welt und alle Erfahrung, den richtigen Takt eines klaren Verstandes und gefühlvollen Herzens, und was Sie gesagt haben ist begründet.«

Sie hatten sich während dieses Gesprächs allmählig dem Hause genähert, und als sie durch die offene Gartenthür den Tisch zum Frühstück gedeckt sahen, und jetzt auch die Gräfin unter die Veranda trat und ihnen winkte, gingen sie hinein.


Es war übrigens auch die Gräfin erst vor wenigen Secunden in das Haus zurückgekehrt; denn in der ganzen Zeit, während welcher zwischen den beiden jungen Leuten das Gespräch geführt wurde, welches wir so eben wiederzugeben versuchten, war sie mit ihrem Manne im Garten auf und abgegangen, und beide hatten Amalien und Hugo recht wohl gesehen, obgleich sie von diesen nicht bemerkt wurden. Einige scherzhafte Bemerkungen des Grafen über die eifrige Unterhaltung der beiden jungen Leute hatten die Gräfin veranlaßt, ihm die Vermuthungen mitzutheilen, die in Betreff Amaliens schon seit mehreren Tagen, namentlich aber seit gestern ihr Gemüth beunruhigten. Jedoch sie that dies in so zögernder Weise und in so unbestimmten Ausdrücken, daß der Graf sie erst nicht recht verstand; als er aber begriff, worauf sie hinziele, schüttelte er ungläubig den Kopf und meinte, das seien leere, nur aus allzu großer mütterlicher Vorsorge hervorgegangene Muthmaßungen. »Wie magst Du nur so etwas glauben Therese,« so schloß er seine Entgegnung, »Amalie ist ja noch ein halbes Kind.«

»Sie ist sechszehn Jahre alt,« war die Antwort, »und in weiblichen Gemüthern dämmert früh die Morgenröthe der Liebe.«

»Das ist ja sehr schön gesagt,« entgegnete der Graf und sah seiner Frau mit einem neckischen Lächeln in die Augen, »aber ich möchte es nicht auf Dich anwenden, meine Liebe, denn ich müßte alsdann fragen, zu welcher Morgenstunde ich Dich habe kennen lernen.«

»Ohne Zweifel zu einer viel zu späten, was Dich betrifft,« antwortete die Gräfin in demselben Tone.

»Freilich,« fuhr der Graf fort, »weil Du damals achtzehn Jahre alt warst, und mithin die Morgenröthe volle zwei Jahre gedauert hatte.«

»Nein, Heinrich, weil schon manches andere Morgenroth Dich bezaubert hatte.«

»O, Du entschlüpfst mir nicht. Ich werde Dich gelegentlich in's Gebet nehmen; Du sollst mir Deine Morgenröthe beichten.«

»Du aber wirst Dich hüten, mir wieder zu beichten.«

»Schon gut, liebe Therese,« sagte der Graf, indem er den Arm um die noch immer schlanke Taille der Gräfin legte und auf die sanften Züge seiner Frau einen liebevollen Blick heftete, »der Morgen war heiter, der Tag brachte uns, Gott sei Dank, keine Stürme und der Abend verspricht gleichfalls ein ruhiger und genußreicher zu werden; ich denke, wir können zufrieden sein. Und nun, um auf Amalien zurückzukommen, Du glaubst also wirklich, daß sie für Falkner eine Neigung gefaßt hat?«

»Ich glaube, daß sie ihn liebt, Heinrich.«

»Du sagst das mit der Miene der Besorgniß.«

»Weil es mich in der That bekümmert.«

»Und weshalb?«

»Ist denn unsere gute Meinung von diesem jungen Mann so fest begründet, daß wir ohne Bedenken das Glück unsrer Tochter in seine Hand legen könnten?«

»Sage, Therese, wenn sich – vielleicht erst nach Jahren – ein andrer Freier einfände, würden wir voraussichtlich Gelegenheit haben, ihn genauer kennen zu lernen und richtiger zu beurtheilen? Ich weiß, daß Du große Stücke auf meinen Neveu, den jungen Baron Berkheim hältst und an eine Verbindung zwischen ihm und Amalien denkst. Kennst Du ihn genauer und von einer vortheilhafteren Seite als Falkner?«

»Ich kenne wenigstens seine Verhältnisse.«

»Falkners Verhältnisse sind übrigens glänzend, meine Liebe. Er ist reicher als wir, viel reicher als der Baron Berkheim.«

»Das hab' ich eigentlich nicht gemeint.«

»Was denn, Therese?«

»Seine Familienverhältnisse.«

»Nun, wir sind glücklicherweise in der Lage, über diese Bedenklichkeiten hinwegsehen zu können.«

»Du meinst, Heinrich – –?«

»Ja, Therese, denn wir sind – dem Himmel sei es gedankt – unabhängig; unabhängig von den vielen verwandtschaftlichen Banden, die so Manchem zur Fessel werden, sowie von dem Kastenzwange, dem nur zu oft die Diener des Staates unterworfen sind, endlich auch durch die freisinnigen bürgerlichen Institutionen des Landes, in welchem wir leben.«

»So hättest Du indeß früher nicht gesprochen, Heinrich.«

»Du hast Recht. Früher wäre mir die Rücksicht, auf welche Du hingedeutet hast, in hohem Grade bedenklich erschienen. Meine Ansicht hat sich jedoch geändert. Sieh, Therese,« setzte der Graf in ernstem Tone hinzu, indem er den Arm der Gräfin in den seinigen legte, »Du weißt, daß Niemand die Bedeutung des Adels weniger mißkennt, als gerade ich es thue; denn wollte man demselben auch sonst alle Vorzüge streitig machen, so ist es doch nicht zu läugnen, daß ein ererbter, ruhmreicher Name bei manchen jungen Leuten ein lobenswerthes Streben erweckt, sich in allen Lagen des Lebens auf eine den ehrwürdigen Traditionen ihrer Familie entsprechende Weise zu benehmen. Noch weit kräftiger könnten der Name, der Titel und das Wappen der Vorfahren als Sporn des Ehrgeizes dienen, wenn die Grundregel aufgestellt würde, daß die Söhne von Adeligen erst in reiferen Jahren – etwa im fünf und zwanzigsten oder dreißigsten – in die Rechte ihrer Väter eintreten könnten, nachdem ein aus den Häusern ihrer eigenen und anderer adeligen Familien zusammengesetztes Ehrengericht sie dazu für würdig erklärt hätte. – Doch das sind utopische Träumereien, die – –,«

»Die in der Welt nie zur Geltung kommen werden,« unterbrach ihn die Gräfin.

»Leider werden sie das nie,« fuhr der Graf fort, »auch hab' ich das nur gesagt, damit Du sehen mögest, daß ich den oft heilsamen Einfluß jener ererbten Attribute nicht unterschätze, obgleich sie nur zu oft der innern Leere, der Nichtswürdigkeit und dem Dünkel zum Deckmantel dienen.

Können wir nun aber Denjenigen unsre Achtung nicht versagen, die, gleichsam unter dem Paniere ihrer Ahnen kämpfend, schon erworbenen Glanz und überlieferte Ehre aufrecht zu erhalten suchen, so – gesteh' es, Therese – müssen wir doch solche noch weit höher stellen, an die kein mächtiger Mahnruf dahingeschiedener Geschlechter von jenseit des Grabes ergangen ist, und die dennoch aus eigenem, freiem Antriebe für sich selbst den höchsten, den besten Adel erstreben, den des Herzens und des Geistes. Ein solcher aber ist Falkner.«

»O wie wenig würden mir alle Bedenklichkeiten gelten,« sagte die Gräfin nach einer Pause, »die nur aus dem – ich gesteh' es – oft zweifelhaften Werthe entspringen, den wir gewohnt sind, dem Range und dem Stande beizulegen, wenn mir sonst nur die Zukunft Amaliens gesichert erschiene.«

»Ich weiß, Therese,« entgegnete der Graf, »daß auch Du jenen Werth nicht zu hoch anschlägst und immer der Stimme der Vernunft und des Herzens Gehör geben wirst. Und nun laß' uns nicht mehr von einer Sache sprechen, die, Du magst sagen, was Du willst, doch wirklich eine ganz imaginäre ist. Sollte der Fall eintreten, von dem Du sprichst; nun gut, wir werden alsdann Alles gewissenhaft prüfen und erwägen, immer aber werden wir beide – dessen bin ich gewiß – in vollkommenem Einklang mit einander handeln.«

Die Gräfin gab keine Antwort, sondern senkte mit der Miene einer Frau, die zwar nicht überzeugt ist, sich jedoch willig fügt, die Augen zu Boden. Der Graf aber lenkte das Gespräch auf andere Gegenstände.


In dem Verhältnisse Hugo' zu Amalien trat allmählig eine Veränderung ein, die nun auch dem aufmerksam gewordenen Grafen nicht länger entgehen konnte. In Amaliens Benehmen dem Gaste gegenüber zeigte sich immer weniger und immer seltener die frühere kindliche Zutraulichkeit und Unbefangenheit, immer häufiger die jungfräuliche Schüchternheit und Verwirrung, deren erste Aeußerungen, wie wir gesehen haben, Hugo so auffällig gewesen waren. Hugo seinerseits war immer weniger im Stande, in der Unterhaltung mit der jungen Dame den freien, heitern und neckischen Ton zu treffen, der so oft zuvor jenes Vorpostengeplänkel – wie es der Graf nannte – hervorgerufen hatte, bei dem das Pulver, welches man verschoß, das selbsterfundene des Scherzes und die Spitzkugeln, mit denen man sich traf, die des Witzes waren.

Oft kam Hugo in Selbstgesprächen, ähnlich demjenigen, welches wir zu Anfang dieses Capitels mittheilten, auf den Entschluß zurück, seine Abreise zu beschleunigen. Vielleicht mochte er ein neues Motiv dafür in jener immer deutlicher sich zeigenden Metamorphose sehen, die in der jungen Comtesse vorging, vielleicht noch ein weiteres in einer solchen, die, wie er wohl fühlte, in ihm selbst vorzugehen begann. Vielleicht auch waren diese Motive zugleich diejenigen, die ihn abhielten, seinen Entschluß auszuführen.

Er war offenbar in ein Dilemma gerathen, dessen Schlingen oft der Stärkste, wenn er sich erst darin gefangen hat, nicht zu zerreißen vermag. Er wollte Beschäftigung für seinen Geist, um sein Herz zu beruhigen, und fand nur Beschäftigung für das Herz, um den Geist zu beunruhigen; er strebte nach Freiheit und legte sich alle Tage neue Fesseln an; er wollte fort und blieb dennoch.



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