Honoré de Balzac
Der Landarzt
Honoré de Balzac

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

I
Das Land und der Mensch

An einem schönen Frühlingsmorgen des Jahres 1829 verfolgte ein etwa fünfzigjähriger Mann zu Pferde einen Gebirgsweg, der nach einem großen, bei der Grande-Chartreuse gelegenen Marktflecken führt. Dieser Marktflecken ist der Hauptort eines volkreichen Kreises, der von einem langen Tal gebildet wird. Ein reißender Bergstrom, dessen steiniges Bett häufig trocken ist, nun aber infolge der Schneeschmelze gefüllt war, benetzt das Tal, das von zwei parallellaufenden Höhenzügen, die auf allen Seiten von den Gipfeln Savoyens und der Dauphiné beherrscht werden, eingeengt wird. Obwohl die zwischen der Kette der beiden Mauriennes liegenden Landstriche sich ähnlich sehen, zeigt der Bezirk, durch welchen der Fremde reiste, Geländeformationen und Nebenlichter, wie der Maler sagt, die man anderswo vergeblich suchen würde. Bald zeigt das plötzlich breiter werdende Tal einen unregelmäßigen Rasenteppich von jenem Grün, das die beständige von den Bergen stammende Bewässerung zu allen Jahreszeiten so frisch und für das Auge so wohltuend erhält. Bald zeigt eine Schneidemühle ihre bescheidenen, malerisch hingestellten Gebäude, ihren Vorrat an langen, geschälten Fichtenstämmen und ihren Wasserlauf, der von dem Wildbach abgeleitet und durch große, grob ausgehöhlte Holzröhren geführt wird, durch deren Risse ein Netz von Wasserstrahlen entweicht. Hier und da erwecken strohgedeckte Hütten, umgeben von Gärten voll blütenbedeckter Obstbäume, die Gedanken, die eine arbeitsame Armut einflößt. Weiterhin kündigen Häuser mit roten Dächern, die aus flachen, runden und fischschuppenähnlichen Ziegeln zusammengesetzt sind, anhaltender Arbeit verdankte Wohlhabenheit an. Endlich sieht man über jeder Türe den aufgehängten Korb, in welchem Käse trocknen. Ueberall sind die Tür- und Fensteröffnungen und Zäune durch Weinstöcke belebt, die, wie in Italien, an kleinen Ulmen emporwachsen, deren Laub man dem Vieh zu fressen gibt. Durch eine Laune der Natur sind die Berge an manchen Stellen so nahe aneinandergerückt, daß es dort weder Gebäude noch Felder, noch Strohhütten mehr gibt. Nur durch den Wildbach getrennt, der in Kaskaden dahinbraust, erheben sich die beiden hohen, mit schwarznadligen Fichten und hundert Fuß hoch aufstrebenden Buchen bedeckten Granitmauern. All diese Bäume sind kerzengerade, durch Moosflecken seltsam gefärbt, an Laub verschieden und bilden prachtvolle Säulenhallen, die oberhalb und unterhalb des Weges von formlosen Erdbeerbaum-, Schneeball-, Buchsbaum- und Rotdornhecken eingefaßt werden. Die starken Düfte dieser Sträucher vermischen sich mit den herben Gerüchen der Gebirgsnatur und den durchdringenden Ausdünstungen junger Lärchen-, Pappel- und harziger Fichtentriebe. Einige Wolken zogen zwischen den Felsen, verschleierten und enthüllten abwechselnd die graufarbigen Spitzen, die häufig ebenso dunstig waren wie die Wetterwolken, deren weiche Flocken sich dort zerteilten. Jeden Augenblick veränderte das Land sein Gesicht und der Himmel sein Licht; die Berge wechselten ihre Farben, die Gießbäche ihre Schattierungen und die Täler ihre Formen: vervielfachte Bilder, deren unerwartete Gegensätze, sei es ein durch die Baumstämme fallender Sonnenstrahl, sei es eine natürliche Lichtung oder einige Geröllhalden inmitten des Schweigens, in der Jahreszeit, wo alles jung ist, wo die Sonne am klaren Himmel flammt, einen köstlichen Anblick boten. Kurz, es war ein schönes Land, es war Frankreich!

Der hochgewachsene Reisende war ganz in blaues Tuch gekleidet, das ebenso sorgfältig gebürstet war, wie es allmorgendlich das glatte Fell seines Pferdes sein mußte, auf welchem er gerade und festgewachsen wie ein alter Kavallerieoffizier saß. Wenn seine schwarze Krawatte und seine Wildlederhandschuhe, wenn die Pistolen, die seine Halfter füllten, und der auf der Kruppe seines Pferdes sorgsam befestigte Mantelsack nicht schon den Militär angekündigt hätten, so würden sein braunes, pockennarbiges, aber regelmäßiges und augenscheinliche Sorglosigkeit verratendes Gesicht, seine entschiedenen Bewegungen, die Sicherheit seines Blicks, seine Kopfhaltung, kurz alles, jene Regimentsgewohnheiten angezeigt haben, die ein Soldat niemals, selbst wenn er ins Privatleben zurückgekehrt ist, ablegen kann. Jeder andere würde sich über die Schönheit dieser Alpennatur, die so strahlend ist, wo sie mit den großen Becken Frankreichs verschmilzt, entzückt haben, der Offizier aber, der zweifelsohne die Länder durcheilt hatte, in welche die französischen Armeen durch die kaiserlichen Kriege geführt wurden, genoß diese Landschaft, ohne indes durch die Mannigfaltigkeit ihrer wechselnden Bilder überrascht zu erscheinen. Erstaunen ist ein Gefühl, das Napoleon in der Seele seiner Soldaten zerstört zu haben scheint: so ist denn auch die Ruhe des Antlitzes ein sicheres Zeichen, woran ein Beobachter Männer erkennen kann, die ehedem unter den vergänglichen, aber unvergeßlichen Adlern des großen Kaisers eingereiht gewesen sind. Dieser Mann war tatsächlich einer der jetzt ziemlich seltenen Militärs, welche die Kugel verschont hat, obwohl sie sich auf allen Schlachtfeldern, wo Napoleon befehligte, geschlagen haben. Sein Leben hatte nichts Ungewöhnliches an sich. Er hatte sich als einfacher und treuer Soldat wacker gehalten, war, ob er seinem Herrn nahe oder fern, seiner Pflicht bei Nacht wie bei Tag nachgekommen, hatte nie einen zwecklosen Säbelhieb getan, war aber auch nicht fähig gewesen, einen zuviel auszuteilen. Wenn er in seinem Knopfloch die den Offizieren der Ehrenlegion gebührende Rosette trug, so geschah das, weil sein Regiment ihn einstimmig nach der Schlacht an der Moskwa als den Würdigsten bezeichnet hatte, der sie an diesem großen Tage erhalten sollte. Er gehörte zu der Zahl jener anscheinend kühlen und schüchternen Männer, die immer in Frieden mit sich leben, deren Gewissen allein durch den Gedanken erregt wird, ein Gesuch, welcher Art es auch sein möge, betreiben zu sollen, und deren Beförderung nach den langsamen Gesetzen des Dienstalters erfolgt. Obschon er 1802 Unterleutnant geworden, war er trotz seines grauen Schnurrbarts 1829 erst Eskadronchef; sein Leben war jedoch so untadelig, daß sich ihm kein Mann aus der Armee, und wäre er auch General, näherte, ohne ein Gefühl unwillkürlichen Respektes zu empfinden; ein unbestrittener Vorzug, den seine Vorgesetzten ihm vielleicht nicht verziehen. Zum Lohne dafür zollten die einfachen Soldaten ihm alle ein weniges von jenem Gefühl, das Kinder für eine gute Mutter hegen; denn ihnen gegenüber wußte er duldsam und streng zugleich zu sein. Ehedem war er ja Soldat wie sie gewesen und kannte die traurigen Freuden und die freudigen Miseren, die verzeihlichen oder strafbaren Verstöße der Soldaten, die er stets seine Kinder nannte, und die er im Felde gern Lebensmittel oder Futter bei den Bürgern auftreiben ließ. Was seine intime Geschichte anlangte, so war sie in tiefstes Dunkel gehüllt. Wie fast alle Militärs jener Epoche hatte er die Welt nur durch den Kanonenrauch oder während der so seltenen Friedensmomente inmitten des vom Kaiser unterhaltenen europäischen Ringens gesehen. Hatte er ans Heiraten gedacht oder nicht? Die Frage blieb unentschieden. Obwohl niemand bezweifelte, daß der Major Genestas, als er so von Stadt zu Stadt, von Landschaft zu Landschaft zog und den von den Regimentern und für sie gegebenen Festen beiwohnte, Frauengunst genossen habe, hatte doch niemand die geringste Gewißheit darüber. Ohne prüde zu sein, ohne eine Lustpartie auszuschlagen, ohne die militärischen Sitten zu verletzen, schwieg er sich aus oder antwortete mit einem Gelächter, wenn er nach seinen Liebschaften gefragt wurde. Auf die Worte: »Und Sie, lieber Major?«, die von einem Offizier beim Trinken an ihn gerichtet wurden, erwiderte er:

»Trinken wir, meine Herren!«

Als eine Art Ritter ohne Furcht und Tadel, ohne damit zu prunken, zeigte Monsieur Pierre-Joseph Genestas weder etwas Poetisches noch Romantisches an sich, so durchschnittlich erschien er. Sein Gehaben war das eines reichen Mannes. Obwohl sein Vermögen nur in seinem Sold bestand und sein Abschied mit Pension seine ganze Zukunft war, hatte der Eskadronschef, den alten, mit allen Wassern gewaschenen Handelswölfen gleich, denen Rückschläge eine Erfahrung, die an Eigensinn grenzt, verliehen haben, immer den Sold für zwei Jahre als Rücklage und gab seine Bezüge niemals ganz aus. Er war so wenig Spieler, daß er seine Stiefel beschaute, wenn man in Gesellschaft einen Ersatzspieler oder beim Écarté einen Einsatzzuschuß verlangte. Wenn er sich nichts Außergewöhnliches erlaubte, fehlte ihm doch nichts, dessen er bedurfte. Länger als bei jedem anderen Regimentsoffiziere hielten seine Uniformen infolge der Sorgfalt, die ein bescheidenes Einkommen erzeugt, und die bei ihm eine ganz mechanische Gewohnheit geworden war. Vielleicht würde man ihn für geizig gehalten haben ohne die wundervolle Uneigennützigkeit, ohne die brüderliche Gefälligkeit, mit der er irgendeinem durchs Kartenspiel oder eine andere Narrheit zugrunde gerichteten Leichtfuß seine Börse öffnete. Er schien früher bedeutende Summen beim Spiel verloren zu haben, soviel Zartgefühl zeigte er beim Erweisen einer Gefälligkeit. Er hielt sich nicht für berechtigt, die Handlungen seines Schuldners zu kontrollieren und sprach nie von seiner Schuld. Als ein Kind der Truppe und alleinstehend wie er war, hatte er die Armee zu seinem Vaterlande und sein Regiment zu seiner Familie gemacht. Auch forschte man selten dem Grunde seiner soliden Sparsamkeit nach; man begnügte sich damit, sie dem recht natürlichen Verlangen, die Früchte seines Wohlstandes für seine alten Tage zu vermehren, zuzuschreiben. Sein Ehrgeiz bestand vermutlich darin, sich, wenn er Oberstleutnant der Kavallerie geworden, mit seiner Pension und den Oberstenepauletten irgendwohin aufs Land zurückzuziehen. Wenn junge Offiziere nach dem Manöver über Genestas plauderten, ordneten sie ihn in die Klasse jener Menschen ein, die auf dem Gymnasium den Ehrenpreis erlangt haben und während ihres Lebens sorgfältig, brav, leidenschaftslos, nützlich und fade wie Weißbrot bleiben; ernsthafte Leute aber beurteilten ihn recht anders. Oft entschlüpften diesem Manne irgendein Blick, ein sinnvoller Ausspruch, wie es das Wort des Menschenscheuen ist, und zeugten von Seelenstürmen in ihm. Wenn man seine ruhige Stirn genau prüfte, verriet sie die Macht, den Leidenschaften Schweigen zu gebieten und sie in den Grund seines Herzens zurückzudrängen, eine teuer durch die Gewöhnung an Gefahren und die unvorhergesehenen Unglücksfälle des Krieges erkaufte Macht. Der Sohn eines Pairs von Frankreich, der neu ins Regiment gekommen war, hatte eines Tages, als man über Genestas sprach, gesagt, daß er sicherlich der gewissenhafteste Priester oder der ehrenwerteste der Krämer geworden wäre: »Fügen Sie hinzu: der am wenigsten dem Marquis den Hof macht,« antwortete er, ihn mit den Blicken messend, dem jungen Gecken, der glaubte, von seinem Vorgesetzten nicht gehört worden zu sein.

Die Zuhörer brachen in ein Gelächter aus: des Leutnants Vater schmeichelte allen einflußreichen Leuten, und war als elastischer Mann gewohnt, bei allen Revolutionen wieder obenauf zu kommen; und der Sohn artete dem Vater nach.

In den französischen Armeen haben sich mehrere solcher Charaktere gefunden, die gelegentlich recht eigentlich groß waren, nach der Schlacht aber wieder einfach wurden, die sich nicht um Ruhm kümmerten und die Gefahr vergaßen; man ist ihnen vielleicht öfters begegnet, als es die Fehler unserer Natur anzunehmen erlauben. Indessen würde man sich außerordentlich täuschen, wenn man glaubte, daß Genestas vollkommen gewesen sei. Mißtrauisch, zu heftigen Zornausbrüchen neigend, hartnäckig in den Diskussionen, vor allem rechthaberisch, wenn er unrecht hatte, steckte er voller nationaler Vorurteile. Aus seinem Soldatenleben hatte er eine Vorliebe für den guten Wein beibehalten. Wenn er ein Festmahl mit dem ganzen Dekorum seines Ranges verließ, erschien er ernst, nachdenklich und wollte dann niemanden in seine heimlichen Gedanken einweihen. Kurz, er kannte die Sitten der Welt und die Gesetze der Höflichkeit, eine Art Instruktion, die er mit militärischer Strenge wahrte, sehr wohl. Wenn er auch natürlichen und erworbenen Geist besaß, wenn er sich auf Taktik, Manöver, die Theorie der Fechtkunst zu Pferde und die schwierigen Fragen der Tierheilkunde verstand, so lagen seine Studien doch sehr im argen. Er wußte, aber sehr unklar, daß Cäsar ein römischer Konsul oder Kaiser, Alexander ein Grieche oder Mazedonier gewesen war; den Ursprung oder den Rang des einen oder des andern hätte er ohne Diskussion zugegeben. Auch wurde er bei wissenschaftlichen oder historischen Unterhaltungen ernst und begnügte sich damit, sich mit kleinen billigenden Kopfneigungen wie ein tiefgründiger Mensch, der beim Pyrrhonismus angelangt ist, daran zu beteiligen. Als Napoleon am 13. Mai 1809 in dem Bulletin, welches sich an die große Armee, die Herrin von Wien, wendete, von Schönbrunn aus schrieb, »daß die österreichischen Fürsten wie Medea ihre Kinder mit ihren eigenen Händen erwürgt hätten«, wollte der eben zum Hauptmann ernannte Genestas die Würde seines Ranges durch die Frage, wer Medea sei, nicht bloßstellen. Er verließ sich darin auf Napoleons Genie, da er gewiß war, daß der Kaiser der großen Armee und dem Hause Oesterreich nur offizielle Dinge sagen dürfe; er dachte, Medea sei eine Erzherzogin von zweideutiger Aufführung. Da die Sache indes das Militärhandwerk betreffen konnte, war er nichtsdestoweniger der Medea des Bulletins wegen unruhig bis zu dem Tage, wo Mademoiselle Raucourt die Medea wiederholt in den Spielplan aufnehmen ließ. Nachdem der Hauptmann die Anzeige gelesen hatte, unterließ er es nicht, sich abends ins Théâtre Français zu begeben, um die berühmte Schauspielerin in dieser mythologischen Rolle zu sehen, über die er sich bei seinen Nachbarn erkundigte. Ein Mann indessen, der als simpler Soldat genug Energie besessen hatte, um Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen, mußte einsehen, daß er sich als Hauptmann zu bilden habe. So las er denn seit der Zeit mit Eifer Romane und neue Bücher, die ihm eine Halbbildung verschafften, aus welcher er ziemlichen Vorteil zog. In seiner Dankbarkeit seinen Lehrern gegenüber ging er so weit, Pigault-Lebrun in Schutz zu nehmen und behauptete, er finde ihn lehrreich und oft tief.

Dieser Offizier, den seine erworbene Klugheit keinen nutzlosen Schritt tun ließ, hatte Grenoble verlassen und begab sich nach der Grande-Chartreuse, nachdem er am Vorabend von seinem Oberst einen achttägigen Urlaub erhalten. Er rechnete damit, keinen langen Weg zurückzulegen, doch von Meile zu Meile von den lügenhaften Aussagen der Bauern, die er befragte, getäuscht, hielt er es für richtig, sich auf nichts weiter einzulassen, ehe er seinen Magen nicht gestärkt habe. Obwohl er wenig Aussicht hatte, zu einer Zeit, wo jeder auf den Feldern zu tun hat, eine Hausfrau daheim anzutreffen, machte er vor einigen Hütten halt, die an einen gemeinsamen Hofraum grenzten, indem sie ein ziemlich ungestaltes Viereck beschrieben, das all und jedem zugänglich war. Der Boden dieses gemeinsamen Territoriums war fest und gut gekehrt, wurde aber durch Düngergruben unterbrochen. Rosensträucher, Efeu und hohe Stauden wucherten an den rissigen Mauern hoch. Am Eingang des Weges stand ein elender Johannisbeerstrauch, auf dem Lumpen trockneten. Der erste Bewohner, dem Genestas begegnete, war ein sich in einem Strohhaufen wälzendes Schwein, das beim Geräusch der Pferdetritte grunzte, den Kopf aufhob und einen großen schwarzen Kater fliehen machte. Eine junge Bäuerin mit einem Grasbündel auf dem Kopfe zeigte sich plötzlich; ihr folgten in einiger Entfernung vier kleine Jungen in Lumpen, aber kecke, vorlaute, hübsche Schelme mit dreisten Augen, brauner Hautfarbe, wahre Teufel, die Engeln glichen. Die Sonne strahlte und verlieh der Luft, den Hütten, den Dunghaufen und dem zerzausten Trupp etwas seltsam Reines. Der Soldat fragte, ob es möglich sei, ein Glas Milch zu bekommen. Statt jeder Antwort stieß das Mädchen einen rauhen Schrei aus. Eine alte Frau erschien plötzlich auf der Schwelle einer Hütte, und die junge Bäuerin ging in einen Stall, nachdem sie mit einer Handbewegung auf die Alte hingewiesen hatte, auf welche Genestas zuritt, nicht ohne sein Pferd im Zaum zu halten, um die Kinder nicht zu verletzen, welche ihm bereits zwischen den Beinen herumliefen. Er wiederholte seine Bitte, die zu erfüllen die gute Frau sich rundweg weigerte. Sie wolle, sagte sie, die Sahne von den zum Buttermachen bestimmten Milchtöpfen nicht wegnehmen. Der Offizier antwortete auf diesen Einwurf mit dem Versprechen, den Schaden gut bezahlen zu wollen; befestigte sein Pferd an dem Pfosten einer Türe und trat in die Hütte ein. Die vier Kinder, welche der Frau gehörten, schienen alle im gleichen Alter zu stehen, ein seltsamer Umstand, der den Major überraschte. Die Alte hatte noch ein fünftes fast an ihrem Rocke hängen, das schwach, bleich und kränklich war und zweifelsohne der größten Sorgfalt bedurfte; demgemäß war es der Liebling, der Benjamin.

Genestas setzte sich in den Winkel eines hohen, feuerlosen Kamins, über dessen Mantel er eine bunte Gipsmadonna mit dem Jesuskinde im Arme erblickte. Ein erhabenes Zeichen! Der Erdboden diente dem Hause als Dielung. Mit der Länge der Zeit war der anfänglich geebnete Boden höckerig geworden und zeigte, wiewohl er sauber war, im großen die Unebenheiten einer Orangenschale. Im Kamin waren ein Holzschuh voll Salz, eine Bratpfanne und ein Kochkessel aufgehängt. Der Hintergrund des Raumes wurde von einem Himmelbett, das mit einem ausgezackten Kranze geschmückt war, ausgefüllt. Dann gab es da und dort dreifüßige Schemel, die aus Stäben hergestellt worden waren, die man an einem einfachen Fichtenbrett befestigt hatte, eine Brotlade, einen großen Holzlöffel zum Wasserschöpfen, einen Eimer und Milchtöpfe, ein Spinnrad auf der Lade, einige Käsehürden, schwarze Mauern, eine wurmstichige Tür mit einem leichtvergitterten Impost; das waren die Dekoration und der Hausrat dieser armseligen Wohnung.

Jetzt gab es ein Drama, dem der Offizier, der sich damit unterhielt, den Boden mit seiner Reitpeitsche zu klopfen, beiwohnte, ohne zu ahnen, daß sich da ein Drama entrollen würde. Als das alte Weib, von ihrem schorfigen Benjamin gefolgt, durch eine in ihre Milchkammer führende Tür verschwunden war, begannen die vier Kinder, nachdem sie den Soldaten genugsam gemustert hatten, sich des Schweines zu entledigen. Das Tier, mit dem sie gewöhnlich spielten, war auf die Türschwelle gekommen; die Bamsen fielen so kräftig darüber her und verabfolgten ihm so kräftige Ohrfeigen, daß es sich zum sofortigen Rückzuge genötigt sah. Als der Feind einmal draußen war, griffen die Kinder eine Tür an, deren Klinke, ihren Anstrengungen nachgebend, aus der abgenutzten Schließklappe, die sie festhielt, heraussprang; dann stürzten sie sich in eine Art Obstkeller, wo der Major, den diese Szene belustigte, sie bald damit beschäftigt sah, Dörrpflaumen zu benagen. In diesem Augenblick kam die Alte mit ihrem Pergamentgesicht und ihren schmutzigen Lumpen wieder herein, in der Hand einen Milchtopf für ihren Gast haltend.

»Hah, die Taugenichtse!« sagte sie.

Sie ging zu den Kindern, packte jedes von ihnen beim Arm und warf sie, aber ohne ihnen ihre Pflaumen zu nehmen, ins Zimmer und verschloß sorgsam die Türe zu dem Speicher des Ueberflusses.

»Ei, ei, meine Lieblinge, seid doch vernünftig. – Wenn man nicht acht auf sie gäbe, würden sie den Pflaumenhaufen aufessen, die Tollköpfe!« sagte sie, Genestas anblickend.

Dann setzte sie sich auf einen Schemel, nahm den Grindigen zwischen ihre Beine und hub an, ihn zu säubern, indem sie ihm den Kopf mit weiblicher Geschicklichkeit und mütterlicher Sorgfalt wusch. Die vier kleinen Diebe standen teils herum, teils lehnten sie am Bett oder an der Lade; alle waren sie rotznasig und schmutzig, fühlten sich indessen recht wohl und kauten ohne ein Wort zu sagen, den Fremden aber mit verschlossener und mißtrauischer Miene betrachtend, an ihren Pflaumen.

»Sind das Ihre Kinder?« fragte der Soldat die Alte.

»Entschuldigen Sie, mein Herr, es sind Ziehkinder; für jedes von ihnen gibt man mir drei Franken monatlich und ein Pfund Seife.«

»Aber, meine gute Frau, sie müssen Sie doch zweimal mehr kosten!«

»Genau dasselbe sagt Monsieur Benassis, mein Herr; doch wenn andere die Kinder zum nämlichen Preise nehmen, muß man wohl damit zufrieden sein. Niemand will Kinder haben! Obendrein hat man noch Kirche und Staat nötig, um sie zu bekommen. Wenn wir ihnen unsere Milch umsonst geben könnten, würden sie uns nicht viel kosten. Uebrigens, mein Herr, drei Franken, das sind eine schöne Summe. Das sind fünfzehn gefundene Franken, ohne die fünf Pfund Seife. Wie viel Kraft muß man in unseren Bezirken doch verausgaben, um zehn Sous täglich zu verdienen!«

»Sie haben also Land, das Ihnen gehört?« fragte der Major.

»Nein, mein Herr. Ich hatte welches, als mein Mann noch lebte; doch nach seinem Tode bin ich so unglücklich gewesen, daß ich mich gezwungen sah, es zu verkaufen.«

»Nun,« fuhr Genestas fort, »wie können Sie ohne Schulden bis zum Jahresende kommen, wenn Sie den Beruf ausüben, Kinder für zwei Sous täglich zu nähren, sauber zu halten und zu erziehen.«

»Aber,« erwiderte sie, indem sie fortfuhr, ihren grindigen Kleinen zu säubern, »wir halten auch nicht ohne Schulden bis Sylvester aus, mein lieber Herr! Was wollen Sie? Der liebe Gott hilft. Ich habe zwei Kühe, dann stoppeln wir, meine Tochter und ich, während der Ernte. Im Winter gehen wir ins Holz und schließlich spinnen wir abends. Ach, es wird ja nicht immer ein Winter wie der letzte sein! Dem Müller schulde ich fünfundsiebzig Franken für Mehl. Glücklicherweise ist's Monsieur Benassis' Müller . . . Monsieur Benassis ist ein Freund der Armen! Noch niemals hat er seine Forderungen, von wem es auch sein möge, eingetrieben, da wird er nicht mit uns anfangen. Ueberdies hat unsere Kuh ein Kalb, das wird uns immerhin ein bißchen von unseren Schulden frei machen.«

Die vier Waisenkinder, für die aller menschlicher Schutz sich in der Zuneigung dieser alten Bäuerin zusammenfaßte, waren mit ihren Pflaumen fertig geworden. Sie benutzten die Aufmerksamkeit, mit der ihre Mutter den Offizier beim Sprechen ansah, und vereinigten sich in geschlossener Reihe, um nochmals die Klinke der Tür, die sie von dem schönen Pflaumenhaufen trennte, aufzusprengen. Sie machten's dabei nicht wie die französischen Soldaten beim Angriff, sondern schweigend wie die Deutschen, von ihrer naiven und brutalen Naschhaftigkeit getrieben.

»Ach! die kleinen Schelme! Wollt ihr wohl aufhören?«

Die Alte stand auf, griff den kräftigsten der viere, versetzte ihm einen leichten Klaps auf den Hintern und warf ihn hinaus; er weinte nicht, die anderen zeigten sich ganz verdutzt.

»Sie machen Ihnen viel zu schaffen . . .«

»O nein, mein Herr; aber sie riechen meine Pflaumen, die Lieblinge. Wenn ich sie einen Augenblick allein ließe, würden sie sich den Magen verderben.«

»Sie haben sie lieb?«

Bei dieser Frage hob die Alte den Kopf, sah den Soldaten mit leise spöttischer Miene an und antwortete: »Ob ich sie liebe! Ich habe ihrer drei bereits zurückgegeben,« fügte sie seufzend hinzu, »ich behalte sie nur bis zum sechsten Lebensjahre.«

»Aber wo ist denn das Ihrige?«

»Ich hab' es verloren.«

»Wie alt sind Sie denn?« fragte Genestas, um die Wirkung seiner vorhergehenden Frage abzuschwächen.

»Achtunddreißig Jahre, mein Herr. Am nächsten Johannistage sinds zwei Jahre, daß mein Mann gestorben ist.«

Sie zog den kleinen kränklichen Jungen, der ihr durch einen blassen und zärtlichen Blick zu danken schien, vollends an.

»Welch ein Leben voller Entsagung und Arbeit!« dachte der Reiter.

Unter diesem Dache, welches des Stalles würdig war, worin Jesus Christus geboren wurde, vollzogen sich froh und ohne Dünkel die schwierigsten Pflichten der Mutterschaft. Welche in tiefster Vergessenheit begrabene Herzen! Welch ein Reichtum und welche Armut! Die Soldaten wissen besser als andere Menschen das Großartige der Erhabenheit in Holzschuhen, des Evangeliums in Lumpen zu schätzen. Anderswo findet man die Bibel, den bildergeschmückten, schön eingebunden mit Goldschnitt gezierten Text; dort aber herrschte sicherlich der Geist der Bibel. Unmöglich wäre es gewesen, nicht an irgendeine fromme Absicht des Himmels zu glauben, wenn man diese Frau sah, die Mutter geworden war, wie Jesus Christus Mensch geworden ist, die stoppelte, litt, sich für verlassene Kinder in Schulden stürzte und sich in ihren Rechnungen betrog, ohne erkennen zu wollen, daß sie sich zugrunde richtete, um Mutter zu sein. Beim Anblick dieser Frau mußte man notgedrungen irgendwelche geheime Wechselbeziehungen zwischen den Guten hienieden und den geistigen Wesen über uns annehmen; so blickte sie denn der Major Genestas an und schüttelte den Kopf.

»Ist Monsieur Benassis ein guter Arzt?« fragte er endlich.

»Ich weiß es nicht, mein lieber Herr, aber er heilt die Armen umsonst.«

»Es scheint,« fuhr er, mit sich selber sprechend, fort, »daß dieser Mann entschieden ein Mann ist!«

»O ja, mein Herr, und ein braver Mann dazu! . . . Auch gibt's nicht viele Leute hier, die ihn nicht morgens und abends in ihr Gebet einschließen!«

»Das ist für Sie, Mutter,« sagte der Soldat, indem er ihr einige Geldstücke gab. »Und das für die Kinder,« fuhr er, einen Taler hinzulegend, fort. – »Hab' ich's noch weit bis zu Monsieur Benassis?« fragte er, als er wieder zu Pferde saß.

»Oh, nein, mein lieber Herr, höchstens eine kleine Meile.«

In der Ueberzeugung, daß er noch zwei Meilen zurückzulegen habe, ritt der Major fort. Nichtsdestoweniger erblickte er bald durch einige Bäume hindurch eine erste Häusergruppe, dann endlich die Dächer des Fleckens, der sich um einen Glockenturm mit kegelförmiger Spitze sammelt, dessen Schieferplatten an den Ecken des Gebälks durch in der Sonne glänzende Weißblechstreifen festgehalten werden. Dies originell wirkende Dach kündigt die Grenzen Savoyens an, wo es gebräuchlich ist. An dieser Stelle ist das Tal breit. Mehrere anmutig in der kleinen Ebene oder längs des Wildbachs gelegene Häuser beleben das gut angebaute, von allen Seiten durch die Berge verschanzte Land, das scheinbar keinen Ausgang hat. Einige Schritte vor diesem, auf der Mitte des Abhanges nach Süden liegenden Flecken hielt Genestas sein Pferd unter einer Ulmenallee vor einer Schar Kinder an und fragte sie nach Monsieur Benassis' Hause. Die Kinder sahen zuerst einander an und prüften den Fremden mit der Miene, mit der sie alles, was sich ihren Augen zum ersten Male bietet, betrachten: so viele Gesichter, so viele Schattierungen der Neugierde und soviel verschiedene Gedanken. Dann wiederholte der keckste, der munterste der Bande, ein kleiner Junge mit lebhaften Augen, nackten und schmutzigen Füßen, nach der Gewohnheit der Kinder:

»Monsieur Benassis' Haus, mein Herr?«

Und fügte hinzu:

»Ich will Sie hinbringen.«

Er ging vor dem Pferde her, ebensosehr, um eine gewisse Art Wichtigkeit zu gewinnen, wenn er einen Fremdling begleitete, wie aus kindlicher Gefälligkeit, oder um dem gebieterischen Bedürfnis nach Bewegung zu gehorchen, das in diesem Alter Seele und Leib beherrscht. Der Offizier verfolgte die Hauptstraße des Fleckens ihrer ganzen Länge nach, eine steinige, krumme Straße, welche von Häusern eingerahmt wurde, die nach dem Gutdünken der Besitzer erbaut worden waren. Da ragt ein Backofen mitten in den öffentlichen Weg hinein; dort zeigt sich ein Giebel im Profil und versperrt ihn teilweise; dann durchquert ihn ein aus den Bergen kommender Bach mit seinen Rinnsalen. Genestas bemerkte mehrere Dächer mit schwarzen Schindeln, mehr noch aus Stroh, einige aus Ziegeln, sieben oder acht aus Schiefer, zweifelsohne die des Pfarrers, des Friedensrichters und die der Bourgeois des Orts. Es war die ganze Nachlässigkeit eines Dorfes, jenseits dessen die Erde aufhören, das mit nichts zusammenhängen und an nichts grenzen mußte; seine Bewohner schienen ein und dieselbe Familie außerhalb der sozialen Bewegung zu bilden und hingen damit nur durch den Steuereinnehmer oder durch unmerkliche Verzweigungen zusammen. Als Genestas einige Schritte weitergekommen war, sah er auf der Höhe des Berges eine breite Straße, die das Dorf beherrscht. Zweifelsohne gab es ein altes und ein neues Dorf. Tatsächlich konnte der Major bei einer schmalen Durchsicht und an einer Stelle, wo er den Schritt seines Pferdes mäßigte, leicht eine Anzahl gut gebauter Häuser entdecken, deren neue Dächer dem alten Dorf einen freundlicheren Anstrich verliehen. In diesen neuen Behausungen, die eine Allee von jungen Bäumen kränzt, hörte er die beschäftigten Arbeitern eigentümlichen Gesänge, das Summen einiger Werkstätten, das Knirschen der Feilen, das Klopfen der Hämmer, die unbestimmten Geräusche mehrerer Industrien. Er bemerkte den spärlichen Rauch der Küchenschornsteine und die stärkeren Rauchwolken der Essen des Stellmachers, des Schlossers und des Hufschmieds. Am äußersten Ende des Dorfes, wohin sein Führer ihn leitete, erblickte Genestas endlich zerstreute Meiereien, sehr gepflegte Felder, sachkundig angelegte Anpflanzungen und etwas wie einen kleinen Winkel der Brie in einer weiten Geländefalte verloren, deren Existenz zwischen dem Flecken und den Bergen, die das Land abschlossen, er auf den ersten Blick nicht vermutet hätte.

Bald blieb das Kind stehen.

»Das ist die Türe ›seines‹ Hauses,« sagte es.

Der Offizier stieg vom Pferde und schlang den Zügel um seinen Arm; dann zog er, da er dachte, daß jede Bemühung ihren Lohn verdient, einige Sous aus seiner kleinen Hosentasche und bot sie dem Kinde, das sie mit erstaunter Miene nahm, die Augen weit aufriß, nicht dankte und stehenblieb, um zu sehen, was sich weiter begeben würde.

In diesem Orte ist die Zivilisation wenig vorgeschritten, herrschen die Pflichten der Arbeit in voller Kraft und ist die Bettelei noch unbekannt, dachte Genestas.

Mehr neugierig als interessiert lehnte sich der kleine Führer des Militärs an eine brusthohe Mauer, die dazu diente, den Hof des Hauses abzuschließen, und in der an zwei Torpfeilern eine Pforte aus geschwärztem Holz angebracht war. Diese, in ihrem unteren Teile massive und einstmals graugestrichene Tür wurde durch gelbe lanzenförmig zugespitzte Latten abgeschlossen. Diese Zierate, deren Farbe verblichen war, bildeten in der Höhe eines jeden Türflügels einen Halbmond und vereinigten sich, wenn die Tür geschlossen war, zu einem großen Pinienapfel. Dies von den Würmern zernagte, von dem Sammet dunklen Mooses fleckige Tor war durch die abwechselnde Einwirkung der Sonne und des Regens fast zerstört. Von einigen Aloepflanzen und, wo es der Zufall wollte, wuchernden Mauerkräutern überragt, verbergen die Pfeiler die Stämme zweier im Hofe gepflanzter, dornenloser Akazien, deren grüne Laubkronen sich in Puderquastenform erhoben. Der Zustand dieses Portals verriet eine Sorglosigkeit des Besitzers, die dem Offiziere zu mißfallen schien; er runzelte die Augenbrauen wie ein Mann, der notgedrungen auf irgendeine Illusion verzichten muß. Wir sind gewohnt, andere Leute nach uns zu beurteilen, und wenn wir sie auch gerne von unseren Fehlern freisprechen, verurteilen wir sie doch streng, weil sie unsere guten Eigenschaften nicht besitzen. Wenn der Major wünschte, daß Monsieur Benassis ein sorgsamer oder methodischer Mann sei, kündigte seine Haustüre wahrlich eine vollkommene Gleichgültigkeit dem Eigentum gegenüber an. Ein auf häusliche Oekonomie haltender Soldat, wie Genestas einer war, mußte nach dem Portal sofort auf das Leben und den Charakter des Unbekannten schließen: was er trotz seiner Umsicht auch durchaus nicht unterließ. Die Tür war halboffen, eine weitere Sorglosigkeit! Im Vertrauen auf diese ländliche Unbekümmertheit ging der Offizier ohne weiteres in den Hof, band sein Pferd an die Stäbe des Gitterwerks, und während er den Zügel festknotete, drang ein Wiehern aus einem Stall, nach welchem das Pferd und der Reiter unwillkürlich die Augen wandten; ein alter Diener öffnete die Türe und zeigte seinen Kopf, der mit einer dortzulande üblichen roten Leinenmütze bedeckt war, die vollkommen der phrygischen Mütze gleicht, mit der die Freiheit geschmückt ist. Da es dort Platz für mehrere Pferde gab, bot der Biedermann, nachdem er Genestas gefragt hatte, ob er Monsieur Benassis zu besuchen komme, ihm für sein Pferd die Gastfreundschaft des Stalles an, indem er das Tier, welches sehr schön war, voll Zärtlichkeit und Bewunderung betrachtete. Der Major folgte seinem Pferde, um zu sehen, wo es aufgehoben werden sollte. Der Stall war sauber, Streu gab es genug, und Benassis' beide Pferde hatten jenes glückliche Aussehen, das unter allen Pferden ein Pfarrerspferd herauserkennen läßt. Eine Magd, die aus dem Hausinnern auf die Freitreppe hinausgetreten war, schien pflichtgemäß auf die Fragen des Fremdlings zu warten, dem der Stallknecht bereits mitgeteilt hatte, daß Monsieur Benassis ausgegangen sei.

»Unser Herr ist nach der Kornmühle gegangen,« sagte er. »Wenn Sie ihn dort treffen wollen, brauchen Sie nur dem Pfad nachzugehen, der durch die Wiese führt, die Mühle liegt an ihrem Ende.«

Genestas wollte lieber das Land sehen als wer weiß wie lang auf Benassis' Rückkehr zu warten und schlug den Weg nach der Kornmühle ein. Als er die unregelmäßige Linie, die der Flecken auf dem Bergabhange beschreibt, überschritten hatte, erblickte er das Tal, die Mühle und eine der reizvollsten Landschaften, die er noch je gesehen.

Durch den Fuß der Berge gestaut, bildet der Fluß einen kleinen See, über dem sich die Bergzacken stufenweise erheben, indem sie ihre zahlreichen Täler durch die verschiedenen Farben des Lichts oder durch die mehr oder minder lebhafte Reinheit ihrer Grate, die alle mit finsteren Tannen bestanden sind, erraten lassen. Die erst kürzlich an dem Fall des Wildbachs in den kleinen See erbaute Mühle besitzt den Reiz eines alleinstehenden Hauses, das sich mitten in den Gewässern zwischen den Wipfeln mehrerer wasserliebenden Bäume verbirgt. Auf der anderen Flußseite, am Fuße eines an seinen Gipfeln durch die roten Strahlen der untergehenden Sonne in diesem Augenblick schwach erleuchteten Berges sah Genestas ein Dutzend verlassener Strohhütten ohne Türen und Fenster. Ihre beschädigten Dächer ließen ziemlich große Löcher sehen; die Ländereien ringsherum bildeten vollkommen bestellte und angesäte Felder, ihre ehemaligen, in Wiesen umgewandelten Gärten wurden durch Wasserläufe benetzt, die mit ebensoviel Kunst angelegt worden waren wie im Limousin. Der Major blieb unwillkürlich stehen, um die Trümmer dieses Dorfes zu betrachten.

Warum sehen Menschen alle, selbst die bescheidensten Ruinen nicht ohne eine tiefe Bewegung an? Zweifelsohne sind sie für sie das Bild des Unglücks, dessen Last von ihnen so verschieden empfunden wird. Die Friedhöfe lassen an den Tod denken, ein aufgegebenes Dorf läßt an die Mühen des Lebens denken; der Tod ist ein vorhergesehenes Unglück, die Mühen des Lebens sind unendlich. Ist das Unendliche nicht das Geheimnis der großen Melancholien?

Der Offizier hatte die steinige Mühlenstraße erreicht, ohne daß er sich die Preisgabe des Dorfs hätte erklären können; er fragte einen auf den Getreidesäcken vor der Haustüre sitzenden Müllerburschen nach Monsieur Benassis.

»Monsieur Benassis ist dorthin gegangen,« sagte der Müller, nach einer der zerstörten Hütten zeigend.

»Das Dorf ist wohl abgebrannt?« fragte der Major.

»Nein, mein Herr.«

»Warum sieht es denn so aus?« fragte Genestas.

»Ah! warum?« antwortete, achselzuckend und ins Haus hineingehend der Müller, »Monsieur Benassis wird's Ihnen sagen.«

Der Offizier ging über eine Art Brücke, die man aus großen Steinen hergestellt hatte, zwischen denen der Wildbach strömte, und kam bald zu dem bezeichneten Hause. Das Strohdach dieser Behausung war noch ganz mit Moos bedeckt, aber ohne Löcher, und die Verschlüsse schienen in gutem Zustande zu sein. Beim Hineingehen sah Genestas Feuer im Kamin, in dessen Winkel eine alte Frau vor einem auf einem Stuhle sitzenden Kranken kniete, während ein mit dem Gesichte nach dem Feuer gewandter Mann daneben stand. Das Innere des Hauses bildete ein einziges, durch ein elendes mit Leinwand verhängtes Fenster erhelltes Zimmer. Der Boden bestand aus festgestampfter Erde. Der Stuhl, ein Tisch und eine schlechte Matratze bildeten den gesamten Hausrat. Niemals hatte der Major etwas so Einfaches noch so Kahles gesehen, nicht einmal in Rußland, wo die Hütten der Muschiks Höhlen gleichen. Hier legte nichts von den Dingen des Lebens Zeugnis ab, es befand sich dort nicht einmal das geringste für die Zubereitung der einfachsten Nahrung notwendige Gerät. Man hätte die Behausung für eine Hundehütte ohne Futternapf halten können. Wenn dort nicht die elende Matratze gelegen, ein langer, grober Leinwandkittel an einem Nagel gehangen und mit Stroh ausgelegte Holzschuhe des Kranken gestanden hätten, die einzigen Kleidungsstücke, wäre einem diese Hütte ebenso verlassen wie die anderen vorgekommen. Die kniende Frau, eine sehr betagte Bäuerin, bemühte sich des Kranken Füße in einen Kübel, der mit einem braunen Wasser angefüllt war, zu halten. Als er einen Schritt hörte, den das Geräusch der Sporen für die an den monotonen Gang der Landleute gewöhnten Ohren ungewöhnlich machte, wandte der Mann sich nach Genestas um, indem er eine gewisse Ueberraschung bekundete, die von der Alten geteilt wurde.

»Ich habe nicht nötig,« sagte der Soldat, »zu fragen, ob Sie Monsieur Benassis sind. Einem Fremden, der ungeduldig ist, Sie zu sehen, werden Sie verzeihen, mein Herr, daß er gekommen ist, Sie auf Ihrem Schlachtfelde zu suchen, statt Sie bei sich zu Hause zu erwarten. Lassen Sie sich nicht stören, gehen Sie Ihrem Berufe nach. Wenn Sie fertig sind, will ich Ihnen den Grund meines Besuches anzeigen.«

Genestas lehnte sich an den Rand des Tisches und bewahrte Schweigen. Das Feuer verbreitete in der Hütte eine lebhaftere Helligkeit als die der Sonne, deren durch die Bergwipfel gebrochenen Strahlen niemals in diesen Teil des Tales gelangen können. Beim Lichte dieses Feuers, das durch einige harzige Fichtenzweige, die eine leuchtende Flamme abgaben, unterhalten wurde, betrachtete der Soldat das Gesicht des Mannes, den ein heimliches Interesse ihn aufzusuchen, zu studieren und genau kennenzulernen zwang. Monsieur Benassis, der Bezirksarzt, verharrte mit gekreuzten Armen, hörte Genestas kühl an, erwiderte seinen Gruß und wandte sich wieder dem Kranken zu, ohne sich für den Gegenstand einer so ernstlichen Prüfung, wie es die des Militärs war, zu halten.

Benassis zeigte eine Durchschnittsfigur, aber mit breiten Schultern und breitem Brustkasten. Ein weiter, bis zum Halse zugeknöpfter grüner Ueberrock hinderte den Offizier, die so charakteristischen Einzelheiten dieser Persönlichkeit oder ihrer Haltung zu bemerken; der Schatten und die Unbeweglichkeit aber, in welcher der Körper verharrte, sorgten dafür, das in diesem Augenblick durch einen Reflex der Flammen stark erhellte Gesicht hervortreten zu lassen. Das Gesicht dieses Mannes ähnelte dem eines Satyrs: die nämliche leicht geschweifte Stirn, die aber voll mehr oder minder bezeichnender Erhebungen war; die nämliche, an der Spitze geistreich gespaltene Stülpnase; die nämlichen, hervortretenden Backenknochen. Der Mund war geschwungen, die Lippen waren dick und rot. Das Kinn trat unvermittelt hervor. Die braunen Augen, durch einen lebhaften Blick, dem die perlmutterschimmernde Farbe des Weißen darin einen hohen Glanz verlieh, beseelt, sprachen von ertöteten Leidenschaften. Die einstmals schwarzen und jetzt grauen Haare, die tiefen Falten seines Gesichts und seine bereits weißen buschigen Augenbrauen, seine dick und äderig gewordene Nase, seine gelbe und durch rote Flecke marmorierte Hautfarbe, alles kündigte bei ihm den Fünfziger und die harte Arbeit seines Berufes an. Der Offizier konnte den Umfang des augenblicklich mit einer Mütze bedeckten Kopfes nur mutmaßen, doch obwohl er unter dieser Hülle verborgen war, schien er ihm einer jener, sprichwörtlich »Quadratschädel« genannten Köpfe zu sein. Durch die Verbindung, in der er mit jenen Männern voller Energie gestanden hatte, die Napoleon an sich zog, gewöhnt, die Züge der zu großen Dingen bestimmten Menschen zu unterscheiden, erriet Genestas ein Geheimnis in diesem ihm unbekannten Leben und sagte sich, als er das ungewöhnliche Gesicht erblickte:

Durch welchen Zufall ist er Landarzt geblieben?

Nachdem er die Physiognomie genau betrachtet hatte, die trotz ihrer Analogien mit anderen menschlichen Gesichtern eine geheime Existenz verriet, die mit all den scheinbaren Gewöhnlichkeiten nicht im Einklang stand, teilte er notwendigerweise die Aufmerksamkeit, die der Arzt dem Kranken widmete; und der Anblick dieses Kranken veränderte den Gang seiner Ueberlegungen vollkommen.

Trotz der unzähligen Bilder seines Militärlebens fühlte der alte Reiter eine von Entsetzen begleitete Regung der Ueberraschung, als er ein menschliches Antlitz gewahrte, auf welchem offenbar niemals der Gedanke geglänzt hatte; ein fahles Gesicht, auf dem sich das Leiden naiv und schweigsam ausdrückte, wie auf dem Antlitz eines Kindes, das noch nicht zu sprechen weiß und nicht mehr schreien kann, kurz das ganz tierische Gesicht eines alten sterbenden Kretinen. Der Kretine war die einzige Abart des menschlichen Geschlechts, die der Eskadronschef noch nicht gesehen hatte. Wer hätte beim Anblick einer Stirn, deren Haut eine dicke runde Falte bildete, zweier Augen, die denen eines gekochten Fisches glichen, eines, mit kurzen verkümmerten Haaren, denen die Nahrung fehlte, bedeckten Schädels – eines ganz eingedrückten und der Sinnnesorgane völlig entbehrenden Schädels – nicht wie Genestas ein Gefühl unfreiwilligen Abscheus vor einem Geschöpf empfunden, welches weder die Reize des Tieres noch die Vorzüge des Menschen aufwies, das niemals weder Vernunft noch Instinkt besessen, niemals eine Art von Sprache weder verstanden noch gesprochen hatte? Indem man dies arme Wesen am Ende einer Laufbahn, die kein Leben war, ankommen sah, schien es schwierig zu sein, ihm ein Bedauern entgegenzubringen. Die alte Frau indessen betrachtete es mit einer rührenden Unruhe und fuhr mit ihren Händen über den Teil der Beine, die das heiße Wasser nicht benetzt hatte, mit ebensoviel Zuneigung, wie wenn es ihr Ehemann gewesen wäre. Benassis selber nahm, nachdem er dies tote Antlitz und die lichtlosen Augen betrachtet hatte, sanft behutsam des Kretinen Hand und fühlte ihm den Puls.

»Das Bad wirkt nicht,« sagte er, den Kopf schüttelnd, »legen wir ihn wieder ins Bett!«

Er hob selber diese Fleischmasse empor und trug sie auf die elende Matratze, von wo er sie zweifelsohne hergeholt hatte, streckte sie dort sorgsam aus, indem er die fast kalten Beine geradebog und Hand und Kopf mit der Sorgfalt bettete, die eine Mutter ihrem Kinde angedeihen lassen mag.

»Gewiß, er wird sterben,« fügte Benassis hinzu, der am Bettrande aufrecht stehenblieb.

Die Hände in die Hüften gestützt, sah die alte Frau den Sterbenden an und ließ einige Tränen rinnen. Genestas selbst blieb schweigsam, ohne sich erklären zu können, warum der Tod eines so wenig anziehenden Wesens solch einen Eindruck auf ihn machte. Instinktiv teilte er schon das grenzenlose Mitleid, das diese unglücklichen Geschöpfe in den der Sonne beraubten Tälern, wohin die Natur sie geworfen hat, einflößen. Rührt dieses Gefühl, das bei den Familien, denen die Kretins angehören, in religiösen Aberglauben entartet ist, nicht von der schönsten der christlichen Tugenden, der Barmherzigkeit her, und von dem für die soziale Ordnung so überaus nützlichen Glauben, dem Gedanken an zukünftige Belohnungen, dem einzigen, der uns unsere Unglücksfälle ertragen läßt? Die Hoffnung, die ewige Glückseligkeit zu verdienen, hilft den Eltern dieser armen Wesen und denen, welche um sie herum leben, die Sorgen der Mütterlichkeit und ihres erhabenen Schutzes auszuüben, den man einer untätigen Kreatur, die ihn anfangs nicht begreift und ihn späterhin vergißt, fortgesetzt angedeihen läßt. Eine wunderbare Religion! Sie hat den Beistand einer blinden Wohltat neben ein blindes Unglück gestellt. Da, wo es Kretinen gibt, glaubt die Bevölkerung, daß die Gegenwart eines Wesens dieser Art glückbringend für die Familie sei. Dieser Glaube dient dazu, ein Leben angenehm zu machen, das inmitten der Städte zu den Härten einer falschen Philanthropie und einer Hospitaldisziplin verdammt sein würde. Im oberen Iseretale, wo sie sehr häufig sind, leben die Kretinen mit den Herden, die zu hüten man sie abgerichtet hat, im Freien. Wenigstens sind sie frei und werden respektiert, wie es das Unglück sein muß.

Seit einem Augenblick läutete die ferne Dorfglocke in regelmäßigen Intervallen, um den Gläubigen den Tod eines von ihnen mitzuteilen. Den Raum durcheilend, gelangte dieser religiöse Gedanke abgeschwächt zu der Hütte, wo er eine sanfte Schwermut verbreitete. Zahlreiche Schritte ließen sich auf dem Wege vernehmen und kündigten das Nahen einer Menge, aber einer schweigenden Menge an. Dann fiel plötzlich detonierender Kirchengesang ein und erweckte jene wirren Gedanken, die sich der ungläubigsten Seelen bemächtigen und sie zwingen, sich den ergreifenden Harmonien der menschlichen Stimme zu überlassen. Die Kirche kam diesem Geschöpf, das sie nicht kannte, zu Hilfe. Der Pfarrer, dem ein von einem Chorknaben gehaltenes Kreuz vorangetragen wurde, erschien im Gefolge des den Weihwasserkessel haltenden Sakristans und von etwa fünfzig Frauen, Greisen und Kindern, die alle gekommen waren, um ihre Gebete mit denen der Kirche zu vereinigen. Der Arzt und der Militär blickten sich schweigend an und zogen sich in einen Winkel zurück, um der Menge Platz zu machen, die in und außerhalb der Hütte niederkniete. Während der trostreichen Zeremonie der letzten Wegzehrung, die für jenes Wesen begangen wurde, das niemals gesündigt hatte, dem aber die Christenwelt Lebewohl sagte, zeigten die meisten dieser groben Gesichter aufrichtige Rührung. Einige Tränen rannen über rauhe, durch die Sonne rissig gewordene und von den Arbeiten in freier Luft gebräunte Backen. Dieses Gefühl freiwilliger Verwandtschaft war ganz schlicht. Niemanden gab es in der Gemeinde, der dies arme Wesen nicht beklagt, der ihm nicht sein tägliches Brot gereicht hätte; war ihm nicht ein Vater in jedem kleinen Jungen, in dem lustigsten kleinen Mädchen nicht eine Mutter begegnet?

»Er ist gestorben,« sagte der Pfarrer.

Dies Wort erregte die aufrichtigste Bestürzung. Die Kerzen wurden angezündet. Mehrere Leute wollten die Nacht über bei dem Leichnam wachen. Benassis und der Soldat gingen fort. An der Türe hielten einige Bauern den Arzt an, um ihm zu sagen:

»Ach, Herr Bürgermeister, wenn Sie ihn nicht gerettet haben, wollte Gott ihn zweifelsohne zu sich rufen!«

»Ich hab' mein Bestes getan, liebe Kinder,« antwortete der Doktor. – »Sie können sich nicht vorstellen, mein Herr,« sagte er zu Genestas, als sie einige Schritte hinter dem verlassenen Dorfe standen, dessen letzter Bewohner eben gestorben war, »wieviel wirklichen Trost für mich das Wort dieser Bauern birgt. Vor etwa zehn Jahren wäre ich in diesem heute verlassenen, damals aber von dreißig Familien bewohnten Dorfe beinahe gesteinigt worden.«

Genestas legte eine so sichtliche Frage in den Ausdruck seiner Züge und seiner Haltung, daß der Arzt ihm im Weiterschreiten die durch diese Andeutung angekündigte Geschichte erzählte.

»Als ich mich hier niederließ, mein Herr, fand ich in diesem Teile des Bezirks ein Dutzend Kretinen vor,« sagte der Arzt sich umwendend, um dem Offizier die zerstörten Häuser zu zeigen. »Die Lage dieses Weilers in einem Talgrunde ohne Luftzug, an einem Wildbach, dessen Gewässer aus geschmolzenen Schneemengen herrühren, unzugänglich für die Sonne, die nur die Gebirgsgipfel bestrahlt, begünstigt die Verbreitung dieser gräßlichen Krankheit. Die Gesetze verbieten die Paarung dieser Unglücklichen nicht, die hier durch einen Aberglauben begünstigt werden, dessen Macht mir unbekannt war und den ich anfangs verdammt, später aber bewundert habe. Der Kretinismus würde sich also von dieser Stelle aus bis ins Tal verbreitet haben. Hieß es nicht dem Lande einen großen Dienst erweisen, wenn man dieser physischen und intellektuellen Seuche Einhalt gebot? Trotz seiner Dringlichkeit konnte diese Wohltat dem, der ihre Verwirklichung auf sich nahm, das Leben kosten. Hier mußte man, wie in den anderen sozialen Sphären, zur Vollbringung des Guten keine Interessen, sondern, was viel gefährlicher ist, in Aberglauben verwandelte religiöse Gedanken, die unzerstörbarste Form menschlicher Vorstellungen verletzen. Vor nichts schreckte ich zurück. Zuerst bewarb ich mich um den Bürgermeisterposten und erhielt ihn; dann, nachdem ich die mündliche Billigung des Präfekten erlangt hatte, ließ ich nächtlicherweile einige dieser unglücklichen Kreaturen für Geld und gute Worte nach Aiguebelle in Savoyen schaffen, wo es ihrer sehr viele gibt und wo sie sehr gut behandelt werden sollten. Sobald dieser Humanitätsakt bekannt geworden war, ward ich der ganzen Bevölkerung zum Abscheu. Der Pfarrer predigte gegen mich. Obwohl ich mir alle Mühe gab, den klügsten Köpfen des Fleckens auseinanderzusetzen, wie wichtig die Austreibung dieser Kretinen sei, obwohl ich die Kranken des Landes umsonst behandelte, schoß man in einem Waldwinkel mit der Büchse auf mich. Ich suchte den Bischof von Grenoble auf und bat ihn um einen Pfarrerwechsel. Monseigneur besaß die große Güte, mir die Wahl eines Priesters einzuräumen, der meinem Vorhaben Hilfe angedeihen lassen möchte, und ich hatte das Glück, einem jener Wesen zu begegnen, die vom Himmel herabgefallen zu sein scheinen. Ich setzte mein Unternehmen fort. Nachdem ich die Gemüter bearbeitet hatte, deportierte ich nächtlicherweile sechs andere Kretinen. Bei diesem zweiten Versuch hatte ich einige mir verpflichtete Leute und die Ratsglieder der Gemeinde zu Verteidigern, deren Habgier ich interessierte, indem ich ihnen bewies, wie kostspielig der Unterhalt dieser armen Wesen sei, und wie vorteilhaft es für den Flecken sein werde, die von jenen ohne Rechtstitel besessenen Grundstücke in Gemeindeländereien zu verwandeln, woran es dem Flecken fehlte. Die Reichen hatte ich für mich; die Armen, die alten Frauen, die Kinder und einige Starrköpfe aber blieben mir feindlich gesinnt. Unglücklicherweise konnte meine letzte Entführung nicht ganz vollzogen werden. Der Kretine, den Sie eben gesehen haben, war nicht nach Hause zurückgekehrt, hatte nicht ausgehoben werden können und fand sich andern Morgens als einziger seiner Art im Dorfe ein, wo noch einige Familien wohnten, deren beinahe schwachsinnige Individuen wenigstens frei von Kretinismus waren. Ich wollte mein Werk zu Ende führen und kam bei Tage in Amtstracht, um den Unglücklichen aus seinem Hause zu holen. Sobald ich meine Wohnung nur verließ, wurde meine Absicht bekannt; die Freunde des Kretinen liefen vor mir her, und ich fand vor seiner Hütte eine Ansammlung von Frauen, Kindern, Greisen, die mich mit Beleidigungen, die von einem Steinhagel begleitet wurden, begrüßten. Inmitten dieses Tumults, in dem ich vielleicht das Opfer wirklicher Raserei, die eine durch Schreie und die Erbitterung allgemein ausgedrückter Gefühle erregte Menge packte, geworden wäre, wurde ich durch den Kretinen gerettet! Das arme Wesen kam aus seiner Hütte hervor, ließ sein Glucksen hören und erschien als der oberste Anführer dieser Fanatiker. Bei seinem Auftauchen ließen die Schreie nach. Ich faßte den Gedanken, einen Vergleich vorzuschlagen, und konnte ihn dank der glücklicherweise eingetretenen Ruhe vorbringen. Die Leute, welche mein Tun guthießen, wagten es unter solchen Umständen zweifelsohne nicht, zu mir zu stehen, ihre Hilfe konnte lediglich passiv sein. Die abergläubischen Leute wachten mit der größten Lebhaftigkeit über der Erhaltung ihres letzten Götzenbildes; unmöglich schien es mir, es ihnen wegzunehmen. Ich versprach also, den Kretinen in Ruhe in seinem Hause zu lassen, unter der Bedingung, daß sich ihm niemand nähern dürfe, daß die Familien dieses Dorfes das Wasser verlassen und sich im Flecken ansiedeln würden, in neuen Häusern, die bauen zu lassen ich auf mich nähme, unter Zuteilung von Ländereien, deren Preis mir später von der Gemeinde zurückgezahlt werden sollte. Nun, mein lieber Herr, sechs Monate hatte ich nötig, um die Widerstände zu besiegen, denen die Ausführung dieses Handels, so vorteilhaft er auch für die Familien jenes Dorfes war, begegnete. Die Liebe der Landleute zu ihren baufälligen Häusern ist eine unerklärliche Tatsache. Wie ungesund seine Hütte auch sein mag, ein Bauer hängt noch mehr an ihr als ein Bankier an seinem eleganten Stadthause. Warum? Ich weiß es nicht. Vielleicht steht die Kraft der Gefühle im Verhältnis zu ihrer Seltenheit. Vielleicht lebt der Mensch, der wenig durch Gedanken lebt, viel durch Dinge, und je weniger er ihrer besitzt, desto mehr liebt er sie zweifelsohne. Vielleicht verhält es sich mit dem Bauern wie mit dem Gefangenen . . . er verzettelt die Kräfte seiner Seele nicht, er konzentriert sie auf einen einzigen Gedanken und gelangt dann zu einer starken Gefühlsenergie. Verzeihen Sie einem Manne, der selten seine Gedanken austauscht, diese Ueberlegungen. Glauben Sie übrigens nicht, mein Herr, daß ich mich viel mit eitlen Gedanken beschäftigt habe. Hier muß alles Praxis und Tat sein. Ach, je weniger Ideen die armen Leute hier haben, desto schwieriger ist's, sie ihren wirklichen Nutzen einsehen zu lehren. Auch hab' ich auf alle Kleinigkeiten meines Unternehmens verzichtet. Jeder von ihnen sagte mir das nämliche, machte einen jener Einwände voll gesunden Menschenverstands, die keine Antwort zulassen: ›Ach, Herr, Ihre Häuser sind ja noch nicht gebaut!‹ – ›Nun gut,‹ antwortete ich ihnen, ›versprecht mir, sie bewohnen zu wollen, sobald sie fertig sind!‹ Glücklicherweise, mein Herr, erlangte ich die Entscheidung, daß unser Flecken Eigentümer des ganzen Berges ist, an dessen Fuß das jetzt verlassene Dorf liegt. Der Wert der auf den Höhen stehenden Waldungen konnte genügen, um den Preis der Ländereien und der versprochenen und noch zu bauenden Häuser zu bezahlen. Als eine einzige meiner störrischen Haushaltungen dort untergebracht worden war, zögerten die anderen nicht, ihr zu folgen. Der Wohlstand, der sich aus diesem Wechsel ergab, sprang zu sehr ins Auge, um nicht von denen anerkannt zu werden, die am abergläubischsten an ihrem Dorfe ohne Sonne, was ebensoviel heißt wie ohne Seele, festhielten. Der Abschluß dieser Angelegenheit, die Eroberung der Gemeindegüter, deren Besitz uns durch den Staatsrat bestätigt wurde, ließen mich eine große Wichtigkeit im Bezirk erlangen. Wie viele Sorgen brachte das aber, mein Herr!« sagte der Arzt, indem er stehenblieb und eine Hand erhob, die er mit einer Bewegung voller Beredsamkeit wieder sinken ließ. »Ich allein kenne die Entfernung des Fleckens von der Präfektur, von wo nichts ausgeht, und von der Präfektur zum Staatsrat, wo nichts einläuft . . . Endlich,« fuhr er fort, »Frieden allen Mächten der Erde, sie haben meinen eindringlichen Gesuchen nachgegeben, und das ist sehr viel! Wenn Sie wüßten, wieviel Gutes durch eine sorglos gegebene Unterschrift hervorgerufen wird! . . . Zwei Jahre, nachdem ich so große kleine Dinge versucht und sie zu Ende gebracht hatte, mein Herr, besaßen alle armen Haushaltungen meiner Gemeinde mindestens zwei Kühe und schickten sie ins Gebirge auf die Weide, wo ich, ohne die Genehmigung des Staatsrats abzuwarten, ein Bewässerungssystem, ähnlich dem der Schweiz, der Auvergne und des Limousin, angelegt hatte. Zu ihrer großen Ueberraschung sahen die Leute des Fleckens dort ausgezeichnete Wiesen entstehen, und sie erhielten eine viel größere Menge Milch durch die größere Güte der Weideplätze. Die Ergebnisse dieser Eroberung waren unglaublich groß. Jeder ahmte meine Bewässerung nach. Die Wiesen, die Tiere, alle Erzeugnisse vervielfachten sich. Seit der Zeit konnte ich furchtlos die Verbesserung dieses noch unangebauten Erdenwinkels unternehmen und seine bis dato noch der Intelligenz entbehrenden Bewohner zivilisieren. Kurz, mein Herr, wir Einsiedler sind sehr geschwätzig: wenn man eine Frage an uns richtet, weiß man nie, wo die Antwort aufhören wird. Als ich ins Tal kam, betrug die Bevölkerung siebenhundert Seelen; jetzt zählt man ihrer zweitausend. Die Angelegenheit mit dem letzten Kretinen hat mir jedermanns Schätzung eingetragen. Nachdem ich den von mir Verwalteten beständig Milde und Festigkeit zugleich gezeigt hatte, wurde ich das Bezirksorakel. Ich tat alles, um das Vertrauen zu verdienen, ohne es weder herauszufordern, noch scheinbar zu wünschen; nur bemühte ich mich, allen den größten Respekt vor meiner Person durch die Gewissenhaftigkeit einzuflößen, mit der ich alle meine Verpflichtungen, selbst die unbedeutendsten, zu erfüllen wußte. Nachdem ich versprochen hatte, für das arme Wesen, das Sie eben sterben sahen, Sorge zu tragen, wachte ich besser über den Kretinen, als es seine früheren Beschützer getan hatten. Als Adoptivkind der Gemeinde wurde er genährt und gepflegt. Später haben die Bewohner schließlich den Dienst, welchen ich ihnen wider ihren Willen geleistet hatte, begriffen. Nichtsdestoweniger bewahren sie noch einen Rest ihres ehemaligen Aberglaubens. Ich bin weit davon entfernt, sie deswegen zu tadeln, hat mir ihr dem Kretinen geweihter Kult doch häufig als Mittel gedient, um die, welche Intelligenz besaßen, zur Hilfe für die Unglücklichen zu veranlassen. – Aber wir sind an Ort und Stelle,« fuhr Benassis nach einer Pause fort, als er sein Hausdach erblickte. Weit entfernt, von dem Zuhörer die geringste Lob- oder Dankphrase zu erwarten, als er diese Episode seines Verwaltungslebens erzählte, schien er nur jenem naiven Mitteilungsbedürfnis nachgegeben zu haben, dem von der Welt zurückgezogene Leute gehorchen.

»Mein Herr,« sagte der Major zu ihm, »ich hab' mir die Freiheit genommen, mein Pferd in Ihren Stall zu stellen, und Sie werden so gütig sein, mich zu entschuldigen, wenn ich Ihnen meinen Reisezweck mitgeteilt habe.«

»Ah! und der ist?« fragte Benassis ihn, der sich von einer Zerstreutheit freizumachen und sich zu erinnern schien, daß sein Gefährte ein Fremder war.

Seinem offenen und mitteilsamen Charakter gemäß hatte er Genestas wie einen Bekannten aufgenommen.

»Mein Herr,« entgegnete der Soldat, »ich habe von der beinahe wunderbaren Heilung Monsieur Graviers aus Grenoble, den Sie zu sich genommen hatten, reden hören. Ich komme in der Hoffnung, der gleichen Fürsorge teilhaftig zu werden, ohne die gleichen Ansprüche auf Ihre Gewogenheit zu besitzen: indessen verdiene ich sie vielleicht! Ich bin ein alter Soldat, dem alte Wunden keine Ruhe lassen. Sie werden wohl mindestens acht Tage nötig haben, um den Zustand, in welchem ich mich befinde, zu prüfen; denn meine Schmerzen hören nur zeitweilig auf, und . . .«

»Nun gut, mein Herr,« sagte Benassis, ihn unterbrechend, »Monsieur Graviers Zimmer steht immer bereit; kommen Sie . . .«

Sie traten ins Haus, dessen Türe vom Arzte mit einer Lebhaftigkeit aufgestoßen wurde, welche Genestas dem Vergnügen zuschrieb, einen Pensionär zu bekommen. »Jacquotte,« rief Benassis, »der Herr wird hier essen.«

»Aber, mein Herr,« warf der Soldat ein, »würde es nicht angemessen sein, uns über den Preis einig zu werden?«

»Den Preis wovon?« fragte der Arzt.

»Der Pension. Sie können nicht mich und mein Pferd ernähren, ohne . . .«

»Wenn Sie reich sind,« antwortete Benassis, »werden Sie wohl bezahlen, wenn nicht, will ich nichts haben.«

»Nichts«, sagte Genestas, »dünkt mich zu teuer. Doch, reich oder arm, würden Ihnen zehn Franken täglich, abgesehen von den Kosten für Ihre Bemühungen, recht sein?«

»Nichts ist mir weniger recht, als irgendwelche Bezahlung für das Vergnügen, Gastfreundschaft auszuüben, anzunehmen,« erwiderte, die Brauen runzelnd, der Arzt. »Was meine Bemühungen anlangt, so werd' ich Sie Ihnen nur widmen, wenn Sie mir gefallen. Reiche sollen meine Zeit nicht kaufen, sie gehört den Leuten des Tals hier. Ich will weder Ruhm noch Vermögen, ich verlange von meinen Kranken weder Lobsprüche noch Dankbarkeit. Das Geld, das Sie mir etwa einhändigen, wird zu den Apothekern nach Grenoble wandern, um die für die Bezirksarmen unerläßlichen Medikamente zu bezahlen.«

Wer diese brüsk, aber ohne Bitterkeit hingeworfenen Worte gehört hätte, würde sich wie Genestas innerlich gesagt haben: »Das ist wahrhaftig ein wackerer Mann!«

»Mein Herr,« sagte der Soldat mit seiner gewohnten Hartnäckigkeit, »ich werde Ihnen also zehn Franken täglich bezahlen und Sie mögen damit tun, was Sie wollen! Das abgemacht, werden wir uns besser verstehen,« fügte er, des Arztes Hand ergreifend und sie ihm mit eindringlichster Herzlichkeit schüttelnd, hinzu: »Trotz meiner zehn Franken werden Sie wohl sehen, daß ich kein Wucherer bin.«

Nach diesem Kampfe, in dem bei Benassis nicht das geringste Verlangen durchblickte, als edelmütiger Mann oder Philanthrop zu erscheinen, trat der angebliche Kranke in das Haus seines Arztes, wo alles im Einklang mit dem Verfall der Türe und den Kleidern des Besitzers stand. Die geringsten Dinge bezeugten die größte Sorglosigkeit dem gegenüber, was nicht von wesentlichem Nutzen war. Benassis ließ Genestas durch die Küche gehen, den kürzesten Weg, um ins Speisezimmer zu gelangen. Wenn diese verräuchert wie eine Herbergsküche, mit Geräten in genügender Menge versehen war, so war dieser Luxus das Werk Jacquottes, einer ehemaligen Pfarrersköchin, die »wir« sagte und den Arzthaushalt als Alleinherrscherin regierte. Wenn es dort über dem Kaminmantel einen sehr blanken Bettwärmer gab, so liebte Jacquotte wahrscheinlich warm zu schlafen im Winter, und wärmte auf diesem Umweg die Leintücher ihres Herrn, der, wie sie sagte, an nichts dachte; Benassis aber hatte sie gerade aus dem Grunde genommen, der für jeden anderen einen unerträglichen Fehler bedeutet hätte: Jacquotte wollte im Hause herrschen, und der Arzt hatte eine Frau zu finden gewünscht, die bei ihm herrsche. Jacquotte kaufte, verkaufte, machte zurecht, veränderte, stellte auf und verrückte, ordnete an und stellte um – alles nach ihrem Belieben, niemals hatte ihr Herr ihr eine einzige Einwendung gemacht. Auch betreute Jacquotte ohne Kontrolle den Hof, den Stall, den Knecht, die Küche, das Haus, den Garten und den Herrn. Nach ihrem eigenen Dafürhalten wechselte sie das Leinzeug, hielt sie Wäsche und speicherte sie Vorräte auf. Sie entschied über den Eingang ins Haus und über den Tod der Schweine, schalt den Gärtner, setzte die Speisefolge des Frühstücks und des Mittagessens fest, ging vom Keller nach dem Speicher, vom Speicher in den Keller, indem sie dort nach ihrer Laune schaltete und waltete, ohne irgendwelchen Widerstand zu finden. Benassis hatte nur zwei Dinge gewünscht: um sechs Uhr zu Mittag zu essen und monatlich nur eine bestimmte Summe zu verausgaben. Eine Frau, der alles gehorcht, singt immer: auch Jacquotte lachte, schlug wie eine Nachtigall auf den Treppen, immer trällernd, wenn sie nicht sang, und singend, wenn sie nicht trällerte. Von Natur aus sauber, wie sie war, hielt sie das ganze Haus sauber. Wenn ihr Geschmack anders gewesen wäre, würde Monsieur Benassis recht unglücklich gewesen sein, meinte sie; denn der arme Mann paßte so wenig auf, daß man ihm Kohl für Rebhühner hätte vorsetzen können; ohne sie würde er dasselbe Hemd häufig acht Tage über anbehalten haben. Doch Jacquotte war eine unermüdliche Wäschezusammenlegerin, Möbelabstauberin aus Charakter, und Liebhaberin einer ganz geistlichen Sauberkeit, der peinlichsten, blendendsten und angenehmsten aller Sauberkeiten. Als erbliche Feindin des Staubs entstaubte, wusch und plättete sie unaufhörlich. Der Zustand der äußeren Türe verursachte ihr lebhaften Kummer. Seit zehn Jahren entlockte sie ihrem Herrn an jedem Monatsersten das Versprechen, die Türe neu machen, die Mauern des Hauses frisch weißen und alles hübsch herrichten zu lassen; und der Herr hatte sein Wort noch nicht gehalten. Auch unterließ sie, wenn sie Benassis' unendliche Unbekümmertheit beklagte, es selten, folgende entscheidende Phrase, mit der alle Lobsprüche über ihren Herrn endigten, zu äußern:

»Man kann ja nicht sagen, daß er dumm ist, da er ja beinahe Wunder im Orte tut, doch manchmal ist er trotz alledem dumm, und zwar so dumm, daß man ihm wie einem Kinde alles in die Hand geben muß!«

Jacquotte liebte das Haus wie etwas, was ihr gehörte. Hatte sie, nachdem sie zweiundzwanzig Jahre über dort gewohnt hatte, übrigens nicht vielleicht das Recht, sich darüber zu täuschen? Als Benassis ins Land kam und das Haus infolge des Todes des Pfarrers verkäuflich fand, hatte er alles gekauft, Mauern und Grund, Möbel, Tafelgeschirr, Wein, Hühner, die alte Wanduhr mit Figurenwerk, das Pferd und die Dienerin. Jacquotte, das Modell einer Küchenfee, hatte einen vollen Oberleib, der unwandelbar in braunen, mit roten Punkten gemusterten Kattun gekleidet, der geschnürt und dermaßen zusammengepreßt war, daß man glauben mußte, der Stoff würde bei der geringsten Bewegung auseinanderbrechen. Sie trug ein rundes, gekräuseltes Häubchen, unter dem ihr etwas bleiches Gesicht mit dem Doppelkinn noch weißer aussah, als es in Wirklichkeit war. Klein, beweglich, im Besitze einer flinken, fleischigen Hand, sprach Jacquotte laut und beständig. Wenn sie einen Augenblick schwieg und den Rand ihrer Schürze faßte, um sie zum Dreieck zusammenzulegen, so kündigte diese Geste eine lange, an den Herrn oder den Diener gerichtete Vorstellung an. Von allen Köchinnen des Königreichs war Jacquotte sicherlich die glücklichste. Um ihr Glück so vollständig zu machen, wie ein Glück hienieden sein kann, sah sich ihre Eitelkeit fortwährend befriedigt; der Flecken sah sie für eine Autorität an, die zwischen Bürgermeister und Flurhüter stand.

Als der Bürgermeister in die Küche trat, fand er dort niemanden vor.

»Wo, zum Teufel, sind sie denn hingegangen?« rief er. »Verzeihen Sie mir,« fuhr er, sich an Genestas wendend, fort, »daß ich Sie hier einführe. Der Haupteingang führt durch den Garten, aber ich bin so wenig gewöhnt, Leute zu empfangen, daß . . . – Jacquotte!«

Bei diesem, beinahe gebieterisch gerufenen Namen antwortete eine Frauenstimme im Hausinnern. Einen Augenblick hernach ging Jacquotte zum Angriff über, indem sie ihrerseits Benassis rief, der prompt in das Eßzimmer kam.

»Ja, so sind Sie, Herr,« sagte sie, »so machen Sie's immer. Stets laden Sie Leute zum Essen ein, ohne es mir zu sagen, und glauben dann, alles sei abgemacht, wenn Sie ›Jacquotte‹ gerufen haben. Haben Sie den Herrn da nicht in der Küche empfangen? Mußte man nicht den Salon aufmachen und dort Feuer anzünden? Nicolle ist dort und wird alles besorgen. Jetzt führen Sie Ihren Herrn ein bißchen im Garten spazieren; das wird den Mann unterhalten. Wenn er die hübschen Sachen liebt, so zeigen Sie ihm doch den Hagebuchengang des verstorbenen Herrn; ich werde dann Zeit gewinnen, um alles vorzubereiten: das Essen, das Tischdecken und den Salon.«

»Ja. Aber, Jacquotte,« fuhr Benassis fort, »der Herr will hierbleiben. Vergiß nicht, ein Auge in Monsieur Graviers Zimmer zu werfen, die Leintücher und alles nachzusehen, und . . .«

»Wollen Sie sich jetzt auch um die Bettücher kümmern?« erwiderte Jacquotte. »Wenn er hier schläft, weiß ich genau, was man für ihn tun muß. Seit zehn Monaten sind Sie nicht ein einziges Mal in Monsieur Graviers Zimmer gegangen. Es gibt dort nichts nachzusehen, es ist rein wie mein Auge . . . Der Herr wird also hierbleiben,« fügte sie in einem sanfteren Tone hinzu.

»Ja.«

»Wie lange?«

»Meiner Treu, das weiß ich nicht! Aber was macht dir das aus?«

»Ah! Was mir das ausmacht, Herr? Ah! Jawohl, was mir das ausmacht? Das ist wieder so eine Frage! Und die Einkäufe, und alles, und . . .«

Ohne den Wortschwall zu beendigen, mit dem sie bei jeder anderen Gelegenheit ihren Herrn überschüttet hätte, um ihm seinen Mangel an Vertrauen vorzuwerfen, folgte sie ihm in die Küche. Da sie erriet, daß es sich um einen Pensionär handele, brannte sie darauf, Genestas zu sehen, dem sie eine sehr ehrerbietige Verbeugung machte, wobei sie ihn vom Kopf bis zu den Füßen musterte. Des Militärs Physiognomie hatte damals einen traurigen und träumerischen Ausdruck, der ihm eine düstere Miene gab; das Zwiegespräch der Haushälterin und des Herrn schien ihm letzteren als eine Null zu offenbaren, die ihn, wiewohl mit Bedauern, von der hohen Meinung abkommen ließ, die er gefaßt hatte, als er seine Beharrlichkeit, dies kleine Land vor dem Unglück des Kretinismus zu retten, bewunderte.

»Der ist gar nicht nach meinem Gusto, dieser Herr!« sagte Jacquotte bei sich selbst.

»Wenn Sie nicht zu ermüdet sind, mein Herr,« wandte sich der Arzt zu seinem angeblichen Kranken, »so wollen wir vor dem Essen noch einen Gang durch den Garten machen.«

»Gern,« antwortete der Major.

Sie durchquerten das Eßzimmer und traten durch eine Art Vorzimmer, das am Fuße der Treppe lag und das Eßzimmer von dem Salon trennte, in den Garten. Dieser, durch eine große Glastür geschlossene Raum stieß an die steinerne Freitreppe, einen Schmuck der Fassade nach dem Garten hin. In vier gleich große Vierecke geteilt durch Wege, die von Buchsbaumbüschen, welche ein Kreuz bildeten, eingefaßt wurden, ward der Garten durch eine dichte Hagebuchenhecke, die Wonne des vorigen Besitzers, abgeschlossen. Der Soldat setzte sich auf eine wurmstichige Holzbank, ohne weder die Weingeländer, noch die Spaliere, noch die Gemüse zu sehen, denen Jacquotte infolge der Traditionen des geistlichen Feinschmeckers, dem man diesen, Benassis ziemlich gleichgültigen Garten verdankte, große Sorgfalt angedeihen ließ.

Die alltägliche Unterhaltung, die er gepflogen hatte, aufgebend, fragte der Major den Arzt:

»Wie haben Sie es angestellt, mein Herr, in zehn Jahren die Bevölkerung dieses Tales, wo Sie siebenhundert Seelen vorgefunden haben, und die heute nach Ihren Worten mehr als zweitausend zählt, zu verdreifachen?«

»Sie sind der Erste, der diese Frage an mich richtet,« antwortete der Arzt. »Wenn es mein Ziel gewesen ist, den kleinen Erdenwinkel hier zur Blüte zu bringen, so hat mir die Begeisterung meines tätigen Lebens nicht die Muße gelassen, über die Weise nachzudenken, in der ich wie der Bettelmönch eine Art ›Kieselsteinsuppe‹ im Großen zusammengerührt habe. Selbst Monsieur Gravier, einer unserer Wohltäter, dem ich den Dienst habe leisten können, ihn zu heilen, hat nicht an die Theorie gedacht, als er mit mir durch unsere Berge lief, um dort das Ergebnis der Praxis zu sehen.«

Es trat ein Augenblick des Schweigens ein, während dessen Benassis sich seinen Gedanken überließ, ohne auf den scharfen Blick, mit dem sein Gast ihn zu durchdringen suchte, achtzugeben.

»Wie sich das alles gemacht hat, mein lieber Herr?« fuhr er nach einer Weile fort; »doch ganz natürlich und dank dem sozialen Anziehungsgesetz zwischen den Bedürfnissen, die wir uns schaffen, und den Mitteln, sie zu befriedigen. Alles ist da. Völker ohne Bedürfnisse sind arm. Als ich mich in diesem Flecken niederließ, zählte man hier einhundertdreißig Bauernfamilien, und im Tale gegen zweihundert Feuerstellen. Die Obrigkeit des Landes, die der öffentlichen Not entsprach, setzte sich aus einem Bürgermeister, der nicht schreiben konnte, und einem Beigeordneten, einem Pächter, der weit fort von der Gemeinde wohnte, und einem Friedensrichter zusammen, einem armen, von seinem Gehalte lebenden Teufel, der die Personalakten notgedrungen von seinem Kanzlisten führen ließ, einem anderen Unglücklichen, der kaum imstande war, sein Handwerk zu begreifen. Der alte Pfarrer war im siebzigsten Lebensjahre gestorben; sein Vikar, ein ungebildeter Mensch, eben sein Nachfolger geworden. Diese Männer stellten die Intelligenz des Landes dar und beherrschten es. Inmitten dieser schönen Natur verkamen die Einwohner im Schmutz und lebten von Kartoffeln und Milchspeisen. Die Käse, welche die Mehrzahl von ihnen in kleinen Körben nach Grenoble oder in die Umgebung brachten, bildeten die einzigen Produkte, aus welchen sie etwas Geld lösten. Die Reichsten oder am wenigsten Faulen säten Buchweizen für den Verbrauch des Fleckens, manchmal auch Gerste und Hafer, aber keinen Weizen und Roggen. Der einzige Gewerbetreibende der Gegend war der Bürgermeister, der eine Schneidemühle besaß und zu niedrigem Preise Holzschläge kaufte, um sie im Kleinen abzusetzen. In Ermangelung von Wegen transportierte er seine Bäume einzeln in der schönen Jahreszeit, indem er sie mit großer Mühe mittels einer am Halfter seiner Pferde befestigten Kette schleifte, die in einem in den Stamm eingeschlagenen Eisenkrampen endigte.

Um, sei es zu Pferde, sei es zu Fuß, nach Grenoble zu gelangen, mußte man einen oben durchs Gebirge führenden breiten Saumpfad benutzen; das Tal war unwegsam. Von hier bis zum ersten Dorfe, das Sie gesehen haben, als Sie in den Bezirk kamen, bildete die hübsche Straße, auf der Sie zweifelsohne gekommen sind, zu allen Jahreszeiten nur ein Sumpfloch. Kein politisches Ereignis, keine Revolution war in dies unzugängliche und völlig außerhalb der sozialen Bewegung stehende Dorf gedrungen. Napoleon allein hatte seinen Namen hineingeschleudert. Er ist hier dank der zwei oder drei alten Soldaten der Landschaft, die an ihren Herd zurückgekehrt sind und bei den Abendunterhaltungen diesen einfachen Leuten die Abenteuer dieses Mannes und seiner Armeen in märchenhafter Ausschmückung erzählen, heilig. Ihre Rückkehr ist übrigens ein unerklärbares Phänomen. Vor meiner Ankunft blieben die zur Armee abgegangenen jungen Leute alle dort. Diese Tatsache zeigt das Unglück des Landes deutlich genug an, um mich von der Notwendigkeit zu entbinden, es Ihnen auszumalen. In diesem Zustande, mein Herr, habe ich diesen Bezirk, von dem jenseits der Berge mehrere gut bewirtschaftete, ziemlich glückliche und beinahe reiche Gemeinden abhängen, übernommen. Ich spreche Ihnen nicht von den Hütten des Fleckens, wahren Ställen, in denen damals Tiere und Menschen durcheinander zusammengepfercht waren. Bei meiner Rückkehr von der Grande-Chartreuse kam ich hier durch. Da ich keine Herberge fand, sah ich mich gezwungen, bei dem Vikar zu schlafen, der dies Haus, das damals zum Verkauf stand, provisorisch bewohnte. Nach langem Hin- und Herfragen erhielt ich eine oberflächliche Kenntnis von der kläglichen Lage dieses Landes, dessen schöne Temperatur, ausgezeichneter Boden und natürliche Produkte mich in Erstaunen gesetzt hatten. Damals, mein Herr, suchte ich mir ein anderes Leben zu schaffen als das, dessen Nöte mich müde gemacht hatten. Es sprach einer jener Gedanken zu meinem Herzen, die Gott uns schickt, um uns unsere Unglücksfälle still hinnehmen zu lassen. Ich entschloß mich, das Land zu erziehen, wie ein Lehrer ein Kind erzieht. Wissen Sie mir keinen Dank für meine Wohltätigkeit! Durch das Bedürfnis nach Ablenkung, das ich verspürte, war ich zu sehr dabei interessiert. Damals versuchte ich den Rest meines Lebens für irgendein schwer durchzuführendes Unternehmen einzusetzen. Die Veränderungen, die in diesem Bezirke vorgenommen werden mußten, den die Natur so reich begabte und den der Mensch so arm machte, mußten ein ganzes Leben ausfüllen; sie reizten mich eben durch die Schwierigkeit, sie ins Werk zu setzen. Sobald ich sicher war, das Pfarrhaus und viele öde Strecken Landes wohlfeil zu bekommen, widmete ich mich gewissenhaft dem Berufe des Landchirurgen, dem letzten aller derer, die ein Mann in seiner Heimat ergreifen mag. Ich wollte der Freund der Armen werden, ohne den geringsten Dank von ihnen zu erwarten. Oh, ich hab' mich keiner Illusion hingegeben, weder über den Charakter der Landleute, noch über die Hindernisse, denen man begegnet, wenn man die Menschen oder die Dinge zu verbessern sucht. Ich habe mir keine Idylle in bezug auf meine Leute ausgemalt, hab' sie genommen für das, was sie sind: arme, weder ganz gute, noch ganz schlechte Bauern, denen eine beständige Arbeit nicht erlaubt, sich Gefühlen zu überlassen, die aber manchmal lebhaft empfinden können. Kurz, ich habe vor allem begriffen, daß ich nur durch unmittelbare Vorteils- und Nützlichkeitserwägungen auf sie wirken würde. Alle Bauern sind Kinder des heiligen Thomas, des ungläubigen Apostels, immer wollen sie Tatsachen zur Stütze der Worte sehen!«

»Ueber mein erstes Auftreten werden Sie vielleicht lachen,« fuhr der Arzt nach einer Pause fort. »Ich habe dies schwierige Werk mit einer Korbfabrik begonnen. Die armen Leute kauften ihre Käsehürden und die für ihren ärmlichen Handel unerläßlichen Korbwaren in Grenoble. Einen jungen intelligenten Mann brachte ich auf den Gedanken, längs des Wildbachs ein großes Landstück in Pacht zu nehmen, das alljährliche Anschwemmungen fruchtbar machten, und wo Korbweiden sehr gut fortkommen mußten. Nachdem ich die Anzahl der vom Bezirk verbrauchten Korbwaren überschlagen hatte, suchte ich einen jungen mittellosen Handwerker, einen geschickten Arbeiter, in Grenoble ausfindig zu machen. Als ich ihn gefunden hatte, bestimmte ich ihn leicht, sich hier niederzulassen, indem ich ihm versprach, ihm das Geld für die zu seinen Erzeugnissen nötigen Weideruten vorzustrecken, bis mein Weidenpflanzer ihm solche liefern könne. Ich überredete ihn, seine Körbe besser herzustellen und sie unter dem Grenobler Preise zu verkaufen. Er verstand mich. Die Weidenzucht und die Korbflechterei bildeten eine Spekulation, deren Resultate erst in vier Jahren geschätzt werden konnten. Es ist Ihnen gewiß bekannt, daß Weiden erst in drei Jahren so weit sind, daß sie geschnitten werden können. Während seines ersten Arbeitsjahres lebte und fand mein Korbflechter seine Nahrung durch Wohltaten. Bald heiratete er eine Frau aus Saint-Laurent-du-Pont, die etwas Geld hatte. Dann ließ er sich ein gesundes, luftiges Haus bauen, dessen Platz von mir gewählt und dessen Einteilung nach meinen Ratschlägen vorgenommen wurde. Welch ein Triumph, mein Herr! Ich hatte in diesem Flecken ein Gewerbe geschaffen, hatte einen Produzenten und einige Arbeiter dorthingebracht! Sie werden meine Freude eine Kinderei heißen? . . . Während der ersten Tage der Etablierung meines Korbmachers ging ich nie vor seinem Laden vorbei, ohne daß sich meine Herzschläge beschleunigten. Als ich in diesem neuen Hause mit grüngestrichenen Fensterläden, vor dessen Tür eine Bank, ein Weinstock und Weidenbündel standen, dann eine saubere, gutgekleidete Frau sah, die ein dickes weiß-rosiges Kind inmitten von lauter fröhlichen Arbeitern stillte, die singend und eifrig ihre Korbwaren flochten, und von einem Manne angeleitet wurden, der, einst arm und hager, nun das Glück ausstrahlte, konnte ich dem Vergnügen nicht widerstehen, für einen Augenblick den Korbmacher zu spielen. Ich trat in die Werkstatt, um mich nach ihren Geschäften zu erkundigen, und gab mich dort einer Zufriedenheit hin, die ich nicht auszumalen wüßte. Ich war froh über diese Leute und meine Freude. Das Haus des Mannes, des ersten, der fest an mich glaubte, wurde meine ganze Hoffnung. War es nicht des armen Landes Zukunft, mein Herr, die ich bereits in meinem Herzen trug, wie die Frau des Korbmachers ihren ersten Säugling in dem ihrigen trug? . . . Viele Dinge hatte ich zu gleicher Zeit zu betreiben, viele Vorstellungen mußte ich verletzen . . . Ich begegnete einem heftigen Widerstand, der von dem unwissenden Bürgermeister genährt wurde, dem ich seine Stellung genommen hatte und dessen Einfluß vor dem meinigen verging; ich wollte ihn zu meinem Adjunkten und zum Teilnehmer an meinem Wohltun machen. Ja, mein Herr, diesem Kopfe, dem härtesten von allen, versuchte ich die ersten Einsichten beizubringen. Ich packte meinen Mann sowohl bei seiner Eigenliebe als auch bei seinem Nutzen. Sechs Monate lang speisten wir zusammen zu Mittag und ich teilte ihm vieles von meinen Verbesserungsplänen mit. Viele Leute würden in dieser notwendigen Freundschaft die grausamsten Verdrießlichkeiten meiner Arbeit sehen; war aber dieser Mann nicht ein Werkzeug, und zwar das kostbarste von allen? Wehe dem, der seine Axt verachtet oder sie gar sorglos beiseite wirft! Würde ich überdies nicht sehr inkonsequent gewesen sein, wenn ich, der ich das Land verbessern wollte, vor dem Gedanken, einen Menschen zu verbessern, zurückgeschreckt wäre? Das dringendste Mittel zum Wohlstand war eine Straße. Wenn wir vom Magistrat die Genehmigung erhielten, einen guten Weg von hier bis an die Grenobler Straße zu bauen, war mein Adjunkt der erste, der Nutzen davon hatte. Denn statt seine Bäume mit hohen Kosten auf schlechten Pfaden zu schleppen, würde er sie mittels einer guten Bezirksstraße leicht transportieren, einen großen Handel mit Holz aller Art treiben und nicht mehr elende sechshundert Franken jährlich, sondern schöne Summen verdienen können, die ihm eines Tages einen gewissen Wohlstand verschaffen mußten. Endlich war der Mann überzeugt worden und wurde mein Jünger. Einen ganzen Winter lang trank mein ehemaliger Bürgermeister in der Wirtschaft mit seinen Freunden und wußte unseren Untergebenen zu beweisen, daß eine gute Wagenstraße eine Glücksquelle für das Land sein würde, da sie jedermann erlaube, mit Grenoble Handel zu treiben. Als der Gemeinderat die Straße genehmigt hatte, erhielt ich vom Präfekten einige Gelder aus dem Mildtätigkeitsfonds der Provinz, um die Transporte zu bezahlen, welche die Gemeinde aus Karrenmangel außerstande war zu bewerkstelligen. Endlich habe ich, um dies große Unternehmen schneller zu beendigen und um die Ignoranten, die über mich murrten, indem sie sagten, ich wolle die Frondienste wieder einführen, unmittelbar die Resultate würdigen zu lassen, während aller Sonntage meines ersten Verwaltungsjahres die Bevölkerung des Fleckens, die Frauen, die Kinder und selbst die Greise, gutwillig oder gezwungenerweise, ständig auf die Höhe des Gebirges geschleppt, wo ich selber auf einem ausgezeichneten Grund und Boden den großen Weg trassiert hatte, der von unserem Dorfe aus auf die Straße nach Grenoble führt. Ein Ueberfluß an Materialien fand sich zum großen Glück längs der Baulinie des Weges. Dies langwierige Unternehmen verlangte von mir viel Geduld. Bald verweigerten die einen, der Gesetze unkundig, die Naturalleistung; bald konnten andere, denen es an Brot gebrach, wirklich keinen Tagelohn verlieren; man mußte daher an diese Getreide verteilen, und dann jene durch freundschaftliche Worte beruhigen. Doch als wir zwei Drittel der Straße, die etwa zwei Meilen lang ist, vollendet, hatten die Einwohner ihre Vorteile so wohl erkannt, daß das letzte Drittel mit einem Eifer, der mich überraschte, zu Ende gebracht wurde. Ich bereicherte die Zukunft der Gemeinde, indem ich eine doppelte Pappelreihe jeden Seitengraben entlang pflanzte. Heute bereits bilden diese Bäume fast ein Vermögen und geben unserem Wege, welcher der Natur seiner Lage nach stets trocken und überdies so gut ausgeführt worden ist, daß er jährlich kaum zweihundert Franken Unterhaltungskosten fordert, das Aussehen einer königlichen Straße. Ich werd' Ihnen dieselbe zeigen; denn Sie haben sie nicht sehen können: um hierherzukommen, haben Sie zweifelsohne den hübschen unteren Weg eingeschlagen; eine andere Straße, welche die Einwohner vor drei Jahren selber haben anlegen wollen, um Verbindungen mit den Werken, die seitdem im Tale entstanden sind, herzustellen. So, mein Herr, hat der allgemeine gesunde Menschenverstand dieses, ehedem der Intelligenz entbehrenden Fleckens vor drei Jahren die Idee sich zu eigen gemacht, die ihnen einzupflanzen ein Reisender fünf Jahre vorher nicht für möglich gehalten haben würde. Aber weiter! Die Niederlassung meines Korbmachers war ein Beispiel, das ich der armen Bevölkerung mit Erfolg gegeben hatte. Wenn die Straße die direkteste Ursache für das künftige Gedeihen des Fleckens sein sollte, mußte man die nötigsten Gewerbe aufmuntern, um die beiden Keime des Wohlstandes zu befruchten. Indem ich dem Weidenpflanzer und dem Korbmacher half, indem ich meine Straße baute, setzte ich mein Werk unmerklich fort. Zwei Pferde besaß ich, der Holzhändler, mein Adjunkt, ihrer drei; er konnte sie nur in Grenoble beschlagen lassen, wenn er dorthin kam; ich verpflichtete daher einen Hufschmied, der sich ein bißchen auf Tierarzneikunst verstand, dadurch, daß ich ihm viel Arbeit versprach, hierherzukommen. Am nämlichen Tage begegnete ich einem alten Soldaten, der über sein Los in ziemlicher Unruhe war und als ganzen Besitz hundert Franken Gnadengehalt hatte, der aber lesen und schreiben konnte. Ich gab ihm die Stellung eines Burgermeistereischreibers. Ein glücklicher Zufall ließ mich eine Frau für ihn finden, und seine Glücksträume gingen in Erfüllung. Häuser wurden gebraucht, mein Herr, für diese beiden neuen Haushaltungen, für die meines Korbflechters und für die zweiundzwanzig Familien, die das Dorf der Kretinen aufgaben. Zwölf andere Haushaltungen, deren Oberhäupter Arbeiter, Produzenten und Konsumenten waren, ließen sich hier dann nieder: Maurer, Zimmerleute, Dachdecker, Tischler, Schlosser und Glaser, die für lange Zeit zu tun hatten; mußten sie sich nicht ihre Häuser bauen, nachdem sie die der anderen gebaut hatten? Brachten sie nicht Arbeiter mit? Während meines zweiten Verwaltungsjahres erhoben sich siebzig Häuser in der Gemeinde. Eine Produktion zog eine andere nach sich. Indem ich den Flecken bevölkerte, schuf ich dort neue, den armen Leuten bis dahin unbekannte Bedürfnisse. Das Bedürfnis erzeugte die Industrie, die Industrie den Handel, der Handel einen Gewinst, der Gewinst einen Wohlstand und der Wohlstand nützliche Ideen. Diese verschiedenen Arbeiter wollten fertig gebackenes Brot; wir hatten einen Bäcker. Buchweizen aber konnte nicht mehr die Nahrung dieser aus ihrer erniedrigenden Trägheit gerissenen und wesentlich aktiv gewordenen Bevölkerung bilden; ich hatte sie angetroffen, als sie Buchweizen aß, ich wünschte sie zuerst zur Ernährung durch Roggen oder Mengkorn übergehen zu lassen, und eines Tages dann bei den ärmsten Leuten ein Stück Weißbrot zu sehen. Für mich bestanden die intellektuellen Fortschritte ganz und gar in den sanitären Fortschritten. Ein Schlächter zeigt in einem Orte ebensoviel Intelligenz wie Wohlhabenheit an. Wer arbeitet, ißt, und wer ißt, denkt. Da ich den Tag vorhersah, wo die Weizenproduktion notwendig sein würde, hatte ich die Grundstücke auf ihre Eigenschaften hin sorgfältig geprüft, ich war sicher, den Flecken zu einer großen, landwirtschaftlichen Blüte zu bringen und seine Bevölkerung zu verdoppeln, sobald sie sich zur Arbeit bekannt haben würde. Der Augenblick war gekommen. Monsieur Gravier aus Grenoble besaß in der Gemeinde Grundstücke, aus denen er keine Einkünfte bezog, die aber in Getreidefelder umgewandelt werden konnten. Wie Sie wissen, ist er Abteilungschef in der Präfektur. Ebensosehr aus Liebe zu seiner Heimat wie durch mein beharrliches Drängen besiegt, hatte er sich meinen Forderungen gegenüber schon sehr gefällig erwiesen; es gelang mir, ihm begreiflich zu machen, daß er ohne sein Wissen für sich selber gearbeitet hatte. Nach mehrtägigen Vorstellungen, Verhandlungen, Besprechungen von Bauanschlägen, nachdem ich mein Vermögen verpfändet hatte, um ihn vor dem Risiko eines Unternehmens zu sichern, von dem ihn seine Frau, die kurzen Verstandes ist, abzuschrecken suchte, willigte er ein, hier vier Pachthöfe zu je hundert Arpents zu bauen und versprach die für die Urbarmachung, den Saatankauf, die Ackergeräte, die Tiere und für die Anlegung der Nutzungswege notwendigen Summen vorzustrecken. Ich meinerseits baute zwei Pachthöfe, ebensosehr um meine öden Grundstücke der Kultur zu unterwerfen, wie um durch das Beispiel die nutzbringenden Methoden moderner Agrikultur darzulegen. Innerhalb von sechs Wochen vermehrte der Flecken sich um dreihundert Bewohner. Sechs Pachthöfe, wo mehrere Haushaltungen wohnen mußten, die Bewerkstelligung ungeheurer Urbarmachungen und die Ausführung der nötigen Landarbeiten riefen Arbeiter herbei. Stellmacher, Erdarbeiter, Gesellen und Tagelöhner strömten herbei. Die Straße nach Grenoble war mit Karren, Gehenden und Kommenden bedeckt.

Es herrschte eine allgemeine Bewegung im Lande. Die Geldzirkulation ließ bei jedermann den Wunsch wach werden, daran teilzuhaben; die Apathie war gewichen, der Flecken war aufgewacht. In zwei Worten endige ich Monsieur Graviers Geschichte, eines der Wohltäter dieses Bezirks. Trotz des bei einem Provinzstädter, einem Bureaumenschen, ziemlich natürlichen Mißtrauens hat er im Glauben an meine Versprechungen mehr als vierzigtausend Franken vorgestreckt, ohne zu wissen, ob er sie wiederbekommen würde. Jede seiner Pachtungen ist heute für tausend Franken vergeben; seine Pächter haben ihre Angelegenheiten so wohl verrichtet, daß jeder von ihnen mindestens hundert Arpents Land, hundert Schafe, zwanzig Kühe, zehn Ochsen, fünf Pferde besitzt und mehr als zwanzig Personen beschäftigt. Ich fahre fort: Im Laufe des vierten Jahres wurden unsere Pachthöfe fertig. Wir hatten eine Getreideernte, die den Landleuten wunderbar erschien, überreich, wie sie auf einem jungfräulichen Boden sein mußte.

Das Jahr über habe ich oft für mein Werk gezittert! Regen oder Trockenheit konnten meine Arbeit vernichten, indem sie das Vertrauen, welches ich bereits einflößte, verminderten. Die Getreidekultur machte die Mühle notwendig, die Sie gesehen haben, und die mir etwa fünfhundert Franken jährlich einträgt. Auch sagten die Bauern in ihrer Sprache, daß ich »Schwein habe«, und glauben an mich wie an ihre Reliquien. Diese neuen Gebäulichkeiten, die Pachtungen, die Mühle, die Anpflanzungen, die Wege haben allen den Handwerksleuten, die ich hierhergezogen hatte, Arbeit verschafft. Obwohl unsere Gebäude die sechzigtausend Franken, die wir ins Land gesteckt haben, gut repräsentieren, wurde uns dies Geld reichlich durch die Einkünfte, welche die Konsumenten schaffen, zurückerstattet. Meine Bemühungen, die entstehende Industrie zu beleben, ließen nicht nach. Auf meinen Rat ließ sich ein Baumschulgärtner in dem Flecken nieder, wo ich den Aermsten predigte, Obstbäume zu kultivieren, um eines Tages das Monopol des Obstverkaufs in Grenoble erobern zu können. ›Ihr tragt Käse hin,‹ sagte ich zu ihnen, ›warum nicht Geflügel, Eier, Gemüse, Wildbret, Heu, Stroh usw. dorthin bringen?‹ Jeder meiner Ratschläge war ein Glücksquell für den, der sie befolgte. Es bildete sich also eine Menge kleiner Geschäfte, deren erst langsame Fortschritte von Tag zu Tag schneller geworden sind. Jeden Montag fahren jetzt vom Flecken nach Grenoble mehr als sechzig mit unseren verschiedenen Produkten angefüllte Karren und man erntet mehr Buchweizen, um das Geflügel zu füttern, als man ehedem für menschliche Ernährung aussäte.

Als der Holzhandel zu beträchtlich geworden war, teilte er sich in verschiedene Zweige. Seit dem vierten Jahre unserer industriellen Aera haben wir Händler für Brennholz, Bauholz, Bretter, Borken, dann Köhler bekommen. Endlich haben sich vier neue Planken- und Dielenschneidemühlen etabliert. Als der ehemalige Bürgermeister einige kommerzielle Ideen zu fassen imstande war, hat er die Notwendigkeit eingesehen, lesen und schreiben zu lernen. Er hat den Holzpreis in den verschiedenen Orten verglichen, hat dabei derartige Differenzen zum Vorteile seines Betriebes bemerkt, daß er sich von Platz zu Platz neue Kunden erworben hat; und er versorgt heute den dritten Teil der Provinz. Unsere Transporte haben sich so plötzlich vermehrt, daß wir drei Stellmacher und zwei Sattler beschäftigen, und jeder von ihnen hat mindestens drei Gehilfen. Kurz, wir verbrauchen soviel Eisen, daß sich ein Zeugschmied im Flecken niedergelassen hat und sich sehr wohl dabei befindet. Das Verlangen nach Gewinst entwickelt einen Ehrgeiz, der meine Gewerbetreibenden seitdem veranlaßt hat, vom Flecken aus auf den Bezirk und vom Bezirk aus auf die Provinz zu wirken, um ihre Profite zu vermehren, indem sie ihren Absatz vermehren. Ich brauchte nur ein Wort zu sagen, um ihnen neue Absatzwege anzuzeigen, ihr gesunder Menschenverstand tut das übrige. Vier Jahre hatten genügt, um das Aussehen dieses Fleckens zu verändern. Als ich hier eingezogen war, hatte ich nicht das geringste Geräusch vernommen; bei Beginn des fünften Jahres aber war hier alles voll Leben und Seele. Die frohen Gesänge, der Lärm der Werkstätten und die dumpfen oder scharfen Geräusche der Werkzeuge tönten lieblich in meinen Ohren wider. Ich sah eine tätige, in einem neuen, sauberen, gesunden, schön mit Bäumen bepflanzten Flecken angesammelte Bevölkerung kommen und gehn. Jeder Einwohner hatte das Bewußtsein seines Wohlstandes, und alle Gesichter zeigten die Zufriedenheit, welche ein nutzbringend beschäftigtes Leben verleiht.

Diese fünf Jahre bilden in meinen Augen die jungen Jahre des gedeihlichen Lebens unseres Fleckens,« fuhr der Arzt nach einer Pause fort. »Während dieser Zeit hatte ich in den Köpfen und Ländereien alles urbar gemacht und zum Keimen gebracht. Die fortschreitende Bewegung der Bevölkerung und der gewerblichen Tätigkeit konnte fortan nicht mehr aufgehalten werden. Ein zweites Alter bereitete sich vor. Bald wünschte die kleine Welt sich besser zu kleiden. Ein Krämer kam zu uns, mit ihm der Schuster, Schneider und Hutmacher. Dieser Beginn des Luxus trug uns einen Fleischer und einen Spezereiwarenhändler ein, dann eine Hebamme, die mir recht not tat; ich verlor ja eine beträchtliche Zeit mit den Entbindungen. Das Neubruchland brachte ausgezeichnete Ernten. Dann wurde die hervorragende Qualität unserer landwirtschaftlichen Erzeugnisse durch die Düngemittel und die Mistmengen, die man der anwachsenden Bevölkerung verdankte, unterstützt.

Mein Unternehmen konnte sich nun mit all seinen Konsequenzen entwickeln. Nachdem ich die Häuser gesünder gemacht und die Einwohner schrittweise dahingebracht hatte, sich besser zu ernähren und besser zu kleiden, wollte ich, daß auch die Tiere diesen Zivilisationsbeginn verspürten. Von der den Tieren gewidmeten Sorgfalt hängt die Schönheit der Rassen und der Individuen ab, demgemäß auch die der Produkte: ich predigte also die Sanierung der Ställe. Durch den Vergleich des Nutzens, den ein gut untergebrachtes, gut gehaltenes Tier bringt, mit dem mageren Ertrag eines schlecht gepflegten Haustiers veränderte ich unmerklich die Lebensweise des Gemeindeviehs: kein Tier hatte mehr zu leiden. Kühe und Ochsen wurden gepflegt, wie sie es in der Schweiz und in der Auvergne werden. Die Schaf-, Pferde- und Kuhställe, die Milchkammern und Scheunen wurden nach dem Muster meiner und Monsieur Graviers Stallungen, die groß, gut durchlüftet und infolgedessen gesund sind, umgebaut. Unsere Pächter waren unsere Apostel; schnell bekehrten sie die Ungläubigen, indem sie ihnen die Güte meiner Vorschriften durch prompte Resultate bewiesen. Was die Leute anlangte, denen es an Geld fehlte, so lieh ich ihnen solches, indem ich besonders die armen Gewerbetreibenden begünstigte; sie dienten als Beispiel. Auf meine Ratschläge hin wurden fehlerhafte, schwache oder mittelmäßige Tiere verkauft und durch schöne Exemplare ersetzt. So überflügelten nach einer gewissen Zeit unsere Erzeugnisse auf den Märkten die aller anderen Gemeinden. Wir haben prachtvolle Herden und infolgedessen gutes Leder. Dieser Fortschritt war von hoher Wichtigkeit. Und zwar deswegen: In der ländlichen Oekonomie ist nichts ohne Bedeutung. Ehedem wurden unsere Baumrinden um einen Spottpreis verkauft und unsere Leder hatten keinen großen Wert; als unsere Baumrinden und Leder erst einmal verbessert worden waren, erlaubte der Fluß uns Lohgerbereien zu bauen, Lohgerber kamen zu uns, deren Handel schnell zunahm. Wein, der ehedem unbekannt im Flecken war, wo man nur Tresterweine trank, wurde naturgemäß ein Bedürfnis. Schenken wurden aufgemacht. Dann hat sich die älteste der Schenken vergrößert, sich in eine Herberge umgewandelt und versorgt die Reisenden, die anfangen, unseren Weg zu nehmen, um nach der Grande-Chartreuse zu gehen, mit Maultieren. Seit zwei Jahren haben wir einen Handel, der bedeutend genug ist, um zwei Herbergswirten Lebensunterhalt zu verschaffen.

Bei Beginn der zweiten Periode unseres Aufschwungs starb der Friedensrichter. Zu unserem großen Glück war sein Nachfolger ein ehemaliger Notar aus Grenoble, der sich durch eine falsche Spekulation ruiniert hatte, dem aber noch Geld genug blieb, um im Dorfe reich zu sein. Monsieur Gravier wußte ihn zu bestimmen, hierherzukommen; er hat sich ein hübsches Haus gebaut, hat meine Bemühungen unterstützt, indem er die seinen damit verband; hat einen Pachthof aufführen lassen, Heideland urbar gemacht und besitzt heute drei Sennhütten im Gebirge. Seine Familie ist zahlreich. Den ehemaligen Kanzlisten und den alten Gerichtsvollzieher hat er fortgeschickt und sie durch Männer ersetzt, die sehr viel unterrichteter und vor allem viel betriebsamer als ihre Vorgänger sind. Die beiden neuen Haushaltungen haben eine Kartoffelbrennerei und eine Wollwäscherei gegründet, zwei sehr nützliche Unternehmen, welche die Oberhäupter dieser beiden Familien neben ihren Berufen leiten. Nachdem ich der Gemeinde Einkünfte verschafft hatte, verwandte ich sie widerspruchslos, um eine Bürgermeisterei zu bauen, in der ich eine Freischule und die Wohnung eines Elementarlehrers einrichtete. Zur Erfüllung dieser wichtigen Funktion habe ich einen armen, auf die Verfassung vereidigten, von der ganzen Provinz zurückgewiesenen Priester gewählt, der unter uns ein Asyl für seine alten Tage gefunden hat. Die Schulmeisterin ist eine würdige, um ihr Vermögen gekommene Frau, die nicht wußte, wo sie ihr Haupt niederlegen sollte, und der wir einen kleinen Wohlstand verschafft haben. Sie hat eben ein Pensionat für junge Mädchen gegründet, in das die reichen Pächter der Umgebung ihre Töchter zu schicken beginnen.

Wenn ich das Recht hatte, mein Herr, Ihnen bisher die Geschichte dieses kleinen Erdfleckens in meinem Namen zu erzählen, so kommt jetzt der Augenblick, von dem an Monsieur Janvier, der neue Pfarrer, ein wahrer Fénelon für die Verhältnisse einer kleinen Pfarrei, zur Hälfte teil an diesem Verjüngungswerke hat: er hat es verstanden, den Sitten des Fleckens einen sanften und brüderlichen Geist zu verleihen, der aus der Bevölkerung eine einzige Familie zu machen scheint. Monsieur Dufau, der Friedensrichter, verdient, obwohl er später gekommen ist, gleichfalls die Dankbarkeit der Bewohner. Um Ihnen unsere Lage kurz mit Ziffern, die mehr sagen als meine Worte, zusammenzufassen: die Gemeinde besitzt heute zweihundert Arpents Wälder und einhundertsechzig Arpents Wiesen. Ohne ihre Zuflucht zu Steuerzuschlägen zu nehmen, gibt sie dem Pfarrer hundert Taler Ergänzungsgehalt, zweihundert Franken dem Flurhüter, ebensoviel dem Schulmeister und der Lehrerin. Fünfhundert Franken gibt sie für ihre Wege aus, ebensoviel für die Reparaturen der Bürgermeisterei, des Pfarrhauses, der Kirche und für einige andere Kosten. Heute in fünfzehn Jahren wird sie für hunderttausend Franken schlagbares Holz besitzen, und wird ihre Steuern bezahlen können, ohne daß es die Bewohner einen Heller kosten wird; sicherlich wird sie eine der reichsten Gemeinden Frankreichs sein. Aber ich langweile Sie vielleicht, mein Herr?« sagte Benassis zu Genestas, da er seinen Zuhörer in einer so nachdenklichen Haltung überraschte, daß man sie für die eines unaufmerksamen Menschen halten mußte.

»O nein!« antwortete der Major.

»Mein Herr,« fuhr der Arzt fort, »der Handel, die Industrie, der Ackerbau und unser Verbrauch waren nur lokal. Auf einer gewissen Stufe mußte unser Gedeihen stehenbleiben. Ich setzte ein Postbureau, einen Tabak-, Pulver- und Kartenverschleiß durch, zwang durch die Annehmlichkeiten des Aufenthalts und unserer neuen Gesellschaft den Steuereinnehmer, die Gemeinde zu verlassen, in der er bislang lieber als im Bezirkshauptorte gewohnt hatte; ich rief, wenn ich ihr Bedürfnis erweckt hatte, jede Produktion zur rechten Zeit und am rechten Orte herbei, ließ Haushaltungen und Gewerbetreibende kommen, gab ihnen allen das Gefühl des Besitzes; und so machten sie in dem Maße, wie sie Mittel hatten, die Ländereien urbar; die Kleinkultur, die Kleingrundbesitzer vervielfachten sich und steigerten gradweise den Wert der Berggegend. Die Unglücklichen, die ich hier angetroffen hatte, wie sie zu Fuß etwas Käse nach Grenoble trugen, fuhren mit Karren und brachten Obst, Eier, Hühner und Truthähne dorthin. Alle hatten sich unmerklich vergrößert. Am schlechtesten war weggekommen, wer nur seinen Garten, sein Gemüse, sein Obst und seine Erstlinge zu kultivieren hatte. Endlich – ein Zeichen des Gedeihens – buk niemand mehr sein Brot selber, um keine Zeit zu verlieren, und die Kinder hüteten die Herden. Aber mein Herr, dieser industrielle Herd mußte unterhalten werden, indem man unaufhörlich neue Nahrung hineinwarf. Der Flecken hatte noch keine auflebende Industrie, welche die kommerzielle Produktion unterhalten und große Transaktionen, einen Stapelplatz und einen Markt notwendig machen konnte. Es genügt für ein Land nicht, von der Geldmenge, die es besitzt und die sein Kapital bildet, nichts zu verlieren; ihr werdet seinen Wohlstand nicht vermehren, wenn ihr solch eine Summe mit mehr oder weniger Geschicklichkeit durch das Spiel von Produktion und Konsum durch die größtmögliche Anzahl von Händen gehen laßt. Da liegt das Problem nicht. Wenn ein Land im vollen Güteraustausch ist, und seine Produkte im Gleichgewicht mit seinem Konsum stehen, muß man, um neue Vermögen zu schaffen und den allgemeinen Reichtum anwachsen zu lassen, einen Austausch nach außen hin herbeiführen, der ein ständiges Aktivum in seiner Handelsbilanz herbeizuführen vermag. Dieser Gedanke hat Staaten ohne territoriale Basis wie Tyrus, Karthago, Venedig, Holland und England immer bestimmt, sich des Transporthandels zu bemächtigen. Ich suchte für unsere kleine Sphäre einen analogen Gedanken, um eine dritte, kommerzielle Epoche zu schaffen. Unser, für die Augen eines Passanten kaum sichtbares Gedeihen – denn unser Bezirkshauptort gleicht allen anderen – war nur für mich allein erstaunlich. Die unmerklich angesammelten Bewohner haben das Ganze nicht beurteilen können, da sie an der Bewegung teilnahmen. Am Ende des siebenten Jahres begegnete ich zwei Fremden, den wahren Wohltätern dieses Fleckens, den sie vielleicht in eine Stadt umwandeln werden. Der eine ist ein Tiroler von einer unglaublichen Geschicklichkeit, der Stiefel für Landleute und Schuhe für die eleganten Leute Grenobles anfertigt, wie kein Pariser Arbeiter sie herstellen kann. Ein armer umherziehender Musikant, einer jener betriebsamen Deutschen, die sowohl Werk wie Werkzeug, Musik und Instrument machen, verweilte in dem Flecken auf seiner Rückkehr aus Italien, das er singend und arbeitend durchzogen hatte. Er fragte, ob nicht jemand Schuhe nötig hätte; man schickte ihn zu mir. Ich bestellte zwei Paar Stiefel bei ihm, deren Formen von ihm hergestellt wurden. Überrascht von des Fremden Geschicklichkeit, richtete ich allerlei Fragen an ihn, und fand seine Antworten kurz und klar. Sein Gehaben, sein Gesicht, alles befestigte in mir die gute Meinung, die ich von ihm gewonnen hatte; ich schlug ihm vor, sich im Orte festzusetzen, indem ich ihm versprach, sein Gewerbe mit allen meinen Mitteln zu begünstigen, und stellte ihm tatsächlich eine ziemlich hohe Geldsumme zur Verfügung. Er nahm an. Ich hatte meine Gedanken. Unser Leder war besser geworden, wir konnten es in einer bestimmten Zeit selber verbrauchen, wenn wir Schuhe zu mäßigen Preisen herstellten. In größerem Maßstabe fing ich wieder die Geschichte mit den Körben an. Der Zufall bot mir einen eminent geschickten und erfinderischen Mann, den ich gewinnen mußte, um dem Orte einen produktiven und ständigen Handel zu verschaffen. Schuhe sind einer jener Gebrauchsartikel, die immer benötigt werden und bilden eine Fabrikation, deren geringster Vorzug vom Konsumenten sofort geschätzt wird. Ich hab' das Glück gehabt, mich nicht zu täuschen, mein Herr. Heute haben wir fünf Gerbereien; sie bearbeiten alle Häute des Bezirks und holen sich manchmal solche bis aus der Provence, und jede von ihnen besitzt ihre eigene Lohmühle. Nun mein Herr, diese Gerbereien genügen nicht, um dem Tiroler, der mindestens vierzig Arbeiter hat, das nötige Leder zu liefern! . . . Der andere Mann, dessen Geschichte nicht minder seltsam ist, die anzuhören Sie aber vielleicht ermüden würde, ist ein einfacher Bauer, der Mittel und Wege gefunden hat, die im Lande üblichen breitkrempigen Hüte zu billigerem Preise als überall anderswo herzustellen; er führt sie in alle unsere Nachbarprovinzen bis in die Schweiz und nach Savoyen aus. Diese beiden Industrien sind unversiegbare Quellen des Gedeihens, wenn der Bezirk die Qualität der Erzeugnisse und ihren niedrigen Preis aufrechterhalten kann; sie haben mir den Gedanken eingegeben, hier drei Märkte im Jahre einzurichten. Der über die industriellen Fortschritte unseres Bezirks erstaunte Präfekt hat mir geholfen, die königliche Kabinettsorder, die sie gestiftet hat, zu erlangen. Im letzten Jahre haben unsere drei Märkte stattgefunden; sie sind bereits bis nach Savoyen unter dem Namen: Schuh- und Hutjahrmarkt bekannt. Als man von diesen Veränderungen hörte, hat der erste Gehilfe des Notars in Grenoble, ein armer, aber unterrichteter junger Mann, ein tüchtiger Arbeiter, mit welchem Mademoiselle Gravier verlobt ist, in Paris die Konzession eines Notariats betrieben; sein Gesuch wurde genehmigt. Da sein Amt ihn nichts kostete, hat er sich dem Friedensrichter gegenüber, auf dem Platze des neuen Fleckens, ein Haus bauen können. Wir haben jetzt einen Wochenmarkt; es werden dort ziemlich beträchtliche Abschlüsse in Getreide und Vieh gemacht. Nächstes Jahr wird zweifelsohne ein Apotheker zu uns kommen, dann ein Uhrmacher, ein Möbelhändler und ein Buchhändler, kurz die fürs Leben notwendigen Überflüssigkeiten. Vielleicht werden wir schließlich den Anstrich einer kleinen Stadt gewinnen und Bürgerhäuser bekommen. Die Bildung hat dermaßen zugenommen, daß ich im Gemeinderat nicht auf den geringsten Widerstand gestoßen bin, als ich vorgeschlagen habe, die Kirche zu reparieren und zu schmücken, ein Pfarrhaus zu bauen, einen schönen Marktplatz zu schaffen, dort Bäume zu pflanzen und eine Baulinie festzusetzen, um später gesunde, luftige und gut gezogene Straßen zu erlangen. Auf diese Weise, mein Herr, sind wir dahin gelangt, neunzehnhundert Feuerstellen statt einhundertsiebenunddreißig, dreitausend Häupter Rindvieh statt achthundert und statt siebenhundert Seelen zweitausend Personen im Flecken, und dreitausend zu haben, wenn man die Talbewohner mitzählt. In der Gemeinde gibt es zwölf reiche Häuser, hundert wohlhabende Familien und zweihundert, die gut fortkommen. Der Rest arbeitet. Jedermann kann lesen und schreiben. Endlich haben wir siebzehn Abonnements auf verschiedene Zeitungen. Sie werden wohl noch Armen in unserem Bezirke begegnen; ich sehe ihrer wahrlich noch viel zu viele; aber niemand bettelt hier, Arbeit findet sich für jedermann. Zwei Pferde lasse ich jetzt täglich sich müde laufen, um für die Kranken zu sorgen; ohne Gefahr kann ich zu jeder Stunde in einem Umkreise von fünf Meilen herumgehen, und wer einen Büchsenschuß auf mich abgeben möchte, würde keine zehn Minuten am Leben bleiben. Außer dem Vergnügen, jedermann mit froher Miene »Guten Tag, Monsieur Benassis!« zu mir sagen zu hören, wenn ich vorübergehe, ist die stille Liebe der Einwohner alles, was ich persönlich bei diesen Veränderungen gewonnen habe. Sie können sich wohl denken, daß das durch meine Mustermeiereien unfreiwillig erworbene Vermögen in meinen Händen ein Mittel und kein Resultat ist.«

»Wenn jeder Sie in allen Ortschaften nachahmte, mein Herr, würde Frankreich groß sein und könnte sich über Europa lustig machen!« rief Genestas begeistert.

»Aber seit einer halben Stunde halte ich Sie hier fest,« sagte Benassis, »es ist beinahe Nacht, auf, setzen wir uns zu Tisch!«

Von der Gartenseite aus zeigt das Haus des Arztes eine Fassade von fünf Fenstern in jedem Stockwerk. Es besteht aus einem Erdgeschoß, einem ersten Stockwerk und einem Dachgeschoß mit ausspringenden Mansarden. Die grüngestrichenen Fensterläden heben sich von dem grauen Ton der Mauer ab, wo zwischen beiden Geschossen ein Weinstock in Friesform als Schmuck dominiert. Unten längs der Mauer vegetieren traurig einige Bengalrosenstöcke, die durch das Wasser des Daches, das keine Traufen hat, halb ertränkt sind. Wenn man durch den großen Flur, der ein Vorzimmer bildet, eintritt, befindet sich zur Rechten ein Salon mit vier Fenstern, von denen die einen auf den Hof, die anderen auf den Garten hinausgehen. Dieser Salon, zweifelsohne der Gegenstand vieler Ersparnisse und vieler Hoffnungen für den armen Verstorbenen, ist mit Dielen belegt, unten getäfelt und mit gewebten Tapeten des vorletzten Jahrhunderts geschmückt. Die großen und breiten, mit blumigem chinesischen Seidenstoff bezogenen Sessel, die alten vergoldeten Armleuchter, die den Kamin zieren, und die Vorhänge mit dicken Quasten zeigen den Wohlstand an, dessen sich der Pfarrer erfreut hatte. Benassis hatte diesen Hausrat, der des Charakters nicht entbehrte, durch zwei Holzkonsolen mit geschnitzten Girlanden, die einander gegenüber an den Fensterzwischenwänden angebracht waren, und durch eine mit Kupfer eingelegte Schildpattuhr vervollständigt, die auf dem Kamine prunkte. Der Arzt bewohnte diesen Raum, der den feuchten Geruch ständig geschlossener Räume ausdünstete, selten. Man atmete dort den verstorbenen Pfarrer ein; der eigentümliche Geruch seines Tabaks schien sogar von der Kaminecke, wo er zu sitzen gewohnt war, auszugehen. Die beiden großen, behaglichen Lehnsessel waren symmetrisch auf jede Seite des Kamins gestellt, in welchem seit Monsieur Graviers Aufenthalt kein Feuer gebrannt hatte, wo nun aber die hellen Flammen des Fichtenholzes leuchteten.

»Es ist abends noch kalt,« sagte Benassis, »und da sieht man gern das Feuer.«

Genestas, der nachdenklich geworden war, fing an, sich des Arztes Sorglosigkeit den gewöhnlichen Dingen des Lebens gegenüber zu erklären.

»Mein Herr,« sagte er, »Sie besitzen wirklich eine Bürgerseele; und ich wundere mich, daß Sie, nachdem Sie so viele Dinge vollbracht haben, nicht den Versuch machten, die Regierung aufzuklären.«

Benassis fing an zu lachen, doch still vor sich hin und mit trauriger Miene.

»Eine Denkschrift über die Mittel schreiben, Frankreich zu zivilisieren, nicht wahr? Vor Ihnen hat mir Monsieur Gravier das gesagt, mein Herr. Ach, man klärt eine Regierung nicht auf, und von allen Regierungen ist jene die am wenigsten für Aufklärung empfängliche, welche Licht zu verbreiten glaubt. Gewiß, was wir für den Bezirk hier getan haben, müßten alle Bürgermeister für den ihren, müßte die Munizipalverwaltung für ihre Stadt, der Unterpräfekt für den Kreis, der Präfekt für die Provinz, der Minister für Frankreich, jeder in der Interessensphäre, in der er tätig ist, tun. Da, wo ich dazu überredet habe, einen Weg von zwei Meilen zu bauen, würde der eine eine Straße zustande bringen, der andere einen Kanal, da, wo ich zur Anfertigung von Bauernhüten ermuntert habe, würde der Minister Frankreich vom industriellen Joche des Auslandes befreien, indem er einige Uhrenmanufakturen ermutigte, indem er hülfe, unsere Eisen-, unsere Stahlwaren, unsere Feilen oder Schmelztiegel zu vervollkommnen und Seide oder Waid zu kultivieren. Was den Handel anlangt, so heißt ermuntern nicht protegieren. Die wahre Politik eines Landes muß danach trachten, es von allem Tribut dem Auslande gegenüber, aber ohne die schimpfliche Hilfe von Zöllen und Einfuhrverboten, zu befreien. Die Industrie kann nur durch sich selbst gerettet werden, die Konkurrenz ist ihr Leben. Protegiert, schläft sie ein; sie stirbt sowohl durch das Monopol wie unter dem Tarife. Das Land, das alle anderen sich tributpflichtig machen wird, wird das sein, welches die Handelsfreiheit verkündigt, es wird die gewerbliche Kraft in sich fühlen, seine Produkte auf einem Preisniveau zu halten, das niedriger ist als das seiner Konkurrenten. Frankreich kann dies Ziel viel besser als England erreichen; denn es allein besitzt ein Gebiet, das ausgedehnt genug ist, um die landwirtschaftlichen Produkte auf Preisen festzuhalten, die eine Erhöhung der industriellen Löhne verhindern: danach müßte die Verwaltung in Frankreich streben, denn darin besteht die ganze moderne Frage. Dies Studium ist nicht mein Lebensziel gewesen, mein lieber Herr, die Aufgabe, die ich mir spät gestellt habe, ist Zufallssache. Dann sind derartige Dinge zu einfach, als daß man eine Wissenschaft daraus machte, sie springen weder ins Auge, noch erfordern sie eine Theorie, sie haben das Unglück, ganz einfach nützlich zu sein. Kurz, man beeilt sich nicht mit ihnen. Um einen Erfolg dieser Art zu erzielen, muß man allmorgendlich in sich die nämliche Dosis des seltensten und anscheinend bequemsten Mutes finden, den Mut des Professors, der unaufhörlich die nämlichen Dinge wiederholt, einen wenig belohnten Mut. Wenn wir den Mann, der, wie Sie, sein Blut auf dem Schlachtfelde vergossen hat, ehrfurchtsvoll begrüßen, machen wir uns über den lustig, der sein Lebensfeuer langsam verbraucht, um Kindern gleichen Alters immer die gleichen Worte zu sagen. Das heimlich getane Gute lockt niemanden. Wir entbehren im wesentlichen der Bürgertugend, mit welcher die großen Männer früherer Zeiten dem Vaterlande Dienste leisteten, indem sie sich auf die unterste Rangstufe stellten, wenn sie nicht befehligten. Die Krankheit unserer Zeit ist die Ueberlegenheit. Es gibt mehr Heilige als Nischen. Und zwar deshalb: Mit der Monarchie haben wir die Ehre, mit der Religion unserer Väter die christliche Tugend und mit unseren fruchtlosen Regierungsversuchen den Patriotismus verloren. Diese Prinzipien bestehen nur noch teilweise, anstatt die Massen zu beseelen; denn die Ideen gehen niemals unter. Um die Gesellschaft zu stützen, besitzen wir jetzt keinen anderen Halt als den Egoismus. Die Individuen glauben an sich. Die Zukunft ist der soziale Mensch; darüber hinaus sehen wir nichts mehr. Der große Mann, der uns vor dem Schiffbruche, dem wir entgegentreiben, retten wird, wird sich zweifelsohne des Individualismus bedienen, um die Nation wiederherzustellen; in Erwartung dieser Regeneration aber leben wir in dem Jahrhundert der materiellen Interessen und des Positiven. Letzteres Wort führt alle Welt im Munde. Wir sind alle numeriert, und zwar nicht nach dem, was wir wert sind, sondern nach dem, was wir wiegen. Wenn er im Wams einhergeht, schenkt man dem energischen Menschen kaum einen Blick. Diese Gesinnung hat sich auf die Regierung übertragen. Dem Seemann, der unter Gefahr seines eigenen Lebens ein Dutzend Menschen rettet, schickt der Minister eine klägliche Medaille, dem Abgeordneten aber, der ihm seine Stimme verkauft, reicht er das Ehrenkreuz. Wehe dem Lande, das so bestellt ist! Die Nationen, ebenso wie die Individuen, verdanken ihre Energie nur großen Gefühlen. Die Gefühle eines Volkes sind seine Glaubenssätze. Anstatt Glaubenssätze zu haben, besitzen wir Interessen. Wenn jeder nur an sich denkt und nur an sich selber glaubt, wie wollen Sie da viel Bürgermute begegnen, wenn die Vorbedingungen zu dieser Tugend im Verzicht auf sich selbst bestehen? Bürgermut und Soldatenmut haben denselben Ursprung. Sie sind dazu berufen, Ihr Leben auf einmal hinzugeben, unseres versickert tropfenweise. Auf jeder Seite die gleichen Kämpfe unter anderen Formen. Es genügt nicht, ein Biedermann zu sein, um den bescheidensten Erdenwinkel zu zivilisieren, man muß auch unterrichtet sein; ferner sind Bildung, Rechtschaffenheit und Patriotismus nichts ohne den festen Willen, mit dem ein Mensch sich alles persönlichen Interesses entledigen muß, um sich einem sozialen Gedanken zu widmen. Frankreich umschließt gewißlich mehr als einen gebildeten Mann, mehr als einen Patrioten in jeder Gemeinde; ich bin aber sicher, daß nicht in jedem Bezirke ein Mann existiert, der mit diesen kostbaren Eigenschaften den stetigen Willen und die Beharrlichkeit des sein Eisen anschlagenden Hufschmiedes besitzt. Der Mensch, der zerstört, und der Mensch, der aufbaut, sind zwei Willensphänomene: der eine bereitet das Werk vor, der andere vollendet es; ersterer erscheint als der Genius des Bösen, und der zweite scheint der Genius des Guten zu sein. Ruhm wird dem einen, Vergessen dem anderen zuteil. Das Böse besitzt eine helltönende Stimme, welche die gewöhnlichen Seelen aufweckt und mit Bewunderung erfüllt, während das Gute lange stumm bleibt. Die menschliche Eigenliebe hat sich schnell die glänzendste Rolle gewählt. Ein ohne einen individuellen Hintergedanken vollendetes Friedenswerk wird also immer nur ein Zufall sein, bis die Erziehung die Sitten Frankreichs verändert hat. Wenn diese Sitten sich erst mal geändert haben, wenn wir alle große Bürger sind, werden wir dann nicht trotz der Annehmlichkeiten eines trivialen Lebens das langweiligste, gelangweilteste, unkünstlerischste und das unglücklichste Volk sein, das es auf Erden gibt? Solche große Fragen zu entscheiden, kommt mir nicht zu, ich stehe nicht an der Spitze des Landes. Abgesehen von diesen Betrachtungen widersetzen sich noch andere Schwierigkeiten dem, was die Verwaltung an exakten Grundsätzen besitzt. In puncto Zivilisation, mein Herr, ist nichts absolut. Die Ideen, die für eine Gegend angebracht sind, sind in einer anderen tödlich, und es verhält sich mit den Intelligenzen wie mit den Grundstücken. Wenn wir so viele schlechte Verwalter haben, kommt es daher, daß Verwaltung wie Geschmack von einem sehr hohen, sehr reinen Gefühl herrührt. Hier kommt das Genie von einem Streben der Seele und nicht vom Wissen. Niemand kann weder die Taten noch die Gedanken eines Verwalters abschätzen, seine wirklichen Richter sind fern von ihm, und die Resultate noch viel ferner. Jeder kann sich daher gefahrlos einen Verwalter nennen. In Frankreich flößt nur die Art Verführung, die der Geist ausübt, eine große Schätzung für Leute mit Ideen ein. Ideen aber sind wenig wert, wo nur Wille not tut. Die Verwaltung endlich besteht nicht darin, daß sie den Massen mehr oder minder richtige Ideen und Methoden vorschreibt, sondern darin, daß sie den schlechten oder guten Ideen dieser Massen eine nützliche Richtung vorschreibt, die sie mit dem Allgemeinwohl in Uebereinstimmung bringt. Wenn die Vorurteile und die Routinen einer Gegend auf einen üblen Weg geraten, geben die Bewohner von selber ihre Fehler auf. Verursacht nicht jeder Fehler in der ländlichen, politischen oder häuslichen Oekonomie Verluste, die das Interesse schließlich wieder gutmacht? Hier bin ich zum großen Glück auf reinen Tisch gestoßen. Auf meine Ratschläge hin hat man den Boden gut kultiviert; aber es gab hier in Agrikulturdingen auch keinen Irrweg, und die Ländereien waren gut; es ist mir daher ein leichtes gewesen, die Wirtschaft in fünf Schlägen, die künstlichen Wiesen und die Kartoffeln einzuführen. Mein agronomisches System stieß auf kein Vorurteil. Man bediente sich nicht bereits wie in gewissen Teilen Frankreichs schlechter Pflugmesser, und die Hacke genügte für die wenige Arbeit, die man tat. Für den Stellmacher war es vorteilhaft, meine Radpflüge zu rühmen, um seine Wagnerarbeit abzusetzen; in ihm hatte ich einen geheimen Helfer. Wie anderswo hab' ich mich hier aber immer bemüht, die Interessen des einen mit denen der anderen in Einklang zu bringen. Dann bin ich von Produktionen, welche die armen Leute unmittelbar interessierten, zu denen übergegangen, die ihren Wohlstand vermehrten. Nichts habe ich von draußen eingeführt, ich hab' lediglich die Ausfuhr, die sie bereichern sollte, und deren Vorteile direkt verstanden wurden, unterstützt. Die Leute hier waren meine Apostel durch ihre Werke und ohne daß sie es ahnten. Eine andere Erwägung! Wir sind hier nur fünf Meilen von Grenoble entfernt, und bei einer großen Stadt finden sich viele Märkte für die Erzeugnisse. Nicht alle Gemeinden liegen vor dem Tore großer Städte. In jeder derartigen Angelegenheit muß man den Geist des Landes, seine Lage und seine Hilfsquellen befragen, den Boden, die Menschen und die Dinge untersuchen, und in der Normandie keine Weinberge pflanzen wollen. Nichts ist also wechselnder als die Verwaltung, sie hat wenig allgemeine Prinzipien. Das Gesetz ist gleichförmig, Sitten, Länder und Intelligenzen sind es nicht; nun aber ist die Verwaltung die Kunst, die Gesetze anzuwenden, ohne die Interessen zu verletzen; alles ist hier also lokal bedingt. Auf der anderen Seite des Berges, an dessen Fuße unser verlassenes Dorf liegt, ist es unmöglich, mit Radpflügen zu arbeiten, die Ackerkrume ist nicht tief genug; wollte uns der Bürgermeister dieser Gemeinde unsere Art und Weise nachahmen, so würde er seine Untergebenen ruinieren. Ich hab' ihm geraten, Weinberge anzulegen, und im letzten Jahre hat diese kleine Gemeinde ausgezeichnete Ernten gehabt; sie tauscht ihren Wein gegen unser Getreide ein. Kurz, ich hatte auf die Leute, denen ich predigte, einigen Einfluß; wir standen unaufhörlich in Beziehung miteinander. Ich heilte meine Bauern von ihren Krankheiten, die so leicht zu heilen sind; es handelt sich in Wirklichkeit nur darum, ihnen durch eine substanzielle Nahrung ihre Kräfte wiederzugeben. Landleute nähren sich, sei's aus Sparsamkeit, sei es aus Armut, so schlecht, daß ihre Krankheiten nur von ihrer Bedürftigkeit herrühren; und im allgemeinen fühlen sie sich ziemlich wohl. Als ich mich ergeben zu diesem Leben ruhmloser Resignation entschloß, habe ich lange gezögert, ob ich Pfarrer, Landarzt oder Friedensrichter werden solle. Nicht ohne Grund, mein lieber Herr, stellt man sprichwörtlich die drei schwarzen Gewänder, den Priester, den Mann des Gesetzes und den Arzt zusammen: der eine verbindet Wunden der Seele, der andere die der Börse, der letzte die des Leibes; sie stellen die Gesellschaft in ihren drei hauptsächlichen Existenzzuständen dar: das Gewissen, den Grundbesitz und die Gesundheit. Ehedem bildete ersteres, dann das zweite den ganzen Staat. Die uns auf Erden vorangegangen sind, dachten, vielleicht mit Recht, daß der Priester, da er über die Gedanken verfüge, die ganze Regierung sein müsse; er war damals König, Pontifex und Richter; doch war damals alles Glaube und Gewissen. Heute ist alles anders; nehmen wir unsere Epoche, wie sie ist. Nun, ich glaube, daß der Fortschritt der Zivilisation und der Wohlstand der Massen von diesen drei Männern abhängen, sie sind die drei Mächte, die das Volk unmittelbar die Wirkung der Geschehnisse, der Interessen und der Grundsätze, die drei großen Resultate fühlen lassen, welche bei einer Nation durch die Ereignisse, durch den Besitz und durch die Ideen hervorgerufen werden. Die Zeit schreitet vorwärts und führt Veränderungen herbei, der Besitz vermehrt oder vermindert sich; entsprechend diesen verschiedenen Wandlungen muß man alles regeln; daraus ergeben sich die Ordnungsgrundsätze. Um zu zivilisieren, um Produktionszweige zu schaffen, muß man den Massen begreiflich machen, worin das Sonderinteresse mit den nationalen Interessen, die aus Tatsachen, Interessen und Grundsätzen bestehen, übereinstimmt. Die drei Berufe schienen mir daher, indem sie notwendigerweise diese menschlichen Resultate berühren, heute die größten Hebel der Zivilisation sein zu müssen; sie allein können einem braven Manne stets die wirksamen Mittel verschaffen, das Los der armen Klassen, mit welchen sie in fortwährenden Beziehungen stehen, zu verbessern. Doch hört der Bauer lieber auf den Mann, der ihm ein Rezept schreibt, um ihm den Körper zu retten, als auf den Priester, der vom Seelenheile redet: der eine kann ihm von der Erde, die er bebaut, erzählen, der andere ist verpflichtet, ihn vom Himmel zu unterhalten, um den er sich heute unglücklicherweise wenig kümmert. Ich sage unglücklicherweise; denn das Dogma vom künftigen Leben ist nicht nur ein Trost, sondern auch ein brauchbares Werkzeug zum Regieren. Ist die Religion nicht die einzige Macht, welche die sozialen Gesetze sanktioniert? Jüngst haben wir Gott gerechtfertigt. In Ermanglung der Religion sah sich die Regierung gezwungen, den Terror zu erfinden, um ihre Gesetze durchführbar zu machen; aber es war ein menschlicher Terror, er ist vergangen. Wenn nun ein Bauer krank ist, mein Herr, an ein schlechtes Bett gefesselt oder genesend, ist er gezwungen, zusammenhängende Erörterungen anzuhören, und er begreift sie gut, wenn sie ihm klar vorgebracht werden. Dieser Gedanke hat mich zum Arzt gemacht. Ich rechnete mit meinen Bauern und für sie; ich gab ihnen nur Ratschläge von sicherer Wirkung, die sie zwangen, die Richtigkeit meiner Ansichten einzusehen. Dem Volke gegenüber muß man immer unfehlbar sein. Die Unfehlbarkeit hat Napoleon gemacht, sie hätte einen Gott aus ihm gemacht, wenn der Erdkreis ihn nicht bei Waterloo hätte fallen hören. Wenn Mohammed eine Religion geschaffen hat, nachdem er ein Drittel der Welt erobert hatte, geschah es, indem er der Welt das Schauspiel seines Todes entzog. Für den Dorfbürgermeister und den Eroberer galten die nämlichen Prinzipien: Nation und Gemeinde sind ein und dieselbe Herde. Ueberall ist die Masse die nämliche. Endlich habe ich mich denen gegenüber, die ich meiner Börse verpflichtete, streng bezeigt. Ohne diese Festigkeit würden sich alle über mich lustig gemacht haben. Die Bauern sowohl wie die Weltleute schätzen den Mann, den sie betrügen, zuletzt gering. Heißt nicht, genasführt worden sein, einen Akt der Schwäche begangen zu haben? Kraft allein regiert. Niemals habe ich jemandem einen Heller für meine Bemühungen abverlangt, außer denen, die augenscheinlich reich sind; habe sie aber nie über den Preis meiner Bemühungen im unklaren gelassen. Ich schenke keine Medikamente, außer im Falle von Armut bei dem Kranken. Wenn meine Bauern mich nicht bezahlen, so kennen sie doch ihre Schulden; manchmal entlasten sie ihr Gewissen, indem sie mir Hafer für meine Pferde und Getreide bringen, wenn es nicht teuer ist. Der Müller aber bot mir nur Aale als Bezahlung für meine Bemühungen an, da sagte ich ihm, daß er für eine solche Kleinigkeit zu edelmütig sei. Meine Höflichkeit bringt Früchte: im Winter werd' ich von ihm einige Säcke Mehl für die Armen erhalten. Sehen Sie, mein Herr, die Leute haben ein Herz, wenn man es ihnen nicht entmutigt. Heute denke ich besser und minder schlecht von ihnen als in der Vergangenheit!«

»Sie haben viel Schweres auf sich genommen!« sagte Genestas.

»Ich, durchaus nicht,« erwiderte Benassis. »Es kostete mich gleich viel, etwas Nützliches wie Albernheiten zu sagen. Im Vorbeigehen, plaudernd, lachend redete ich mit ihnen von ihnen selbst. Zuerst hörten die Leute nicht auf mich, ich hatte viele Widerstände in ihnen zu bekämpfen: ich war ein Bourgeois, und ein Bourgeois ist für sie ein Feind. Dieser Kampf belustigte mich. Zwischen dem Böses-tun und dem Gutes-tun besteht kein anderer Unterschied wie der Frieden seines Gewissens oder seine Unruhe, die Mühe ist die gleiche. Wenn die Schufte sich gut aufführen wollten, würden sie Millionäre, anstatt gehängt zu werden, das ist alles.«

»Herr,« rief Jacquotte, die hereinkam, »das Essen wird kalt!«

»Mein Herr,« sagte Genestas, den Arzt beim Arme festhaltend, »zu dem, was ich eben gehört, möchte ich Ihnen nur folgendes bemerken: Ich kenne keine Erzählung der Kriege Mohammeds, so daß ich seine militärischen Talente nicht beurteilen kann; wenn Sie aber den Kaiser während des Feldzuges in Frankreich hätten manövrieren sehen, würden Sie ihn leichtlich für einen Gott gehalten haben. Wenn er bei Waterloo besiegt worden ist, geschah es, weil er mehr als ein Mensch war. Er drückte zu sehr auf die Erde, und die Erde hat sich unter ihm aufgebäumt, das ist's. In allem anderen bin ich übrigens vollkommen Ihrer Ansicht, und, Himmeldonnerwetter!, die Frau, die Sie geboren, hat ihre Zeit nicht verloren.«

»Auf,« rief Benassis lächelnd, »gehen wir zu Tisch.«

Das Eßzimmer war vollständig getäfelt und grau gestrichen. Das Mobiliar bestand damals aus einigen Strohsesseln, einer Anrichte, Schränken, einem Ofen, der berühmten Standuhr des seligen Pfarrers und ferner aus weißen Fenstervorhängen. Der mit weißem Leinen gedeckte Tisch wies nichts auf, was nach Luxus aussah. Das Geschirr war aus Steingut. Der Sitte des seligen Pfarrers entsprechend bestand die Suppe aus der nahrhaftesten Bouillon, die jemals eine Köchin hat kochen und einkochen können. Kaum hatten der Arzt und sein Gast ihre Suppe gegessen, als ein Mann geräuschvoll in die Küche trat und, trotz Jacquotte, einen plötzlichen Einbruch in das Speisezimmer unternahm.

»Nun, was gibt's?« fragte der Arzt.

»Unsere Bürgerin, Madame Vigneau, ist ganz weiß geworden; so weiß, daß es uns alle erschreckt; das gibt's!«

»Nun,« rief Benassis fröhlich, »da muß man von Tisch fort.«

Er stand auf. Trotz der inständigen Bitten des Arztes schwur Genestas, sein Mundtuch fortwerfend, auf gut soldatisch, daß er ohne seinen Wirt nicht bei Tische bleiben wolle, und ging tatsächlich sich zu wärmen in den Salon, indem er über das Elend nachdachte, auf das man unvermeidlich bei allen Zuständen, denen der Mensch hienieden unterworfen ist, stößt.

Benassis kam bald zurück, und die beiden zukünftigen Freunde setzten sich wieder zu Tisch.

»Taboureau ist eben gekommen, um Sie zu sprechen,« sagte Jacquotte zu ihrem Herrn, als sie die Schüsseln brachte, die sie warmgestellt hatte.

»Wer ist denn krank bei ihm?« fragte er.

»Niemand. Er will Sie, wie er sagt, für sich konsultieren und wird wiederkommen.«

»Es ist gut. – Dieser Taboureau«, fuhr Benassis, sich an Genestas wendend, fort, »ist für mich ein ganzer philosophischer Traktat; betrachten Sie ihn recht aufmerksam, wenn er da ist, sicherlich wird er Sie belustigen. Er war Tagelöhner, ein braver, sparsamer Mann, der wenig aß und viel arbeitete. Sobald der Schelm einige Taler besaß, hat sich seine Intelligenz entwickelt; hat er die Bewegung, die ich in den armen Kreis hier brachte, verfolgt und sie für sich auszunützen gesucht, um reich zu werden. In acht Jahren hat er ein großes – groß für den hiesigen Kreis – Vermögen erworben. Vielleicht besitzt er jetzt einige vierzigtausend Franken. Aber Sie würden hundertmal raten, durch welche Mittel er diese Summe hat erwerben können, und würden es doch nicht herausbekommen! Er ist Wucherer, ein so abgefeimter Wucherer, und Wucherer auf eine so wohl auf dem Interesse aller Bewohner des Kreises beruhende Berechnung hin, daß ich meine Zeit verschwenden würde, wenn ich es unternehmen wollte, ihnen die Augen über die Vorteile, die sie aus ihrem Handel mit Taboureau zu ziehen glauben, zu öffnen. Als dieser Teufelskerl jedermann Land hat kultivieren sehen, ist er in die Umgebung gelaufen und hat Korn gekauft, um den armen Leuten die Saaten zu verschaffen, die sie brauchen würden. Hier wie überall besitzen die Bauern, und selbst einige Pächter, nicht genug Geld, um ihr Saatgut zu bezahlen. Den einen lieh Meister Taboureau einen Sack Gerste, für den sie ihm nach der Ernte einen Sack Roggen zurückgaben; andern einen Sack Getreide für einen Sack Mehl. Heute hat mein Mann diese merkwürdige Handelsmethode über den ganzen Bezirk ausgedehnt. Wenn ihm nichts in den Weg kommt, wird er vielleicht eine Million gewinnen. Nun wohl, mein lieber Herr, der Tagelöhner Taboureau, ein braver, gefälliger, umgänglicher Bursche gewährte jedem, der ihn darum anging, eine Hilfeleistung; doch in dem Maße, in dem sein Gewinn wuchs, ist Monsieur Taboureau prozeßsüchtig, rechthaberisch und geringschätzig geworden. Je reicher er wurde, desto mehr packte ihn der Geiz. Sobald der Bauer aus einem reinen Arbeitsleben zum geruhsamen Leben übergeht oder zu Landbesitz kommt, wird er unerträglich. Es gibt eine halb tugend-, halb lasterhafte, halb wissende, halb unwissende Klasse, die stets die Verzweiflung der Regierungen bilden wird. Den Geist dieser Klasse werden Sie ein wenig an Taboureau kennenlernen, einem anscheinend simplen, selbst unwissenden Mann, der aber, sobald es sich um seine Interessen handelt, sicherlich tief ist.«

Das Geräusch eines dröhnenden Schrittes kündigte die Ankunft des Saatgutverleihers an.

»Kommen Sie herein, Taboureau,« rief Benassis.

Vom Arzte so vorbereitet, prüfte der Major den Bauern und sah in Taboureau einen mageren Mann mit etwas krummem Rücken und einer sehr faltigen, gewölbten Stirn. Dies runzlige Gesicht schien von kleinen grauen, schwarzgefleckten Augen wie durchbohrt zu sein. Der Wucherer hatte einen zusammengekniffenen Mund und sein spitziges Kinn versuchte sich mit einer ironisch gebogenen Nase zu vereinigen. Seine hervorstehenden Backenknochen zeigten jene sternförmigen Fältchen, die das Wanderleben und die List der Roßtäuscher anzeigen. Seine Haare endlich wurden bereits grau. Er trug ein ziemlich sauberes blaues Wams, dessen viereckige Taschen von seinen Hüften prall abstanden, und dessen offene Schöße eine weißgeblümte Weste sehen ließen. Er blieb in guter Haltung stehen und stützte sich auf einen Stock mit dickem Knopf. Trotz Jacquottes Einspruch folgte dem Samenhändler ein kleiner Stöberhund und legte sich bei ihm nieder.

»Nun, was gibt's?« fragte ihn Benassis.

Taboureau schaute die unbekannte Persönlichkeit, die mit dem Arzte zu Tisch saß, mit mißtrauischer Miene an und sagte:

»Es handelt sich um keinen Krankheitsfall, Herr Bürgermeister; doch Sie wissen die Schmerzen der Börse ebensogut zu heilen wie die des Leibes, und ich möchte Sie einer kleinen Schwierigkeit wegen, die wir mit einem Manne in Saint-Laurent haben, um Rat fragen.«

»Warum gehst du nicht zum Herrn Friedensrichter oder zu seinem Kanzlisten?«

»Ei, weil Monsieur sehr viel geschickter ist, und ich in meiner Angelegenheit viel sicherer gehen würde, wenn ich seine Billigung haben könnte.«

»Mein lieber Taboureau, meine ärztlichen Konsultationen erteile ich den Armen gern gratis, umsonst kann ich die Prozesse eines Mannes, der so reich ist wie du, nicht prüfen. Wissen zu sammeln, ist sehr kostspielig.«

Taboureau fing an, seinen Hut zu drehen.

»Wenn du meine Ansicht hören willst, weil es dir schwere Groschen, die du den Gerichtsleuten in Grenoble zahlen müßtest, ersparen soll, wirst du der Frau Martin, jener, die die Hospitalkinder aufzieht, einen Sack Roggen schicken.«

»Gewiß, Herr, ich will's gern tun, wenn Ihnen das nötig erscheint. Kann ich meine Sache vorbringen, ohne den Herrn da zu langweilen,« fügte er, auf Genestas weisend, hinzu. »Nun also, Herr,« fuhr er auf ein Kopfnicken des Arztes fort; »vor etwa zwei Monaten hat mich ein Mann aus Saint-Laurent aufgesucht. ›Taboureau,‹ hat er zu mir gesagt, ›könntet Ihr mir hundertsiebenunddreißig Sester Gerste verkaufen?‹ ›Warum nicht?‹ hab' ich ihm erwidert, ›das ist ja mein Beruf. Muß es sofort sein?‹ – ›Nein,‹ hat er mir geantwortet, ›zu Frühlingsanfang, im März.‹ – ›Schön!‹ Dann haben wir den Preis beredet und bei einem Glase Wein abgemacht, daß er sie mir nach dem Gerstenpreise vom letzten Grenobler Markte bezahlen, und daß ich sie ihm im März unbeschadet des Speicherverlustes, wohlverstanden, liefern solle. Aber, mein lieber Herr, die Gerstenpreise steigen und steigen, kurz meine Gerste wallt in die Höhe wie eine Milchsuppe. Ich hab' Geld nötig und verkaufe meine Gerste. Das ist doch ganz natürlich, nicht wahr, Herr?«

»Nein,« sagte Benassis, »deine Gerste gehörte dir nicht mehr, du warst nur ihr Verwahrer. Und würdest du nicht, wenn die Gerstenpreise gefallen wären, deinen Käufer gezwungen haben, sie zum abgemachten Preise abzunehmen?«

»Aber, Herr, der Mann würde mich vielleicht nicht bezahlt haben! Das ist im Kriege nun mal nicht anders. Der Kaufmann muß den Gewinn mitnehmen, wenn er sich zeigt. Schließlich gehört einem eine Ware doch nur, wenn man sie bezahlt hat, nicht wahr, Herr Offizier; denn man sieht, daß der Herr in der Armee gedient hat.«

»Taboureau,« sagte Benassis ernst, »dir wird ein Unglück zustoßen. Gott straft die schlechten Handlungen früher oder später. Wie kann ein so fähiger, ein so unterrichteter Mann, wie du es bist, ein Mann, der seine Geschäfte ehrenwert betreibt, unserem Bezirke Beispiele von Unredlichkeit geben? Wenn du derartige Prozesse führst, wie willst du dann, daß die Armen anständige Menschen bleiben und dich nicht bestehlen? Deine Arbeiter werden dir einen Teil der Zeit, die sie dir schuldig sind, stehlen, und jedermann wird hier moralisch sinken. Du hast unrecht. Deine Gerste galt als geliefert. Wenn sie von dem Manne aus Saint-Laurent fortgeschafft worden wäre, würdest du sie nicht von ihm zurückgeholt haben. Du hast also über etwas verfügt, was dir nicht mehr gehörte; nach euren Abmachungen hatte deine Gerste sich bereits in realisierbares Geld umgewandelt . . . Aber fahre fort . . .«

Genestas warf dem Arzte einen Blick zu, um ihn auf Taboureaus Unbeweglichkeit aufmerksam zu machen. Nicht eine Fiber im Gesichte des Wucherers hatte sich während dieses Wischers verändert; seine Stirn hatte sich nicht gerötet, seine kleinen Augen blieben ruhig.

»Nun gut, Herr, ich bin gerichtlich angewiesen worden, ihm die Gerste zum letzten Winterpreise zu zahlen, aber ich glaube, daß ich sie nicht schuldig bin.«

»Höre, Taboureau, liefere deine Gerste ganz schnell, oder rechne nie mehr auf jemandes Schätzung. Selbst wenn du derartige Prozesse gewinnen solltest, würdest du für einen Mann ohne Treu und Glauben, würdest du für wortbrüchig und für ehrlos gelten . . .«

»Nur unbesorgt! Sagen Sie mir, daß ich ein Schelm, ein Lump, ein Dieb bin. Im Geschäftsleben sagt man das, Herr Bürgermeister, ohne jemanden damit zu beleidigen. Im Geschäftsleben, sehen Sie, steht jeder für sich.«

»Nun, warum bringst du dich freiwillig in die Lage, derartige Bezeichnungen zu verdienen?«

»Aber, Herr, wenn das Gesetz für mich ist?« . . .

»Aber das Gesetz wird nicht für dich sein . . .«

»Sind Sie dessen sicher, Herr, ganz, ganz sicher? Denn, sehen Sie, die Sache ist wichtig.«

»Gewiß bin ich dessen sicher. Wenn ich nicht bei Tische säße, würd' ich dich das Gesetzbuch lesen lassen. Doch, wenn der Prozeß stattfindet, wirst du ihn verlieren und nie wieder einen Fuß in mein Haus setzen. Leute, die ich nicht schätze, will ich nicht bei mir sehen. Hörst du, du wirst deinen Prozeß verlieren.«

»Ach nein, nein, Herr, ich werd' ihn nicht verlieren,« sagte Taboureau; »sehen Sie, Herr Bürgermeister, der Mann aus Saint-Laurent schuldet mir die Gerste; ich hatte sie ihm abgekauft und er verweigert mir die Lieferung. Ich wollte ganz sicher sein, ob ich gewänne, ehe ich mich beim Gerichtsvollzieher in Kosten stürze.«

Genestas und der Arzt sahen sich an und verbargen die Ueberraschung, welche ihnen die von dem Manne erfundene sinnreiche Art, die Wahrheit über diesen Rechtsfall zu erfahren, bereitete.

»Schön, Taboureau, dein Mann kennt weder Treu noch Glauben, und von solchen Leuten soll man nichts kaufen!«

»Ah! Herr, diese Leute verstehen sich auf Geschäfte!«

»Leb wohl, Taboureau.«

»Ihr Diener, Herr Bürgermeister und die Gesellschaft.«

»Nun,« sagte Benassis, als der Wucherer fort war, »glauben Sie, daß der Mann in Paris nicht bald Millionär sein würde?«

Als das Essen beendigt war, kehrten der Arzt und sein Pensionär in den Salon zurück, wo sie den Rest des Abends über, auf die Schlafensstunde wartend, von Krieg und Politik sprachen, eine Unterhaltung, bei der Genestas die lebhafteste Abneigung gegen die Engländer bekundete.

»Darf ich wissen, mein Herr,« fragte der Arzt, »wen ich die Ehre habe, als Gast bei mir zu sehen?«

»Ich heiße Pierre Bluteau,« antwortete Genestas, »und bin Rittmeister in Grenoble.«

»Gut, mein Herr. Wollen Sie Monsieur Graviers Lebensweise befolgen? Morgens, nach dem Frühstück, machte es ihm Vergnügen, mich auf meinen Ritten in die Umgebung zu begleiten. Es ist nicht ganz sicher, ob Sie Vergnügen an den Dingen finden, mit welchen ich mich beschäftige, so alltäglich sind sie. Schließlich sind Sie weder Grundbesitzer noch Dorfbürgermeister und werden in dem Bezirk nichts sehen, was Sie nicht schon anderswo gesehen haben; all die Hütten sehen sich ähnlich, immerhin werden Sie Luft schöpfen und Ihrer Promenade ein Ziel geben.«

»Nichts bereitet mir mehr Vergnügen als dieser Vorschlag, und aus Angst, Ihnen lästig zu sein, wagte ich's nicht, ihn Ihnen schon zu machen.«

Major Genestas, für den dieser Name trotz seiner wohlerwogenen Pseudonymität beibehalten werden soll, wurde von seinem Wirte in ein im ersten Stock über dem Salon gelegenes Zimmer geführt.

»Schön,« sagte Benassis, »Jacquotte hat Ihnen Feuer gemacht. Wenn Sie irgend etwas brauchen, so befindet sich am Kopfende Ihres Bettes ein Klingelzug.«

»Ich glaube nicht, daß mir das geringste fehlen kann,« rief Genestas. »Da ist sogar ein Stiefelknecht. Man muß ein alter Kommißsoldat sein, um den Wert eines solchen Möbels zu kennen! – Im Kriege, mein Herr, gibt's mehr als einen Augenblick, wo man ein Haus niederbrennen würde, um so einen verdammten Stiefelknecht zu kriegen . . . Nach mehreren Märschen und besonders nach einem Kampf, kommt es vor, daß der im nassen Leder angeschwollene Fuß keiner Anstrengung nachgibt; auch hab' ich mehr als einmal in meinen Stiefeln geschlafen. Wenn man allein ist, läßt sich das Unglück noch ertragen . . .«

Der Major zwinkerte mit den Augen, um diesen letzten Worten einen gewissen pfiffigen Sinn zu verleihen. Dann schickte er sich an, nicht ohne Ueberraschung, ein Zimmer zu betrachten, wo alles bequem, sauber und beinahe reich war.

»Welch ein Luxus!« sagte er. »Sie müssen wunderschön logiert sein!«

»Sehen Sie sich's an,« sagte der Arzt, »ich bin Ihr Nachbar, wir sind nur durch die Treppe getrennt.«

Genestas war ziemlich verdutzt, als er das Zimmer des Arztes betrat und einen nackten Raum sah, dessen Wände als ganzen Schmuck eine stellenweise abgeblaßte gelbliche Papiertapete mit braunen Rosetten zeigten. Das grob lackierte Eisenbett, überragt von einer hölzernen Bettstange, von der zwei Vorhänge aus grauem Kaliko herabfielen, und vor dem ein elender fadenscheiniger Teppich lag, glich einem Hospitalbett. Am Kopfende stand einer jener vierbeinigen Nachttische, deren Vorderseite auf- und zugerollt wird und dabei ein klapperndes Geräusch wie von Kastagnetten macht. Drei Stühle, zwei Strohsessel, eine Nußbaumkommode, auf der ein Waschbecken und ein sehr alter Wasserkrug standen, dessen Deckel durch eine Bleieinfassung an dem Gefäße befestigt war, vervollständigten den Hausrat. Das Feuerloch des Kamins war kalt, und alle zum Rasieren notwendigen Dinge lagen unordentlich auf dem gestrichenen Steine des Gesimses vor einem alten, an einem Bindfadenende aufgehängten Spiegel herum. Der sauber gefegte Fliesenboden war an mehreren Stellen abgenutzt, zerbrochen und ausgehöhlt. Vorhänge aus grauem Kaliko mit grünen Fransen am Rande schmückten die beiden Fenster. Alles, bis auf den runden Tisch, auf dem einige Papiere, ein Schreibzeug und Federn herumlagen, alles in diesem einfachen Gemälde, dem die äußerste, von Jacquotte durchgeführte Sauberkeit eine Art Verbesserung aufdrückte, machte den Eindruck eines fast mönchischen Lebens, das den Dingen gegenüber gleichgültig und voll Innerlichkeit war. Eine offene Tür ließ den Major in ein Kabinett sehen, worin der Arzt sich zweifelsohne sehr selten aufhielt. Dieser Raum befand sich in einem fast ähnlichen Zustande wie das Schlafzimmer. Einige staubige Bücher lagen dort auf staubigen Brettern zerstreut, und mit etikettierten Flaschen bestandene Regale ließen erraten, daß die Pharmazie dort mehr Platz einnahm als die Wissenschaft.

»Sie wollen mich fragen, warum ein solcher Unterschied zwischen Ihrem Zimmer und dem meinen besteht?« fuhr Benassis fort. »Sehen Sie, ich habe mich stets für die geschämt, die ihre Gäste unter den Dächern unterbringen, und ihnen Spiegel geben, die einen derartig entstellen, daß man, wenn man hineinschaut, sich entweder für größer oder kleiner, als man ist, oder für krank oder apoplektisch halten kann. Muß man sich nicht bemühen, daß seine Freunde ihre zeitweilige Behausung so angenehm wie möglich finden? Gastfreundschaft scheint mir eine Tugend, ein Glück und ein Luxus zugleich zu sein; doch muß man nicht, von welchem Gesichtspunkt aus man sie auch betrachtet, ohne den Fall auszuschließen, wo sie eine Spekulation ist, für seinen Gast und für seinen Freund alle kleinen Annehmlichkeiten des Lebens aufmarschieren lassen? Bei Ihnen also die schönen Möbel, der warme Teppich, die Draperien, die Standuhr, die Handleuchter und das Nachtlicht; für Sie die Kerze, für Sie Jacquottes Sorgfalt, die Ihnen zweifelsohne neue Pantoffeln, Milch und ihre Wärmflasche gebracht hat. Ich hoffe, Sie werden niemals besser gesessen haben als in dem weichen Sessel, der von dem seligen Pfarrer, ich weiß nicht wo, ausgegraben worden ist. Wahrlich in allen Dingen muß man, um den Vorbildern des Guten, Schönen und Bequemen zu begegnen, seine Zuflucht zur Kirche nehmen. Kurz, ich hoffe, daß Ihnen in Ihrem Zimmer alles gefallen wird. Sie werden dort gute Rasiermesser, ausgezeichnete Seife, und all die kleinen Requisiten finden, die einem sein Zuhause zu etwas so Süßem machen. Doch, mein lieber Monsieur Bluteau, selbst wenn meine Meinung über die Gastfreundschaft nicht bereits den Unterschied erklären würde, der zwischen unsern Zimmern besteht, so werden Sie zweifelsohne die Kahlheit meines Zimmers und die Unordnung in meinem Kabinett sehr gut begreifen, wenn Sie morgen Zeuge des Kommens und Gehens sein werden, das bei mir stattfindet. Vor allem führe ich kein Stubenhockerleben, ich bin immer draußen. Wenn ich im Hause bleibe, kommen die Bauern alle Augenblicke, um mich zu sprechen, ich gehöre ihnen mit Leib, Seele und Zimmer. Kann ich mich um Etikette und um die unvermeidlichen Schäden kümmern, welche die guten Leute unwillkürlich bei mir anrichten könnten? Luxus gehört in Hotels, Schlösser, Damenzimmer und Räume für Freunde. Kurz, ich halte mich hier höchstens zum Schlafen auf, was bedeutet mir also der Tand des Reichtums? Ueberdies wissen Sie nicht, wie gleichgültig mir alles hienieden ist.«

Sie sagten sich einen freundschaftlichen guten Abend, schüttelten sich herzlich die Hände und legten sich schlafen. Der Major schlummerte nicht ein, ohne sich mehr als einen Gedanken über diesen Mann zu machen, der von Stunde zu Stunde in seinem Geiste größer wurde.

 


 << zurück weiter >>