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Sie kommen von der Oberfläche der Erde, haben die Welt im Lichte des Himmels gesehen: das Pflaster der kleinen Stadt leuchtet golden in der Sonne. Vor ihrer Tür breitet die Haushälterin eine Strohmatte aus; durch die offene Tür dringt ein zufriedenes Schnarchen; auf dem dunklen Ofen, den goldene Linien und Kreise zieren, brodeln grüne Bohnen im kochenden Wasser. Die alte Strickerin sitzt mit gefalteten Händen daneben. Sie sieht den Kindern zu, die mit vielstimmigen Rufen ihre Spiele begleiten.
Jetzt sind Sie im Bergwerk, nun sehen Sie sich den Bewohner der Tiefe an!«
»Ich kann nichts sehen.«
»Warten Sie nur. Sie werden sich schon daran gewöhnen.«
»Es riecht schlecht. Aber dieser Geruch führt uns. Jetzt stehen wir vor einer großen schwarzen Masse. Eine Lore? Nein. Es geht eine laue Wärme von ihr aus. Es ist ein Geschöpf, das einem Pferde ähneln würde, wenn man es sehen könnte, einem lebendigen Pferde aus Fleisch und Knochen.
Natürlich hat es keinen Namen: dafür ist es hier zu finster. Machen wir Licht. Halt! Haben Sie eben die Ratten gesehen, die aus dem Freßtroge des Pferdes sprangen? Es frißt nie: das Futter ist zu schmutzig.«
»Wie kann es dann leben?«
»Das weiß man nicht, weil es nicht sprechen kann.«
»Es liegt auf den Schienen der Loren, die über einen Sumpf laufen. Wenn der Wagen darüberfährt, quillt das Wasser auf und spritzt über die Schienen. Die Füße des Pferdes sind von Geschwüren zerfressen: diese Krankheit heißt Fesselgeschwür oder Kröte. In Wahrheit gleichen die Hufe Kröten. Geschwüre und Krankheiten haben seine Zähne zerstört, seine Augen geblendet, und seine Haut ist fast gänzlich verfault. Es ist zu einem Teil des Schmutzes geworden, der alles einhüllt.
Das Pferd muß die leeren Loren in den Stollen ziehen und die gefüllten wieder zurück. Wenn es nicht immer wieder brutal vorwärtsgetrieben würde, machte es keinen Schritt, weil es zu müde ist.
Um es vorwärtszutreiben, öffnet man seine verfaulten Kinnbacken, die herunterhängen. Um die Zunge wird ihm ein Strick gebunden, an dem es vorwärtsgezogen wird. Das Pferd ist an viele Schmerzen gewöhnt, doch das Reißen an der Zunge tut ihm so weh, daß es aufspringt, trotzdem sein Fell durch die scharfen Steine abgeschürft ist und dicker Schmutz auf den offenen Wunden liegt. An einer Stelle wird der Gang so niedrig, daß es sich auf die Knie niederlassen und so die Loren ziehen muß. Stets wird es geschlagen.«
»Männer.«
Vor lauter Abschürfungen sieht man kaum noch die Haut. Alle Glieder weisen Wunden und tiefe Narben auf. Wenn Licht wäre, könnten wir sein rotes Herz sehen, so, wie in den Kirchen der falsche Gott sein gemaltes Herz zeigt. Aber es gibt kein Licht. Oben auf der Erde freut man sich über den wohltuenden Regen, den Wind, über den frischen Hauch des Wassers und die warme Sonne. Noch die Kälte ist manchmal eine Zärtlichkeit. Hier unten, wo man einst begraben sein wird, wohnen nur die Würmer und das alte Pferd.«
»Furchtbar!«
»Wie hübsch Sie das sagen. Aber das furchtbarste ist, daß es eine Menge solcher Pferde gibt, zehntausend allein in Frankreich. Wir wollen nicht verallgemeinern – das wäre dumm – und die Behauptung auf ›alle‹ ausdehnen, weil Ihnen dann eine einzige Ausnahme den Mund schließen würde. Aber wie viele unter diesen zehntausend Phantomen der Hölle werden noch die Kraft haben, sich einer Ratte zu erwehren? Wie vielen baumelt ein herausgerissenes Auge gerade noch an einem Hautfetzen? Wie viele sind überhaupt blind? Wie viele haben verfaulte Füße oder aufgerissene Flanken, wie eine mater dolorosa? Wie viele werden vor Schmerzen schreien? Selten schreit ein Pferd. Hier hört man es.«
»Das hier ruht wohl gerade aus?«
»Weil wir da sind: da ist es zu Boden gesunken. Aber es arbeitet vierundzwanzig Stunden am Tage.«
»Vierundzwanzig Stunden an einem Tag von vierundzwanzig Stunden?«
»Mathematisch genau, weil die Arbeiter in drei Schichten dieselben Tiere benutzen. Durch den ersparten Schlaf wird die lebendige Maschine bis zum Tode unablässig ausgenutzt. Das Ende kommt freilich schneller, doch verbürgt dieses System die rationellste Auswertung.«
»Wenn keine Pferde für die Arbeit da wären, müßte sie dann von Menschen ausgeführt werden?«
»Die Arbeit darf nicht zur Marter für jemanden werden.«
»Ist das Pferd nicht auch ›jemand‹?«
»Ja.
Ich habe mit einem Pferde das gleiche Mitleid wie mit einem Menschen.
Bitte seien Sie nicht empört. Was ich eben sagte, war ein instinktiver Aufschrei meines Gefühls. Aber ich kann es bewußt erläutern, denn ich bin ein Anhänger jener klaren kalten Schule, die Schreie ebenso erklärt wie Träume.
Vor längerer Zeit stellte ich fest, daß ich mit einem blinden, halbtoten Hund, den ich sah, ebenso starkes Mitleid empfinde wie mit einem blinden Menschen. Wenn ich es ganz genau ausdrücken wollte, möchte ich sogar sagen, daß ich für das Tier ein stärkeres Mitleid habe als für den Menschen.
Dafür lassen sich Gründe anführen, besonders, wenn wir die Frage verstandesmäßig untersuchen.
Der Mensch erhält sich aufrecht und läßt sich oft begeistern durch einen frommen Wahn. Wenn der Gläubige leiden muß, sagt er ›Um so besser‹ und wenn er stirbt ›Endlich‹. Oder er wird, wie wir, aufrechterhalten durch die Zuversicht und das Wissen, daß sein Leiden dazu hilft, die Menschen nicht mehr leiden zu lassen. Unsere Gekreuzigten, unsere Märtyrer klammern sich nicht mehr an ein symbolisches Kreuz, sondern an das Gerüst nackter Tatsachen. Sie wissen, daß sie mit der Wahrheit in drohendem Bunde sind. Manchem auf falschen Weg geratenen Menschen gibt der Alkohol Kraft.
Fast immer müssen wir Menschen leiden, weil wir Fehler begangen haben. Unsere Gedanken sind schuld oder Gesetze, die wir uns gefallen lassen, oder Verbrechen, die wir begehen oder an uns geschehen lassen. Das Tier glaubt und weiß nichts. Es kann von sich aus nicht handeln, ist also in Wahrheit unschuldig. Es leidet wegen der Menschen. Es kann für sein Leiden nicht, wohl aber du und ich. Aus diesem Grunde kann ich es nicht ertragen.
Denn ein Tier empfindet einen Schmerz ebenso stark wie ein Mensch. Wir Wesen sind alle gleich im Schreien, im Bluten und im Sterben. Unsere Werkzeuge zum Leiden bestehen aus Knochen, Fleisch, Nerven und Hirn. Und wenn auch das Tier zurückgeblieben, namenlos und kein gescheiter Kapitalist ist, hat es doch für Schmerz und Leid dasselbe Werkzeug wie wir. Im übrigen sind die Empfindungen und Gefühle des Menschen viel zu spitzfindig und verästelt geworden (man lese nur einen Roman eines jungen zeitgenössischen Schriftstellers). Sind mit dem Unbekannten verwebt, unklar und verseucht durch jene Krankheit unserer Zivilisation, die Kompliziertheit genannt wird. Die Gefühle eines Tieres, selbst sein Egoismus, sind rein und sündlos. Unsere Augen sind geschliffene kleine Glaskugeln, die Augen eines Tieres rohe Diamanten von wenig Feinheit, doch großer Durchsichtigkeit. Aber wir wollen nach dieser Abschweifung wieder zu dem Wesen zurückkehren, das weder Augen noch Licht hat. Fassen wir die Untersuchung zusammen: das Leben ist größer als alles und Belehrung, Überlegung, alle Meisterwerke, Psychologie und Superpsychologie sind nichts im Vergleich zum Leben. Das Leben ist untrennbar mit der Fähigkeit, zu leiden, und dem Rechte, nicht zu leiden, verbunden. In diesem großen Zusammenhang läßt sich eins vom anderen nicht trennen. Die Geschichte der Pferde ist die Geschichte der Menschen; wenn die Pferde nicht in Gewerkschaften zusammengeschlossen sind, wir sind es für sie. Proletarier aller Länder – auch ihr, die ihr noch unter der Menschheit steht – vereinigt euch! Dies Wort ist so wahr, daß ich noch bei dem geschundenen Leben und der Nacktheit verweilen will, anstatt mich wieder unter die Vollkommenen, die Gelehrten, die Glücklichen, unter die sogenannte Elite zu mischen, die seit ewigen Zeiten nichts anderes getan haben, wie die Masse der Armen zu knechten.«
»Alles Leben gehorcht seinen Gesetzen und nicht irgendwelchen Gefühlen.«
»Halt, Genosse! Darüber sind wir uns klar. Aber das Gefühl ist keine Ursache, sondern eine Folgeerscheinung. Es ist der innere Ausdruck einer Widersinnigkeit. Jede Abweichung erzeugt Auflehnung, Zorn und Güte. Die Abweichung nämlich von dem großen, beherrschenden Gesetz, das Ausbeutung verbietet und Achtung vor dem Leben verlangt.
So betrachte ich dieses zermarterte Fleisch wie die rote Fahne.
Früher gab es den heiligen Brauch des Sündenbockes. Alles Volk lud seine Sünden auf ein Tier ab, das es einem martervollen Tode weihte. Mich quälte schon immer die Unschuld dieses Sündenbockes. Machen wir uns nichts vor: auch wir hängen noch sehr an dem alten, grauenhaften Mythos.
Es wird erst anders werden, wenn das Gewissen der Sklaven wach geworden ist und sein eigenes Unglück nicht mehr an anderen Unglücklichen rächt.«