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Der Löwe

Hast du Todor gekannt?«

Er legte seine Hand auf die Zeitungen, die wir beide gelesen hatten. Wir saßen in einem Café.

»Ja. Das war ein Mann.«

»Wie war er denn?«

»Er war ein Mann. Ich will dir erzählen, wie ich mit Todor Panitza bei den Komitatschis war. Er war unser Woiwode. Stell' dir vor, der Kongreß von Firmine hatte unsere ganze Abteilung in den Bezirk Drama geschickt. Es war 1904. Drama war, falls du es nicht wissen solltest, die übelste Gegend von ganz Mazedonien. Auf der armen Bauernbevölkerung lastete die türkische Herrschaft, die Propaganda der Griechen, die Ausbeutung durch die griechischen Großgrundbesitzer und Händler und ein weitverzweigter Spitzeldienst. Die Kameraden sagten uns zum Abschied, zu unserer Ermutigung: ›Vielleicht treffen wir uns, wenn ihr wiederkommt. Aber ihr werdet wohl nicht wiederkommen.‹

Wir blieben zwei Jahre dort, alter Freund. Das ist allerhand für eine Komitatschibande, nicht? Aber unser Woiwode war auch ein Kerl! Durch ein paar schlaue Züge hetzte er die Ausbeuter gegeneinander auf, die Händler gegen die Spione. Freilich, er war auch nicht zimperlich. Ich denke an den Fall Kamburow, obwohl er die unschuldigen Angehörigen der Familie schonte. Anders machte er es mit Jantschoglu. Man riet ihm: ›Wirf ihn nieder!‹ doch gewann er ihn lieber durch Überredung. Er sei nicht gekommen, die Griechen, Türken und Bulgaren zu töten, ganz im Gegenteil wolle er sie gegen die türkische Tyrannei vereinigen; denn er sei ein Freund des geknechteten Mazedoniers. Und er gewann Jantschoglu, weil er von den armen Bauern gesprochen hatte. Ebenso Orumoglu und Bolgurew, die mächtigsten Mazedonier.

Unser Todor tötete niemals ohne Not. Er war ein Löwe und kein Kannibale. Er gab nicht zu, daß Domir Aga, der mächtigste Bey von Karliakowa, getötet wurde, trotzdem ihn die armen alten Hirten flehentlich darum gebeten hatten. Er ließ ihn nach Zahlung eines hohen Lösegeldes laufen und kam auf diese Weise besser weg.

Eines Tages stießen wir auf freiem Felde auf türkische Schnitter aus Bosdage. Du hättest ihr Gesicht sehen sollen, als sie unseren Reitertrupp wie aus heiterem Himmel vor sich sahen. Nun, wir haben diesen Schnittern, obwohl sie Türken waren, ihre Pistolen und ihr Essen wiedergegeben und hatten dabei mörderischen Hunger. Am nächsten Tag trafen Gendarmen auf dieselben türkischen Schnitter; die nahmen ihnen Waffen und Brot weg und ließen ihnen nichts als eine gehörige Tracht Prügel. Der Erfolg war, daß die Schnitter zu uns kamen und unsere Reihen auffüllten; bald waren sie ebenso begeisterte Anhänger unserer guten Sache wie wir selbst.

Todor wälzte Pläne in seinem Kopf, von denen wir beide uns gar keine Vorstellung machen können. So sagte er einmal zu den Bauern: ›Damit euch die Beys, die Großgrundbesitzer und die Aufkäufer nicht ausbeuten können, müßt ihr einen großen Teil eurer Ernte verstecken.‹ Das taten die Bauern. So konnte das Saatgut zu niedrigem Preis von den Bauern gekauft werden, anstatt von den reichen Ausbeutern genommen zu werden. Infolgedessen gerieten viele der Herren in Schulden und mußten den Bauern ihr Land verkaufen.

Kurz, er ›erzog‹ die Bauern, wenn man dies Wort gebrauchen will. Oft packte er einen und zog ihn beiseite: ›Weil du nicht weißt, was du für ein dummes Schaf bist, magst du weiterleben. Aber wenn du raubst und plünderst, wirst du in einer Viertelstunde baumeln.‹

Schließlich sagten die Leute über uns: ›Das sind also die Komitatschis, die man uns als Banditen hinstellen wollte.‹ Ja, so war es tatsächlich.

Er tröstete die Armen und kämpfte gegen die Mächtigen. Er verkaufte sein Hab und Gut, um uns Waffen und Heilmittel zu beschaffen. Zwanzig Jahre lebte er mit Herz und Hand nur für die mazedonische Befreiung.

In Todor Panitza war die Unabhängigkeit Mazedoniens verkörpert. Jeder weiß und es muß doch immer wieder gesagt werden: Er war der Schöpfer dieser Idee. Im Bezirk Serres, eigentlich überall, sah man in ihm die personifizierte nationale Freiheit. Es ist ja bekannt – auch du wirst es wissen – daß das ›Revolutionäre Mazedonische Komitee‹, das ursprünglich von Alexandrow, Panitza und Protogerow geleitet wurde, auseinanderfiel und die Autonomisten unter Protogerow schließlich zu bloßen Werkzeugen des bulgarischen Imperialismus wurden. Tschaulew wurde in Mailand ermordet, Raiko Daskalow in Prag. Alexandrow wurde von Protogerow umgebracht. Auch Panitza trachteten die Autonomisten nach dem Leben.

Ja, das war aber leichter gesagt als getan.

Zwar hatte Panitza sicher mehr kühne Taten vollbracht als er Haare auf seinem Kopf hatte; sein ganzes Leben war eine einzige Heldentat. Aber er hielt es trotzdem für ratsam, nach Wien zu gehen, wo er unter dem Schutz seiner Getreuen leben konnte.

Er war auf alles vorbereitet, stets wachsam, elastisch und hatte seinen Körper in der Gewalt, so daß eine direkte Gefahr für ihn nicht bestand. An Kraft konnte es keiner mit ihm aufnehmen, ebensowenig wie mit einem Löwen. Obendrein war er viel schlauer als seine Feinde.

In Wien lebten damals einige mehr oder weniger dunkle Existenzen, die bei Ministerien und der bulgarischen Gesandtschaft herumschmarotzten und aus den verschiedenen Geheimfonds unterhalten wurden. (So wird das Geld der Steuerzahler verwendet.) In diesem Kreise lebte auch ein junges Mädchen namens Mencia Karniciu. Sie war die Tochter eines verkrachten Wucherers, hatte liederlich gelebt, war häßlich und krank; in ihrer Dürrheit und mit ihrem blassen eingefallenen Gesicht sah sie wie ein ›großer weißer Affe‹ aus – sagte ein Kamerad, der sie einmal sah.

Sie bekam viel Geld und empfing genaue Instruktionen von der bulgarischen Gesandtschaft in Wien. Man nannte ihr sogar den neuen Namen Panitzas – Antonow –, der nur seinen vertrautesten Freunden bekannt war.

Sie verstand es, bei der Familie Panitzas Eingang zu finden. Sie erregte Panitzas Mitleid, gewann sein Vertrauen.

Eines Tages kaufte sie Theaterbilletts und erzählte, sie habe sie geschenkt bekommen.

Sie gingen alle miteinander hin: Panitza, seine Frau, ein Freund und Beschützer, der stets bei ihm war und Mencia Karniciu.

Sie hatte eine Loge im Burgtheater besorgt.

Es wurde ›Peer Gynt‹ gegeben, du kennst doch das Stück mit Musik, in dem ein Gewitter vorkommt. Dabei wird es auf der Bühne und im Zuschauerraum ganz finster. Durch das Dunkel zucken Blitze und der Donner rollt.

Du kannst dir denken, was jetzt in der Loge geschah: In der ersten Reihe saß er und neben ihm sein treuer Freund. Sie saß dahinter. Als das Gewitter losging, konnte sie unbemerkt aus ihrer Handtasche eine Pistole ziehen. Sie gab zwei Schüsse auf die Arme seines Begleiters ab, feuerte dann auf ihn, stand auf und ging hinaus. Während Panitza tödlich getroffen zu Boden sank, stürmte sein Begleiter, dessen Arme schlaff und unbeweglich herabhingen, der Karniciu nach und stieß mit einem Fußtritt die geschlossene Logentür auf. Die Mörderin wurde am Theatereingang verhaftet.

Du hast sie ja während der Gerichtsverhandlung gesehen. Dieses moralisch und körperlich verkommene Weib spielte unter dem Schutze von Geheimagenten und Polizisten eine verächtliche Komödie. Sie ließ sich auf einer Bahre in den Saal tragen. Sie mimte zugleich die Befreierin und die Todkranke, und sie hatte sich doch nur für Geld als Werkzeug Zankowscher Diplomatie gebrauchen lassen. Denn ihre Seele war genau so angefault wie ihr Körper.«

Als mein Gefährte zu Ende gesprochen hatte, zeigte er mir eine Notiz in einem Blatt der großen Weltpresse.

»In Wien wurde Mencia Karniciu zu acht Jahren Gefängnis verurteilt, aber ihres Gesundheitszustandes wegen zunächst freigelassen. In Bulgarien wurde ihr ein begeisterter Empfang zuteil; sie sprach in zahlreichen Meetings und wurde als bulgarische Charlotte Corday gefeiert.«

Auf solche Weise wird wieder und wieder Weltgeschichte gemacht – und so wird sie geschrieben.


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