Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Als Benassis mit seiner Erzählung fertig war, bemerkte er auf des Offiziers Gesicht einen tief nachdenklichen Ausdruck, der ihn überraschte. Es berührte ihn tief, so gut verstanden worden zu sein, und fast bereute er es, seinen Gast betrübt zu haben, und so sagte er zu ihm:
»Aber, Rittmeister Bluteau, mein Unglück . . .«
»Nennen Sie mich nicht Rittmeister Bluteau,« rief Genestas, den Arzt unterbrechend, und mit einer heftigen Bewegung, die eine Art innerer Unzufriedenheit verriet, plötzlich aufstehend. »Es gibt keinen Rittmeister Bluteau. Ich bin ein armseliger Mensch!«
Nicht ohne lebhafte Ueberraschung blickte Benassis Genestas an, der im Salon herumirrte wie eine Hummel, die aus einem Zimmer, in das sie versehentlich geraten, einen Ausweg sucht.
»Aber, wer sind Sie denn, mein Herr?« fragte Benassis.
»Ach, das ist's ja!« antwortete der Offizier, indem er sich wieder dem Arzte gegenübersetzte, den er nicht anzusehen wagte. »Ich habe Sie getäuscht!« fuhr er mit erregter Stimme fort. »Zum ersten Male in meinem Leben hab' ich mir eine Lüge zuschulden kommen lassen und bin tüchtig dafür bestraft worden; denn ich kann Ihnen nun nicht mehr den Grund meines Besuchs noch meiner verwünschten Spionage sagen! Seit ich sozusagen Ihre Seele habe durchblicken sehen, hätte ich lieber eine Ohrfeige kriegen als mich von Ihnen Rittmeister Bluteau nennen hören! Sie können mir diesen Betrug verzeihen, Sie; ich aber, ich werd' ihn mir nie vergeben, ich, Pierre-Joseph Genestas, der ich, um mein Leben zu retten, nicht vor einem Kriegsgerichte lügen würde!«
»Sie sind der Major Genestas?« rief Benassis, aufstehend.
Er ergriff des Offiziers Hand, drückte sie sehr freundschaftlich und sagte:
»So wären wir, wie Sie, mein Herr, vorhin behaupteten, Freunde, ohne uns zu kennen! Ich hab' aufs lebhafteste gewünscht, Sie zu sehen, wenn ich Monsieur Gravier von Ihnen reden hörte: ›Ein Mann aus Plutarch‹, sagte er zu mir von Ihnen.«
»Ich bin durchaus kein Mann aus Plutarch,« antwortete Genestas, »ich bin Ihrer unwürdig und möchte mich ohrfeigen! Ich mußte Ihnen ganz einfach mein Geheimnis anvertrauen. Aber nein! Ich habe gut daran getan, eine Maske vorzunehmen und selber herzukommen, um hier Erkundigungen über Sie einzuziehen! Ich weiß nun, daß ich schweigen muß. Hätte ich offen gehandelt, würde ich Ihnen Qual bereitet haben. Gott bewahre mich davor, daß ich Ihnen den geringsten Kummer verursache!«
»Aber, ich verstehe Sie nicht, Major!«
»Lassen wir's dabei bewenden. Ich bin nicht krank, habe einen schönen Tag verlebt und werde morgen meiner Wege gehen. Wenn Sie nach Grenoble kommen sollten, werden Sie dort einen Freund mehr finden, und das ist kein Freund zum Spaß. Geldbeutel, Säbel, Blut, alles steht Ihnen bei Pierre-Joseph Genestas zur Verfügung. Schließlich haben Sie Ihre Worte auf guten Grund gesät. Wenn ich meinen Abschied kriege, will ich in irgend so ein Loch gehen, dort Bürgermeister werden und Sie nachzuahmen suchen. Wenn mir Ihr Wissen fehlt, werd' ich studieren . . .«
»Sie haben recht, mein Herr; der Grundbesitzer, der seine Zeit dazu anwendet, einen einfachen Nutzungsfehler in einer Gemeinde zu verbessern, leistet seinem Lande ebenso gute Dienste wie der beste Arzt: wenn der eine einiger Menschen Schmerzen lindert, verbindet der andere die Wunden des Vaterlands. Doch Sie reizen meine Neugierde aufs höchste. Kann ich Ihnen denn irgendworin nützlich sein?«
»Nützlich?« sagte der Major mit bewegter Stimme. »Mein Gott, mein lieber Monsieur Benassis, der Dienst, den mir zu erweisen ich Sie bitten wollte, ist beinahe unmöglich. Sehen Sie, ich habe wohl Christenmenschen in meinem Leben getötet, doch kann man Leute töten und ein gutes Herz haben; so rauh ich auch erscheinen mag, kann ich doch gewisse Dinge verstehen . . .«
»Aber reden Sie!«
»Nein, freiwillig mag ich Ihnen keinen Schmerz bereiten.«
»Oh, Major, ich kann sehr viel ertragen!«
»Mein Herr,« sagte der Militär bebend, »es handelt sich um eines Kindes Leben . . .«
Benassis' Stirn faltete sich plötzlich, er forderte aber Genestas durch eine Gebärde zum Weiterreden auf.
»Ein Kind,« fuhr der Major fort, »das durch beständige und gewissenhafte Pflege noch gerettet werden kann. Wo aber soll man einen Arzt finden, der imstande wäre, sich einem einzigen Kranken zu widmen? Sicherlich in keiner Stadt. Ich hatte von Ihnen als von einem ausgezeichneten Manne reden hören, hatte aber Angst, von einem angemaßten Rufe getäuscht zu werden. Nun, ehe ich meinen Kleinen jenem Monsieur Benassis, von dem man mir so viele schöne Dinge erzählte, anvertraute, wollte ich ihn kennenlernen. Jetzt . . .«
»Genug,« sagte der Arzt. »Das Kind gehört also Ihnen?«
»Nein, mein lieber Monsieur Benassis, nein; um Ihnen dies Geheimnis zu erklären, müßte ich Ihnen eine Geschichte erzählen, in der ich nicht die schönste Rolle spiele; doch Sie haben mir Ihre Geheimnisse anvertraut, also kann ich Ihnen wohl auch meine sagen.«
»Warten Sie, Major,« sagte der Arzt, indem er Jacquotte rief, die sofort kam, und bei der er seinen Tee bestellte. »Sehen Sie, Major, abends, wenn alles schläft, schlafe ich nicht . . . All mein Kummer stürmt dann auf mich ein, und ich suche ihn dann beim Teetrinken zu vergessen. Dies Getränk verschafft mir eine Art nervösen Rauschzustandes, einen Schlaf, ohne den ich nicht leben würde. Wollen Sie immer noch keinen trinken?«
»Ich ziehe Ihren Eremitagewein vor,« erwiderte Genestas.
»Gut. – Jacquotte,« sagte Benassis zu seiner Haushälterin, »bringen Sie Wein und Biskuits. – Wir wollen uns für die Nacht berauschen,« fuhr der Arzt, sich an seinen Gast wendend, fort.
»Der Tee muß Ihnen doch sehr schaden!« sagte Genestas.
»Er verursacht mir furchtbare Gichtanfälle, aber ich könnte von dieser Gewohnheit nicht lassen, sie ist zu süß, sie verschafft mir allabendlich einen Augenblick, währenddessen das Leben weniger drückend ist . . . Nun, ich höre Ihnen zu. Ihre Erzählung wird vielleicht den allzu lebhaften Eindruck der Erinnerungen, die ich eben wachgerufen habe, mildern . . .«
»Mein lieber Herr,« sagte Genestas, sein leeres Glas auf den Kamin stellend, »nach dem Rückzuge von Moskau erholte sich mein Regiment in einem kleinen Dorfe Polens. Wir kauften uns dort für ein Sündengeld neue Pferde und blieben bis zu des Kaisers Rückkunft daselbst in Garnison. Nun, da ging's uns gut! Ich muß Ihnen sagen, daß ich damals einen Freund hatte. Während des Rückzuges wurde ich mehr als einmal durch die Sorgfalt eines Unteroffiziers namens Renard gerettet, der für mich Dinge tat, woraufhin zwei Männer außerhalb der Forderungen der Disziplin Brüder sein müssen. Wir waren zusammen in dem gleichen Hause untergebracht, in einem jener aus Holz gezimmerten Rattenlöcher, wo eine ganze Familie hauste und Sie gemeint hätten, kein Pferd einstellen zu können. Diese elende Hütte gehörte Juden, die ihre sechsunddreißig Gewerbe darin ausübten, und der alte Judenvater, dessen Finger nicht zu steif geworden waren, um Gold anzufassen, hatte während unseres Rückzuges gute Geschäfte gemacht. Diese Leute da leben im Dreck und sterben im Golde. Ihr Haus war über Kellern aus Holz, wohlverstanden, erbaut, in welche sie ihre Kinder gesteckt hatten, und vor allem eine Tochter, die schön war, wie eine Jüdin, wenn sie sich sauber hält und nicht blond ist. Die war siebzehnjährig, weiß wie Schnee, hatte Samtaugen, Wimpern schwarz wie Rattenschwänze, glänzende dichte Haare, die zum Streicheln lockten; ein wirklich vollkommenes Geschöpf! Kurz, mein Herr, ich bemerkte als erster diese eigenartigen Vorräte eines Abends, als man mich schlafen wähnte und ich, mich auf der Straße ergehend, in Frieden meine Pfeife rauchte. Wie eine Hundebrut krabbelten die Kinder alle durcheinander. Das war lustig anzusehen. Vater und Mutter aßen mit ihnen zu Abend. Nach langem Hinsehen entdeckte ich in den Rauchschwaden, die der Vater mit seinem Pfeifenqualm hervorrief, die junge Jüdin, die wie ein funkelnagelneuer Napoleon aus einem Haufen grober Sous hervorleuchtete. Ich, mein lieber Benassis, habe nie Zeit gehabt, über die Liebe nachzudenken; doch als ich das junge Mädchen sah, begriff ich, daß ich bis dahin nur der Natur nachgegeben hatte; diesmal aber war alles dabei: Kopf, Herz und der Rest. Ich verliebte mich also vom Kopf bis zu Füßen, oh, aber heftig! Meine Pfeife rauchend, blieb ich da stehen, mit dem Anschauen der Jüdin beschäftigt, bis sie ihre Kerze ausgeblasen und sich schlafen gelegt hatte. Es war mir nicht möglich, ein Auge zuzumachen! Ich blieb die ganze Nacht über auf, stopfte meine Pfeife, rauchte sie und ging die Straße auf und ab. So was hatte ich noch nie erlebt. Es war das einzige Mal in meinem Leben, daß ich ans Heiraten dachte. Als es Tag wurde, sattelte ich mein Pferd und trabte zwei gute Stunden lang durchs Feld, um wieder frisch zu werden, und ohne es zu merken, hatte ich mein Tier fast lahm geritten . . .«
Genestas hielt inne, sah seinen neuen Freund mit unruhiger Miene an und sagte zu ihm:
»Entschuldigen Sie, Benassis, ich bin kein Redner, ich spreche, wie mir der Schnabel gewachsen ist; wenn ich in einem Salon wäre, würde ich mich genieren, aber vor Ihnen und auf dem Lande . . .«
»Fahren Sie fort,« sagte der Arzt.
»Als ich in mein Zimmer zurückkam, fand ich Renard in voller Tätigkeit. Da er mich im Duell getötet wähnte, putzte er seine Pistolen und hatte die Absicht, mit dem, der mich ins Grab gebracht, einen Streit vom Zaune zu brechen . . . Oh, aber das war ganz des Verschmitzten Charakter! Ich vertraute Renard meine Liebe an und zeigte ihm die Kinderschar. Da mein Renard die Mundart der wunderlichen Käuze dort verstand, bat ich ihn, mir behilflich zu sein, dem Vater und der Mutter meine Anträge zu machen und zu versuchen, eine Verbindung mit Judith herzustellen. Sie hieß nämlich Judith. Kurz, mein Herr, vierzehn Tage lang war ich der glücklichste aller Männer, weil der Jude und seine Frau uns allabendlich mit Judith zusammen essen ließen. Sie kennen sich in solchen Sachen aus, und ich will Sie damit nicht weiter ungeduldig machen; wenn Sie indessen für den Tabak nichts übrig haben, so kennen Sie auch das Vergnügen eines braven Mannes nicht, der mit seinem Freunde Renard und dem Vater des Mädchens zusammen angesichts der Prinzessin friedlich seine Pfeife raucht. Das ist sehr angenehm. Doch muß ich Ihnen sagen, Renard war ein Pariser, ein Sohn aus gutem Hause. Sein Vater, der einen großen Spezereienhandel betrieb, hatte ihn für den Advokatenstand bestimmt, und er hatte einiges Wissen; als ihn jedoch die Konskription erwischt hatte, mußte er der Schreibstube ade sagen. Uebrigens, wie geschaffen dazu, die Uniform zu tragen, hatte er ein Gesicht wie ein junges Mädchen, und verstand sich vortrefflich darauf, die Leute einzuwickeln. Ihn liebte Judith, die sich aus mir soviel wie ein Pferd aus gebratenen Tauben machte! Während ich mich begeisterte und bei Judiths Anblick in höheren Regionen schwebte, benahm sich mein Freund Renard, der seinen Namen Fuchs (Renard) nicht gestohlen hatte, wissen Sie, ganz irdisch. Der Verräter verstand sich mit dem Mädchen, und zwar so gut, daß sie sich nach der Landessitte verheirateten, weil es zu lange gedauert hätte, bis die Einwilligungen würden eingetroffen sein. Er versprach aber, sie nach dem französischen Gesetz zu heiraten, wenn die Heirat etwa angefochten werden sollte. Tatsache ist, daß Madame Renard in Frankreich wieder Mademoiselle Judith wurde. Hätt' ich's gewußt, würd' ich Renard getötet haben, und das, ohne ihm Zeit zum Schnaufen zu lassen; aber Vater, Mutter, Tochter und mein Unteroffizier, all das verstand sich untereinander wie Diebe auf dem Jahrmarkte. Während ich meine Pfeife rauchte, Judith wie einen Abendmahlskelch anbetete, machte mein Renard seine Stelldicheins ab und betrieb seine Liebesangelegenheiten wohl . . . so wohl . . .
Sie sind der einzige Mensch, mit dem ich über diese Geschichte, die ich eine Ruchlosigkeit nenne, gesprochen habe. Immer hab' ich mich gefragt, warum ein Mann, der vor Scham stürbe, wenn er ein Goldstück fortnehmen würde, seinem Freunde ohne Gewissensbisse die Frau, das Glück und das Leben stiehlt. Kurz, meine Schelme waren verheiratet und glücklich, während ich immer abends beim Essen dort saß, wie ein Trottel, Judith bewunderte, und wie ein Tenor die Blicke erwiderte, die sie mir zuwarf, um mir Sand in die Augen zu streuen. Sie können sich wohl denken, daß sie ihre Täuschungen sehr teuer bezahlt haben. Bei meinem Ehrenwort! Gott schenkt den Dingen dieser Welt viel mehr Aufmerksamkeit, als wir glauben. Schon überflügeln uns die Russen. Der Feldzug von 1813 fängt an. Wir sind überfallen worden. Eines schönen Morgens kommt der Befehl, wir sollen uns zu einer festgesetzten Stunde auf dem Schlachtfelde von Lützen einfinden. Der Kaiser wußte genau, was er tat, als er uns sofort aufzubrechen befahl. Die Russen hatten uns umzingelt. Unser Oberst ist so kopflos, einer Polin, die eine Achtelmeile vor der Stadt wohnte, Lebewohl sagen zu wollen, und die Vorhut der Kosaken packt ihn gerade dabei, ihn und sein Pikett. Wir haben nur Zeit zum Aufsitzen, uns vor der Stadt zu formieren, um ein Kavalleriescharmützel zu liefern und meine Russen zurückzutreiben, um uns während der Nacht drücken zu können. Zwei Stunden lang haben wir Angriffe gemacht und wahre Kraftstücke verrichtet. Während wir uns schlugen, nahmen das Gepäck und unser Material die Spitze. Wir hatten einen Artilleriepark und große Pulvervorräte, die der Kaiser bitter nötig hatte, wir mußten sie ihm um jeden Preis bringen. Unsere Verteidigung machte Eindruck auf die Russen, die uns von einem Armeekorps unterstützt wähnten. Nichtsdestoweniger wurden sie bald von ihren Spähern über ihren Irrtum aufgeklärt und erfuhren, daß sie es nur mit einem Kavallerieregiment und unseren Infanteriedepots zu tun hatten. Da, mein Herr, machten sie gegen Abend einen Angriff, um alles zu vernichten, und zwar einen so hitzigen, daß viele von uns dort geblieben sind. Wir wurden umzingelt. Ich war mit Renard in vorderster Reihe und sah meinen Renard sich wie einen Teufel schlagen und angreifen; denn er dachte an sein Weib. Ihm war's zu verdanken, daß wir die Stadt erreichen konnten, die unsere Kranken in Verteidigungszustand versetzt hatten; aber es war jammervoll! Wir kehrten als die letzten zurück, er und ich; fanden unseren Weg durch einen Haufen Kosaken versperrt, und wir ritten hinein. Einer der wilden Kerle will mich mit seiner Lanze kitzeln, Renard sieht es, treibt, um den Stich abzuwehren, sein Pferd zwischen uns beide. Sein armes Tier, ein schöner Gaul, meiner Treu!, erhielt den Stoß und reißt, zu Boden fallend, Renard und den Kosaken mit sich. Ich töte den Kosaken, packe Renard beim Arm und lege ihn wie einen Mehlsack vor mich quer über mein Pferd.
›Ade, Hauptmann, alles ist zu Ende . . .‹ sagt Renard zu mir.
›Nein,‹ antworte ich ihm, ›wir wollen sehen.‹
Ich war da in der Stadt, springe ab und setze ihn in eine Hausecke auf ein bißchen Stroh. Sein Schädel war eingeschlagen worden, das Hirn hing in den Haaren und er redete! . . . Oh, er war ein tapferer Mann!
›Wir sind quitt!‹ sagte er. ›Ich habe Ihnen mein Leben gegeben, ich hatte Ihnen Judith genommen. Tragen Sie Sorge für sie und ihr Kind, wenn sie eins hat. Im Uebrigen heiraten Sie sie.‹
In der ersten Erregung, mein Herr, ließ ich ihn dort liegen wie einen Hund; als meine Wut aber verraucht war, kehrte ich zurück . . . Er war tot. Die Kosaken hatten Feuer an die Stadt gelegt; da erinnerte ich mich Judiths, suchte sie also, ließ sie hinter mir aufsitzen und erreichte dank der Schnelligkeit meines Pferdes das Regiment, das seinen Rückzug bewerkstelligt hatte. Was den Juden und seine Familie anlangte: kein Mensch war mehr da, alles wie Ratten verschwunden. Judith allein wartete auf Renard; anfangs, Sie verstehen, hab' ich ihr nichts gesagt. Ich mußte inmitten all der unglücklichen Ereignisse des Feldzugs von 1813 an dies Weib denken, sie unterbringen, für ihre Bequemlichkeit sorgen, kurz, sie pflegen, und ich glaube, sie hat nicht viel gemerkt von dem Zustande, in welchem wir uns befanden. Ich achtete darauf, daß sie immer zehn Meilen vor uns auf dem Wege nach Frankreich war; während wir uns bei Hanau schlugen, ist sie mit einem Jungen niedergekommen. In dieser Schlacht wurde ich verwundet, in Straßburg stieß ich zu Judith, dann kehrte ich nach Paris zurück; denn ich habe das Unglück gehabt, während der Kampagne in Frankreich im Bett zu liegen. Ohne diesen traurigen Zufall wäre ich zu den Gardegrenadieren gekommen, der Kaiser hatte mir die Beförderung versprochen. Kurz, mein Herr, ich bin also gezwungen gewesen, eine Frau zu unterhalten, ein Kind, das nicht mir gehörte, und hatte drei zerschossene Rippen! Sie verstehen, daß mein Sold nicht Frankreich war. Vater Renard, ein alter zahnloser Menschenhai, wollte von seiner Schwiegertochter nichts wissen; der Judenvater war mittellos geworden. Judith verging vor Kummer. Eines Morgens weinte sie, als sie meinen Verband fertigmachte.
›Judith,‹ sagte ich zu ihr, ›Ihr Kind ist verloren . . .‹
›Und ich auch!‹ erwiderte sie.
›Bah,‹ antwortete ich, ›wir wollen die nötigen Papiere kommen lassen, ich werde Sie heiraten und es als das meinige anerkennen, das Kind von . . .‹
Ich habe nicht zu Ende sprechen können . . . Ach, mein lieber Herr, alles kann man tun, um den Todesblick zu empfangen, mit dem Judith mir dankte; ich sah, daß ich sie immer lieben würde, und von dem Tage an hatte ihr Kleiner seinen Platz in meinem Herzen. Während die Papiere, Judenvater und -mutter unterwegs waren, starb die arme Frau vollends. Am Abend vor ihrem Tode besaß sie die Kraft, sich anzuziehen, zu schmücken, alle üblichen Zeremonien zu vollziehen und den Haufen Papiere zu unterschreiben, den sie haben; als dann ihr Kind einen Vater und einen Namen hatte, legte sie sich wieder hin, ich küßte sie auf Stirn und Hände, dann starb sie. Das war meine Hochzeit! Nachdem ich einige Fuß Erde gekauft hatte, worin das arme Mädchen begraben wurde, sah ich mich am übernächsten Tage als Vater eines Waisenkindes, das ich während des Feldzuges von 1815 in Pflege gab. Seit der Zeit habe ich, ohne daß jemand meine Geschichte wußte, die nicht schön zu erzählen ist, für den kleinen Schelm gesorgt, wie wenn er mir gehörte. Sein Großvater ist zum Teufel, ist ruiniert und läuft mit seiner Familie zwischen Rußland und Persien hin und her. Er hat Aussichten, zu Vermögen zu kommen, denn er versteht sich, scheint's, auf den Handel mit kostbaren Steinen. Ich habe das Kind ins Gymnasium getan; unlängst aber habe ich ihn so fleißig in seinen mathematischen Fächern manövrieren lassen, um ihn ans Polytechnikum schicken zu können und von dort mit einem guten Examen abgehen zu sehen, daß das arme brave Kerlchen krank geworden ist. Er hat eine schwache Brust. Nach Meinung der Pariser Aerzte würd' es noch Rettung für ihn geben, wenn er schnell in die Berge ginge und ordentlich und in jedem Augenblick von einem gutwilligen Manne gepflegt werden würde. Ich hatte also an Sie gedacht, und war gekommen, um Bekanntschaft mit Ihren Ideen und Ihrer Lebensweise zu machen. Nach dem, was Sie mir gesagt haben, würde ich Ihnen diesen Schmerz nicht antun, obwohl wir bereits gute Freunde sind.«
»Major,« sagte Benassis nach einem Augenblick des Schweigens, »bringen Sie mir Judiths Kind. Sonder Zweifel will Gott, daß ich diese letzte Prüfung bestehe, und ich werde mich ihr unterziehen. Dies Leiden will ich dem Gotte darbringen, dessen Sohn am Kreuze gestorben ist. Uebrigens ist meine innere Erregung während Ihrer Erzählung süß gewesen, ist das nicht eine gute Vorbedeutung?«
Genestas drückte Benassis' beide Hände lebhaft, ohne einige Tränen unterdrücken zu können, die seine Augen feuchteten und über seine braunen Backen rannen.
»Behalten wir das alles für uns,« sagte er.
»Ja, Major . . . Sie haben nicht getrunken?«
»Ich habe keinen Durst,« antwortete Genestas, »ich bin ganz dumm!«
»Nun, wann wollen Sie ihn mir bringen?«
»Morgen schon, wenn Sie wollen. Er ist seit zwei Tagen in Grenoble.«
»Gut, reiten Sie morgen früh und kommen Sie wieder; ich werde Sie bei der Fosseuse erwarten, wo wir alle vier zusammen frühstücken wollen.«
»Abgemacht!« sagte Genestas.
Die beiden Freunde legten sich schlafen, indem sie sich gegenseitig eine gute Nacht wünschten. Als Genestas auf dem Treppenabsatz war, der ihre Zimmer trennte, stellte er sein Licht aufs Fensterbrett und trat auf Benassis zu.
»Gottsdonner!« rief er mit einer naiven Begeisterung, »ich will Sie heute abend nicht verlassen, ohne Ihnen zu sagen, daß Sie, als dritter unter den Christen, mir begreiflich gemacht haben, daß es da oben etwas gibt!«
Und er zeigte gen Himmel.
Der Arzt antwortete mit einem Lächeln voller Melancholie und drückte sehr liebevoll die Hand, die Genestas ihm hinstreckte.
Am folgenden Morgen brach der Major Genestas vor Tau und Tag nach der Stadt auf, und gegen Mittag des gleichen Tages befand er sich auf der großen Straße von Grenoble nach dem Flecken, auf der Höhe des Fußpfades, der zur Fosseuse führte. Er saß in einem jener offenen vierräderigen Wagen, die von einem Pferde gezogen werden, einem leichten Wagen, wie man sie auf allen Straßen solcher Gebirgsländer trifft. Als Begleiter hatte Genestas einen mageren und kümmerlichen jungen Mann, der erst zwölfjährig zu sein schien, obwohl er in sein sechzehntes Lebensjahr eintrat. Ehe er ausstieg, hielt der Offizier nach verschiedenen Richtungen Umschau, um auf den Feldern einen Bauern zu entdecken, der es auf sich nähme, den Wagen zu Benassis zu bringen; denn die Engigkeit des Pfades ließ es nicht zu, ihn bis nach dem Hause der Fosseuse zu fahren. Der Feldhüter bog zufällig in den Weg ein und befreite Genestas aus der Verlegenheit, und dieser konnte nun mit seinem Adoptivsohn zu Fuß auf den Gebirgspfaden den Ort des Stelldicheins erreichen.
»Wirst du nicht froh sein, Adrien, ein Jahr lang in diesem schönen Lande herumzustreifen und jagen und reiten zu lernen, anstatt über deinen Büchern blaß zu werden? He, sieh dir das mal an!«
Adrien warf auf das Tal den müden Blick eines kranken Kindes; aber gleichgültig, wie es alle jungen Leute Naturschönheiten gegenüber sind, sagte er, ohne im Gehen innezuhalten: »Sie sind sehr gut, lieber Vater.«
Genestas' Herz krampfte sich bei dieser krankhaften Gleichgültigkeit zusammen, und er erreichte das Haus der Fosseuse, ohne weiter das Wort an seinen Sohn gerichtet zu haben.
»Sie sind pünktlich, Major!« rief Benassis, von der Holzbank aufstehend, auf der er gesessen hatte.
Aber er nahm alsbald wieder seinen Platz ein und verharrte ganz nachdenklich, als er Adrien sah. Langsam studierte er dessen gelbes und müdes Gesicht, nicht ohne die schönen ovalen Linien zu bewundern, die in dieser edlen Physiognomie vorherrschten. Das Kind, ein lebendes Abbild seiner Mutter, besaß ihren ins olivenfarbene spielenden Teint und ihre schönen schwarzen, geistvoll melancholischen Augen. Alle Kennzeichen jüdisch-polnischer Schönheit fanden sich in diesem dichtbehaarten Kopfe vereinigt, der zu groß für den zarten Körper war, dem er angehörte.
»Schläfst du gut, mein kleiner Mann?« fragte ihn Benassis.
»Ja, mein Herr.«
»Zeig' mir deine Knie, zieh dein Beinkleid hoch.«
Adrien löste errötend seine Strumpfbänder und zeigte sein Knie, das der Arzt sorgsam abtastete.
»Schön. Sprich, schrei, schrei laut!«
Adrien schrie.
»Genug! Gib mir deine Hände.«
Der junge Mann streckte ihm weiche und weiße Hände hin, die blaugeädert waren wie die einer Frau.
»Auf welchem Gymnasium warst du in Paris?«
»Im Saint-Louis-Gymnasium.«
»Las euer Direktor nicht in seinem Breviere während der Nacht?«
»Ja, mein Herr.«
»Du schliefst also nicht die ganze Nacht?«
Da Adrien nicht antwortete, sagte Genestas zum Arzte: »Der Direktor ist ein würdiger Priester, er hat mir geraten, meinen kleinen Mosjö seiner Gesundheit wegen fortzunehmen.«
»Nun wohl,« antwortete Benassis, einen leuchtenden Blick in Adriens zitternde Augen tauchend, »es gibt noch Hilfe. Jawohl, wir werden einen Mann aus dem Kinde hier machen. – Wir wollen wie zwei Kameraden zusammen leben, mein Junge. Werden früh schlafen gehen und zeitig aufstehen. – Ich werde Ihren Sohn das Reiten lehren, Major. Nach ein oder zwei Monaten, die wir der Wiederherstellung des Magens durch eine Milchkur widmen wollen, werd' ich für ihn einen Waffenschein und eine Jagderlaubnis ausstellen; ich will ihn Butifers Händen übergeben, und sie sollen beide auf die Gemsenjagd gehen. Gewähren Sie Ihrem Sohne vier oder fünf Monate Landaufenthalt, und Sie sollen ihn nicht wiedererkennen, Major. Butifer wird glückselig sein! Ich kenne den Wanderfalken, er soll dich bis in die Schweiz führen, mein kleiner Freund, quer durch die Alpen; er wird dich auf die Spitzen hinaufziehen und dich in sechs Monaten sechs Zoll wachsen machen; er wird deine Wangen rot färben, deine Nerven stählen und dich eure schlechten Gymnasiumsgewohnheiten vergessen lassen. Dann kannst du deine Studien wieder aufnehmen und wirst ein Mann werden. Butifer ist ein ehrenwerter Bursche, wir können ihm die notwendige Summe, um eure Reise- und Jagdkosten zu bestreiten, anvertrauen; seine Verantwortlichkeit wird ihn mir für ein halbes Jahr vernünftig machen und für ihn wird das ebensoviel Gewinn bedeuten.«
Genestas' Gesicht schien sich bei jedem Worte des Arztes mehr und mehr aufzuklären.
»Gehen wir frühstücken. Die Fosseuse brennt vor Ungeduld, dich zu sehen,« sagte Benassis, Adrien einen leichten Klaps auf die Wange gebend.
»Er ist also nicht lungenleidend?« fragte Genestas den Arzt, ihn beim Arme nehmend und beiseite führend.
»Nicht mehr als Sie und ich.«
»Aber was hat er?«
»Bah!« antwortete Benassis, »er ist in den bösen Jahren, das ist alles.«
Die Fosseuse zeigte sich auf ihrer Türschwelle, und Genestas sah nicht ohne Ueberraschung ihre zugleich einfache und kokette Kleidung. Das war nicht mehr die Bäuerin des Vortages, sondern eine elegante und anmutige Pariserin, die ihm Blicke zuwarf, denen gegenüber er sich schwach fühlte. Der Soldat wandte die Augen auf einen Nußbaumtisch ohne Tischtuch, der aber so gut gebohnt war, daß er wie gefirnist aussah, und auf dem Eier, Butter, eine Pastete und duftende Walderdbeeren standen. Ueberall hatte das arme Mädchen Blumen hingestellt, die erkennen ließen, daß dieser Tag ein Festtag für sie war. Bei diesem Anblick konnte der Major nicht umhin, Sehnsucht nach diesem bescheidenen Haus und dem Grasgarten zu empfinden; er blickte das Mädchen mit einer Miene an, die zugleich Hoffnungen und Zweifel ausdrückte; dann ließ er seinen Blick wieder auf Adrien fallen, dem die Fosseuse Eier vorsetzte, und beschäftigte sich mit ihm, um seine Haltung zu bewahren.
»Wissen Sie, Major,« sagte Benassis, »um welchen Preis Sie hier Gastfreundschaft genießen? Sie müssen meiner Fosseuse etwas vom Soldatenleben erzählen.«
»Erst soll der Herr ruhig frühstücken; wenn er aber seinen Kaffee getrunken . . .«
»Das will ich gewiß gern tun,« antwortete der Major, »nichtsdestoweniger stelle ich eine Bedingung für meine Erzählung: Sie werden uns ein Erlebnis aus Ihrer früheren Existenz erzählen, nicht wahr?«
»Aber, mein Herr,« antwortete sie, rot werdend, »mir ist niemals etwas begegnet, was sich der Mühe verlohnte, erzählt zu werden. – Willst du noch ein bißchen von der Reispastete da, mein kleiner Freund?« fragte sie, als sie Adriens Teller leer sah.
»Ja, mein Fräulein!«
»Die Pastete ist köstlich,« sagte Genestas.
»Was werden Sie erst zu ihrem Sahnekaffee sagen?« rief Benassis.
»Lieber möcht' ich unsere hübsche Wirtin hören!«
»Ei, was ist mir das für ein Benehmen, Genestas?« sagte Benassis. – »Höre, mein Kind,« fuhr der Arzt, sich an die Fosseuse wendend, fort, »der Offizier, den du hier bei dir siehst, verbirgt ein ausgezeichnetes Herz unter einer strengen Außenseite, und du kannst hier nach deinem Belieben reden. Sprich oder schweig, wir wollen dir nicht lästig fallen. Wenn du aber je angehört und verstanden werden kannst, armes Kind, so gewißlich von den drei Leuten, mit denen du im Augenblick zusammen bist. Erzähle nur deine früheren Liebesgeschichten, dann wirst du deinen augenblicklichen Herzensgeheimnissen nichts entziehen.«
»Da bringt uns Mariette den Kaffee,« antwortete sie. »Wenn Sie sich alle bedient haben, will ich Ihnen gern meine Liebesgeschichten erzählen. – Doch der Herr Major wird auch sein Versprechen nicht vergessen?« fuhr sie fort und warf Genestas einen gleichzeitig bescheidenen und herausfordernden Blick zu.
»Dessen bin ich unfähig, mein Fräulein,« antwortete Genestas respektvoll.
»Mit sechzehn Jahren«, sagte die Fosseuse, »sah ich mich, obgleich ich schwächlich war, genötigt, mein Brot auf den Straßen Savoyens zu erbetteln. Ich schlief in Échelles, in einer großen, mit Stroh angefüllten Krippe. Der Gastwirt, der mich dort hausen ließ, war ein guter Mann, seine Frau aber konnte mich nicht ausstehen und beschimpfte mich stets. Das bereitete mir große Not; denn ich war kein schlechtes Bettelweib. Abends und morgens betete ich zu Gott, stahl nicht, ging auf des Himmels Geheiß und bat um etwas Essen, weil ich nichts tun konnte; denn ich war wirklich krank und gänzlich unfähig, eine Hacke aufzuheben oder Wolle abzuspulen. Nun, ich wurde um eines Hundes willen aus der Wirtschaft weggejagt. Seit meiner Geburt ohne Eltern und ohne Freunde, hatten mich niemals Blicke getroffen, die mir wohlgetan hätten. Die gute Frau Morin, die mich aufgezogen hatte, war tot; sie war recht gut zu mir gewesen, aber an ihre Liebkosungen erinnere ich mich kaum mehr. Die arme Alte verrichtete Landarbeit wie ein Mann; und wenn sie mich auch hätschelte, so kriegte ich doch Hiebe mit der Schöpfkelle auf die Finger, wenn ich allzu schnell unsere Suppe aus ihrem Napfe löffelte. Arme Alte! Es vergeht nicht ein Tag, wo ich sie nicht in meine Gebete mit einschließe! Möge der liebe Gott ihr da droben ein glücklicheres Leben als hienieden verleihen, vor allem ein besseres Bett; denn sie beklagte sich stets über die schlechte Matratze, auf der wir zusammen schliefen. Sie können es sich nicht vorstellen, meine lieben Herren, wie einem das die Seele verwundet, wenn man nichts wie Beleidigungen, barsche Abweisungen und Blicke erntet, die einem das Herz durchbohren, wie wenn man Messerstiche versetzt bekäme. Häufig bin ich armen alten Leuten begegnet, denen das alles nichts mehr ausmachte, doch ich war für einen solchen Beruf nicht geboren worden. Ein Nein hat mich immer weinen gemacht. Jeden Abend kam ich trauriger zurück und tröstete mich erst, wenn ich meine Gebete gesprochen hatte. Kurz, in der ganzen Schöpfung Gottes gab's nicht ein einziges Herz, dem ich das meine anvertrauen konnte. Nur das Blau des Himmels hatte ich zum Freunde. Wenn der Wind die Wolken fortgefegt, legte ich mich in eine Felsenecke und blickte in den Himmel. Dann träumte mir, ich wäre eine feine Dame. Vom vielen Hinsehen glaubte ich mich in jenem Blau gebadet; in Gedanken lebte ich dort oben, fühlte nichts Drückendes mehr, ich stieg, stieg und wurde ganz froh. Um auf meine Liebesgeschichten zurückzukommen, muß ich Ihnen sagen, daß der Gastwirt von seiner Hündin einen kleinen Hund gekriegt hatte, der artig wie ein Menschenwesen, und weiß und an den Pfötchen schwarzgefleckt war. Ich seh' ihn noch immer, den reizenden kleinen Kerl! Dieser arme Kleine ist das einzige Geschöpf, das mir in jenen Zeiten freundschaftliche Blicke zugeworfen hat; ich hob ihm meine besten Bissen auf, er kannte mich, lief mir des Abends entgegen, schämte sich meines Unglücks nicht, sprang an mir hoch und leckte meine Füße. Er hatte in seinen Augen etwas so Gutes, so Dankbares, daß ich oft weinte, wenn ich ihn ansah.
›Das ist also das einzige Wesen, das mich herzlich lieb hat!‹ sagte ich.
Im Winter schlief er zu meinen Füßen. Ich litt so sehr, wenn ich sah, daß man ihn prügelte, daß ich ihn daran gewöhnt hatte, nicht mehr in die Häuser zu laufen, um dort Knochen zu stehlen, und er begnügte sich mit meinem Brote. War ich traurig, setzte er sich vor mich hin, blickte mir in die Augen und schien mir zu sagen:
›Du bist also traurig, meine arme Fosseuse?‹
Wenn Reisende mir Sous hinwarfen, hob er sie aus dem Staube auf und brachte sie mir, der gute Pudel! Wenn ich diesen Freund behalten hätte, wär' ich weniger unglücklich gewesen. Jeden Tag legte ich ein paar Sous beiseite, um fünfzig Franken zusammenzubekommen, damit ich ihn Vater Manseau abkaufen könnte. Als seine Frau eines Tages sah, daß der Hund mich liebte, tat sie, als ob sie in ihn vernarrt wäre. Denken Sie sich, der Hund konnte sie nicht leiden. Diese Tiere wittern die Seele! Sie sehen sofort, ob man sie liebhat. Ich hatte ein Zwanzigfrankenstück oben in meinen Unterrock eingenäht; da sagte ich denn zu Monsieur Manseau:
›Mein lieber Herr, ich rechnete damit, Ihnen meine Jahresersparnisse für Ihren Hund anbieten zu können, doch, ehe Ihre Frau ihn für sich haben will, obwohl sie sich kaum um ihn kümmert, verkaufen Sie ihn mir doch für zwanzig Franken; sehen Sie, hier sind sie!‹
›Nein, mein Kleinchen,‹ sagte er zu mir, ›behaltet Eure zwanzig Franken. Der Himmel bewahre mich davor, der Armen Geld zu nehmen! Behaltet den Hund. Wenn meine Frau zu sehr schreit, dann geht Ihr eben fort.‹
Seine Frau machte ihm des Hundes wegen einen Auftritt. Ach, mein Gott, man hätte meinen mögen, das Haus stände in Brand. Und können Sie sich denken, was sie aussann? Als sie sah, daß der Hund an mir hing, daß sie ihn niemals haben könnte, ließ sie ihn vergiften. Mein armer Pudel ist in meinen Armen gestorben . . . Ich hab' ihn beweint, wie wenn er mein Kind gewesen wäre, und hab' ihn unter einer Fichte begraben. Sie können sich nicht vorstellen, was ich alles in dieses Grab gelegt habe! Ich sagte mir, wenn ich mich dort hinsetzte, daß ich also immer allein auf Erden sein, daß mir nichts gelingen, daß ich jetzt wieder sein würde, wie ich vorher gewesen war: ohne ein Lebewesen auf Erden, und daß ich in keinem Blicke Freundschaft für mich lesen würde. Eine ganze Nacht bin ich dort unter dem schönen Sternenhimmel geblieben und habe zu Gott gebetet, er möge Mitleid mit mir haben. Als ich auf die Straße zurückkam, sah ich einen armen Kleinen von zehn Jahren, der keine Hände hatte.
›Der liebe Gott hat mich erhört!‹ dachte ich. – Nie hatte ich so gebetet, wie ich es in jener Nacht getan. – Ich will für diesen armen Kleinen sorgen, wir werden zusammen betteln und ich will seine Mutter sein. Zu zweit muß man mehr Erfolg haben, für ihn werd' ich vielleicht mehr Mut haben, als ich für mich allein besitze! Zuerst schien mir der Kleine zufrieden; es wäre ihm auch recht schwer gefallen, es nicht zu sein; denn ich tat alles, was er wollte, gab ihm das Beste, was ich hatte, kurz ich war sein Sklave und er tyrannisierte mich; doch das schien mir immer noch besser, als allein zu sein. Bah! sobald der kleine Trunkenbold wußte, daß ich oben in meinem Kleide zwanzig Franken hatte, hat er es aufgetrennt und mir mein Goldstück, den Preis für meinen armen Pudel, gestohlen. Ich wollte Messen dafür lesen lassen . . . Ein Kind ohne Hände! Das machte mich zittern. Dieser Diebstahl nahm mir den Lebensmut. Ich konnte also nichts lieben, alles verdarb mir unter den Händen! Eines Tages sah ich eine hübsche französische Kalesche kommen, welche die Steigung nach les Échelles hinauffuhr. Darinnen befand sich eine junge Dame, hübsch wie eine Jungfrau Maria, und ein ihr ähnlich sehender junger Mann.
›Sieh doch das hübsche Mädchen!‹ sagte der junge Mann und warf mir ein Geldstück zu.
Sie allein, Monsieur Benassis, können sich das Glück ausmalen, das mir dieses Kompliment bereitete, das einzige, das ich jemals gehört habe; doch der Herr hätte mir auch kein Geld hinwerfen sollen. Durch tausend unbekannte Gedanken, die mir den Kopf verdrehten, getrieben, fing ich sofort an, die Abkürzungspfade hinaufzulaufen, und da hatte ich in den Felsen von les Échelles bald den Wagen überholt, der ganz sacht hinauffuhr. Ich hab' den jungen Mann wiedersehen können; er ist ganz überrascht gewesen, mich wiederzufinden, und ich, ich war so froh, daß mir das Herz bis in die Kehle schlug; eine Art Instinkt zog mich zu ihm hin. Als er mich wiedererkannt hatte, hub ich von neuem zu laufen an, da ich mir wohl denken konnte, daß die junge Dame und er verweilen würden, um den Wasserfall von Couz zu sehen. Als sie heruntergekommen sind, haben sie mich nochmals unter den Nußbäumen des Weges gesehen; da sie scheinbar Anteil an mir nahmen, haben sie dann allerlei Fragen an mich gerichtet. Nie in meinem Leben hab' ich sanftere Stimmen gehört als die des jungen Mannes und seiner Schwester; denn sicherlich war sie seine Schwester. Ein Jahr lang hab' ich an sie gedacht, immer hoffte ich, sie würden wiederkommen. Zwei Jahre meines Lebens würd' ich hingegeben haben, nur um diesen Reisenden wiederzusehen, er schien so sanft! Das sind bis zu dem Tage, da ich Monsieur Benassis kennengelernt habe, die größten Ereignisse meines Lebens; denn als meine Herrin mich fortgeschickt hat, weil ich ihr elendes Ballkleid angezogen hatte, hab' ich Mitleid mit ihr empfunden und habe ihr verziehen, und bei meiner Mädchenehre, wenn Sie mir gestatten, frei heraus zu sprechen, ich habe mich für viel besser als sie gehalten, obwohl sie Gräfin war.«
»Nun,« sagte Genestas nach einem Augenblick des Schweigens, »Sie sehen, daß Gott Sie liebgewonnen hat, hier sind Sie, wie der Fisch im Wasser.«
Bei diesen Worten blickte die Fosseuse Benassis mit Augen voller Dankbarkeit an.
»Ich möchte reich sein!« sagte der Offizier.
Diesem Ausrufe folgte ein tiefes Schweigen.
»Sie schulden mir eine Geschichte!« sagte die Fosseuse endlich in schmeichelndem Tone.
»Ich will sie Ihnen erzählen,« sagte Genestas. –
»Am Abend vor der Schlacht bei Friedland,« fuhr er nach einer Pause fort, »war ich mit einem Auftrag ins Quartier des Generals Davoust geschickt worden und kehrte nach meinem Biwak zurück, als ich mich an einer Wegbiegung dem Kaiser gegenüber sehe. Napoleon sieht mich an:
›Du bist der Rittmeister Genestas?‹ sagt er zu mir.
›Jawohl, Sire.‹
›Du bist mit in Aegypten gewesen?‹
›Jawohl, Sire.‹
›Reite auf diesem Wege hier nicht weiter,‹ sagt er zu mir, ›halt dich links, du wirst dann schneller zu deiner Division stoßen.‹
Sie können sich nicht denken, mit welch einem gütigen Tone der Kaiser diese Worte zu mir sagte; er, der soviel Wichtigeres zu tun hatte; denn er jagte durchs Gelände, um sein Schlachtfeld kennenzulernen. Ich erzähle Ihnen dieses Erlebnis, um Ihnen zu zeigen, was für ein Gedächtnis er hatte, und auch damit Sie wissen, daß ich zu denen gehörte, deren Gesichter ihm bekannt waren. 1815 hatte ich den Eid geleistet. Ohne diesen Fehler würd' ich heute vielleicht Oberst sein; aber ich habe nie die Absicht gehabt, die Bourbons zu verraten; in jener Zeit habe ich nur gesehen, daß Frankreich verteidigt werden mußte. Ich hab' mich als Eskadronschef bei den Grenadieren der kaiserlichen Garde befunden, und trotz der Schmerzen, die ich noch von meinen Wunden fühlte, hab ich in der Schlacht bei Waterloo meinen Mann gestanden. Als alles verloren war, hab' ich Napoleon nach Paris begleitet; dann, als er Rochefort zu erreichen suchte, bin ich ihm gegen seinen Befehl gefolgt. Ich war sehr froh, darüber wachen zu können, daß ihm auf dem Wege kein Unglück zustieße. Als er sich am Meeresstrande erging, fand er mich denn auch zehn Schritt von ihm entfernt auf Wache.
›Nun, Genestas,‹ sagte er, auf mich zutretend, zu mir, ›wir sind also nicht tot?‹
Das Wort hat mir das Herz im Leibe umgedreht. Wenn Sie es gehört hätten, würden Sie wie ich von Kopf bis zu Füßen gezittert haben. Er zeigte mir jenes verfluchte englische Schiff, das den Hafen blockierte, und sagte zu mir:
›Nun ich das da sehe, bedaure ich, mich nicht im Blute meiner Garde ertränkt zu haben!‹
Ja,« sagte Genestas, den Arzt und die Fosseuse anblickend, »das sind seine eigenen Worte.
›Die Marschälle, die Sie gehindert, selber anzugreifen,‹ sagte ich zu ihm, ›und Sie in Ihre Halbkutsche gesetzt haben, waren Ihre Freunde nicht.‹
›Komm mit mir!‹ rief er lebhaft; ›die Partie ist nicht zu Ende.‹
›Sire, ich werde gern zu Ihnen kommen; im Augenblick aber hab' ich ein mutterloses Kind auf dem Halse und bin nicht frei.‹
›Adrien, den Sie da sehen, hat mich also daran gehindert, nach Sankt Helena zu gehen.‹
›Nimm,‹ sagte er zu mir, ›ich habe dir nie etwas gegeben; du gehörtest nicht zu denen, die immer eine Hand gefüllt und die andere offen hatten; hier ist die Tabaksdose, die ich während dieses letzten Feldzuges benutzt habe. Bleibe in Frankreich; da sind vor allem jetzt tapfere Leute nötig. Harre im Dienste aus und erinnere dich meiner. Du bist der letzte Aegypter von meiner Armee, den ich in Frankreich aufrecht gesehen haben werde.‹
Und er gab mir eine kleine Tabakdose.
›Laß darauf gravieren: »Ehre und Vaterland«,‹ sagte er zu mir, ›das ist die Geschichte unserer beiden letzten Feldzüge.‹
Als dann seine Begleiter zu ihm traten, blieb ich den ganzen Morgen mit ihnen zusammen. Der Kaiser schritt am Strande auf und ab; er war immer ruhig, manchmal aber runzelte er die Brauen. Um Mittag wurde seine Einschiffung für völlig unmöglich erkannt. Die Engländer wußten, daß er in Rochefort war; entweder mußte er sich ihnen ausliefern oder wieder Frankreich durchqueren. Wir alle waren unruhig! Die Minuten waren wie Stunden. Napoleon befand sich zwischen den Bourbons, die ihn füsiliert haben würden, und den Engländern, die gewiß keine ehrenwerten Menschen sind; denn nie werden sie die Schande von sich abwaschen, mit der sie sich dadurch bedeckt haben, daß sie einen Feind, der um ihre Gastfreundschaft bat, auf einen Felsen warfen. In dieser Angst stellt ihm, ich weiß nicht wer von seiner Begleitung, den Leutnant Doret vor, einen Seemann, der ihm Mittel und Wege unterbreiten wollte, nach Amerika überzusetzen. Tatsächlich lagen im Hafen eine Staatsbrigg und ein Kauffahrteischiff.
›Kapitän,‹ sagte der Kaiser zu ihm, ›wie wollen Sie das bewerkstelligen?‹
›Sire‹, antwortete der Mann, ›Sie werden auf dem Handelsschiffe sein, ich will die Brigg unter der Parlamentärflagge mit ergebenen Leuten besteigen; wir nähern uns dem Engländer, wir stecken ihn in Brand, wir werden in die Luft fliegen und Sie werden freie Fahrt haben.‹
›Wir wollen mit Ihnen gehen,‹ rief ich dem Kapitän zu.
Napoleon sah uns alle an und sagte:
›Erhalten Sie sich Frankreich, Kapitän Doret.‹
Es war das einzigemal, wo ich Napoleon bewegt gesehen habe. Dann machte er uns ein Zeichen mit der Hand und ging ins Haus. Ich brach auf, als ich ihn an dem englischen Schiffe hatte anlegen sehen. Er war verloren und wußte das. Es gab einen Verräter im Hafen, der den Feinden durch Signale des Kaisers Anwesenheit mitteilte. Napoleon hat also ein letztes Mittel versucht, er hat getan, was er auf den Schlachtfeldern tat, er ist zu ihnen gegangen, anstatt sie zu sich kommen zu lassen. Sie sprachen von Kummer, nichts kann Ihnen die Verzweiflung derer schildern, die ihn um seiner selbst willen geliebt haben.«
»Wo ist denn seine Tabakdose?« fragte die Fosseuse.
»In Grenoble in einer Schachtel,« antwortete der Major.
»Ich komme sie mir anschauen, wenn Sie's mir erlauben. Sagen, daß Sie etwas besitzen, was er in seinen Händen gehabt hat . . . Er hatte eine schöne Hand?«
»Eine sehr schöne.«
»Ist es wahr, daß er gestorben ist? Dort; sagen Sie mir bitte die Wahrheit.«
»Ja gewiß, er ist tot, mein armes Kind.«
»Ich war 1815 so klein, daß ich immer nur seinen Hut habe sehen können; auch wär' ich beinahe dabei erdrückt worden in Grenoble.«
»Das ist mir ein guter Sahnekaffee,« sagte Genestas. – »Nun, Adrien, gefällt dir das Land hier? Wirst du das Fräulein besuchen?«
Das Kind antwortete nicht; es schien Angst zu haben, die Fosseuse anzusehen. Benassis ließ nicht nach, den jungen Mann zu beobachten, in dessen Seele er zu lesen schien.
»Gewiß wird er sie besuchen,« sagte Benassis. »Aber kehren wir nach Hause zurück, ich muß eins meiner Pferde holen, um einen ziemlich langen Weg zu reiten. Während meiner Abwesenheit werden Sie sich mit Jacquotte verständigen.«
»Kommen Sie doch mit uns,« sagte Genestas zur Fosseuse.
»Gern,« antwortete die, »ich hab' Madame Jacquotte mehrere Sachen zurückzubringen.«
Sie machten sich auf den Weg, um zum Hause des Arztes zurückzukehren, und die Fosseuse, welche sich durch diese Gesellschaft aufgeheitert fühlte, führte sie auf schmalen Pfaden durch die wildesten Stellen des Gebirges.
»Herr Offizier,« sagte sie nach einem Augenblick des Schweigens, »Sie haben mir nichts von sich erzählt, und ich würde aus Ihrem Munde gern irgendein Kriegsabenteuer hören. Gern hab' ich, was Sie mir über Napoleon erzählt haben, aber es tut mir weh . . . Wenn Sie so liebenswürdig wären . . .«
»Sie hat recht,« rief Benassis leise, »Sie sollten uns irgendein schönes Abenteuer erzählen, während wir wandern. Los denn! eine interessante Sache wie die mit Ihrem Balken an der Beresina?«
»Ich habe recht wenig Erinnerungen,« sagte Genestas. »Es gibt Menschen, denen alles begegnet, ich aber habe nie der Held irgendeiner Geschichte sein können. Halt, hier ist das einzig Spaßhafte, was mir passiert ist. Anno 1815 – ich war erst Unterleutnant – gehörte ich zur großen Armee und befand mich bei Austerlitz. Ehe wir Ulm nahmen, mußten wir einige Gefechte liefern, wobei die Kavallerie großartig angriff. Ich stand damals unter Murats Befehl, der nicht gerne aufs Ausspielen verzichtete. Nach einer der ersten Schlachten des Feldzuges bemächtigten wir uns eines Landstriches, wo es mehrere schöne Besitzungen gab. Am Abend verschanzte sich mein Regiment in dem Park eines schönen Schlosses, das von einer jungen und hübschen Frau, einer Gräfin, bewohnt wurde; ich will natürlich bei ihr wohnen und eile, um jede Plünderung zu verhindern. Ich komme gerade in dem Moment in den Salon, wo mein Unteroffizier das Gewehr auf die Gräfin anlegte und roh von ihr forderte, was diese Frau ihm sicherlich nicht gewähren konnte, er war zu häßlich! Mit einem Säbelhieb schlage ich seinen Karabiner hoch, der Schuß geht in einen Spiegel; dann versetze ich meinem Manne einen Tritt in die Kehrseite und strecke ihn zu Boden. Auf die Schreie der Gräfin und den Knall des Schusses hin laufen ihre Leute herbei und bedrohen mich.
›Haltet ein,‹ ruft sie ihnen, die mich aufspießen wollten, auf deutsch zu, ›dieser Offizier hat mir das Leben gerettet!‹
Sie entfernten sich. Die Dame hat mir ihr Taschentuch geschenkt, ein schönes gesticktes Tüchlein, das ich noch besitze, und hat mir gesagt, ich würde stets ein Asyl auf ihrer Besitzung haben, und wenn ich je einen Kummer hätte, welcher Art er auch sein möge, stets würde ich in ihr eine Schwester und ergebene Freundin haben; kurz, sie wußte sich nicht genugzutun. Die Frau war schön wie ein Hochzeitstag und niedlich wie ein junges Kätzchen. Wir haben zusammen gespeist. Anderen Morgens war ich rasend verliebt geworden; aber anderen Morgens mußte ich auf der Höhe von Günzburg, glaub' ich, sein, und ich zog mit meinem Taschentuche bewaffnet ab.
Der Kampf hebt an; ich sage mir:
Mir die Kugeln! Mein Gott, sollte es denn unter allen denen, die vorbeisausen, nicht eine für mich geben? Doch ich wünschte mir keine in den Schenkel, dann hätte ich ja nicht ins Schloß zurück können. Ich hatte es nicht satt, ich wollte nur eine schöne Verwundung am Arm haben, um von der Prinzessin verbunden und verhätschelt zu werden. Wie ein Wütender stürzte ich mich auf den Feind. Ich habe kein Glück gehabt, bin heil und gesund davongekommen! Keine Prinzessin mehr, es hieß marschieren. Das ist die Geschichte . . .«
Sie waren bei Benassis angelangt, der sofort aufsaß und verschwand. Als der Arzt zurückkam, hatte sich die Köchin, der Genestas seinen Sohn anempfohlen, bereits Adriens bemächtigt und ihn in Monsieur Graviers berühmtem Zimmer untergebracht. Außerordentlich erstaunt war sie, als ihr Herr befahl, sie solle ein einfaches Gurtbett in seinem eigenen Zimmer für den jungen Mann herrichten; und er ordnete dies in einem so kategorischen Tone an, daß Jacquotte unmöglich den geringsten Einwand erheben konnte. Nach dem Essen machte sich der Major wieder auf den Weg nach Grenoble und war glücklich über die beruhigenden Versicherungen, die Benassis über des Kindes baldige Genesung wiederholte.
In den ersten Dezembertagen, acht Monate, nachdem er dem Arzte sein Kind anvertraut hatte, wurde Genestas zum Oberstleutnant eines in Poitiers stehenden Regimentes ernannt. Er gedachte Benassis von seiner Abreise in Kenntnis zu setzen, als er einen Brief von ihm erhielt, in welchem sein Freund ihm Adriens völlige Genesung mitteilte.
»Das Kind«, schrieb er, »ist groß und kräftig geworden, es geht ihm prachtvoll. Seit Sie ihn nicht gesehen haben, hat er sich Butifers Unterweisungen so gut zunutze gemacht, daß er ein ebenso glänzender Schütze ist wie unser Schmuggler selber. Ueberdies ist er flink und beweglich, ein guter Fußgänger und ein tüchtiger Reitersmann. Er hat sich von Grund auf geändert. Der sechzehnjährige Bursche, der unlängst keine zwölf Jahre alt zu sein schien, sieht jetzt wie ein Zwanzigjähriger aus. Sein Blick ist sicher und stolz. Er ist ein Mann, und ein Mann, an dessen Zukunft Sie jetzt denken müssen.«
Ich will Benassis ganz gewiß morgen besuchen, und seine Meinung über den Beruf hören, den ich den Burschen ergreifen lassen soll, sagte Genestas sich, als er zu dem Abschiedsmahle ging, das seine Offiziere ihm gaben; denn er sollte nur noch einige Tage in Grenoble bleiben.
Als der Oberstleutnant nach Hause kam, gab sein Bursche ihm einen Brief, den ein Bote gebracht, der lange auf Antwort gewartet hatte. Obwohl er durch die Toaste, welche die Offiziere auf ihn ausgebracht hatten, ziemlich angeheitert war, erkannte Genestas seines Sohnes Handschrift, glaubte, daß er ihn um die Befriedigung irgendeines Wunsches bäte, wie junge Leute ihn haben, und ließ den Brief auf dem Tische liegen, wo er ihn anderen Morgens, als die Champagnerdünste sich verflüchtigt hatten, wiederfand.
»Mein lieber Vater!«
Ei, kleiner Schelm, sagte er sich, du schmeichelst mir ja immer, wenn du etwas haben willst!
Dann nahm er den Brief wieder vor und las folgende Worte:
»Der gute Monsieur Benassis ist tot . . .«
Der Brief entfiel Genestas' Händen; erst nach einer langen Pause nahm er seine Lektüre wieder auf.
»Das Unglück hat das ganze Land in Bestürzung versetzt und uns um so mehr überrascht, als Monsieur Benassis am Abend vollkommen wohl war und keinerlei Krankheitserscheinungen zeigte. Wie wenn er sein Ende vorausgeahnt hätte, besuchte er vorgestern noch alle seine Kranken, selbst die am entferntesten wohnenden; er hat mit allen Leuten, die ihm begegneten, gesprochen und zu ihnen: ›Lebt wohl, meine Freunde‹ gesagt.
Seiner Gewohnheit nach ist er gegen fünf Uhr zurückgekommen, um mit mir zu essen. Jacquotte fand sein Gesicht ein bißchen rot und violett; da es kalt war, gab sie ihm kein Fußbad, das sie ihn gewöhnlich zu nehmen zwang, wenn sie sah, daß ihm das Blut zu Kopf gestiegen war. Auch ruft das arme Mädchen seit zwei Tagen, während sie ihre Tränen strömen läßt: ›Wenn ich ihm ein Fußbad gegeben hätte, lebte er noch!‹ Monsieur Benassis hatte Hunger, er aß tüchtig und war heiterer als gewöhnlich. Wir haben zusammen gelacht, und noch niemals hatte ich ihn lachen sehen. Nach dem Essen um sieben Uhr wollte ihn ein Mann aus Saint-Laurent-du-Pont zu einem sehr dringlichen Fall holen. Er sagte zu mir:
›Ich muß hin; indessen ist meine Verdauung noch nicht zu Ende und in solchem Zustande steige ich nicht gern zu Pferde, vor allem nicht bei kaltem Wetter; das kann einen Menschen umbringen!‹
Nichtsdestoweniger ritt er fort. Goguelat, der Landbriefträger, brachte um neun Uhr einen Brief für Monsieur Benassis. Jacquotte, die müde vom Wäschewaschen war, legte sich schlafen, vorher gab sie mir den Brief und bat mich, den Tee in unserem Zimmer an Monsieur Benassis' Feuer zu bereiten; denn ich schlafe noch bei ihm in meinem Roßhaarbett. Ich machte das Feuer im Salon aus und ging hinauf, um meinen guten Freund zu erwarten. Ehe ich den Brief auf den Kamin legte, sah ich mir in einer Regung von Neugier Poststempel und Schrift an. Der Brief kam aus Paris und die Adresse schien mir eine Frau geschrieben zu haben. Ich sage Ihnen das des Einflusses wegen, den dieses Schreiben auf das Ereignis gehabt hat. Gegen zehn Uhr hörte ich Pferdegetrappel und dann Monsieur Benassis zu Nicolle sagen:
›Es ist eine Hundekälte, ich fühle mich nicht wohl.‹
›Wünschen Sie, daß ich Jacquotte wecke?‹
›Nein, nein!‹
Und er kam herauf.
›Ich hab' Ihnen Ihren Tee gemacht!‹ sagte ich zu ihm.
›Danke, Adrien,‹ antwortete er, mich, Sie wissen ja wie, anlächelnd.
Das war sein letztes Lächeln. Er nahm dann seine Halsbinde ab, wie wenn er ersticke.
Dann warf er sich in einen Sessel.
›Es ist für Sie ein Brief angekommen, mein lieber Freund, hier ist er,‹ sage ich zu ihm.
Er nimmt den Brief und ruft:
›Ach, mein Gott, vielleicht ist sie frei!‹
Dann hat er sich mit dem Kopf nach vorn geneigt und seine Hände haben gezittert; endlich stellte er ein Licht auf den Tisch und brach das Schreiben auf. Der Ton seines Ausrufs war so erschreckend, daß ich ihn, während er las, betrachtete; und ich sah ihn rot werden und weinen. Dann fällt er plötzlich mit dem Kopf voran hin, ich hebe ihn auf und sehe sein Gesicht ganz blau.
›Ich bin tot,‹ sagte er stammelnd und versuchte mit furchtbarer Anstrengung sich zu erheben. ›Laßt mir zur Ader, laßt mir zur Ader!‹ rief er, mich bei der Hand packend . . . Adrien, verbrenne den Brief hier!‹ . . .
Und er hielt mir den Brief hin, den ich ins Feuer warf. Ich rufe Jacquotte und Nicolle; doch nur Nicolle hört mich. Er kommt herauf und hilft mir, Monsieur Benassis auf mein kleines Feldbett zu legen, Er hörte nicht mehr, unser guter Freund! Seit diesem Augenblicke hatte er wohl die Augen offen, sah aber nichts mehr. Nicolle, der sich aufsetzte, um Monsieur Bordier, den Chirurgen, zu holen, hat im Flecken Alarm geschlagen. In einem Augenblick ist dort alles auf den Beinen gewesen. Monsieur Janvier, Monsieur Dufau, alle, die Sie kennen, sind sofort gekommen. Monsieur Benassis war beinahe tot, es gab keine Hilfe mehr. Monsieur Bordier hat ihm die Fußsohle verbrannt, ohne ein Lebenszeichen zu erhalten. Es war ein Gichtanfall und ein Gehirnschlag zugleich. Ich teile Ihnen getreulich alle diese Einzelheiten mit, weil ich weiß, lieber Vater, wie sehr Sie Monsieur Benassis lieben. Ich für meine Person bin sehr traurig und bekümmert. Ich kann Ihnen sagen, daß ich außer Ihnen niemanden mehr geliebt habe. Wenn ich abends mit dem guten Monsieur Benassis plauderte, hatte ich mehr Nutzen davon, als ich durch die ganze Gymnasiumslernerei gewann. Als am anderen Morgen sein Tod im Flecken bekannt wurde, gab es ein unglaubliches Schauspiel. Der Hof, der Garten waren gedrängt voll Menschen. Es war ein allgemeines Weinen und Schreien! Kurz, niemand hat gearbeitet, jeder erzählte, was Monsieur Benassis zu ihm gesagt hatte, als er das letztemal mit ihm gesprochen. Der Eine berichtete, was er ihm alles Gutes getan hatte; die weniger Gerührten sprachen für die anderen. Die Menge wuchs von Stunde zu Stunde, und jeder wollte ihn sehen. Die Trauernachricht hat sich schnell verbreitet, die Leute aus dem Bezirke und selbst die der Umgebung haben alle den nämlichen Gedanken gehabt: Männer, Frauen, Mädchen und Jungen sind aus zehn Meilen in der Runde nach dem Flecken gekommen. Als das Trauergeleite sich bildete, wurde der Sarg von den vier ältesten Leuten der Gemeinde in die Kirche getragen, aber unter unendlichen Mühen; denn zwischen Monsieur Benassis' Hause und der Kirche standen etwa fünftausend Menschen, von denen die meisten wie bei der Prozession niederknieten. Die Kirche konnte all die Menschen gar nicht fassen. Als der Gottesdienst begann, ist trotz der Wehklagen eine so große Stille eingetreten, daß man das Glöckchen und die Gesänge bis ans Ende der Grande-rue hören konnte. Als man die Leiche aber nach dem Friedhof tragen mußte, den Monsieur Benassis dem Flecken geschenkt hatte, ohne zu ahnen, der arme Mann, daß er dort als erster begraben werden sollte, erhob sich ein einziger Schrei des Jammers. Monsieur Janvier sprach die Gebete unter Tränen, und allen, die dort waren, standen Tränen in den Augen. Endlich ist er in die Erde gebettet worden. Am Abend hat sich die Menge zerstreut und jeder ist, Trauer und Klagen im ganzen Lande verbreitend, nach Hause gegangen. Am anderen Morgen haben sich Gondrin, Goguelat, Butifer, der Feldhüter und mehrere Leute zusammengetan, um auf dem Platze, wo Monsieur Benassis liegt, eine Art Erdpyramide zu errichten; sie soll zwanzig Fuß hoch und mit Rosen bedeckt werden, und alles will sich daran beteiligen. Das sind, mein lieber Vater, die Ereignisse, die seit drei Tagen vorgefallen sind. Monsieur Benassis' Testament ist von Monsieur Dufau ganz offen im Schreibtisch vorgefunden worden. Die Verwendung, die unser guter Freund von seinen Gütern macht, hat die Liebe, die man zu ihm hegt, und das durch seinen Tod hervorgerufene Bedauern, wenn es möglich ist, noch vermehrt. Jetzt, mein lieber Vater, erwarte ich durch Butifer, der Ihnen diesen Brief bringt, eine Antwort, in der Sie mir mein Verhalten vorschreiben. Wollen Sie mich abholen, oder soll ich zu Ihnen nach Grenoble kommen? Sagen Sie mir, was ich tun soll, und seien Sie meines vollkommenen Gehorsams gewiß.
Leben Sie wohl, mein Vater; es grüßt Sie Ihr Sie innig liebender Sohn
Adrien Genestas.«
»Auf, ich muß hin!« rief der Soldat.
Er befahl sein Pferd zu satteln und machte sich an einem jener Dezembermorgen auf den Weg, wo der Himmel mit einem grauen Schleier bedeckt, wo der Wind nicht stark genug ist, um den Nebel zu verjagen, durch den die kahlen Bäume und die feuchten Häuser ihr gewöhnliches Aussehen verlieren. Das Schweigen war trübe; denn es gibt auch strahlendes Schweigen. Bei schönem Wetter klingt das geringste Geräusch froh, bei düsterem Wetter aber ist die Natur nicht schweigsam, sie ist stumm. Der an den Bäumen haftende Nebel verdichtet sich zu Tropfen, die langsam wie Tränen auf die Blätter fielen. Oberst Genestas, dessen Herz durch Todesgedanken und tiefe Trauer bedrückt war, fühlte sich im Einklang mit dieser so traurigen Natur. Unwillkürlich verglich er den frohen Frühlingshimmel und das Tal, das er bei seiner ersten Reise so heiter gesehen hatte, mit dem melancholischen Anblick eines bleigrauen Himmels, mit den ihres grünen Schmuckes beraubten Bergen, die ihr Schneekleid, dessen Wirkungen der Anmut nicht ermangeln, noch nicht angelegt hatten. Ein nackter Erdboden ist ein schmerzlicher Anblick für einen Menschen, der zu einem Grabe geht; für ihn scheint dies Grab überall zu sein. Die schwarzen Fichten, die hier und da die Gipfel zierten, mischten Trauerbilder in alles, was des Offiziers Herz bewegte; auch konnte er jedesmal, wenn er das Tal in seiner ganzen Ausdehnung überblickte, nicht umhin, an das Unglück, das auf diesem Bezirke lastete, und an die Leere zu denken, die eines Mannes Tod dort schuf. Genestas erreichte bald die Stelle, wo er auf seiner ersten Reise eine Tasse Milch getrunken hatte. Als er den Rauch der Hütte sah, wo die Hospitalkinder aufgezogen wurden, dachte er besonders lebhaft an Benassis' wohltätigen Sinn und beschloß hineinzugehen, um in seinem Namen dem armen Weibe ein Almosen zu reichen. Nachdem er sein Pferd an einen Baum gebunden hatte, öffnete er, ohne anzuklopfen, die Haustür.
»Guten Tag, Mutter,« sagte er zu der Alten, die er am Feuerwinkel und von ihren am Boden hockenden Kindern umgeben antraf, »erkennt Ihr mich wieder?«
»Oh, sehr gut, mein lieber Herr. Sie sind an einem hübschen Frühlingstage vorbeigekommen und haben mir zwei Taler geschenkt.«
»Hier, Mutter, das ist für Euch und die Kinder.«
»Mein lieber Herr, ich danke Ihnen. Der Himmel möge Sie segnen.«
»Dankt nicht mir; Ihr verdankt dies Geld dem armen Vater Benassis.«
Die Alte hob den Kopf und blickte Genestas an.
»Ach, mein Herr, obwohl er sein Gut unserem armen Lande vermacht hat und wir alle seine Erben sind, haben wir doch unseren größten Reichtum verloren; denn er lenkte alles zum Guten hier.«
»Lebt wohl, Mutter; betet für ihn!« sagte Genestas, nachdem er den Kindern einen leichten Peitschenklaps gegeben hatte. Dann stieg er, von der ganzen kleinen Familie und der Alten begleitet, wieder zu Pferde und ritt weiter. Den Talweg verfolgend, fand er den breiten Saumpfad, der zur Fosseuse führte. Er kam auf der Rampe an, von wo aus er das Haus erblicken konnte, sah aber nicht ohne große Unruhe Türen und Fensterläden geschlossen; er kehrte also auf die Hauptstraße zurück, deren Pappeln keine Blätter mehr hatten. Beim Einbiegen bemerkte er den alten Arbeiter, der fast sonntäglich gekleidet war und langsam, ganz allein und ohne Werkzeuge, dahinging.
»Guten Tag, Gevatter Moreau.«
»Ach, guten Tag, Herr . . . Ich erkenne Sie wieder,« fügte der Biedermann nach einem Augenblick des Schweigens hinzu. »Sie sind ein Freund unseres seligen Herrn Bürgermeisters! Ach, Herr, wäre es nicht besser, der liebe Gott nähme an seiner Statt einen armen Gichtkranken wie mich? Ich bin hier nichts, während er jedermanns Freude war.«
»Wißt Ihr, warum niemand bei der Fosseuse ist?«
Der Biedermann sah zum Himmel auf.
»Wieviel Uhr ist's, Herr? Man sieht die Sonne nicht,« sagte er.
»Es ist zehn.«
»Nun, dann ist sie in der Messe oder auf dem Friedhofe. Sie geht alle Tage hin; sie hat fünftausend Livres Rente und ihr Haus auf Lebenszeit geerbt; sie ist aber fast wahnsinnig über seinen Tod . . .«
»Wohin geht Ihr denn, lieber Mann?«
»Zur Beerdigung des armen kleinen Jacques, der mein Neffe ist. Der kleine Kranke ist gestern morgen gestorben. Es schien wirklich, als ob ihn der liebe Monsieur Benassis am Leben hielte. All das junge Volk das stirbt!« fügte Moreau mit einer halb jämmerlichen, halb spöttischen Miene hinzu.
Beim Einreiten in den Flecken hielt Genestas sein Pferd an, da er Gondrin und Goguelat erblickte, die beide mit Hacken und Schaufeln ausgerüstet waren.
»Nun, meine alten Soldaten,« rief er ihnen zu, »wir haben also das Unglück gehabt, ihn zu verlieren!« . . .
»Genug, genug, Herr Offizier,« antwortete Goguelat mit mürrischem Tone; »wir wissen es genau, wir haben gerade Rasenstücke für sein Grab ausgestochen!«
»Wird sein Leben sich nicht schön erzählen lassen?« fragte Genestas.
»Ja,« erwiderte Goguelat, »bis auf die Schlachten ist er der Napoleon unseres Tales.«
Als Genestas vor dem Pfarrhause anlangte, erblickte er Butifer und Adrien mit Monsieur Janvier plaudernd vor der Türe; letzterer hatte zweifelsohne gerade Messe gelesen. Sobald Butifer sah, daß der Offizier absitzen wollte, kam er, sein Pferd zu halten, und Adrien fiel seinem Vater um den Hals, der ganz gerührt über diesen Ueberschwang war; doch verbarg der Militär seine Gefühle und sagte zu ihm:
»Du bist ja wieder prächtig auf dem Damm, Adrien! Donnerwetter, dank unserem armen Freunde bist du fast ein Mann geworden. Ich werde Butifer, deinen Lehrmeister, nicht vergessen!«
»Ach, Herr Oberst,« sagte Butifer, »nehmen Sie mich mit in Ihr Regiment! Seit der Herr Bürgermeister tot ist, hab' ich Angst vor mir. Wollte er nicht, daß ich Soldat würde? Schön, ich werd' seinen Willen tun. Er hat Ihnen gesagt, wer ich war, Sie werden etwas Nachsicht mit mir haben . . .«
»Abgemacht, mein Braver,« sagte Genestas, in seine Hand einschlagend. »Sei ruhig, ich werd' für eine schöne Verwendung sorgen.«
»Nun, Herr Pfarrer?« . . .
»Ich, Herr Oberst, bin ebenso betrübt, wie es alle Leute des Bezirks sind, fühle aber lebhafter als sie, wie unersetzlich der Verlust ist, den wir erlitten haben. Der Mann war ein Engel! Glücklicherweise ist er gestorben, ohne zu leiden. Gott hat mit wohltätiger Hand die Bande eines Lebens gelöst, das für uns eine beständige Wohltat war.«
»Kann ich Sie, ohne unbescheiden zu sein, bitten, mich zum Friedhof zu begleiten? Ich möchte ihm so etwas wie ein Lebewohl sagen.«
Butifer und Adrien folgten Genestas und dem Pfarrer, die plaudernd einige Schritte vor ihnen hergingen. Als der Oberstleutnant den Flecken hinter sich hatte und auf den kleinen See zuging, bemerkte er auf der Rückseite des Berges ein großes, mit Mauern umgebenes Felsengelände.
»Das ist der Friedhof,« sagte der Pfarrer zu ihm. »Gerade vor drei Monaten fielen ihm als erstem die Nachteile auf, die sich aus der Nachbarschaft der Kirchhöfe, die um die Kirchen herum liegen, ergaben; und, um das Gesetz durchzuführen, das ihre Verlegung auf eine gewisse Entfernung von den Wohnstätten verlangt, hat er selber der Gemeinde das Terrain geschenkt. Wir werden heute dort einen kleinen armen Knaben begraben: haben also damit begonnen, Unschuld und Tugend dort zu bestatten. Ist der Tod nicht ein Lohn? Gibt Gott uns damit, daß er zwei vollkommene Geschöpfe zu sich ruft, nicht eine Lehre? Gehen wir nicht zu ihm ein, nachdem wir in jungen Jahren durch physische und im vorgeschrittenen Alter durch moralische Leiden gründlich geprüft worden sind? Sehen Sie, dort ist das ländliche Denkmal, das wir ihm errichtet haben!«
Genestas erblickte eine Erdpyramide von ungefähr zwanzig Fuß Höhe, die noch nackt war, deren Ränder aber unter den rührigen Händen einiger Bewohner anfingen, sich mit Rasenstücken zu bekleiden. Die Fosseuse saß, den Kopf zwischen den Händen, in Tränen aufgelöst, auf den Steinen, welche einem großen Kreuze Halt gaben, das aus einem Fichtenstamm bestand, dessen Rinde nicht abgeschält worden war. Der Offizier las folgende Worte, in großen Buchstaben in das Holz eingegraben:
D. O. M.
Hier ruht
Der gute Monsieur Benassis
Unser aller Vater
Betet für ihn!
»Sie, mein Herr,« sagte Genestas, »haben . . .«
»Nein,« antwortete der Pfarrer, »wir haben das Wort daraufgesetzt, das von der Höhe des Gebirges bis nach Grenoble hin wiederholt wurde.«
Nachdem er einen Augenblick geschwiegen und sich der Fosseuse, die ihn nicht hörte, genähert hatte, sagte Genestas zu dem Pfarrer:
»Sobald ich meinen Abschied bekomme, will ich meine Tage unter Ihnen hier beschließen.«