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Ich bin«, begann der Arzt, »in einer kleinen Stadt des Languedoc geboren, wo mein Vater sich seit langem niedergelassen hatte, und wo meine erste Jugend verstrichen ist. Im Alter von acht Jahren wurde ich ins Gymnasium von Sorrèze gesteckt, das ich erst verließ, um meine Studien in Paris zu beendigen. Mein Vater hatte die tollste, verschwenderischste Jugend hinter sich; sein verschwendetes elterliches Erbteil wurde indes durch eine glückliche Heirat und durch die allmählichen Ersparnisse wiederhergestellt, die man in der Provinz macht, wo man sich auf Vermögen und nicht aber auf Aufwand etwas einbildet, und wo der dem Manne natürliche Ehrgeiz aus Mangel an edler Nahrung erlischt und sich in Geiz verwandelt. Als er reich geworden war und nur einen Sohn besaß, wollte er auf ihn die kühle Erfahrung übertragen, die er für seine verflüchtigten Illusionen eingetauscht hatte: letzte und edle Irrtümer der Greise, die vergebens ihre Tugenden und ihre klugen Rechnungen Kindern zu vermachen suchen, die begeistert vom Leben sind und es genießen wollen. Diese Vorsorge diktierte ihm einen Plan für meine Erziehung, dessen Opfer ich wurde. Mein Vater verbarg mir sorgfältig seinen Vermögensstand und verdammte mich, in meinem Interesse während meiner schönsten Jahre die Entbehrungen und Sorgen eines jungen Mannes zu ertragen, der darauf brennt, seine Unabhängigkeit zu erwerben. Er wünschte mir die Tugenden der Armut: Geduld, Wissensdurst und Arbeitsliebe einzuflößen. Indem er mich so den vollen Wert des Vermögens kennenlernen ließ, hoffte er, mich zu lehren, meine Erbschaft zusammenzuhalten; auch drängte er mich, sobald ich fähig war, seine Ratschläge zu verstehen, einen Beruf zu wählen und mich ihm zu widmen. Meine Neigungen wiesen mich auf das Medizinstudium. Von Sorrèze aus, wo ich zehn Jahre lang unter der halb klösterlichen Disziplin der Oratorianer gelebt hatte und in die Einsamkeit eines Provinzgymnasiums versenkt gewesen war, wurde ich ohne jeden Uebergang in die Hauptstadt versetzt. Mein Vater begleitete mich dorthin, um mich einem seiner Freunde anzuempfehlen. Ohne mein Wissen trafen die beiden alten Männer sorgsame Vorsichtsmaßregeln gegen die Aufwallungen meiner damals sehr unschuldigen Jugend. Mein Wechsel wurde streng nach den wirklichen Lebensbedürfnissen abgemessen, und ich durfte seine Vierteljahrsraten nur unter Beibringung der Quittungen über die an der Medizinschule belegten Vorlesungen erheben. Dies ziemlich beleidigende Mißtrauen wurde mit Ordnungs- und Verantwortlichkeitsgründen bemäntelt. Mein Vater zeigte sich übrigens in bezug auf alle für meine Erziehung und für die Vergnügungen des Pariser Lebens notwendigen Kosten freigebig. Sein alter Freund, der glücklich war, einen jungen Mann in das Labyrinth, das ich betreten sollte, einzuführen, gehörte zu jener Art von Menschen, die ihre Gefühle ebenso sorgfältig registrieren, wie sie ihre Papiere ordnen. Wenn er in seiner Agenda nachblätterte, konnte er immer sehen, was er zu der entsprechenden Stunde des verflossenen Jahres getan hatte. Das Leben bildete für ihn ein Unternehmen, über das er kaufmännisch genau Buch und Rechnung führte. Uebrigens war er ein zwar verdienstvoller, aber schlauer, ängstlicher und mißtrauischer Mann, dem es nie an scheinbar einleuchtenden Gründen fehlte, um die Vorsichtsmaßregeln, die er meinetwegen traf, zu beschönigen. Er kaufte meine Bücher und bezahlte meine Vorlesungen; wenn ich reiten lernen wollte, erkundigte sich der Biedermann selber genau nach dem besten Reitstall, führte mich dorthin und kam meinen Wünschen zuvor, indem er mir für die Feiertage ein Pferd zur Verfügung stellte. Trotz dieser Greisenlisten, die ich im Moment, wo mir daran lag, mich mit ihm zu messen, zu vereiteln wußte, war dieser ausgezeichnete Mann ein zweiter Vater für mich.
›Mein Freund,‹ sagte er zu mir in dem Augenblicke, wo er erriet, daß ich meinen Zügel zerreißen würde, wenn er ihn nicht verlängerte, ›junge Leute machen häufig dumme Streiche, zu denen sie die Hitze ihres Alters verleitet; und es könnte Ihnen in einem solchen Falle passieren, daß Sie Geld nötig haben; kommen Sie dann zu mir, Ihr Vater hat mich früher einmal in liebenswürdiger Weise sich verpflichtet, ich werde stets einige Taler zu Ihrer Verfügung haben; belügen Sie mich aber niemals, schämen Sie sich nicht, mir Ihre Fehltritte zu gestehen, ich bin auch jung gewesen, wir werden uns immer wie zwei gute Kameraden verstehen.‹
Mein Vater brachte mich in einer bürgerlichen Pension im Quartier Latin bei ehrenwerten Leuten unter, wo ich ein recht hübsch eingerichtetes Zimmer hatte. Diese erste Unabhängigkeit, meines Vaters Güte und das Opfer, das er mir zu bringen schien, verursachten mir indessen wenig Freude. Vielleicht muß man die Freiheit genossen haben, um ihren Wert voll zu begreifen. Die Erinnerungen meiner freien Kindheit waren durch den Druck der Gymnasiumslangeweile, die mein Gemüt noch nicht abgeschüttelt hatte, fast vernichtet worden; ferner zeigten mir meines Vaters Empfehlungen neue Aufgaben, die ich zu erfüllen hatte, endlich war Paris ein Rätsel für mich, und man unterhielt sich dort nicht, ohne seine Vergnügungen studiert zu haben. Ich sah also keinen Wechsel in meiner Lage, außer daß mein neues Gymnasium größer war und sich Medizinschule nannte. Nichtsdestoweniger studierte ich anfangs mutig drauflos und besuchte die Kurse mit Ausdauer. Ich stürzte mich Hals über Kopf in die Arbeit, ohne mich zu zerstreuen, so sehr setzten die Schätze der Wissenschaft, an denen die Hauptstadt Ueberfluß besitzt, meine Einbildungskraft in Erstaunen. Bald aber ließen mich unkluge Beziehungen, deren Gefahren durch jene blind vertrauende Freundschaft, die alle jungen Leute verführt, verschleiert waren, unmerklich den Pariser Zerstreuungen verfallen. Die Theater, ihre Schauspieler, für die ich leidenschaftlich schwärmte, begannen das Werk meiner Demoralisation. Die Theater einer Hauptstadt sind sehr verhängnisvoll für junge Leute, diese verlassen sie niemals ohne lebhafte Erregungen, gegen die sie fast immer fruchtlos ankämpfen; auch scheinen mir die Gesellschaft und die Gesetze mit an den Ausschweifungen, die sie dann begehen, schuldig zu sein. Unsere Gesetzgebung hat den Leidenschaften gegenüber, die den jungen Mann zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahren peinigen, sozusagen die Augen zugedrückt. In Paris stürmt alles auf ihn ein; seine Begierden werden unaufhörlich gereizt; die Religion predigt ihm das Gute, die Gesetze empfehlen es ihm, während Dinge und Sitten ihn zum Bösen einladen. Machen sich dort nicht der ehrenwerteste Mann und die frömmste Frau über die Enthaltsamkeit lustig? Kurz, die große Stadt scheint es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, nur die Laster zu ermutigen; denn die Hindernisse, welche sich dem Zugang zu Berufen entgegenstellen, in denen ein junger Mann in anständiger Weise sein Glück machen könnte, sind noch zahlreicher als die Schlingen, die überall für seine Leidenschaften ausgelegt sind, um ihm sein Geld wegzunehmen. Lange Zeit ging ich also allabendlich in irgendein Theater und gewöhnte mich nach und nach ans Nichtstun. Ich paktierte innerlich mit meinen Pflichten und verschob oft meine dringendsten Geschäfte auf den anderen Tag. Statt danach zu trachten, mich zu unterrichten, unterzog ich mich bald nur noch den Arbeiten, die zur Erreichung der für die Ausübung meines Berufes notwendigen Grade unumgänglich nötig waren. Oeffentliche Vorlesungen hörte ich bei keinem der Professoren mehr; denn meiner Meinung nach faselten sie. Ich zertrümmerte bereits meine Götter, ich wurde Pariser. Kurz, ich führte das unsichere Leben eines jungen Mannes aus der Provinz, der, in die Hauptstadt versetzt, noch einige echte Gefühle bewahrt, noch an gewisse Moralgesetze glaubt, sich aber durch schlechte Beispiele verdirbt, während er sich noch vor ihnen schützen will. Ich verteidigte mich schlecht, ich hatte Mitschuldige in mir selber. Ja, mein Herr, meine Physiognomie trügt nicht; ich bin all den Leidenschaften unterworfen gewesen, deren Spuren mir geblieben sind. Ich bewahrte indessen auf dem Grunde meines Herzens ein Gefühl moralischer Vollkommenheit, das mich inmitten meiner Ausschweifungen verfolgte, und das durch Ueberdruß und Gewissensbisse den Mann, der in den reinen Gewässern der Religion seinen Durst gelöscht hatte, zu Gott zurückführen mußte. Wird nicht, wer die Wollüste der Erde lebhaft fühlt, früher oder später von dem Geschmack der Früchte des Himmels angezogen? Anfangs empfand ich die tausend Glückseligkeiten und Hoffnungslosigkeiten, die mehr oder minder lebendig in allen jungen Menschen vorhanden sind; bald hielt ich das Gefühl meiner Kraft für einen festen Willen und täuschte mich über das Maß meiner Fähigkeiten; bald fiel ich angesichts der schwächsten Klippe, an die ich mich stoßen mußte, tiefer, als ich natürlicherweise fallen mußte; ich faßte die größten Pläne, träumte von Ruhm und schickte mich zur Arbeit an; eine Lustpartie aber beseitigte diese edlen Anwandlungen. Die unbestimmte Erinnerung an meine verunglückten großen Pläne ließ in mir einen trügerischen Glanz zurück, der mich gewöhnte, an mich selbst zu glauben, ohne mir die Schaffensenergie zu verleihen. Diese Faulheit voller Selbstgefälligkeit brachte mich dahin, daß ich nichts weiter war als ein dummer Tropf. Ist nicht ein dummer Tropf, wer die gute Meinung nicht rechtfertigt, die er von sich selber hat? Ich besaß eine Aktivität ohne Ziel und strebte nach den Blumen des Lebens, ohne die Mühe aufzuwenden, die sie zum Aufblühen bringt. Da ich die Hindernisse nicht kannte, hielt ich alles für leicht und schrieb sowohl die wissenschaftlichen wie die pekuniären Erfolge glücklichen Zufällen zu. Für mich war das Genie Marktschreierei. Ich bildete mir ein, weise zu sein, weil ich es werden konnte: und ohne weder an die Geduld, welche die großen Werke erzeugt, noch an das Ausführen zu denken, das ihre Schwierigkeiten enthüllt, spekulierte ich auf jeden Ruhm. Meine Vergnügungen waren schnell erschöpft; das Theater unterhielt mich nicht lange; Paris war also bald leer und öde für einen armen Studenten, dessen Gesellschaft aus einem Greise, der nichts mehr von der Welt wußte, und einer Familie bestand, in der man nur langweiligen Menschen begegnete. Wie alle jungen Leute, die von dem Berufe, den sie ergreifen, unbefriedigt sind, ohne einen festen Begriff noch ein in ihrer Vorstellung lebendes System zu haben, war auch ich ganze Tage lang durch die Straßen, über die Quais, in die Museen und in die öffentlichen Gärten gelaufen. Wenn das Leben unbeschäftigt ist, drückt es in diesem Alter mehr als in einem anderen; denn es ist dann voll verlorenen Schwunges und resultatloser Bewegung. Ich verkannte die Macht, die ein fester Wille in die Hände des jungen Mannes legt, wenn er zu denken versteht und zur Ausführung über alle noch durch den unerschrockenen Glauben der Jugend vermehrten vitalen Kräfte verfügt. Als Kinder sind wir naiv und kennen die Gefahren des Lebens nicht; als Jünglinge erblicken wir seine Schwierigkeiten und seine ungeheure Spannweite: bei solchem Anblick aber sinkt der Mut manchmal. Da wir im Metier des sozialen Lebens noch Neulinge sind, bleiben wir einer Art Unbeholfenheit, einem Gefühle der Betäubung ausgeliefert, wie wenn wir ohne Hilfe in einem fremden Lande wären. In jedem Alter verursachen die unbekannten Dinge unwillkürliche Schreckensregungen. Der junge Mann gleicht dem Soldaten, der gegen Kanonen marschiert und vor Schemen zurückweicht. Er schwankt zwischen den Maximen der Welt; er versteht weder zu geben noch zu nehmen, weder sich zu verteidigen noch anzugreifen; er liebt die Frauen und respektiert sie, als wenn er Angst vor ihnen hätte; seine guten Eigenschaften schaden ihm, er ist ganz Edelmut, ganz Scham und frei von den eigennützigen Berechnungen der Habgier. Wenn er lügt, tut er es zu seinem Vergnügen und nicht um des Gewinstes willen. Inmitten zweifelhafter Wege weist ihm sein Gewissen, mit dem er sich noch nicht abgefunden hat, den guten Weg und er zaudert, ihn einzuschlagen. Die Menschen, die dazu bestimmt sind, durch die Eingebungen des Herzens zu leben, statt auf die Kombinationen zu hören, die vom Kopf ausgehen, verharren lange in dieser Lage. Das war meine Geschichte. Ich wurde der Spielball zweier entgegengesetzter Triebfedern. Ich wurde gleichzeitig durch die Wünsche des jungen Menschen getrieben und immer durch seine sentimentale Albernheit zurückgehalten. Die Pariser Aufregungen sind für Seelen, die mit einer lebhaften Sensibilität begabt sind, nur grausam: die Vorteile, deren sich die überragenden Persönlichkeiten oder die reichen Leute dort erfreuen, reizen die Leidenschaften. In dieser Welt der Größe und Kleinheit dient die Eifersucht häufiger als Dolch denn als Sporn. Inmitten des ständigen Kampfes von Ehrgeiz, Wünschen und Haßgefühlen muß man notwendigerweise entweder das Opfer oder der Mitschuldige dieser allgemeinen Bewegung werden. Unmerklich macht das beständige Bild des glücklichen Lasters und der verspotteten Tugend einen jungen Menschen schwankend; das Pariser Leben nimmt ihm bald den Schmelz des Gewissens; dann beginnt und vollzieht sich das höllische Werk seiner Demoralisation. Die erste der Vergnügungen, diejenige, welche anfangs alle anderen in sich begreift, ist von derartigen Gefahren umgeben, daß es unmöglich ist, über die geringsten Handlungen, die sie hervorruft, nicht nachzudenken und nicht alle ihre Konsequenzen abzuschätzen. Diese Abschätzungen führen zum Egoismus. Wenn irgendein armer Student, durch die Heftigkeit seiner Leidenschaften fortgerissen, sich zu vergessen geneigt ist, bezeigen und verursachen ihm die, welche ihn umgeben, soviel Mißtrauen, daß es ihm recht schwer fällt, es nicht zu teilen, sich nicht gegen seine edelmütigen Ideen zu wehren. Dieser Kampf trocknet sein Herz aus, macht es enger, treibt das Leben ins Gehirn und erzeugt jene Pariser Gefühllosigkeit und jene Sitten, hinter denen sich unter der anmutigsten Frivolität, unter Voreingenommenheiten, die mit Begeisterungen Aehnlichkeit haben, die Politik oder das Geld verbergen. Dort hindert Glückstrunkenheit die naivste Frau nicht, stets ihre Vernunft zu bewahren. Eine solche Atmosphäre mußte mein Benehmen und meine Gefühle beeinflussen. Die Fehler, die mir meine Tage vergifteten, würden für das Herz vieler Leute eine leichte Last gewesen sein; die Südländer aber besitzen eine Religiosität, die sie an die katholischen Wahrheiten und an ein anderes Leben glauben läßt. Dieser Glaube verleiht ihren Leidenschaften eine große Tiefe und ihren Gewissensbissen Beharrlichkeit. Zu der Zeit, da ich Medizin studierte, waren die Angehörigen der Armee überall die Herren; um Frauen zu gefallen, mußte man damals wenigstens Oberst sein. Was war ein armer Student in der großen Welt? Nichts! Durch die Kraft meiner Leidenschaften lebhaft aufgestachelt, und für sie keinen Ausweg wissend, durch Geldmangel bei jedem Schritte gehemmt, Studium und Ruhm für einen allzu langsamen Weg haltend, um mir die Vergnügen zu verschaffen, die mich lockten, zwischen meinen heimlichen Schamgefühlen und den schlechten Beispielen hin und her pendelnd, für die Ausschweifungen in der unteren Schicht auf keinerlei Widerstände stoßend, und, um in die gute Gesellschaft zu kommen, nichts wie Schwierigkeiten sehend, verbrachte ich traurige Tage, eine Beute unklarer Leidenschaften, tötenden Müßiggangs und mit plötzlichen Exaltationen vermischter Entmutigungen.
Diese Krise endigte schließlich mit einer bei jungen Leuten ziemlich gewöhnlichen Lösung. Stets habe ich größten Widerwillen gegen die Störung eines ehelichen Glücks gehabt; ferner hinderte mich der unwillkürliche Freimut meiner Gefühle, sie zu verbergen: es ist mir physisch also unmöglich gewesen, in einem Zustande offenbarer Lüge zu leben. Die in Hast genossenen Freuden verführen mich nicht sehr, ich liebe das Glück langsam auszukosten. Da ich nicht frischweg lasterhaft war, stand ich meiner Isolierung machtlos gegenüber, nach so vielen vergeblich unternommenen Anstrengungen, um in die große Welt einzudringen, wo ich einer Frau hätte begegnen können, die sich damit abgegeben haben würde, mir die Klippen jedes Weges zu zeigen, mir ausgezeichnete Manieren beizubringen, mir zu raten, ohne meinen Stolz zu empören, und mich überall einzuführen, wo ich für meine Zukunft nützliche Beziehungen hätte anknüpfen können. In meiner Verzweiflung würde mich die gefährlichste Frauengunst vielleicht verführt haben; doch alles fehlte mir, selbst die Gefahr! Und die Unerfahrenheit führte mich in meine Einsamkeit zurück, in der ich angesichts meiner enttäuschten Leidenschaften verharrte. Endlich, mein Herr, knüpfte ich eine anfangs heimliche Liebschaft mit einem jungen Mädchen an, an die ich mich nolens volens wagte, bis sie mein Los zu dem ihren machte. Diese junge Person, die einer anständigen, aber minderbemittelten Familie angehörte, gab ihr bescheidenes Leben bald um meinetwillen auf und vertraute mir furchtlos eine Zukunft an, welche die Tugend ihr in schönem Lichte zeigte. Die Bescheidenheit meiner Lage schien ihr zweifellos die beste der Garantien. Von diesem Augenblick an beruhigten sich die Stürme, die mein Herz verwirrten, meine ausschweifenden Wünsche, mein Ehrgeiz, kurz, alles im Glück, in dem Glücke eines jungen Mannes, der weder die Sitten der Welt, noch ihre Ordnungsmaximen, noch die Macht der Vorurteile kennt; einem vollständigen Glücke aber, wie es das eines Kindes ist. Ist die erste Liebe nicht eine zweite Kindheit, die über unsere Tage der Mühe und Arbeit ausgebreitet liegt? Es gibt Menschen, die das Leben sofort verstehen, es so beurteilen, wie es ist, die Irrtümer der Welt sehen, um sie sich zunutze zu machen, die sozialen Vorschriften, um sie zu ihrem Vorteil zu wenden, und die Tragweite von allem abzuschätzen wissen. Diese kalten Menschen sind nach den menschlichen Gesetzen weise. Dann gibt es arme Dichter, nervöse Leute, die lebhaft empfinden und Fehler begehen; ich gehörte zu den letzteren. Meine erste Zuneigung war anfangs keine wahre Leidenschaft, ich folgte meinem Instinkt und nicht meinem Herzen. Ich opferte ein armes Mädchen mir selbst auf, und es fehlte mir nicht an ausgezeichneten Gründen, mich zu überreden, daß ich nichts Schlechtes tat. Was sie anlangte, so war sie die Hingebung selber, besaß ein goldenes Herz, einen gesunden Verstand und eine schöne Seele. Stets hat sie mir nur ausgezeichnete Ratschläge gegeben, Anfangs feuerte ihre Liebe meinen Mut an, dann veranlaßte sie mich langsam, meine Studien wieder aufzunehmen, indem sie an mich glaubte, mir Erfolge, Ruhm und Vermögen voraussagte. Heute ist die medizinische Wissenschaft mit allen Wissenschaften verknüpft, und sich in ihr auszeichnen, ist ein sehr schwer zu erlangender, aber gut belohnter Ruhm. In Paris bedeutet Ruhm immer Geld. Das gute junge Mädchen vergaß sich über mich, teilte mein Leben in all seinen Launen, und ihre Sparsamkeit ließ uns Luxus in meiner bescheidenen Lage finden. Als wir zu zweit waren, hatte ich mehr Geld für meine Launen als damals, wo ich allein war. Dies, mein Herr, war meine schönste Zeit. Ich arbeitete mit Eifer, hatte ein Ziel, war ermutigt; ich teilte meine Gedanken und meine Handlungen einem Wesen mit, das sich Liebe zu erwerben, und mehr noch, mir durch die Klugheit, die sie in einer Lage entfaltete, wo Klugheit unmöglich erscheint, eine hohe Schätzung einzuflößen verstand. Doch alle meine Tage glichen sich. Diese Monotonie des Glücks, der köstlichste Zustand, den es auf Erden gibt und dessen Wert erst nach allen Stürmen des Herzens geschätzt wird, dieser süße Zustand, in welchem es keine Lebensmüdigkeit mehr gibt, wo die geheimsten Gedanken ausgetauscht werden, wo man verstanden wird, dies Glück nun wurde einem heißblütigen Menschen, der nach sozialen Auszeichnungen lüstern ist, der es satt ist, dem Ruhme nachzujagen, weil er zu langsamen Schrittes geht, bald zur Last. Meine alten Träume drangen wieder auf mich ein. Ungestüm verlangte ich nach den Freuden des Reichtums, und forderte sie im Namen der Liebe. Naiv tat ich solche Wünsche kund, wenn ich abends von einer lieben Stimme in dem Augenblicke gefragt wurde, wo ich mich, melancholisch und nachdenklich, in die Wollüste eines eingebildeten Ueberflusses vertiefte. Zweifelsohne machte ich dann das süße Geschöpf, das sich meinem Glücke geweiht hatte, seufzen. Für sie war es der heftigste Kummer, mich irgend etwas wünschen zu sehen, was sie mir nicht sofort geben konnte. Oh, mein Herr, die Aufopferung des Weibes ist erhaben!«
Dieser Ausruf des Arztes verriet eine geheime Bitterkeit; denn er verfiel in eine vorübergehende Träumerei, die Genestas respektierte.
»Nun, mein Herr,« begann Benassis wieder, »ein Ereignis, das diese eingegangene Ehe hätte sichern müssen, zerstörte sie und war die erste Ursache meiner Unglücksfälle. Mein Vater starb und hinterließ ein beträchtliches Vermögen; die Erbschaftsregelung rief mich für einige Monate nach dem Languedoc und ich reiste allein hin. Ich fand also meine Freiheit wieder. Jede Verpflichtung, selbst die süßeste, drückt in jungen Jahren: man muß das Leben erprobt haben, um die Notwendigkeit eines Jochs und die der Arbeit zu erkennen. Ich empfand mit der Lebhaftigkeit eines Kindes des Languedocs das Vergnügen, zu kommen und zu gehen, selbst ohne freiwillig über mein Tun irgend jemand Rechenschaft ablegen zu müssen. Wenn ich auch die Bande, die ich geknüpft hatte, nicht völlig vergaß, so war ich doch mit Interessen beschäftigt, die mich davon abhielten, und unmerklich schwand die Erinnerung an sie. Nicht ohne ein peinliches Gefühl dachte ich daran, sie nach meiner Rückkehr wieder aufzunehmen; dann fragte ich mich, warum sie wieder aufnehmen. Währenddem erhielt ich Briefe, die durchdrungen waren von einer wahren Zärtlichkeit; doch mit zweiundzwanzig Jahren hält ein junger Mann alle Frauen für gleich zärtlich; er weiß noch nicht zwischen Herz und Leidenschaft zu unterscheiden; er vermengt alles in den Sensationen des Vergnügens, die anfangs alles zu umfassen scheinen. Später, viel später erst, als ich die Menschen und die Tatsachen besser kannte, habe ich den wirklichen Adel in diesen Briefen zu schätzen gewußt, worin sich niemals etwas Persönliches mit dem Ausdrucke der Gefühle vermischte, worin man sich für mich meines Vermögens freute, worin man sich seinetwegen darüber beklagte, worin man nicht die Vermutung durchschimmern ließ, daß ich anders werden könnte, weil man sich selber nicht fähig fühlte, anders zu werden. Doch schon überließ ich mich ehrgeizigen Berechnungen und dachte daran, mich in die Freuden des Reichen zu stürzen, eine Persönlichkeit zu werden und eine schöne Heirat zu schließen. Ich begnügte mich mit der Kälte eines Gecken zu sagen: ›Sie liebt mich sehr!‹ Bereits war ich in Sorgen, wie ich es anstellen sollte, mich von dieser Liebschaft frei zu machen. Diese Verlegenheit, diese Scham führt zur Grausamkeit; um vor seinem Opfer nicht rot werden zu müssen, fängt der Mensch damit an, es zu verletzen und tötet es dann. Die Erwägungen, die ich in diesen Tagen der Irrungen anstellte, haben mir viele Abgründe des Herzens entschleiert. Ja, glauben Sie mir, mein Herr, die, welche die Laster und Tugenden der menschlichen Natur am gründlichsten erforscht, sind Menschen, die sie aufrichtig an sich selber studiert haben. Unser Gewissen ist der Ausgangspunkt. Wir schließen von uns auf die Menschen, nie von den Menschen auf uns. Als ich nach Paris zurückkehrte, bewohnte ich ein Haus, das ich hatte mieten lassen, ohne weder von dieser Maßnahme noch von meiner Rückkehr die einzige Person, die Interesse daran hatte, in Kenntnis gesetzt zu haben. Ich wünschte unter den tonangebenden jungen Leuten eine Rolle zu spielen. Nachdem ich einige Tage lang die ersten Wonnen des Wohllebens genossen hatte, und davon trunken genug war, um nicht schwach zu werden, besuchte ich das arme Geschöpf, das ich verlassen wollte. Mit Hilfe des Frauen natürlichen Zartgefühls erriet sie meine geheimen Empfindungen und verbarg mir ihre Tränen. Sie mußte mich verachten; doch, sanft und gut wie immer, zeigte sie mir niemals Verachtung. Diese Nachsicht quälte mich grausam. Ob wir Salon- oder Straßenmörder sind, wir sehen es gern, wenn unsere Opfer sich verteidigen; der Kampf scheint ihren Tod dann zu rechtfertigen. Anfangs erneuerte ich sehr angelegentlich meine Besuche. Wenn ich nicht zärtlich war, bemühte ich mich, liebenswürdig zu erscheinen; dann wurde ich unmerklich höflich; eines Tages duldete sie es aus einer Art stillschweigender Uebereinkunft, daß ich sie wie eine Fremde behandelte, und ich glaubte, mich sehr anständig benommen zu haben. Nichtsdestoweniger überließ ich mich fast mit Raserei dem Wirbel des Großstadtlebens, um in seinen Festen die wenigen Gewissensbisse, die mir noch blieben, zu ersticken. Wer sich selber geringschätzt, kann nicht allein leben, ich führte also das verschwenderische Leben, das in Paris die reichen jungen Leute zu führen pflegen. Da ich Bildung und ein sehr gutes Gedächtnis besaß, schien ich mehr Geist zu haben, als ich in Wirklichkeit hatte, und hielt mich daher für wertvoller als die anderen: die Leute, in deren Nutzen es lag, mir zu beweisen, daß ich ein hervorragender Mensch sei, fanden mich durchaus davon überzeugt. Diese Ueberlegenheit wurde so leicht anerkannt, daß ich mir nicht einmal die Mühe nahm, sie zu rechtfertigen. Von allen Praktiken der Welt ist das Lob die geschickt hinterlistigste. In Paris besonders wissen die Politiker jeder Art ein Talent von seiner Geburt an unter den in verschwenderischer Fülle in seine Wiege geworfenen Kränzen zu ersticken. Ich machte daher meinem Rufe keine Ehre, nutzte mein Ansehen nicht aus, um mir eine Laufbahn zu eröffnen, und knüpfte keine nützlichen Verbindungen an. Ich stürzte mich in tausend Frivolitäten jedweder Art. Ueberließ mich jenen Eintagsleidenschaften, welche die Schande der Pariser Salons sind, wo jeder, nach einer wirklichen Liebe suchend, sich auf der Jagd danach abstumpft, in jene Libertinage verfällt, die als guter Ton gilt, und schließlich über eine wirkliche Leidenschaft ebenso erstaunt ist, wie die Welt sich über eine gute Handlung wundert. Ich ahmte die anderen nach und verletzte unberührte und edle Seelen oft durch die nämlichen Schläge, die mich heimlich verwundeten. Trotz all dieses falschen Scheins, der mich zu falschen Urteilen verleitete, lebte in mir ein unvertilgbares Zartgefühl, dem ich stets gehorchte. Bei sehr vielen Gelegenheiten wurde ich betrogen, wo ich errötet wäre, wenn es nicht geschehen wäre, und brachte mich durch solche Vertrauensseligkeit, zu der ich mich innerlich beglückwünschte, um die Achtung. Tatsächlich ist die Welt voll Respekt vor der Geschicklichkeit, in welcher Form sie sich auch zeigen mag. Für sie gibt überall das Ergebnis das Gesetz. Die Welt schrieb mir also Laster, Eigenschaften, Siege und Mißgeschick zu, die ich nicht hatte; sie dichtete mir galante Erfolge an, von denen ich nichts wußte; sie tadelte mich für Handlungen, mit denen ich nichts zu tun hatte. Aus Stolz verschmähte ich es, Verleumdungen Lügen zu strafen, und nahm aus Selbstgefälligkeit üble Nachreden hin, die mir schmeichelten. Dem Anscheine nach war mein Leben glücklich, in Wirklichkeit kläglich. Ohne die Unglücksfälle, die bald über mich hereinbrachen, hätte ich meine guten Eigenschaften nach und nach verloren und die schlechten durch das ständige Spiel mit den Leidenschaften, durch den Mißbrauch der Genüsse, welche den Körper entnerven, und durch die abscheulichen Gewohnheiten des Egoismus, welche die seelischen Spannkräfte abnutzen, triumphieren lassen. Ich ruinierte mich. Und zwar auf folgende Weise: Wie groß eines Menschen Vermögen auch sein mag, in Paris stößt er immer auf ein noch größeres, das er zu seinem Zielpunkt macht und das er übertreffen will. Wie so viele Leichtfüße war ich ein Opfer dieses Kampfes und sah mich am Ende von vier Jahren genötigt, einige Besitzungen zu verkaufen und die anderen mit Hypotheken zu belasten. Da sollte mich ein furchtbarer Schlag treffen: Seit zwei Jahren hatte ich die Person, die ich verlassen, nicht gesehen; doch wenn es so weitergegangen wäre, würde mich das Unglück zweifelsohne zu ihr zurückgeführt haben. Eines Abends erhielt ich inmitten einer lustigen Gesellschaft ein mit kraftloser Hand geschriebenes Billett, das etwa folgende Worte enthielt:
›Ich habe nur noch einige Augenblicke zu leben, mein Freund, ich möchte Sie sehen, um das Schicksal meines Kindes kennenzulernen, um zu wissen, ob es das Ihrige sein wird, auch um die Schmerzen zu mildern, die Sie eines Tages über meinen Tod empfinden könnten.‹
Dieser Brief machte mich zu Eis erstarren; er enthüllte die geheimen Schmerzen der Vergangenheit, wie er die Geheimnisse der Zukunft in sich schloß. Ich ging zu Fuß fort, ohne auf meinen Wagen zu warten, und durchquerte ganz Paris, von meinen Gewissensbissen getrieben, von der Heftigkeit eines ersten Gefühls überwältigt, das von Dauer wurde, sobald ich mein Opfer sah. Die Sauberkeit, unter der sich das Elend dieser Frau verbarg, malte die Aengste ihres Lebens: sie ersparte mir die Scham darüber, indem sie mir mit edler Zurückhaltung davon sprach, als ich feierlich versprochen hatte, unser Kind zu adoptieren. Diese Frau starb, mein Herr, trotz der Sorge, mit der ich sie überhäufte, trotz aller Hilfsmittel der Wissenschaft, die ich vergebens anrief. Diese Sorge, diese späte Aufopferung dienten nur dazu, ihre letzten Augenblicke weniger bitter zu machen. Sie hatte unaufhörlich gearbeitet, um ihr Kind aufzuziehen und zu ernähren. Das mütterliche Gefühl hatte sie wohl dem Unglück, nicht aber ihrem lebhaftesten Kummer gegenüber: von mir verlassen zu sein, gefühllos gemacht. Hundertmal hatte sie einen Schritt bei mir unternehmen wollen, hundertmal hatte ihr Frauenstolz sie davon zurückgehalten; sie begnügte sich mit Weinen, ohne mich zu verfluchen, indem sie daran dachte, daß von dem für meine Launen von mir mit vollen Händen verausgabtem Golde auf dem Wege der Erinnerung nicht ein Tröpfchen in ihren armen Haushalt flösse, um das Leben einer Mutter und ihres Kindes zu erleichtern. Dies große Unglück war ihr wie die natürliche Strafe ihres Fehltritts vorgekommen. Von einem guten Priester von Saint-Sulpice, dessen nachsichtige Stimme ihr die Ruhe wiedergegeben hatte, unterstützt, war sie dahin gelangt, ihre Tränen unter dem Schutze der Altäre zu trocknen und dort Hoffnungen zu suchen. Die in Strömen von mir in ihr Herz gegossene Bitterkeit hatte sich unmerklich gemildert. Als sie eines Tages ihren Sohn ›Mein Vater‹ sagen hörte, Worte, die sie ihm nicht beigebracht, verzieh sie mir mein Verbrechen. Durch die Tränen und Schmerzen aber, durch die Arbeiten bei Tag und Nacht, hatte sich ihre Gesundheit geschwächt. Zu spät brachte ihr die Religion ihre Tröstungen und den Mut, des Lebens Uebel zu ertragen. Sie war von einem Herzleiden befallen worden, das ihre Aengste und das ewige Warten auf meine Rückkehr – eine ewig wiederkehrende, obwohl immer getäuschte Hoffnung – verursacht hatten. Als sie sich schließlich schlechter fühlte, hatte sie mir von ihrem Sterbelager aus jene wenigen, der Vorwürfe baren und von der Religiosität, aber auch von ihrem Glauben an meine Güte diktierten Worte geschrieben. Sie wußte, sagte sie, daß ich mehr verblendet als verderbt sei; sie ging so weit, sich anzuklagen, ihren Frauenstolz zu weit getrieben zu haben.
›Hätte ich eher geschrieben,‹ sagte sie mir, ›würden wir vielleicht Zeit gehabt haben, unser Kind durch eine Heirat zu legitimieren.‹
Sie wünschte diese Bande nur für ihren Sohn, und würde sie nicht gefordert haben, wenn sie sie durch den Tod nicht schon gelöst gefühlt hätte. Doch es war nicht mehr Zeit, nur noch Stunden hatte sie zu leben. An dem Bette, mein Herr, wo ich den Wert eines liebenden Herzen kennenlernte, änderte ich meine Gefühle für immer. Ich stand in einem Alter, wo die Augen noch Tränen haben. Während der letzten Tage, die dies kostbare Leben noch währte, bezeugten meine Worte, meine Handlungen und meine Seufzer die Reue eines ins Herz getroffenen Mannes. Zu spät erkannte ich die auserlesene Seele wieder, welche die Schwächen der Welt, welche die Seichtheit und der Egoismus der tonangebenden Frauen mich wünschen und suchen gelehrt hatten. Müde, so viele Masken zu sehen, müde, so viele Lügen anzuhören, hatte ich die wahre Liebe gerufen, von der mich erkünstelte Leidenschaften träumen ließen; von mir getötet, bewunderte ich sie dort, ohne sie bei mir zurückbehalten zu können, als sie mir noch so ganz gehörte. Eine vierjährige Erfahrung hatte mir meinen eigenen und wirklichen Charakter geoffenbart. Mein Temperament, die Natur meiner Einbildungskraft, meine religiösen Grundsätze, die weniger zerstört als eingeschlafen waren, meine Gemütsart, mein mißverstandenes Herz, alles in mir drängte mich seit einiger Zeit, mein mondänes Leben durch die Wonnen des Herzens und die Leidenschaft durch die Entzückungen der Familie, die wahrsten von allen, zu ersetzen. Dadurch, daß ich mich so lange mit der Leere einer aufreibenden zwecklosen Existenz herumgeschlagen und einem Vergnügen nachgejagt hatte, das stets der Gefühle entbehrte, die es verschönen müssen, ergriffen mich die Bilder des intimen Lebens auf das lebhafteste. So war die Umwälzung, die sich in meinen Sitten vollzog, obwohl sie schnell eintrat, doch dauerhaft. Mein südländischer, durch den Pariser Aufenthalt verfälschter Charakter hatte mich sicherlich so weit gebracht, daß ich durch das Los eines betrogenen Mädchens nicht zum Mitleid gerührt worden wäre; und ich würde über ihre Schmerzen gelacht haben, wenn irgendein Spaßvogel sie mir in lustiger Gesellschaft erzählt hätte. In Frankreich wird die Abscheulichkeit eines Verbrechens stets durch die Feinheit eines Bonmots verwischt; in dieses himmlischen Geschöpfs Gegenwart aber, dem ich nichts vorwerfen konnte, schwiegen alle Spitzfindigkeiten: der Sarg stand da und mein Kind lächelte mich an, ohne zu wissen, daß ich seine Mutter tötete. Diese Frau starb, sie starb glücklich, da sie merkte, daß ich sie lieb hatte, und diese neue Liebe war weder durch Mitleid, noch selbst durch das Band, das uns fest zusammenschloß, hervorgerufen worden. Niemals werde ich die letzten Stunden des Todeskampfes vergessen, wo die wiedereroberte Liebe und die befriedigte Mütterlichkeit die Schmerzen zum Schweigen brachten. Der Ueberfluß, der Luxus, mit dem sie sich nun umgeben sah, die Freude an ihrem Sohne, der in den hübschen Kinderkleidern noch schöner wurde, waren die Unterpfänder einer glücklichen Zukunft für dies kleine Wesen, in dem sie sich wieder aufleben sah. Der Vikar von Saint-Sulpice, der Zeuge meiner Verzweiflung, machte sie noch tiefer, da er mir keinen banalen Trost spendete und mir die Schwere meiner Verpflichtungen klarmachte; aber ich bedurfte keines Antriebes, mein Gewissen sprach laut genug. Ein Weib hatte sich mir edelmütig anvertraut, und ich hatte sie belogen, indem ich ihr sagte, daß ich sie liebe, als ich sie verriet. Einem armen Mädchen hatte ich alle Schmerzen bereitet; nachdem sie die Demütigungen dieser Welt auf sich genommen, mußte sie mir heilig sein; sie starb, indem sie mir verzieh und all ihre Leiden vergaß, weil sie sich auf eines Mannes Wort verließ, der ihr sein Wort bereits gebrochen hatte. Nachdem Agathe mir ihren Jungmädchenglauben geschenkt, hatte sie in ihrem Herzen noch den Mutterglauben gefunden, um ihn mir zu überlassen. Oh, mein Herr, dieses Kind! ihr Kind! . . . Gott allein kann wissen, was es für mich bedeutete! Dies liebe kleine Wesen war wie seine Mutter anmutig in seinen Bewegungen, in seinen Worten und seinen Gedanken; für mich aber war es mehr als ein Kind! War es nicht meine Verzeihung, meine Ehre? Es war mir als Vater teuer, ich wollte es noch lieben, wie seine Mutter es geliebt haben würde, und meine Gewissensbisse in Glück verwandeln, wenn es mir gelänge, ihm den Glauben einzuflößen, daß es nicht aufgehört habe, am Mutterbusen zu ruhen; so hing ich an ihm mit allen menschlichen Banden und mit allen religiösen Hoffnungen. Mein Herz hat also alle Zärtlichkeit besessen, die Gott in ein Mutterherz legt. Des Kindes Stimme machte mich zittern, im Schlafe betrachtete ich es mit einer immer neu entstehenden Freude, und oft fiel eine Träne auf seine Stirn. Ich hatt' es daran gewöhnt, wenn es aufwachte, an mein Bett zu kommen, um sein Gebet herzusagen. Wie viele süße Gemütswallungen hat mir das einfache Gebet des: Vater Unser in dem frischen und reinen Munde dieses Kindes verschafft! aber auch wie viele schreckliche Aufregungen! Eines Morgens, nachdem es: ›Unser Vater, der du bist im Himmel‹ gesagt hatte, hielt es inne und fragte mich:
›Warum sagt man nicht: unsere Mutter?‹
Dies Wort schmetterte mich nieder. Ich betete meinen Sohn an und hatte in sein Leben bereits mehrere Ursachen des Unglücks gesät . . . Obwohl die Gesetze die Fehltritte der Jugend anerkannt und sie beinahe geschützt haben, indem sie natürlichen Kindern ungern eine gesetzliche Existenz geben, hat die Welt den Widerwillen der Gesetze durch unüberwindbare Vorurteile bestärkt. Aus dieser Zeit, mein Herr, datieren die ernsthaften Erwägungen, die ich über die Grundlage der Gesellschaft, über ihren Mechanismus, über die Pflichten des Menschen und über die Moral angestellt habe, welche die Bürger beseelen muß. Zu allererst überblickt das Genie jene Bande zwischen den Gefühlen des Menschen und den Schicksalen der Gesellschaft; die Religion flößt den guten Geistern die für das Glück notwendigen Grundsätze ein; Reue allein aber diktiert sie den hitzigen Phantasien: die Reue verschaffte mir Klarheit. Ich lebte nur für ein Kind, und durch dies Kind wurde ich zum Nachdenken über die großen sozialen Fragen veranlaßt. Ich beschloß, es persönlich von vornherein durch Heranziehung aller Mittel zum Erfolge auszurüsten, um sein Emporkommen sicher vorzubereiten. Also ließ ich den Knaben Englisch, Deutsch, Italienisch und Spanisch lernen, nach und nach umgab ich ihn mit Leuten dieser verschiedenen Länder, die ihn von Kindheit an an die Aussprache ihrer Sprache gewöhnen sollten. Mit Freuden sah ich glänzende Anlagen in ihm, die ich benutzte, um ihn spielend zu belehren. Nicht einen einzigen falschen Gedanken wollte ich in seinen Geist eindringen lassen, vor allem suchte ich ihn frühzeitig an geistige Arbeit zu gewöhnen, ihm jenen schnellen und sicheren Blick, der verallgemeinert, und jene Geduld zu verleihen, die bis zu den kleinsten Einzelheiten der Besonderheiten hinabsteigt; endlich hab' ich ihn dulden und schweigen gelehrt. Ich erlaubte nicht, daß ein unreines oder nur unsauberes Wort vor ihm geäußert wurde. Infolge meiner Sorgfalt trugen die Menschen und die Dinge, mit denen er umgeben war, dazu bei, ihn zu veredeln, seine Seele zu erziehen, ihm Wahrheitsliebe und Abscheu vor der Lüge beizubringen und ihn einfach und natürlich in Worten, Handlungen und Manieren zu machen. Die Lebhaftigkeit seiner Einbildungskraft ließ ihn schnell die äußeren Unterweisungen erfassen, wie die Fähigkeit seiner Intelligenz ihm seine anderen Studien leicht machte. Welch eine hübsche Pflanze hatte ich zu pflegen! Wieviel Freude haben die Mütter! Da hab' ich begriffen, wie die seinige hatte leben und ihr Unglück ertragen können! Das, mein Herr, war das größte Ereignis meines Lebens; und nun komm' ich zu der Katastrophe, die mich in diesen Bezirk geworfen hat. Jetzt will ich Ihnen also die gewöhnlichste Geschichte, die einfachste von der Welt erzählen, die für mich jedoch die schrecklichste war. Nachdem ich einige Jahre lang all meine Sorgen dem Kinde gewidmet hatte, aus dem ich einen Mann machen wollte, bekam ich Angst vor meiner Einsamkeit; mein Sohn wurde größer, er mußte mich verlassen. Die Liebe war in meiner Seele ein Existenzprinzip. Ich empfand ein Liebebedürfnis, das, immer getäuscht, stärker wieder aufstand und mit dem Alter wuchs. In mir ruhten damals alle Bedingungen einer wahren Zuneigung. Ich hatte sowohl die Glückseligkeiten der Beständigkeit, wie das Glück, ein Opfer in Freude zu verwandeln, erprobt und verstanden, die geliebte Frau mußte immer in meinen Handlungen und in meinen Gedanken voranstehen. Ich fand Gefallen daran, in der Einbildung eine Liebe zu empfinden, die jene Stufe der Gewißheit erreicht hatte, wo die Gefühlserregungen zwei Wesen so sehr durchdringen, daß das Glück in das Leben, in die Blicke und in die Worte übergegangen ist und keine Erschütterung mehr verursacht. Solche Liebe bedeutet dann fürs Leben, was das religiöse Gefühl für die Seele bedeutet, sie beseelt, stützt und erhellt. Die eheliche Liebe verstand ich anders, als sie die meisten Männer verstehen, und fand, daß ihre Schönheit, daß ihre Herrlichkeit genau in jenen Dingen beruht, die sie in einer Menge Ehen ersterben lassen. Lebhaft fühlte ich die moralische Erhabenheit eines Lebens zu zweien, welches so innig geteilt wird, daß die gewöhnlichsten Handlungen für die Fortdauer der Gefühle keinerlei Hindernis bedeuten. Wo aber Herzen begegnen, deren Schlag isochron – verzeihen Sie mir diesen wissenschaftlichen Ausdruck – genug ist, um zu solchem himmlischen Bunde zu gelangen? Wenn es ihrer gibt, so schleudern Natur oder Zufall sie so weit auseinander, daß sie sich nicht vereinigen können, sich zu spät kennenlernen oder zu früh durch den Tod geschieden werden. Dieses Verhängnis muß einen Sinn haben, aber ich habe ihn nie erforscht. Ich leide zu sehr an meiner Wunde, um sie zu studieren. Vielleicht ist das vollkommene Glück ein Monstrum, das unsere Spezies nicht fortpflanzen würde. Meine Sehnsucht nach einer derartigen Ehe wurde durch andere Gründe hervorgerufen. Ich hatte keine Freunde. Für mich war die Welt einsam. Es gibt etwas in mir, das sich dem süßen Phänomen des Seelenbundes widersetzt. Einige Menschen haben mich gesucht, nichts aber hat sie mir nahe gebracht, welche Anstrengungen ich in dieser Richtung auch machte. Vielen Männern gegenüber hab' ich das, was die Welt Ueberlegenheit nennt, zum Schweigen gebracht. Ich ging in ihrem Schritte, machte ihre Ideen zu meinen eigenen, ich lachte ihr Lachen, entschuldigte ihre Charakterfehler; hätt' ich Ruhm erlangt, so würde ich ihn ihnen für ein bißchen Zuneigung verkauft haben. Diese Männer haben mich ohne Bedauern verlassen. Alles in Paris ist Fallstrick und Schmerz für Seelen, die dort wahre Gefühle suchen wollen. Wo in der Welt ich meine Füße hinsetzte, brannte der Boden um mich her. Für die einen war meine Nachgiebigkeit Schwäche; wenn ich ihnen die Fäuste des Mannes zeigte, der die Kraft fühlte, eines Tages die Macht auszuüben, war ich bösartig . . . Für die anderen war jenes köstliche Lachen, das mit zwanzig Jahren aufhört, und dem uns zu überlassen wir uns später fast schämen, ein Grund zum Spott, ich belustigte sie. In unseren Tagen langweilt sich die Welt und verlangt nichtsdestoweniger Ernst in den leichtfertigsten Gesprächen. Eine schreckliche Zeit, wo man sich vor einem höflichen, mittelmäßigen Menschen beugt, der so kalt ist, daß man ihn haßt, dem man aber gehorcht! Später hab' ich die Gründe für solche scheinbaren Inkonsequenzen entdeckt. Die Mittelmäßigkeit, mein Herr, genügt in allen Lebensstunden, sie ist das tägliche Gewand der Gesellschaft; alles, was von dem milden, von mittelmäßigen Leuten geworfenen Schatten abweicht, ist etwas zu Auffallendes. Genie und Originalität sind Kleinodien, die man verwahrt und sorgsam hütet, um sich mit ihnen an gewissen Tagen zu schmücken. Kurz, ich war inmitten von Paris Einsiedler und konnte nichts finden in der Welt, die mir nichts zurückgab, wenn ich ihr alles überlieferte. Und während ich nicht genug von meinem Kinde hatte, um meinem Herzen genugzutun, weil ich Mann war, begegnete ich eines Tages, als ich mein Leben erkalten fühlte, als ich mich unter der Last meiner heimlichen Nöte krümmte, der Frau, die mich die Liebe in ihrer ganzen Gewalt, die Ehrfurcht vor einer eingestandenen Liebe, die Liebe mit ihren reichen Glückshoffnungen, kurz die Liebe sollte kennenlernen lassen! . . . Ich hatte meine Verbindung mit dem greisen Freunde meines Vaters, der sich meiner Angelegenheiten einst sorgend annahm, erneuert: bei ihm sah ich die junge Person, für die ich eine Liebe fühlte, welche so lange wie mein Leben währen sollte. Je älter der Mensch wird, mein Herr, desto mehr erkennt er den starken Einfluß der Gedanken auf die Ereignisse. Sehr achtenswerte Vorurteile, die von edlen, religiösen Ideen erzeugt worden waren, wurden meines Unglücks Ursache. Dies junge Mädchen gehörte einer außerordentlich frommen Familie an, deren katholische Meinungen auf den Geist einer fälschlicherweise Jansenisten genannten Sekte zurückzuführen waren, die einst Verwirrungen in Frankreich hervorrief; Sie wissen, warum?«
»Nein . . .« sagte Genestas.
»Jansenius, Bischof von Ypern, schrieb ein Buch, worin man Behauptungen zu finden glaubte, die nicht im Einklang mit den Doktrinen des heiligen Stuhles standen. Später schienen die Behauptungen des Textes keine Ketzereien mehr zu sein; einige Schriftsteller gingen sogar so weit, die materielle Existenz der Maximen zu leugnen. Diese nichtigen Streitereien ließen in der gallikanischen Kirche zwei Parteien, die der Jansenisten und die der Jesuiten entstehen. Auf beiden Seiten fanden sich bedeutende Männer. Es war ein Kampf zwischen zwei mächtigen Körperschaften. Die Jansenisten beschuldigten die Jesuiten, eine allzu laxe Moral zu lehren, und strebten nach einer übermäßigen Reinheit der Sitten und Prinzipien. Die Jansenisten waren also in Frankreich eine Art katholischer Puritaner, wenn diese beiden Begriffe sich vereinigen lassen sollten. Während der französischen Revolution bildete sich infolge des wenig bedeutenden Schismas, das das Konkordat hervorrief, eine Kongregation reiner Katholiken, welche die durch die revolutionäre Gewalt und die Zugeständnisse des Papstes eingesetzten Bischöfe nicht anerkannten. Diese Schar von Gläubigen bildete, was man die ›kleine Kirche‹ nennt, deren Schäflein gleich den Jansenisten jene musterhafte Lebensregelmäßigkeit anstrebten, welche für die Existenz aller verfolgten und geächteten Sekten ein notwendiges Gesetz zu sein scheint. Mehrere jansenistische Familien gehörten der kleinen Kirche an. Des jungen Mädchens Eltern hatten diese beiden in gleicher Weise strengen Puritanerlehren angenommen, welche dem Charakter und der Physiognomie etwas Ehrfurchtgebietendes verleihen; denn es ist die Eigentümlichkeit absoluter Doktrinen, die einfachsten Handlungen zu vergrößern, indem sie sie an das zukünftige Leben anknüpfen: daher kommt jene prächtige und süße Herzensreinheit, jene Ehrfurcht vor anderen und vor sich selbst, daher, ich weiß nicht welches empfindliche Gefühl für Recht und Unrecht, ferner eine große Nächstenliebe, aber auch die strikte und, um alles zu sagen, unversöhnliche Gerechtigkeit, endlich ein tiefer Abscheu vor den Lastern, besonders vor der Lüge, die sie alle umfaßt. Ich erinnere mich nicht, köstlichere Augenblicke als die gekannt zu haben, während welcher ich zum ersten Male bei meinem alten Freunde das wahrhafte, schüchterne, an jeden Gehorsam gewöhnte junge Mädchen bewunderte, in der alle dieser Sekte eigentümlichen Tugenden erglänzten, ohne daß sie darum irgendwie stolz darauf war. Ihre biegsame und schlanke Figur verlieh ihren Bewegungen eine Anmut, die ihre Sittenstrenge nicht verringern konnte. Ihr Gesichtsschnitt besaß die Vornehmheit und ihre Züge wiesen die Feinheit einer jungen Person aus adliger Familie auf. Ihr Blick war sanft und stolz zugleich; ihre Stirn war ruhig; dann umgab ihren Kopf eine Flut von einfach geflochtenen Haaren, die ihr, ohne daß sie es wußte, als Schmuck dienten. Kurz, Hauptmann, sie zeigte mir den Typus einer Vollendung, den wir immer in der Frau finden, in die wir verliebt sind; muß man nicht, um sie zu lieben, die Merkmale jener erträumten Schönheit an ihr finden, die mit unseren besonderen Vorstellungen übereinstimmt? Wenn ich das Wort an sie richtete, erwiderte sie einfach, ohne Eifer und falsche Scham, da sie das Vergnügen nicht kannte, welches die Harmonien ihres Organs und ihre äußeren Vorzüge hervorriefen. Alle solche Engel besitzen die nämlichen Merkmale, an denen sie das Herz erkennt: die nämliche sanfte Stimme, den nämlichen zärtlichen Blick, die nämliche weiße Haut und etwas Anziehendes in den Bewegungen. Diese guten Eigenschaften harmonieren miteinander, passen zusammen und gehen ineinander auf, um uns zu entzücken, ohne daß wir uns klarmachen können, worin der Reiz besteht. Eine göttliche Seele strömt aus allen Bewegungen aus. Ich liebte leidenschaftlich. Diese Liebe erweckte die Gefühle, die mich einst erregten: Ehrgeiz, Glück, kurz alle meine Träume wieder und befriedigte sie. Das junge Mädchen war schön, vornehm, reich und wohlerzogen und besaß die Vorzüge, welche die Welt bei einer Frau, die in die hohe Stellung, die ich erstreben wollte, kommt, despotisch verlangt. Sie war gebildet und drückte sich mit jener geistreichen Beredsamkeit aus, die in Frankreich zugleich selten und häufig ist, wo bei vielen Frauen die hübschesten Worte inhaltlos sind, während alles, was sie sagte, zugleich sinnvoll war. Endlich besaß sie vor allem ein tiefes Gefühl ihrer Würde, das Respekt einflößte; ich weiß mir für eine Gattin nichts Schöneres. Ich halte ein, Hauptmann! Eine geliebte Frau schildert man immer nur sehr unvollkommen; zwischen ihr und uns bestehen von vornherein Geheimnisse, die der Analyse entgehen. Bald hatte ich meinem alten Freunde meine Liebe gestanden. Er stellte mich der Familie vor und unterstützte mich mit seiner achtunggebietenden Autorität. Obwohl ich anfangs mit jener kühlen Höflichkeit aufgenommen wurde, die exklusiven Leuten eigen ist, welche die Freunde, die sie einmal aufgenommen haben, nicht wieder aufgeben, gelang es mir später, im Familienkreise zugelassen zu werden. Zweifelsohne verdankte ich diesen Achtungsbeweis dem Benehmen, das ich in diesem Falle zeigte. Trotz meiner Leidenschaft tat ich nichts, was mich in meinen Augen herabsetzen konnte, zeigte keine servile Nachgiebigkeit, schmeichelte denen, von denen mein Schicksal abhing, nicht; ich gab mich so, wie ich war, und vor allem als Mann. Als man meinen Charakter gut kennengelernt hatte, sprach mein alter Freund, der ebensosehr wie ich mein trauriges Zölibat beendigt zu sehen wünschte, von meinen Hoffnungen. Man nahm sie günstig, aber mit jener Feinheit auf, welche Leute von Welt selten ablegen. Und in dem Verlangen, mir ›eine gute Partie‹ zu verschaffen – ein Ausdruck, der aus einer so feierlichen Angelegenheit eine Art Handelsgeschäft macht, wobei der eine der beiden Gatten den anderen zu betrügen sucht –, bewahrte der Greis über das, was er meine Jugendirrung nannte, Schweigen. Seiner Meinung nach würde die Existenz meines Kindes moralische Bedenken hervorrufen, mit denen verglichen die Vermögensfrage nichts bedeuten würde, und die einen Bruch herbeiführen dürften. Er hatte recht.
»Das wird eine Angelegenheit sein,« sagte er zu mir, »die sich sehr gut zwischen Ihnen und Ihrer Frau erledigen wird, von der Sie leicht eine schöne und gute Verzeihung erlangen werden!«
Um meine Bedenken zum Schweigen zu bringen, vergaß er keinen der verfänglichen Vernunftschlüsse, welche die übliche Weltklugheit eingibt. Ich will Ihnen gestehen, mein Herr, daß trotz meines Versprechens mein erstes Gefühl mich antrieb, dem Familienoberhaupte alles ehrlich zu entdecken; seine Strenge jedoch machte mich nachdenklich, und die Folgen dieses Geständnisses erschreckten mich; feige fand ich mich mit meinem Gewissen ab, beschloß zu warten und von meiner Braut genügende Liebesbeweise zu erhalten, um mein Glück durch ein gefährliches Geständnis nicht aufs Spiel zu setzen. Meinen Entschluß, alles in einem günstigen Augenblicke zu gestehen, rechtfertigte die Sophismen der Welt und des klugen Greises. Ich wurde also ohne Wissen der Hausfreunde als zukünftiger Gatte bei den Eltern des jungen Mädchens angenommen. Die unterscheidende Charaktereigenschaft solcher frommer Familien ist eine grenzenlose Diskretion; man schweigt sich dort über alles, selbst über die gleichgültigsten Dinge aus. Sie können sich nicht vorstellen, mein Herr, welche Tiefe solch ein sanfter Ernst, der sich auf die geringsten Handlungen erstreckt, den Gefühlen verleiht. Alle Beschäftigungen dort waren nützlich, die Frauen verwandten ihre Muße dazu, Wäsche für die Armen zu nähen; die Unterhaltung war niemals leichtfertig, doch war das Lachen nicht aus ihr verbannt, wiewohl die Scherze dort harmlos und ohne Schärfe waren. Die Reden solcher orthodoxen Leute muteten anfangs merkwürdig an, da sie des Pikanten entbehren, das üble Nachrede und Skandalgeschichten den weltlichen Unterhaltungen verleihen, denn nur der Vater und der Oheim lasen die Zeitungen, und niemals hatte meine Braut einen Blick in jene Blätter geworfen, deren harmlosestes noch von Verbrechen oder öffentlichen Lastern spricht. Später aber hatte die Seele in dieser reinen Atmosphäre die Empfindung, welche die Augen beim Anblick grauer Farbtöne haben: eine süße Erholung und eine sanfte Ruhe. Dem Anscheine nach war es ein Leben von schrecklicher Einförmigkeit. Der innere Anblick dieses Hauses hatte etwas Eisiges: ich sah dort täglich alle Möbel, selbst die am meisten gebrauchten, genau in der nämlichen Weise aufgestellt, und die geringsten Gegenstände immer gleichmäßig sauber. Nichtsdestoweniger zog diese Lebensweise sehr an. Nachdem ich den anfänglichen Widerwillen eines an die Freuden der Abwechslung, des Luxus und der Beweglichkeit von Paris gewöhnten Mannes besiegt hatte, erkannte ich die Vorzüge einer solchen Existenz an: sie entwickelt die Gedanken in ihrer ganzen Ausdehnung und ruft unwillkürliche Betrachtungen hervor: das Herz herrscht dort, nichts lenkt es ab und schließlich sieht es dort irgend etwas, das ebenso unendlich ist wie das Meer. Wie in den Klöstern, wo man unaufhörlich die nämlichen Dinge wiedersieht, löst sich dort der Gedanke notwendigerweise von den Dingen und versetzt sich ohne Ablenkung in die Unendlichkeit der Gefühle. Für einen Mann, der so aufrichtig verliebt war wie ich, erzeugten das Schweigen, die Lebenseinfachheit und die fast klösterliche Wiederholung der nämlichen, in den nämlichen Stunden sich vollziehenden Geschehnisse noch größere Liebeskraft. Dank dieser tiefen Ruhe gewannen die geringsten Bewegungen, ein Wort und eine Bewegung ein wunderbares Interesse. Da sie aus dem Ausdruck der Gefühle alles Gewaltsame fernhalten, zeigen ein Lächeln und ein Blick den Herzen, die sich verstehen, unerschöpfliche Bilder in der Ausmalung ihrer Wonnen und ihrer Betrübnisse. Darum begriff ich damals, daß die Sprache mit dem Prunk ihrer Phrasen nicht so mannigfaltig und beredt sein kann wie der Austausch von Blicken und die Harmonie des Lächelns. Wie viele Male habe ich mich nicht bemüht, meine Seele in meine Augen oder auf meine Lippen zu legen, wenn ich mich zu schweigen und zugleich die Glut meiner Liebe einem jungen Mädchen zu sagen genötigt sah, das in meiner Nähe beständig ruhig blieb, und dem das Geheimnis meiner Anwesenheit in der Wohnung noch nicht enthüllt worden war; denn ihre Eltern wollten ihr in ihrer wichtigsten Lebensangelegenheit freien Entscheid lassen. Stillt aber, wenn man wahre Leidenschaft empfindet, des geliebten Wesens Gegenwart nicht unsere heftigsten Sehnsuchtsgefühle? Ist es nicht das Glück des Christen vor Gott, wenn wir bei ihr weilen dürfen? Heißt sehen nicht anbeten? Wenn es mehr als für jeden anderen für mich eine Marter war, nicht das Recht zu haben, der Begeisterung meines Herzens Ausdruck zu verleihen, wenn ich gezwungen war, darin jene heißen Worte zu begraben, die noch glühendere innere Erregungen vortäuschen, indem sie sie aussprechen, ließ dieser Zwang, indem er meine Leidenschaft gefangenhielt, sie nichtsdestoweniger um so lebhafter bei kleinen Anlässen hervorbrechen, und die geringsten Zufälle erlangten dann einen übermäßigen Wert. Sie stundenlang bewundern, eine Antwort erwarten und die Modulationen ihrer Stimme lange auskosten, um ihre geheimsten Gedanken darin zu suchen, das Zittern ihrer Finger belauern, wenn ich ihr irgendeinen Gegenstand reichte, den sie gesucht hatte, Vorwände ersinnen, um ihr Gewand oder ihre Haare zu streifen, um ihre Hand zu ergreifen, um sie mehr reden zu lassen, als sie wollte: all diese Nichtigkeiten waren große Ereignisse. Während solcher Ekstasen gaben die Augen, die Gebärde, die Stimme der Seele unbekannte Liebesbeweise. Das war meine Sprache, die einzige, die mir des jungen Mädchens kühl jungfräuliche Zurückhaltung erlaubte; denn ihre Art und Weise änderte sich nicht, sie benahm sich mir gegenüber immer, wie eine Schwester sich gegen ihren Bruder benimmt. Lediglich wurde in dem Maße, wie sich meine Leidenschaft steigerte, der Kontrast zwischen meinen Worten und den ihren, zwischen meinen Blicken und den ihren auffälliger, und schließlich erriet ich, daß jenes ängstliche Schweigen das einzige Mittel war, welches dem jungen Mädchen dazu dienen konnte, seine Gefühle auszudrücken. Weilte sie nicht stets im Salon, wenn ich dorthin kam? Blieb sie nicht während meines erwarteten und vielleicht vorhergeahnten Besuches dort? Verriet solch schweigende Treue nicht das Geheimnis ihrer unschuldigen Seele? Lauschte sie endlich nicht meinen Worten mit einem Vergnügen, das sie nicht zu verbergen wußte? Die Naivität unseres Benehmens und die Melancholie unserer Liebe machten die Eltern zweifelsohne schließlich ungeduldig, die mich, als sie mich fast ebenso schüchtern wie ihre Tochter sahen, günstig beurteilten und für einen ihrer Schätzung würdigen Mann hielten. Vater und Mutter vertrauten sich meinem alten Freunde an und sagten ihm die schmeichelhaftesten Dinge über mich: ich sei ihr Adoptivsohn geworden und sie bewunderten vor allem die Moralität meiner Gefühle. Wahrlich, ich war damals wieder jung geworden. In jener frommen und reinen Welt wurde der zweiunddreißigjährige Mann wieder zum glaubensvollen Jüngling. Der Sommer ging zu Ende; wider ihre Gewohnheiten hatten Geschäfte die Familie in Paris zurückgehalten, im September aber war sie frei und konnte nach einer in der Auvergne gelegenen Besitzung reisen. Der Vater bat mich, zwei Monate lang ein altes, tief in den Bergen von Cantal gelegenes Schloß mitzubewohnen. Als mir diese freundschaftliche Einladung zuteil wurde, nahm ich sie nicht sofort an. Mein Zaudern brachte mir den süßesten, den köstlichsten der unwillkürlichen Ausrufe ein, durch die ein bescheidenes junges Mädchen seine Herzensgeheimnisse verraten kann. Évelina . . . mein Gott!« rief Benassis, der in Nachdenken und Schweigen versank.
»Verzeihen Sie, Rittmeister Bluteau,« fuhr er nach einer langen Pause fort. »Zum ersten Male seit zwölf Jahren spreche ich einen Namen aus, der immer durch meine Gedanken flattert und den mir eine Stimme oft im Schlafe zuruft, Évelina also, da ich sie nun einmal mit Namen genannt habe, hob den Kopf mit einer Bewegung, deren kurze Lebhaftigkeit gegen die angeborene Sanftheit ihrer Bewegungen abstach; sie sah mich ohne Stolz, aber mit einer schmerzlichen Unruhe an, errötete und schlug die Augen nieder. Die Langsamkeit, mit der sie ihre Lider öffnete, verursachte mir, ich weiß nicht was für ein bisher unbekanntes Vergnügen. Ich konnte nur mit stockender Stimme und stotternd antworten. Die Erregung meines Herzens sprach lebhaft zu dem ihrigen, und sie dankte mir mit einem süßen, beinahe feuchten Blicke. Wir hatten uns alles gesagt . . . Ich folgte der Familie auf ihre Besitzung. Seit dem Tage, wo unsere Herzen sich verstanden, hatten die Dinge um uns herum ein neues Gesicht bekommen; nichts war uns mehr gleichgültig. Obwohl wahre Liebe sich immer gleichbleibt, muß sie von unseren Gedanken Ausdrucksformen leihen und sich so beständig, sich selber ähnlich und unähnlich in jedem Wesen finden, dessen Leidenschaft ein einziges Werk wird, worin ihre Sympathien Ausdruck finden. Der Philosoph und der Dichter kennen darum allein die Tiefe dieser volkstümlich gewordenen Definition der Liebe: ein Egoismus zu zweien. Wir lieben uns selber in dem andern. Wenn der Liebesausdruck aber so verschieden ist, daß jedes Liebespaar nicht seinesgleichen in der Zeitenfolge hat, so gehorcht es nichtsdestoweniger dem nämlichen Modus in seinen Aeußerungen. Daher wenden die jungen Mädchen, selbst das frömmste, das züchtigste von allen, die nämliche Sprache an und unterscheiden sich nur durch die Anmut der Gedanken. Nun sah Évelina dort, wo für eine andere das unschuldige Geständnis ihrer Gefühlswallungen natürlich gewesen wäre, darin ein Zugeständnis an stürmische Gefühle, welche über die gewöhnliche Ruhe ihrer frommen Jugend siegten; der verstohlenste Blick schien ihr gewaltsamerweise von der Liebe abgerungen zu sein. Dieser beständige Widerstreit zwischen ihrem Herzen und ihren Grundsätzen verlieh dem geringsten Erlebnis ihres nach außen hin so ruhigen und doch so tief erregten Lebens einen Charakter von Kraft, der den Uebertriebenheiten junger Mädchen, deren Gebaren durch mondäne Sitten schnell verfälscht wird, sehr überlegen war. Während der Reise fand Évelina in der Natur Schönheiten, über die sie mit Bewunderung sprach. Wenn wir nicht das Recht zu haben glauben, dem durch des geliebten Wesens Gegenwart verursachten Glücke Ausdruck zu geben, übertragen wir die Empfindungen, von denen unser Herz überfließt, auf äußere Gegenstände, die unsere verborgenen Gefühle verschönen. Die Poesie der Landschaften, die an unseren Augen vorüberflogen, war für uns beide ein wohlverstandener Dolmetscher, und das Lob, welches wir ihnen spendeten, enthielt für unsere Seelen die Geheimnisse unserer Liebe. Zu wiederholten Malen machte es Évelinas Mutter Spaß, ihre Tochter durch einige weibliche Bosheiten in Verlegenheit zu setzen:
›Zwanzigmal bist du durch das Tal hier gekommen, mein liebes Kind, ohne es anscheinend zu bewundern!‹ sagte sie nach einer etwas zu warmen Aeußerung Évelinas.
›Offenbar hatte ich noch nicht das Alter erreicht, Mutter, in dem man diese Art Schönheiten zu schätzen weiß.‹
Verzeihen Sie mir diese Einzelheit, die für Sie des Reizes entbehrt, Rittmeister; aber diese so einfache Antwort bereitete mir unaussprechliche Freuden, die ich alle aus dem Blicke schöpfte, der mich traf. So diente ein von der aufgehenden Sonne erleuchtetes Dorf, eine efeuumsponnene Ruine, die wir gemeinsam betrachtet hatten, dazu, in unsere Gemüter durch die Erinnerung an etwas Materielles in erhöhtem Maße süße Wallungen zu gießen, bei denen es sich um unsere ganze Zukunft handelte. Wir langten in dem Erbschlosse an, wo ich etwa vierzig Tage blieb. Diese Zeit, mein Herr, ist der einzige Anteil vollkommenen Glücks gewesen, den der Himmel mir gewährt hat. Ich kostete den Stadtbewohnern unbekannte Genüsse aus. Es war das ganze Glück, das zwei Liebende empfinden, zusammen unter demselben Dache zu leben, einen Vorgeschmack des Verheiratetseins zu haben, gemeinsam durch die Felder zu gehen, manchmal allein sein zu können, sich unter einen Baum in einem hübschen kleinen Talgrunde zu setzen, dort die Gebäude einer alten Mühle zu betrachten, sich einige vertrauliche Mitteilungen bei jenen kleinen Plaudereien zu entlocken, durch die man täglich im Herzen des andern ein bißchen mehr Fuß faßt. Ach, mein Herr, das Leben in freier Luft, die Schönheiten des Himmels und der Erde stimmen so gut zu der Vollkommenheit und den Wonnen der Seele! Sich beim Betrachten des Himmels zulächeln, unter dem feuchten Laubwerk harmlose Worte in die Gesänge der Vögel mischen, langsamen Schrittes beim Klange der Glocke, die einen zu früh zurückruft, nach Hause gehen, eine Einzelheit der Landschaft gemeinsam bewundern, die Launen eines Insekts verfolgen, eine Goldfliege beobachten, ein zerbrechliches Geschöpf auf der Hand eines geliebten und reinen jungen Mädchens, heißt das nicht, täglich dem Himmel ein wenig näherkommen? Für mich enthalten diese vierzig Tage des Glücks Erinnerungen, die einem ganzen Leben Farbe verleihen, Erinnerungen, die um so schöner und größer sind, als ich seitdem niemals verstanden werden sollte. Heute haben mich jene anscheinend einfachen Bilder, welche für ein gebrochenes Herz aber voller bitterer Bedeutungen sind, an eine entschwundene, doch nicht vergessene Liebe erinnert. Ich weiß nicht, ob Sie die Wirkung der untergehenden Sonne auf der Hütte des kleinen Jacques bemerkt haben? Einen Moment haben die Feuer der Sonne die Natur erstrahlen lassen, dann plötzlich ist die Landschaft düster und schwerer geworden. Diese beiden so verschiedenen Anblicke stellten für mich ein treues Gemälde dieser Periode meiner Geschichte dar. Mein Herr, ich erhielt von ihr den ersten, einzigen und köstlichen Beweis, den ein unschuldiges junges Mädchen erlaubterweise geben darf, und der, je verstohlener er ist, desto mehr verpflichtet: ein süßes Liebesversprechen, eine Erinnerung an die in einer besseren Welt gesprochene Sprache! Nunmehr gewiß, geliebt zu werden, schwur ich, alles zu sagen, kein Geheimnis vor ihr zu haben, und ich schämte mich, es so lange hinausgezögert zu haben, ihr von den Schmerzen, die ich mir geschaffen hatte, zu erzählen. Unglücklicherweise ließ mich am Morgen nach diesem glückseligen Tage ein Brief des Lehrers meines Sohnes für ein Leben zittern, das mir so teuer war. Ich reiste ab, ohne Évelina mein Geheimnis zu sagen, ohne der Familie einen anderen Grund als eine wichtige Angelegenheit anzugeben. In meiner Abwesenheit wurden die Eltern unruhig. Da sie fürchteten, ich könnte irgendein Liebesverhältnis haben, schrieben sie nach Paris, um Erkundigungen über mich einzuziehen. Entgegen ihren religiösen Grundsätzen zweifelten sie an mir, ohne mir die Möglichkeit zu geben, ihren Verdacht zu zerstreuen. Einer ihrer Freunde unterrichtete sie ohne mein Wissen über meine Jugenderlebnisse, vergröberte meine Fehler, und machte sie besonders auf die Existenz meines Kindes aufmerksam, das ich, wie er sagte, absichtlich verborgen halte. Als ich meinen zukünftigen Eltern schrieb, erhielt ich keinerlei Antwort. Sie kehrten nach Paris zurück, ich machte Besuch bei ihnen und wurde nicht empfangen. Beunruhigt, schickte ich meinen alten Freund hin, um die Gründe eines Benehmens zu erfahren, das ich mir nicht erklären konnte. Als er die Ursache erfuhr, opferte der gute Greis sich in edler Weise auf: er übernahm die Verantwortung für mein unverantwortliches Schweigen, wollte mich rechtfertigen und konnte nichts erreichen. Die Gründe des Interesses und der Moral wogen zu schwer für diese Familie, ihre Vorurteile wurzelten zu tief, als daß sie ihren Entschluß hätte ändern können. Ich war in grenzenloser Verzweiflung. Anfangs versuchte ich den Sturm zu beschwören; meine Briefe wurden aber uneröffnet zurückgeschickt. Als alle menschlichen Mittel erschöpft worden waren, als Vater und Mutter dem Alten, dem Urheber meines Unglücks, erklärt hatten, daß sie sich ewig weigern würden, ihre Tochter einem Manne zu geben, der sich den Tod einer Frau und das Leben eines natürlichen Kindes vorzuwerfen hätte, selbst wenn Évelina sie auf den Knien anflehen würde, da, mein Herr, blieb mir nur noch eine einzige Hoffnung, die schwach war wie ein Weidenzweig, an den sich ein Unglücklicher, der ertrinkt, anklammert. Ich wagte zu glauben, daß Évelinas Liebe stärker als die väterlichen Entschlüsse sei, und daß sie die Unbeugsamkeit ihrer Eltern besiegen werde. Ihr Vater konnte ihr die Gründe der Abweisung, die unsere Liebe tötete, verborgen haben, ich wollte, daß sie mein Los in Kenntnis der Sachlage entscheide, ich schrieb ihr. Ach!, mein Herr, unter Tränen und Schmerz, nicht ohne Augenblicke grausamen Zögerns, schrieb ich den einzigen Liebesbrief, den ich jemals geschrieben habe. Heute weiß ich nur noch undeutlich, was mir die Verzweiflung diktierte; zweifelsohne sagte ich meiner Évelina, daß sie, wenn sie wahr und aufrichtig gewesen sei, immer nur mich lieben könne und müsse. Wäre ihr Leben nicht verfehlt, wäre sie nicht dazu verurteilt, ihren künftigen Gatten oder mich zu belügen, würde sie nicht des Weibes Tugenden verraten, wenn sie ihrem verkannten Geliebten dieselbe Aufopferung verweigerte, die sie für ihn aufgewendet haben würde, wenn die in unserem Herzen vollzogene Heirat feierlich begangen worden wäre? und welche Frau würde sich nicht lieber durch die Versprechungen des Herzens als durch die Ketten des Gesetzes gebunden fühlen? Ich rechtfertigte meine Fehler, indem ich mich auf alle Reinheiten der Unschuld berief, ohne etwas zu vergessen, was eine vornehme und edelmütige Seele zu rühren vermochte . . . Da ich Ihnen alles gestehe, will ich Ihnen die Antwort und meinen letzten Brief holen,« sagte Benassis und ging hinaus und in sein Zimmer hinauf. Er kehrte bald zurück und hielt eine abgenutzte Brieftasche in der Hand, der er nicht ohne tiefe Bewegung ungeordnete Papiere entnahm, die in seinen Händen zitterten.
»Hier ist der verhängnisvolle Brief,« sagte er. »Das Kind, das diese Buchstaben schrieb, wußte nicht, wie wichtig mir das Papier, das seine Gedanken enthält, sein würde . . . Hier«, fuhr er, einen anderen Brief zeigend, fort, »ist der letzte Schrei, der mir durch meine Leiden abgezwungen wurde, und Sie werden sofort darüber urteilen können. Mein alter Freund überbrachte meinen Bittbrief, händigte ihn im geheimen ein, demütigte seine weißen Haare, indem er Évelina ihn zu lesen und zu beantworten bat, und hier ist, was sie mir schrieb.
›Mein Herr!‹
Mich, der ich unlängst ihr ›Lieber‹ war, ein keuscher Name, der von ihr gebraucht wurde, um eine keusche Liebe auszudrücken, nannte sie: mein Herr! . . . Die beiden Worte sagten mir alles. Doch hören Sie den Brief:
›Es ist sehr schmerzlich für ein junges Mädchen, an dem Manne, dem ihr Leben anvertraut werden sollte, Unwahrheit zu entdecken; nichtsdestoweniger habe ich Sie entschuldigen müssen, wir sind ja so schwach! Ihr Brief hat mich gerührt, doch schreiben Sie mir nicht mehr, Ihre Schrift verursacht mir Aufregungen, die ich nicht ertragen kann. Wir sind für immer getrennt worden. Die mir von Ihnen angegebenen Gründe haben mich berückt, sie haben das Gefühl erstickt, das sich in meiner Seele gegen Sie erhoben hatte; es war mir ein so lieber Gedanke, Sie rein zu wissen! Sie und ich aber sind vor meinem Vater als zu schwach befunden worden! Ja, mein Herr, ich habe zu Ihren Gunsten zu sprechen gewagt. Um meine Eltern inständig zu bitten, mußte ich die größten Aengste, die mich je erregt hatten, überwinden und meine Lebensgewohnheiten beinahe Lügen strafen. Jetzt gebe ich abermals Ihren Bitten nach und mache mich schuldig, indem ich Ihnen ohne meines Vaters Wissen antworte; meine Mutter aber weiß es; ihre Nachsicht, als sie mich einen Augenblick allein mit Ihnen ließ, hat mir bewiesen, wie sehr sie mich liebt, und mich in meiner Ehrfurcht vor dem Willen meiner Familie bestärkt, die zu verkennen ich auf dem besten Wege war. Auch schreibe ich Ihnen zum ersten und zum letzten Male, mein Herr. Ohne Hintergedanken verzeihe ich Ihnen das Unglück, das Sie in mein Leben gesät haben. Ja, Sie haben recht, eine erste Liebe erlischt nicht. Ich bin kein reines junges Mädchen mehr, ich könnte keine züchtige Gattin sein. Ich weiß also nicht, was mein Los sein wird. Sie sehen, mein Herr, das Jahr, das Sie ausgefüllt haben, wird lange in der Zukunft widerhallen; aber ich klage Sie nicht an . . . Ich werde immer geliebt sein! Warum haben Sie mir das gesagt? Werden solche Worte eines armen einsamen Mädchens erregte Seele beruhigen? Haben Sie mich nicht schon für mein zukünftiges Leben zugrunde gerichtet, indem Sie mir Erinnerungen mitgaben, die stets wiederkehren werden? Wenn ich jetzt nur Jesus angehören kann, wird er ein zerrissenes Herz annehmen? Doch hat er mir solche Leiden nicht vergebens gesandt, er hat seine Gründe und wollte mich zweifelsohne zu sich rufen, er, der heute meine einzige Zuflucht ist. Es bleibt mir nichts auf dieser Welt, mein Herr. Um Ihren Kummer zu täuschen, steht Ihnen jedes, dem Manne natürliche Streben zu Gebot. Das ist kein Vorwurf, es ist eine Art frommer Trost. Ich glaube, wenn wir in diesem Augenblicke eine verwundende Last tragen, so habe ich den schwereren Teil davon. Der, auf den ich all meine Hoffnung gesetzt habe, und auf den Sie nicht eifersüchtig sein können, hat unser Leben zusammengeknüpft, er wird es nach seinem Willen lösen. Ich habe bemerkt, daß Ihre religiösen Meinungen nicht auf dem lebhaften und reinen Glauben ruhten, der uns unsere Leiden hienieden ertragen hilft. Wenn Gott die Wünsche eines beständigen und heißen Gebetes zu erhören geruht, wird er Ihnen, mein Herr, die Gnade seines Lichtes gewähren. Leben Sie wohl, der Sie mein Führer hätten sein sollen, Sie, den ich ohne mich zu vergehen »mein Lieber« habe nennen können, und für den ich ohne zu erröten noch beten kann. Gott verfüge nach seinem Willen über unsere Tage; er wird Sie als ersten von uns beiden zu sich rufen können; wenn ich aber allein auf der Welt bleiben sollte, dann, mein Herr, vertrauen Sie mir jenes Kind an.‹
Dieser Brief voll edelmütiger Gefühle täuschte meine Hoffnungen,« fuhr Benassis fort. »Darum hörte ich anfangs nur auf meinen Schmerz; später habe ich den Duft verspürt, den das junge Mädchen, indem sie sich selber vergaß, auf die Wunden meiner Seele zu träufeln versuchte. In der Verzweiflung aber schrieb ich ihr etwas hart:
›Mein Fräulein, diese beiden Worte sagen Ihnen, daß ich auf Sie verzichte und Ihnen gehorche! Ein Mann findet noch, ich weiß nicht was für eine schreckliche Süße darin, dem geliebten Wesen zu gehorchen, selbst wenn es ihm befiehlt, es zu verlassen. Sie haben recht und ich verdamme mich selber. Einst habe ich eines jungen Mädchens Aufopferung verkannt, heute muß meine heiße Liebe verkannt werden. Doch glaubte ich nicht, daß die einzige Frau, der ich meine Seele zum Geschenk gemacht hatte, die Vollziehung dieser Rache auf sich nähme. In einem Herzen, das mir so zärtlich und so liebend erschien, würde ich nimmer soviel Härte oder vielleicht Tugend vermutet haben. Eben habe ich die Tiefe meiner Liebe erkannt, sie hat dem unerhörtesten aller Schmerzen widerstanden: der Verachtung, die Sie mir damit bezeigen, daß Sie ohne Bedauern die Bande zerreißen, durch die wir vereint waren. Leben Sie wohl für immer. Ich wahre den demütigen Stolz der Reue und will einen Stand suchen, in welchem ich die Fehler auslöschen kann, denen gegenüber Sie, meine Dolmetscherin im Himmel, mitleidlos gewesen sind. Gott wird vielleicht minder grausam sein als Sie es sind. Meine Leiden, Leiden, die von Ihnen durchdrungen sind, sollen ein verwundetes Herz bestrafen, das immer in der Einsamkeit bluten wird; denn wunden Herzen ziemt Dunkel und Schweigen. Kein anderes Bildnis der Liebe wird sich fürder in meinem Herzen einprägen. Obwohl ich keine Frau bin, habe ich, als ich sagte: »Ich liebe dich!« gleich Ihnen verstanden, daß ich mich für mein Leben verpflichtete. Ja, diese vor »meiner Lieben« Ohren ausgesprochenen Worte sind keine Lüge gewesen; wenn ich anderen Sinnes werden könnte, würden Sie recht haben mit Ihrer Verachtung; Sie werden also immer das Idol meiner Einsamkeit sein. Reue und Liebe sind zwei Tugenden, die alle anderen einflößen müssen; so werden Sie trotz der Abgründe, die uns trennen sollen, für immer der Urquell meiner Handlungen sein. Wiewohl Sie mein Herz mit Bitterkeit erfüllt haben, sollen sich keine bitteren Gedanken an Sie darin finden. Würde es nicht vom Uebel sein, meine neuen Werke damit zu beginnen, meine Seele von allem schlechten Gärungsstoffe nicht zu reinigen? Leben Sie denn wohl, Sie, das einzige Herz, das ich auf dieser Welt liebe, und aus dem ich vertrieben worden bin! Niemals wird ein Lebewohl mehr Gefühle noch mehr Zärtlichkeit in sich begriffen haben; führt es nicht eine Seele und ein Herz mit sich fort, die wiederzubeleben in keines Menschen Macht steht? . . . Leben Sie wohl. Ihnen der Friede, mir alles Unglück!'
Als diese beiden Briefe gelesen worden waren, blickten Genestas und Benassis einander einen Augenblick an, eine Beute trauriger Gedanken, die sie sich nicht mitteilten.
»Nachdem ich diesen letzten Brief abgeschickt hatte, dessen Konzept, wie Sie sehen, aufgehoben wurde, und der für mich heute alle meine, freilich welken Freuden bildet,« fuhr Benassis fort, »überkam mich eine unaussprechliche Mutlosigkeit. Die Bande, die einen Menschen hienieden an die Existenz knüpfen können, fanden sich in dieser keuschen, fortan verlorenen Hoffnung vereinigt. Ich mußte den Wonnen der erlaubten Liebe Lebewohl sagen und die edelmütigen Gedanken, die auf meines Herzens Grunde blühten, verdorren lassen. Die Gelübde einer reuigen Seele, die es nach dem Schönen, Guten und Ehrbaren dürstete, waren von wirklich frommen Menschen zurückgewiesen worden. Im ersten Augenblicke, mein Herr, wurde mein Gemüt von den tollsten Entschlüssen bewegt; glücklicherweise aber bekämpfte sie der Anblick meines Sohnes. Da fühlte ich meine Liebe zu ihm durch all die Unglücksfälle, deren unschuldige Ursache er war und die ich mir allein vorzuwerfen hatte, wachsen. Er wurde also mein ganzer Trost. Mit vierunddreißig Jahren konnte ich noch hoffen, meinem Vaterlande auf edle Weise nützlich zu sein; ich entschloß mich, ein berühmter Mann zu werden, um durch Ruhm oder im Glanze der Macht den Makel auszulöschen, der meines Sohnes Geburt anhaftete. Wie viele schöne Gefühle schulde ich ihm, und wie hat er mich dem Leben erhalten während der Tage, da ich mich mit seiner Zukunft beschäftigte! – Ich ersticke!« rief Benassis. »Nach elf Jahren kann ich noch nicht an jenes unselige Jahr denken . . . Dies Kind, mein Herr, habe ich verloren!«
Der Arzt schwieg und verbarg das Gesicht in seinen Händen, die er sinken ließ, als er sich wieder etwas beruhigt hatte. Nicht ohne Bewegung sah Genestas die Tränen, welche seines Gastgebers Augen feuchteten.
»Dieser Blitzschlag, mein Herr, entwurzelte mich zuerst,« fuhr Benassis fort. »Ich sammelte die Einsichten einer gesunden Moral erst wieder, nachdem ich mich in einen anderen Boden als den der geselligen Welt verpflanzt hatte. Erst später erkannte ich Gottes Hand in meinen Unglücksfällen, und später wußte ich mich zu bescheiden, indem ich auf seine Stimme hörte. Meine Resignation konnte nicht plötzlich eintreten, mein überspannter Charakter mußte wieder zu sich kommen; ich verschwendete die letzten Flammen meiner Aufwallung in einem letzten Sturme; lange zauderte ich, ehe ich den einzigen Entschluß, der sich für einen Katholiken zu fassen ziemt, wählte. Anfangs wollte ich mich töten. Da alle diese Ereignisse die Schwermut in mir in maßloser Weise entwickelt hatten, entschied ich mich kalt für solch einen Verzweiflungsakt. Ich wähnte, es sei uns erlaubt, das Leben zu verlassen, wenn das Leben uns verließe. Der Selbstmord schien mir natürlich zu sein. Kümmernisse müssen in der Menschenseele die nämlichen Verheerungen anstiften wie äußerster Schmerz sie in seinem Körper verursacht; also hat das an einer moralischen Krankheit leidende intelligente Wesen wohl das Recht, sich ebenso wie das Schaf zu töten, das von der Drehkrankheit gequält sich den Schädel an einem Baume einrennt. Sind die Leiden der Seele denn leichter zu heilen als körperliche? Ich zweifle noch daran. Ich weiß nicht, wer von beiden der feigste ist: der immer hofft oder der nicht mehr hofft. Der Selbstmord schien mir die letzte Krise einer moralischen Krankheit zu sein, wie der natürliche Tod die einer physischen ist; muß aber, da das moralische Leben den besonderen Gesetzen des menschlichen Willens unterworfen ist, seine Beendigung nicht mit den Aeußerungen der Intelligenz übereinstimmen? Darum tötet ja der Gedanke und nicht die Pistole. Spricht übrigens der Zufall, der uns im Augenblick zu Boden schlägt, wo das Leben ganz glücklich ist, nicht den Menschen frei, der sich weigert, ein unglückliches Leben zu führen? Die Ueberlegungen aber, die ich in diesen Tagen der Trauer anstellte, hoben mich zu höheren Betrachtungen empor. Eine Zeitlang teilte ich die großen Gefühle des heidnischen Altertums; indem ich neue Rechte für den Menschen darin suchte, glaubte ich aber im Lichte der modernen Leuchten tiefer in den einst in Systeme gebrachten Fragen zu schürfen als die Alten. Epikur erlaubte den Selbstmord. Bildete er nicht die Ergänzung seiner Moral? Er brauchte die Sinnenfreude um jeden Preis. Entfiel diese Bedingung, so war es süß und statthaft für ein beseeltes Wesen, in die Ruhe der unbeseelten Natur einzugehen; da das einzige Ziel des Menschen das Glück oder die Hoffnung auf Glück war, so wurde für den, der litt und ohne Hoffnung litt, der Tod ein Gut: sich ihn freiwillig geben, war ein letzter Vernunftsakt. Diesen Akt lobte er nicht, noch tadelte er ihn; er begnügte sich, Bacchus ein Trankopfer darbringend, zu sagen: ›Sterben, das ist kein Grund zu lachen, das ist kein Grund zu weinen.‹ Moralischer und erfüllter von der Doktrin der Pflichten als die Epikureer, schrieben Zenon und die ganze Stoa dem Stoiker in gewissen Fällen den Selbstmord vor. Und zwar sprach er folgendermaßen: Der Mensch unterscheidet sich darin von dem unvernünftigen Tier, daß er selbst unumschränkt über seine Person verfügt; nehmt ihr ihm dies Recht zu leben und zu sterben, so macht ihr ihn zum Sklaven der Menschen und der Ereignisse. Dies als gültig anerkannte Lebens- und Todesrecht bildete ein wirksames Gegengewicht gegen alle natürlichen und sozialen Leiden; dieses nämliche Recht, dem Menschen über seinesgleichen verliehen, erzeugt alle Tyranneien. Die Macht des Menschen existiert also nirgendwo ohne eine unbegrenzte Aktionsfreiheit: muß der gewöhnliche Mensch den schimpflichen Konsequenzen eines nicht wiedergutzumachenden Fehls entgehen, so verliert er sein Schamgefühl und lebt; der Weise trinkt den Schierlingsbecher und stirbt. Muß er die Reste seines Lebens der Gicht, welche die Knochen zermürbt, oder dem Krebs streitig machen, der das Gesicht zerfrißt, dann wählt der Weise den richtigen Augenblick, verabschiedet die Quacksalber und sagt seinen Freunden, die er durch seine Gegenwart traurig macht, ein letztes Lebewohl. Und was soll man tun, wenn man in die Gewalt des Tyrannen geraten ist, den man mit den Waffen in der Hand bekämpft hat? Die Unterwerfungsurkunde ist ausgefertigt worden, man braucht sie nur noch zu unterschreiben oder den Hals hinzuhalten: der dumme Tropf hält den Hals hin, der Feigling unterzeichnet, der Weise endigt mit einem letzten Freiheitsakt, er ersticht sich. ›Freie Menschen,‹ rief damals der Stoiker, ›wißt euch frei zu erhalten! Frei von euren Leidenschaften, indem ihr sie den Pflichten opfert; frei von euresgleichen, indem ihr ihnen das Eisen oder Gift zeigt, die euch ihren Verfolgungen entziehen; frei vom Schicksal, indem ihr den Punkt festsetzt, über den hinaus ihr ihm keine Möglichkeit laßt, auf euch einzuwirken; frei von den Vorurteilen, indem ihr sie nicht mit den Pflichten verwechselt, frei von allen animalischen Besorgnissen, indem ihr den groben Instinkt, der so viele Unglückliche ans Leben fesselt, zu überwinden wißt.‹ Nachdem ich diese Argumentation von dem philosophischen Wortschwall der Alten befreit hatte, glaubte ich ihr eine christliche Form zu geben, wenn ich sie durch die Gesetze des freien Willens verstärkte, den Gott uns verliehen hat, damit er eines Tages vor seinem Richtstuhle uns richten könne, und sagte mir: ›Dort will ich mich verteidigen!‹ Solche Sätze, mein Herr, zwangen mich aber an den Tag nach meinem Tode zu denken, und ich fand mich in Zwiespalt mit meinem erschütterten früheren Glauben. Alles wird dann schwer im Menschenleben, wenn die Ewigkeit auf den einfachsten unserer Entschließungen lastet. Wenn diese Idee mit ihrer ganzen Wucht auf eines Menschen Seele wirkt, und ihn in sich irgend etwas Ungeheures fühlen läßt, das ihn in Zusammenhang mit dem Unendlichen bringt, ändern sich die Dinge merkwürdig. Von diesem Gesichtspunkte aus ist das Leben recht groß und recht klein. Das Gefühl meiner Fehler ließ nicht an den Himmel denken, solange ich Hoffnungen auf die Erde setzte, solange ich Linderung für meine Leiden in einigen sozialen Beschäftigungen fand. Lieben, sich dem Glück einer Frau widmen, Familienhaupt sein, hieß das nicht jenem Bedürfnis, meine Fehler zu sühnen, das in mir keimte, edle Nahrung reichen? War es nicht auch, als dieser Versuch fehlgeschlagen, eine Sühne, wenn ich mich meinem Kinde widmete? Als aber nach diesen beiden Anstrengungen meiner Seele Verachtung und Tod ewige Trauer darüber gebreitet hatten, als alle meine Empfindungen auf einmal verletzt wurden, und ich hienieden nichts mehr sah, hob ich die Augen gen Himmel auf und begegnete dort Gott. Indessen versuchte ich die Religion an meinem Tode mitschuldig zu machen. Ich las die Evangelien wieder und fand keine Stelle, wo der Selbstmord verboten wird. Diese Lektüre aber durchtränkte mich mit dem göttlichen Gedanken an den Heiland der Menschen. Wahrlich, er sagt dort nichts von der Unsterblichkeit der Seele, erzählt uns aber von dem schönen Reiche seines Vaters; er verbietet uns auch nirgendwo den Vatermord, verdammt jedoch alles, was vom Uebel ist. Der Ruhm seiner Evangelisten und der Beweis ihrer Mission besteht weniger darin, Gesetze geschaffen zu haben, als den neuen Geist der neuen Gesetze auf Erden verbreitet zu haben. Der Mut, den ein Mensch entwickelt, wenn er sich tötet, schien mir nun seine eigene Verurteilung zu sein: wenn er die Kraft zu sterben in sich fühlt, muß er auch die besitzen, zu kämpfen; sich zu leiden weigern ist keine Kraft, sondern Schwäche. Heißt übrigens, das Leben aus Mutlosigkeit verlassen, nicht den christlichen Glauben abschwören, dem Jesus als Basis die erhabenen Worte: ›Glücklich sind, die da leiden!‹ gegeben hat. Der Selbstmord erschien mir also in keiner Krise mehr entschuldbar, selbst bei einem Menschen nicht, der in einer fälschlichen Deutung der Seelengröße einen Augenblick, bevor der Henker ihn mit seinem Beile trifft, über sich selber entscheidet. Hat Jesus Christus, dadurch daß er sich kreuzigen ließ, uns nicht gelehrt, allen menschlichen Gesetzen, auch wenn sie falsch angewendet werden, zu gehorchen? Das Wort: Resignation, das in das Kreuz eingegraben und für alle, welche die heiligen Buchstaben zu lesen wissen, so verständlich ist, ging mir nun in seiner himmlischen Klarheit auf. Ich besaß noch achtzigtausend Franken, anfänglich wollte ich weit fort von den Menschen gehen und mein Leben verbringen, indem ich irgendwo auf dem Lande vegetierte; die Misanthropie jedoch, eine Art unter rauher Oberfläche verborgener Eitelkeit, ist keine katholische Tugend. Des Misanthropen Herz blutet nicht, es zieht sich zusammen, meines aber blutete aus allen Adern. Als ich an die Gesetze der Kirche dachte, an die Hilfsmittel, die sie den Betrübten gewährt, begriff ich schließlich die Schönheit des Gebets in der Einsamkeit, und es verfolgte mich der Gedanke, in ein Kloster zu gehen. Obwohl ich fest dazu entschlossen war, bewahrte ich mir nichtsdestoweniger die Möglichkeit, die Mittel zu prüfen, die ich zur Erreichung meines Ziels anwenden mußte. Nachdem ich die Ueberreste meines Vermögens flüssig gemacht hatte, reiste ich beinahe ruhig ab. Der ›Frieden im Herrn‹ war eine Hoffnung, die mich nicht täuschen konnte. Anfänglich von der Ordensregel des heiligen Bruno berückt, kam ich, ernsthaften Gedanken hingegeben, zu Fuß nach der Grande-Chartreuse. Es war ein feierlicher Tag für mich. Auf das majestätische Schauspiel, das der Weg dorthin bietet, wo sich bei jedem Schritte eine rätselhafte übermenschliche Macht zeigt, war ich nicht gefaßt. Die überhängenden Felsen, die Abstürze, die Wildbäche, welche eine Stimme in der Stille erheben, die durch hohe Berge begrenzte und dennoch grenzenlose Einsamkeit, das Asyl, wohin vom Menschen nichts dringt als seine unfruchtbare Neugier, jener wilde, nur durch die malerischen Schöpfungen der Natur gemilderte Schauder, die tausendjährigen Fichten und die Eintagspflanzen: all das stimmt einen feierlich. Es würde einem schwer fallen, zu lachen, wenn man die Einöde des heiligen Bruno durchquert, denn dort triumphieren die Gefühle der Melancholie. Ich sah die Grande-Chartreuse, erging mich unter jenen alten, schweigenden Gewölben und hörte unter den Arkaden das Wasser Tropfen um Tropfen fallen. Ich betrat eine Zelle, um dort das Maß meines Nichts zu nehmen, atmete den tiefen Frieden, den mein Vorgänger dort genossen hatte und las voller Rührung die Inschrift, die er der Klostersitte entsprechend über seine Tür geschrieben hatte; alle Vorschriften für das Leben, das ich dort führen wollte, waren in den drei lateinischen Worten: ›Fuge, late, tace‹, enthalten . . .«
Genestas neigte den Kopf, wie wenn er verstanden hätte.
»Ich war entschlossen,« fuhr Benassis fort. »Die fichtengetäfelte Zelle, das harte Bett, die Zurückgezogenheit, alles entsprach meinem Gemüte. Die Kartäuser waren in der Kapelle, ich ging hin, um mit ihnen zu beten. Da wurden meine Entschlüsse zunichte. Ich will der katholischen Kirche kein Urteil sprechen, mein Herr, ich bin sehr orthodox und glaube an ihre Werte und Gesetze. Als ich aber jene weltfremden und der Welt abgestorbenen Greise ihre Gebete singen hörte, erkannte ich im Wesen des Klosters eine Art sublimer Selbstsucht. Diese Zurückgezogenheit nützt nur dem Einzelmenschen und ist nur ein langsamer Selbstmord; ich verurteile sie nicht, mein Herr. Wenn die Kirche solche Gräber geöffnet hat, sind sie zweifelsohne für einige Christen, die für die Welt vollkommen des Nutzens entbehren, notwendig. Ich glaubte besser zu handeln, wenn ich meine Reue für die soziale Welt fruchtbar mache. Bei der Rückkehr machte es mir Freude, über die Bedingungen nachzusinnen, unter denen ich meine Entsagungsgedanken ausführen könnte. Bereits führte ich in Gedanken ein einfaches Matrosenleben, verurteilte mich zum Dienste fürs Vaterland, indem ich meinen Platz auf der niedrigsten Stufe suchte und auf alle intellektuellen Kundgebungen Verzicht leistete; doch wenn dies auch ein arbeitsames und aufopferndes Leben bedeutete, schien es mir noch nicht nützlich genug zu sein. Hieß das nicht gegen Gottes Absichten handeln? Wenn er mir irgendwelche geistigen Kräfte verliehen hatte, war es da nicht meine Pflicht, sie zu meinesgleichen Wohle anzuwenden? Dann fühlte ich, wenn es mir erlaubt ist, offen zu sein, in mir ein unsägliches Expansionsbedürfnis, dem lediglich mechanische Verpflichtungen Abbruch taten. Im Seemannsleben sah ich keinerlei Nahrung für die Güte, die sich aus meiner Organisation ergibt, wie jede Blume einen ihr eigentümlichen Duft ausströmt. Ich sah mich, wie ich Ihnen bereits erzählte, genötigt, hier zu übernachten. In jener Nacht glaubte ich in dem mitleidigen Gedanken, den mir der Zustand dieses armen Landes einflößte, einen Befehl Gottes zu hören. Ich hatte von den grausamen Wonnen der Mutterschaft gekostet, ich entschloß mich, ihnen mich ganz hinzugeben, dies Gefühl in einer ausgedehnteren Sphäre als jener der Mütter zu sättigen, indem ich eine barmherzige Schwester für ein ganzes Land würde und dort der Armen Wunden immerfort verbände. Der Finger Gottes schien mir also meine Bestimmung deutlich vorgeschrieben zu haben, als ich daran dachte, daß meiner Jugend erster ernsthafter Gedanke mich dem Arztberufe hatte zuneigen lassen, und ich entschloß mich, ihn hier auszuüben. Ueberdies hatte ich in meinem Briefe gesagt ›Verwundeten Herzen ziemt das Dunkel und Schweigen‹, und was zu tun ich mir selber versprochen hatte, hier wollte ich's ausführen. Ich habe den Pfad des Schweigens und der Resignation betreten. Des Kartäusers Fuge, late, tace ist hier mein Wahlspruch, meine Arbeit ist ein aktives Gebet, mein moralischer Selbstmord das Leben dieses Bezirks, über den ich, die Hand ausstreckend, Glück und Freude auszusäen und ihm das zu geben liebe, was ich nicht habe. Die Gewohnheit, mit Bauern zusammenzuleben, meine Entfernung aus der Welt haben mich wirklich umgewandelt. Mein Gesicht hat den Ausdruck gewechselt, ist an die Sonne gewöhnt, die es runzlig gemacht und abgehärtet hat. Ich habe eines Landmanns Benehmen, Sprache, Kleidung, Gehenlassen und Nichtbeachtung alles dessen, was Maske ist, angenommen. Meine Pariser Freunde oder die Mondänen, deren Cicisbeo ich war, würden in mir den Mann, der einen Augenblick Mode war, den an den Flitterkram, Luxus und die Feinheiten von Paris gewöhnten Sybariten nie wiedererkennen. Heute ist mir alles Aeußerliche vollkommen gleichgültig wie all denen, die unter der Führung eines einzigen Gedankens dahingehen. Kein anderes Ziel habe ich im Leben mehr als das, es zu verlassen; ich will nichts unternehmen, um dem Ende zuvorzukommen oder es zu beschleunigen, aber ohne Kummer werde ich mich an dem Tage, wo die Krankheit kommen mag, zum Sterben niederlegen. Das, mein Herr, sind in aller Offenheit die Erlebnisse des Lebens, das dem, welches ich hier führe, vorherging. Ich habe Ihnen nichts von meinen Fehlern verheimlicht, sie sind groß gewesen und manche Männer haben die nämlichen. Viel habe ich gelitten und leide ich tagtäglich; aber ich habe in meinen Leiden die Bedingung einer glücklichen Zukunft gesehen. Trotz meiner Resignation gibt es Qualen, gegen die ich machtlos bin. Heute wäre ich vor Ihnen, ohne daß Sie es ahnten, beinahe heimlichen Martern unterlegen . . .«
Genestas fuhr von seinem Stuhle auf.
»Ja, Rittmeister Bluteau, Sie waren dabei. Haben Sie mir nicht Mutter Colas' Bett gezeigt, als wir Jacques niederlegten? Nun, wenn es mir unmöglich ist, ein Kind zu sehen, ohne an den Engel zu denken, den ich verloren habe, so können Sie sich meine Schmerzen ausmalen, wenn ich ein zum Sterben verdammtes Kind ins Bett lege! Ich kann ein Kind nicht kalten Herzens ansehen . . .«
Genestas erbleichte.
»Ja, die hübschen blonden Köpfe, die unschuldigen Köpfe der Kinder, denen ich begegne, sprechen mir beständig von meinem Unglück und wecken meine Qualen wieder auf. Und dann ist es ein schrecklicher Gedanke für mich, daß so viele Leute mir für das wenige Gute, das ich ihnen hier tue, danken, wo dieses Gute doch die Frucht meiner Gewissensbisse ist! Sie allein kennen das Geheimnis meines Lebens, Rittmeister. Wenn ich meinen Mut aus einem reineren Gefühle als dem meiner Fehler geschöpft hätte, würde ich sehr glücklich sein, hätte Ihnen jedoch nichts von mir zu erzählen gehabt!«