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Als Collin wieder auf dem Hofe war, ging er stracks auf La Pouraille zu: »Was hast du auf dem Buckel?«
»Ich bin geliefert!« meinte der, und nachdem Collin ihn in eine Ecke geführt hatte, erzählte er ihm von der Ermordung des Ehepaars Crottat und der großen Beute. Außerdem hatte er noch zwei Morde und fünf schwere Diebstähle hinter sich.
»Du hättest mit dem vielen Gelde einen Fürsten spielen sollen,« belehrte ihn Collin. »Jetzt bleibt keine Hoffnung. Aber ich will dich in mein Spiel hinein nehmen … Was willst du mit deinem Gelde beginnen?« Der Mörder sah ihn mißtrauisch an. »Ich will nicht wissen, wo es ist … aber in einer Stunde bin ich draußen, dein Anteil an unserer Kasse beträgt 30 000 und ich kann sie dem geben, den du bestimmst. Schnell … gleich läßt mich der Oberstaatsanwalt holen … habe ihn ganz in meiner Gewalt …«
»Ich will's der Gonore vermachen …« stammelte La Pouraille kläglich.
»Ach, der Witwe des Hausiererkönigs Moses?« schmeichelte Collin. »Schönes Weib … Ja, wenn wir so dumm sind, zu lieben …«
»Sie führt in der Barbarastraße ein Haus …«
»Gut … und wer hat dich verkauft? Soll ich dich rächen? Vielleicht kann ich dadurch mit dem Storch (Gericht) Frieden für dich schließen! Ich spiele jetzt für Theodor Komödie, aber glückt das, dann kann ich Freunden wie dir auch helfen.«
»Ach, wenn du dem armen Kleinen auch nur die ›Feier‹ verschieben könntest, tu ich für dich, was du willst!« Er glaubte nun so leidenschaftlich an seinen Dab, daß er ihm auch das Geheimnis seiner Helfer preisgab: »Weißt du, Ruffard und Godet, Bibi-Lupins Handlanger, sind mit je einem Drittel beteiligt und haben mich verkauft, weil ich ihr Versteck kannte, sie aber meines nicht …«
»Siehst du, das gehört in mein Spiel … Wo steckt das Geld?«
»Meins in der Gonore ihrem Keller unter den Flaschen, das von Ruffard in ihrem Schlafzimmer, so daß er sie zur Hehlerin machen kann, und das von Godet bei seiner Schwester …«
»Gut,« sagte Collin und heftete seinen magnetischen Blick auf ihn. »Also du wirst nun Theodors Ding auf dich nehmen … Was macht das, einen Mord mehr … Man verspricht, daß du dein Geld zurückgibst, schiebt die Morde auf Ruffard, und dann könntest du vielleicht freikommen … Vor allem fliegt Bibi-Lupin!«
La Pouraille war starr vor Staunen, die Hoffnung machte ihn schier verblödet.
»Wir holen das Geld der beiden, schaffen dir Alibis, Ruffard muß tanzen …«
La Pouraille drückte ihn in wilder Freude an die Brust: »Befiehl, ich gehorche!«
»Schön, nun gilt's noch eine Frau zu finden,« meinte Collin und setzte ihm die Sache von Calvi auseinander. Beide gingen zu Le Biffon. »Was wird, während du auf der ›Wiese‹ bist, mit deiner Liebsten, der Biffe?« fragte Collin. Der Blick, mit dem Le Biffon antwortete, war ein Gedicht des Grauens. »Soll ich sie für ein Jahr ins Weiberloch bringen, bis du ausgebrochen bist?«
»Das Wunder bringst nur du zu Wege!« staunte Le Biffon.
»Sag mir die Losung,« fragte Collin mit der Sicherheit des Meisters, der keine Abweisung kennt.
»Zeig ihr ein Fünffrankenstück und sag ›Tondif‹.
»Gut, also sie wird mit La Pouraille abgefertigt und nach einem Jahre ›Schatten‹ wegen ›Aufklärung‹ begnadigt … Also nun, Kinder, muß ich fort … Jetzt werde ich zum Generalstaatsanwalt geholt!«
Wirklich winkte ihm eben der Aufseher. Collin hatte nun einen endgültigen Entschluß gefaßt; die Entscheidung, die er bei Luciens Leiche getroffen hatte, war durch ein wunderliches Zusammentreffen, wie es diesem Genie des Bösen stets behilflich war, zur Reife gekommen.
Frau Camusot suchte sich eine fast geschmackvolle Morgengewandung herzurichten, – eine recht schwierige Unternehmung für eine Richtersfrau, die sechs Jahre lang dauernd in der Provinz gelebt hatte. – Man kann sich gar nicht vorstellen, wie nützlich Frauen in Paris für allerlei Ehrgeizlinge sind. Ein Mann findet schwer Zutritt, während die Frau einfach zu einer andern Frau geht, unmittelbar ins Schlafzimmer gelangen kann, wenn sie die Neugier des Dienstmädchens oder der Herrin selbst weckt, und besonders, wenn diese Herrin unter dem Drucke eines gewaltigen Zwanges steht. Das erklärt genügend die Macht der Worte: »Gnädige Frau, Frau Camusot kommt in einer sehr eiligen Angelegenheit, – die gnädige Frau weiß schon!« So hatte das Dienstmädchen der Marquise d'Espard berichtet, und sofort befahl die Marquise, Amelie einzulassen. Die Richtersfrau fand auch gleich aufmerksamstes Gehör, als sie mit den Worten begann: »Frau Marquise, wir sind verloren, weil wir versucht haben, Sie zu rächen …«
»Wieso denn, Schönste?!« versetzte die Marquise und schaute Frau Camusot an, die noch im Halbdunkel der klaffenden Tür stand. »Göttlich sehen Sie heut morgen aus mit Ihrem Hütchen. Wo haben Sie diese Form her?«
»Gnädige Frau sind zu gütig … Sie wissen doch: die Art, wie Camusot den jungen Mann ausgefragt hat, hat Lucien zur Verzweiflung gebracht, und er hat sich im Gefängnis aufgehängt …«
»Was wird Frau von Sérizy anfangen!?« rief die Marquise, und spielte die Unwissende, um sich noch einmal alles haarklein erzählen zu lassen.
»Ach, man glaubt, sie ist verrückt geworden … wenn Sie doch erreichen könnten, daß der Herr Kanzler sich meinen Mann kommen ließe, er würde dann geheimnisvolle Dinge erfahren, die er sicherlich dem König erzählen könnte. Dann sind die Feinde von Camusot zum Schweigen verurteilt … der Seneralstaatsanwalt, Herr von Sérizy …«
»Schön, Kleine,« versetzte die Marquise, die gerade diesen beiden den Mißerfolg ihres Prozesses verdankte, »ich werde euch verteidigen. Ich vergesse weder meine Freunde noch meine Feinde.« Sie klingelte, ließ die Vorhänge aufziehen und kritzelte schnell ein paar Zeilen. »Der Diener soll das gleich auf die Kanzlei tragen. Antwort ist nicht nötig,« sagte sie zu der Zofe. Diese ging schnell hinaus. »Es gibt also große Geheimnisse?« fragte Frau d'Espard. »Erzählen Sie mir das doch, Kleine. Ist nicht Clotilde von Grandlieu mit in die Geschichte verwickelt?«
»Frau Marquise wird das alles erfahren, denn mein Mann hat mir nichts gesagt, sondern mich nur auf seine gefährliche Lage aufmerksam gemacht. Besser wäre es, Frau Sérizy stirbt, als daß sie verrückt bleibt.«
»Arme Frau!« sagte die Marquise. »Aber war sie es denn nicht schon?«
Weltdamen wissen durch den Ton ihrer Stimme alles auszudrücken. So ließ auch der Klang der Worte »Arme Frau!« ahnen, wie sehr ihr Haß befriedigt war, wie sieghaft sie im Glücke strahlte. Obgleich Frau Camusot von Natur verbissen und bösartig war, war sie darüber entsetzt. Sie fand kein Wort der Erwiderung und schwieg.
»Die arme Gräfin scheint daheim schreckliche Sachen gesagt zu haben,« fuhr Frau d'Espard fort. »Es heißt, es wäre widerlich gewesen … Eine anständige Frau sollte wirklich nicht solche Anfälle haben …! pfui! Das ist ja bloß eine körperliche Leidenschaft … Die Herzogin, die gestern bei ihr gewesen ist, besuchte mich totenblaß! In dieser Geschichte muß es entsetzliche Dinge geben …«
»Mein Mann wird dem Kanzler zu seiner Rechtfertigung alles sagen, denn man wollte Lucien retten, aber er tat seine Pflicht. Ein Untersuchungsrichter muß Einzelgefangene in der gesetzlich vorgeschriebenen Zeit unbedingt verhören. Er mußte diesen armen Kerl doch etwas fragen, der aber begriff nicht, daß es nur der Form wegen geschah und erging sich gleich in Geständnissen …«
»Ein Dummkopf und ein Frechdachs!« sagte Frau d'Espard trocken. Die Richtersfrau hörte dies Urteil schweigend an. »Seien Sie nur ruhig, Camusot war ja an meinem Mißgeschick damals nicht schuld, und ich werde den Chevalier d'Espard zum Kanzler schicken. Im übrigen verspreche ich Ihnen schon für morgen das Kreuz der Ehrenlegion! Das wird als blendendes Zeugnis für das glänzende Verhalten Ihres Mannes in dieser Sache wirken. Und zugleich ist es eine Schmach mehr für Lucien und bezeugt seine Schuld! Man hängt sich ja im allgemeinen nicht zu seinem Vergnügen auf … Also leben Sie wohl, schönes Kind!«
Zehn Minuten später trat Frau Camusot in das Schlafzimmer der schönen Diana, die erst um ein Uhr zu Bett gegangen war und jetzt, um neun Uhr, noch nicht schlief. Sind auch Herzoginnen gefühllos, so läßt sie doch eine Freundin in Geistesverwirrung nicht ohne Eindruck. Zudem hatten die Beziehungen zwischen Diana und Lucien im Geiste der Herzogin genügend Erinnerungen zurückgelassen, damit der schreckliche Tod des armen Knaben auch ihr einen furchtbaren Schlag versetzte. Während der ganzen Nacht sah sie den reizenden Jüngling hängen, wie es ihr Leontine im Fieberwahn geschildert hatte. Sie hatte von Lucien berauschende Briefe aufbewahrt, die von heftigster Leidenschaft und Eitelkeit eingegeben waren. Die entzückendste aller Herzoginnen zu besitzen und um seinetwillen Tollheiten, geheime natürlich, begehen zu sehen, – solch Glück hatte Lucien den Kopf verdreht. Der Stolz des Liebhabers hatte den Dichter begeistert, und nun bewahrte die Herzogin die aufpeitschenden Briefe auf, wie gewisse Greise schlüpfrige Bilder aufheben: wegen der überschwenglichen Lobgesänge auf alles, was am wenigsten herzoglich an ihr war.
»Und dabei ist er in einem elenden Gefängnis gestorben!« murmelte sie vor sich hin und versteckte die Briefe entsetzt, als sie die Zofe sacht an die Tür klopfen hörte.
»Frau Camusot in einer äußerst wichtigen Angelegenheit der Frau Herzogin!« sagte die Zofe.
Diana sprang außer sich auf. »Ach!« rief sie aus, als sie Amelie mit einem höchst angemessenen Gesicht erblickte. »Ich ahne alles! Es handelt sich um meine Briefe … Ach, meine Briefe! …«
Sie sank auf einen Sessel. Nun erinnerte sie sich auch, im Überstrom ihrer Leidenschaft Lucien im gleichen Tone geantwortet zu haben: In Dithyramben hatte sie die Poesie des Mannes gefeiert, gleich wie er den Ruhm der Frau besungen hatte!
»Ach ja, gnädige Frau. Ich will Ihnen mehr als das Leben retten, – Ihre Ehre! … Fassen Sie sich, ziehen Sie sich an, und dann schnell zur Herzogin von Grandlieu: denn glücklicherweise für Sie sind nicht Sie allein bloßgestellt.«
»Sie haben recht, Kleine, man muß bei den Grandlieus Kriegsrat halten. Das geht uns alle an, und glücklicherweise wird uns Sérizy zur Hand sein …«
Die äußerste Gefahr wirkte auf die Herzogin genau wie auf den Sträfling. Diese Frau war halb tot, diese Herzogin war sonst so umständlich beim Anziehen, und nun plötzlich hatte sie die Kraft einer verzweifelten Löwin, wählte selbst mit der Geistesgegenwart eines Generals inmitten des Gefechtes ihre Kleidung, schnell wie eine Grisette, die sich selbst Zofe ist. Das war so merkwürdig, daß ihr Stubenmädchen eine Weile starr dastand und zuguckte, wie die Herrin im Hemd, vielleicht nicht ohne Vergnügen, die Richtersfrau durch den Flor des feinen Hemdes einen weißen vollkommenen Körper sehen ließ. Es war ein Schmuckstück in Seidenpapier. Im Nu hatte Diana sich erinnert, wo ihr Gelegenheitskorsett war, das sich vorn zuhakt, um ermüdeten, gehetzen Frauen die Mühe des Schnürens zu ersparen. Schon waren die Spitzen am Hemd befestigt, dann brachte die Zofe den Rock, half weiter beim Anziehen, griff mit Amelie nach den zarten Strümpfen, und jede von ihnen zog der Herzogin einen Strumpf an.
»Sie sind die schönste Frau, die ich je gesehen habe,« sagte Amelie gewandt und küßte mit leidenschaftlicher Bewegung Dianas feines glattes Knie.
»Die gnädige Frau ist unvergleichlich,« bemerkte die Kammerzofe.
»Vorwärts, Jesette, schweigen Sie,« versetzte die Herzogin. »Haben Sie einen Wagen?« fragte sie Frau Camusot. »Also vorwärts, Kleine, wir sprechen unterwegs.«
Die Herzogin lief im Galopp die Treppe des Palastes hinab, während sie sich die Handschuhe anzog. Das war noch nicht dagewesen.
»Ach, Frau Herzogin, Sie hatten mir ja nicht gesagt, daß der junge Mann Briefe von Ihnen hatte! Sonst wäre Camusot anders vorgegangen.«
»Leontinens Lage hat mich so in Anspruch genommen, daß ich mich selbst ganz darüber vergaß. Sie war ja schon vorgestern halb verrückt. Ach wenn Sie wüßten, was das gestern für ein Morgen war! … Nein, darüber könnte man wahrhaftig auf alle Liebe verzichten. Sind wir doch dumm, Briefe zu schreiben! Aber man liebt eben, bekommt lange Seiten, die einem das Herz in Flammen setzen, alles lodert auf, die Klugheit geht zum Teufel und man antwortet …!«
»Wozu antworten, wenn man handeln kann?« fragte Frau Camusot.
»Es ist so schön, sich der Vernichtung in die Arme zu stürzen …!« rief die Herzogin stolz. »Das ist die Wolllust der Seele.«
»Schöne Frauen sind entschuldbar,« versetzte Frau Camusot bescheiden, »denn sie haben mehr Gelegenheit, zu erliegen, als wir anderen!«
Die Herzogin lächelte. »Wir sind immer zu hochherzig. Ich werde es wie die grimmige Frau d'Espard machen, die tausend zarte Brieflein schrieb, und doch wird man nicht eine Zeile finden, die sie bloßstellt …«
»Sie sind ja gar nicht imstande, soviel Kälte, soviel Aufmerksamkeit aufzuwenden,« versetzte Frau Camusot. »Sie sind Frau, sind einer der Engel, die dem Teufel nicht zu widerstehen wissen.«
»Ich habe mir geschworen, nie mehr zu schreiben. Ich habe auch mein Lebelang nur an diesen armen Lucien geschrieben … Seine Briefe werde ich bis zu meinem Tode aufbewahren. Ach, Kleine, das ist das reine Feuer. So etwas braucht man manchmal …«
»Und wenn man sie findet?!« meinte Frau Camusot mit einer sacht verschämten Bewegung.
»Dann sage ich, daß es Briefe aus einem begonnenen Roman sind. Denn wissen Sie, ich habe alles abgeschrieben und die Originale verbrannt …«
»Ach, gnädige Frau, zum Lohne lassen Sie sie mich lesen …«
»Vielleicht,« sagte die Herzogin. »Dann werden Sie sehen, liebes Kind, daß er an Leontine nicht so geschrieben hat!«
Dies letzte Wort war ganz Frau, die Frau aller Zeiten und aller Länder.
Wie der Frosch der Isabel barst Frau Camusot schier vor Vergnügen über den Gedanken, zusammen mit der schönen Diana zu Grandlieus gehen zu dürfen. Dieser Morgen sollte ihr die ihrem Ehrgeiz so nötigen Verbindungen schaffen. Ihre Selbstsucht schäumte über.
Nach wenigen Minuten waren Diana und Amelie aus dem eleganten Durcheinander im Schlafzimmer der Herzogin in den geordneten strengen Luxus der Herzogin von Grandlieu gelangt. Schon bei den ersten Worten, die ihr die Herzogin von Maufrigneuse ins Ohr sagte, war sie in der Sache. Der Herzog warf auf Frau Camusot einen der schnellen Blicke, mit dem große Herren ein ganzes Dasein, oft die Seele durchdringen. Ihr Kleid genügte, den Herzog ihr spießbürgerliches Leben ahnen zu lassen. Würde die Richtersfrau diese herzogliche Gabe gekannt haben, dann hätte sie nicht so anmutsvoll den spöttischen Blick ertragen, in dem sie nur Höflichkeit sah. Unwissenheit teilt die Vorzüge der Schlauheit.
»Das ist Frau Camusot,« erklärte die Herzogin ihrem Mann. Der Herzog begrüßte sie ›sehr‹ höflich und sein Gesicht verlor etwas den gewichtigen Ernst. Eben kam der Kammerdiener, dem der Herzog geklingelt hatte.
»Fahren Sie nach der Honoréstraße, klingeln Sie an der Tür Nr. 10 und sagen Sie dem Diener, der aufmacht, sein Herr möchte zu mir kommen. Ist er da, dann nehmen Sie ihn mit. Erledigen Sie das möglichst in einer Viertelstunde.«
Ein anderer Diener erschien gleich darauf.
»Gehen Sie mit einer Empfehlung zum Herrn Herzog von Chaulieu und übermitteln Sie diese Karte.« Er gab ihm eine Karte, die in bestimmter Weise geknickt war – ein vereinbartes Zeichen der beiden Freunde.
»Sind Sie von dem Vorhandensein der angeblichen Briefe von Fräulein Clotilde an den jungen Mann überzeugt, gnädige Frau?« fragte der Herzog, und warf einen Blick auf sie, wie ein Seemann beim Loten.
»Ich habe sie nicht gesehen, aber es ist zu fürchten, daß es welche gibt,« versetzte Amelie zitternd.
»Meine Tochter hätte nichts schreiben können, was man nicht zeigen kann,« rief die Herzogin.
»Arme Herzogin!« dachte Diana und warf dem Herzog einen Blick zu, bei dem er erzittern mußte.
»Was glaubst du, liebe kleine Diana?« flüsterte der Herzog ihr ins Ohr und führte sie in die Fensternische.
»Clotilde war in Lucien so vernarrt, mein Lieber, daß sie ihm vor ihrer Abreise ein Stelldichein gegeben hat und ohne das Eingreifen ihrer Base wahrscheinlich mit ihm geflüchtet wäre. Ich weiß, daß Lucien an Clotilde Briefe geschrieben hat, bei der auch eine Heilige den Kopf verloren hätte! Wir sind drei Evastöchter, die wir uns von der Schlange des Briefschreibens haben einwickeln lassen …«
Der Herzog und Diana kehrten zu den zwei Damen zurück, die leise plauderten. Amelie hatte auf Dianas Rat die Fromme gespielt, um sich das Herz der stolzen Portugiesin zu gewinnen.
»Wir sind einem gemeinen Sträfling ausgeliefert!« sagte der Herzog mit zuckender Schulter. »Das kommt davon, wenn man nicht ganz zuverlässige Menschen bei sich empfängt. Von Leuten, die man bei sich aufnimmt, muß man Vermögen, Eltern und Vorfahren genau kennen …«
Dieser Satz ist die Moral dieser Geschichte vom Standpunkt der Aristokratie.
»Es ist nun einmal so,« sagte Diana, »wir wollen nun daran denken, uns drei zu retten.«
»Mir müssen Heinrich erwarten, ich habe ihn eben herbestellt. Aber alles kommt auf den Mann an, den ich herbitten ließ! Hoffentlich ist er in Paris. – Gnädige Frau,« wandte er sich zu Frau Camusot, »ich danke Ihnen, daß Sie an uns gedacht haben …«
Das war die Verabschiedung, und die Tochter des ehemaligen Gerichtsdieners war geistvoll genug, den Herzog zu verstehen. Sie stand auf, aber Diana nahm mit der ihr eigenen bezaubernden Anmut Amalie bei der Hand und präsentierte sie gewissermaßen dem Herzog und der Herzogin: »Sowohl für mich als auch für uns alle bitte ich um mehr als ein freundliches Erinnern für diese kleine Frau Camusot, die heut mit Tagesanbruch aufgestanden ist, um uns alle zu retten. Sie hat mir schon unvergeßliche Dienste geleistet und hängt mit ihrem Manne sehr an uns. Ich habe ihrem Manne eine höhere Stelle versprochen und bitte Sie, mir zu Liebe für ihn zu sorgen.«
»Sie brauchen uns das nicht anzuempfehlen,« sagte der Herzog. »Die Grandlieus denken immer an erwiesene Dienste. Nächstens werden die Anhänger des Königs ihre Ergebenheit zeigen müssen und dann soll Ihr Mann in die Bresche springen …«
Frau Camusot zog sich stolz, vor Dünkel faßt erstickend, zurück. Sie kam triumphierend heim, bewunderte sich selbst und meinte spottend: »Wenn wir Herrn von Granville absägten?!«
Es war Zeit, daß Frau Camusot verschwand, denn auf der Treppe begegnete sie dem Herzog von Chaulieu.
»Heinrich!« rief der Herzog von Grandlieu, als sein Freund gemeldet wurde, »bitte, laufe aufs Schloß, suche den König zu sprechen: es handelt sich um folgendes!« Er führte den Herzog in die Fensternische, in der er eben mit Diana geplaudert hatte. Der Herzog von Chaulieu blickte bisweilen verstohlen auf die tolle Herzogin, die während ihres Gesprächs mit der frommen Herzogin, die ihr Vorhaltungen machte, seinem Blickespiel antwortete.
»Liebster,« beendete der Herzog von Grandlieu seine Zwiesprache, »sei also klug.« Dann nahm er Dianas Hände: »Wahren Sie doch den Anstand, stellen Sie sich nicht mehr bloß, schreiben Sie nicht mehr! Briefe haben schon soviel geheimes und öffentliches Unglück angerichtet. Bei einem jungen Ding wie Clotilde, die zum erstenmal liebt, ist das ja verzeihlich, aber unverzeihlich bei …«
»Einem alten Grenadier, der schon Pulver gerochen hat,« sagte die Herzogin schmollend. Beide Herzöge, selbst die fromme Herzogin, alle mußten über dies Mienenspiel und diesen Scherz lachen. »Vier Jahre lang habe ich keine Liebesbriefe mehr geschrieben … Sind wir deshalb gerettet?« fragte Diana, indem sie ihre Angst unter Kindereien verbarg.
»Noch nicht,« sagte der Herzog von Chaulieu, »denn Sie wissen gar nicht, wie schwer solche Dinge zu erledigen sind. Für einen konstitutionellen König ist es dasselbe wie ein Treubruch für eine verheiratete Frau. Auch für ihn ist's ein Treubruch.«
»Die verbotene Frucht!« lächelte Diana. »Wie gern wäre ich in der Regierung, denn meine Früchte sind alle, – ich habe sie schon gegessen.«
»Ach, Liebste!« rief die fromme Herzogin, »Sie gehen zu weit.«
Als die Herzöge einen Wagen lärmend vorfahren hörten, grüßten sie, ließen die Damen allein und gingen in das Kabinett des Herzogs, wo die geheimnisvolle Persönlichkeit hineingeführt wurde, – der mächtige Leiter der Gegenpolizei: Corentin.
»Bitte, treten Sie näher, Herr von Saint-Denis,« sagte der Herzog von Grandlieu. Corentin war überrascht soviel Gedächtnis zu finden. Er grüßte die beiden Herren tief. »Es dreht sich immer um denselben oder wenigstens um seine Angelegenheiten, denn es bleibt, nachdem er tot ist, ein Gefährte …«
»Der Sträfling Jakob Collin,« versetzte Corentin.
»Ja, ihn müssen wir fürchten. Um uns zu quetschen, hat er Briefe von Frau von Sérizy und der Herzogin von Maufrigneuse an Lucien beiseite gebracht. Es scheint, es war die Art dieses jungen Mannes, durch leidenschaftliche Briefe leidenschaftliche Antworten herauszulocken. Denn es heißt, auch Fräulein von Grandlieu habe einige geschrieben. Wir müssen es befürchten, denn wir wissen es nicht: sie ist ja verreist …«
»Der junge Mann war für solche Schlauheiten nicht klug genug,« meinte Corentin. »Das war eine Vorsichtsmaßregel des Abbé Herrera!« Corentin stützte sich auf seine Hand und dachte nach. »Geld?! … Er hat mehr als wir. Esther hat ihm als Netz gedient, um in dem Goldstücksumpf Nüßingen mehr als zwei Millionen zu fischen …
Meine Herren, sorgen Sie mir für eine Vollmacht, durch die ich Sie von dem Mann befreien kann! …«
»Und … von den Briefen?« fragte der Herzog von Grandlieu.
»Hören Sie, meine Herren!« versetzte Corentin und stand auf. Sein Luchsgesicht kochte vor Erregung. Er hatte absichtlich seinen Morgenrock anbehalten, um den großen Herren seine Eile zu bezeigen. Nun ging er vertraut in dem Zimmer umher und sprach laut, als wäre er bei sich zu Haus: »Er ist ein Sträfling, man könnte ihn ins Zuchthaus stecken und dort verkommen lassen … Aber er könnte dann diese Schraubstöcke seinen Helfershelfern übergeben haben, denn solche Möglichkeiten sieht er voraus. Der Kerl ist ebenso tüchtig wie – ich! Man müßte herausbekommen, was für Vorsichtsmaßregeln er ergiffen hat. Ist der jetzige Inhaber der Briefe arm, dann wäre er zu bestechen … Es kommt also darauf an, Collin auszuhorchen! Aber was für ein Zweikampf! Ich würde unterliegen. Besser ist es, die Briefe durch andere Briefe zu erkaufen: Durch einen Freibrief! Und dann steckt man mir diesen Mann mit in mein Geschäft. Er ist der einzige, der die Gaben besitzt, mein Nachfolger zu werden. Ich brauche also Blankovollmacht! Ich muß Herrn von Granville aufsuchen und bitte, jemanden ins Gerichtsgebäude zu schicken, der mir den nötigen Ausweis für Herrn von Granville beibringt. Ich werde den Brief dann zurückgeben. Alles muß in einer halben Stunde erledigt werden, denn so lange brauche ich, um mich für die Rolle bei dem Herrn Generalstaatsanwalt herzurichten.«
»Bürgen Sie für den Erfolg?« fragte der Herzog von Chaulieu.
»Jawohl, mit einer Generalvollmacht, und wenn ich Ihr Wort habe, daß ich niemals hierüber befragt werde.«
Die großen Herren erzitterten. »Also, dann gehen Sie und erledigen Sie diese Sache wie alles, was Sie sonst in Auftrag bekommen!« sagte der Herzog von Grandlieu. Und Corentin empfahl sich mit tiefem Gruße. – Alsbald führte ein Gespann des Herzogs seinen Freund Heinrich zum Könige, bei dem er dank seinem Range jederzeit Zutritt hatte.
Derart verknüpften sich in den Höhen und Tiefen der Gesellschaft die verschiedenartigsten Interessen und alle führten zu dem Kabinett des Generalstaatsanwalts. Die Not schweißte sie zusammen und drei Männer vertraten die Gruppen: die Justiz stellte Herr von Granville vor, die Familie vertrat Corentin und der furchtbare Gegner Jakob Collin spielte in seiner wilden Energie die Rolle des sozialen Bösen.
Als Camusot sich bei Herrn von Granville melden ließ, ließ dieser ihn sogleich vor. Er wollte mit dem Richter besprechen, wie Luciens Sache am besten zu beenden sei.
»Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Camusot,« sagte Herr von Granville und sank in seinen Sessel. Als er jetzt mit dem Richter allein war, konnte man deutlich die Erschöpfung wahrnehmen, in der er sich befand. Camusot blickte ihn an und sah, daß sein entschlossenes Gesicht fast leidenschaftlich blaß war, gewahrte die übermäßige Ermattung, vollkommene Niedergeschlagenheit, ja, Beweise von vielleicht noch ärgeren Leiden, als der zum Tode Verurteilte sie durchmacht.
»Ich komme später wieder, Herr Graf,« meinte Camusot.
»Bleiben Sie nur,« versetzte der Staatsanwalt mit Würde. »Ein wahrer Beamter muß alle Ängste hinzunehmen und zu verbergen wissen. Es ist schon nicht richtig, daß Sie überhaupt bei mir eine Verwirrung wahrnehmen konnten …« Camusot machte eine Bewegung. »Gott mag Sie vor solchen äußersten Nöten unseres Lebens bewahren, Herr Camusot. Schon geringerem könnte man erliegen! Ich habe die Nacht bei einem meiner nächsten Freunde verbracht, und ich besitze nur zwei Freunde: den Grafen von Bauvan und den Grafen von Sérizy. Wir drei sind von gestern abend sechs Uhr bis heute morgen sechs Uhr zusammengeblieben, und einer nach dem anderen ging aus dem Salon zum Bette von Frau Sérizy, jedesmal in der Angst, sie tot oder für immer geistesgestört zu finden! Desplein, Bianchon und Sinard haben mit zwei Krankenwärterinnen das Krankenzimmer keinen Augenblick verlassen. Der Graf betet seine Frau an. Stellen Sie sich vor, was für eine Nacht ich vollbracht habe zwischen einer Frau, die vor Liebe den Verstand verloren hat, und meinem Freunde, der vor Verzweiflung toll war. Ein Staatsmann wird nicht wie ein Dummkopf von Verzweiflung ergriffen, und doch wand sich Sérizy – still, als säße er in seinem Staatsratsstuhle – auf seinem Sessel, um uns ein gleichmütiges Gesicht zu zeigen. Aber der Schweiß rann von diesem durch so viel Arbeit gebeugten Haupte! Bis halb acht habe ich, von Müdigkeit übermannt, geschlafen, um halb neun mußte ich hier sein, um eine Hinrichtung anzuordnen. Glauben Sie mir, Herr Camusot: wenn ein Beamter sich eine ganze Nacht hindurch in den Abgründen des Schmerzes gewälzt hat, wenn er Gottes Hand auf menschlichen Dingen lasten fühlte, edle Herzen in ihrer Tiefe treffen sah, dann wird es ihm recht schwer, sich hier vor seinem Schreibtisch hinzusetzen und kühl zu sagen: ›Um vier Uhr soll ein Kopf fallen! Ein Geschöpf Gottes voller Leben, voller Kraft und Gesundheit soll vernichtet werden!‹ Und doch ist das meine Pflicht! In den Schlünden des Schmerzes soll ich den Befehl geben, das Schafott zu errichten …
»Der Verurteilte weiß nie, daß der Beamte Ängste durchmachen kann, die den seinen gleich sind. Wer tröstet uns? Stellen Sie sich vor, welch furchtbarer Schlag für die Justiz, wenn sich eines Tages herausstellte: das Verbrechen, das der Verurteilte noch immer ableugnet und für das er nun sterben soll, sei von einem anderen begangen worden!«
Dieser Verzweiflung in ihrer schwerbestreitbaren Beredsamkeit machte Camusot erzittern.
»Auch ich habe gestern die Lehrjahre unserer Standesqualen begonnen,« meinte Camusot. »Ich wäre fast an dem Tode jenes jungen Mannes gestorben. Er hatte ja nicht meine Parteinahme begriffen, und so hat sich der unglückselige Mensch selbst aufgespießt …«
»Man durfte ihn gar nicht verhören!« rief Herr von Granville. »Es ist ja so leicht, durch einen Verzicht Dienste zu erweisen …«
»Und das Gesetz?« fragte Camusot. »Er war doch schon seit zwei Tagen im Gefängnis!«
»Das Unglück ist nun einmal geschehen, und ich habe, soviel ich konnte, wieder gut gemacht, was leider nicht gut zu machen ist. Mein Wagen und meine Leute werden beim Leichenzuge des armen schwachen Dichters mit dabei sein. Sérizy tut gleich mir, ja mehr noch, er nimmt das Amt an, das ihm der Ärmste übertragen hat, und wird sein Testamentsvollstrecker. Dies Versprechen trug ihn einen Blick seiner Frau ein, in dem ein Schimmer klaren Verstandes funkelte. Und Graf Bauvan wird persönlich der Beerdigung beiwohnen.«
»Schön, dann können wir unser Werk ja vollenden. Jetzt bleibt nur noch ein recht gefährlicher Gefangener: Sie wissen so gut wie ich, daß er Collin ist. Der Elende wird als der entlarvt werden, der er ist …«
»Dann sind wir verloren!« rief Herr von Granville.
»Eben ist er bei dem zum Tode Verurteilten, seinem früheren Kettengenossen und Schützling. Bibi-Lupin belauscht die beiden. Die Vogtei wird erfahren, daß wir Collin festhaben … Aber, was ich sagen wollte: dieser gewaltige, freche Verbrecher muß die gefährlichsten Briefe von Frau von Sérizy, der Herzogin von Maufrigneuse und von Fräulein von Grandlieu besitzen.«
»Sind Sie dessen sicher?!« fragte Herr von Granville. Sein Gesicht verriet schmerzliche Überraschung. Camusot unterrichtete ihn mit wenigen Worten.
»Der Prozeß gegen diesen Mann ist eine Unmöglichkeit!« rief der Generalstaatsanwalt, indem er aufsprang und mit großen Schritten im Zimmer auf- und abging. »Sicher hat er die Beweisstücke in Sicherheit gebracht …«
»Ich weiß, wohin,« sagte Camusot. Mit diesem einen Worte verlöschte er alle Voreingenommenheit des Staatsanwaltes gegen ihn. »Daheim habe ich tief über die traurige Sache nachgedacht. Collin hat eine richtige Tante, deren Schüler und Abgott er ist. Sie hat einen Kleiderladen und durch ihre Geschäftsbeziehungen kennt sie gar manches Familiengeheimnis. Hat Collin irgend jemandem die rettenden Papiere anvertraut, so kann nur sie es sein: also lassen wir sie festnehmen …«
In diesem Augenblick klopfte es: der Vogteidirektor trat ein.
»Herr Graf,« sagt er, »der Gefangene Abbé Herrera wünscht Sie zu sprechen. Er hat mit den Gefangenen geredet, ist auch bei dem zum Tode Verurteilten gewesen und scheint ihn zum Sprechen gebracht zu haben.«
Herr von Granville sah einen Lichtstrahl. Welchen Vorteil konnte man aus solchem Geständnis ziehen, um die Briefe wiederzuerlangen! Und er war froh, die Hinrichtung aufschieben zu können. Er gab sofort diesbezügliche Anweisung, befahl, den Herrn Herrera ungesehen herbeizuführen, und erkundigte sich dann, ob der Abbé niemanden außer den Gefangenen gesehen habe.
»Eine Dame, ein Beichtkind von ihm ist hier gewesen, er hat mit ihr gesprochen! Sie hatte einen regelrechten Erlaubnisschein und suchte ihren Beichtiger auf, bevor sie zum Begräbnis des unglücklichen jungen Mannes eilte … Bibi-Lupin freilich hat behauptet, es sei eine Gaunerin gewesen.«
»Der weiß Bescheid. – Sofort einen Verhaftungsbefehl und alles versiegelt! Und bringen Sie den Erlaubnisschein …«
Draußen wurden Schritte und das Klirren von Waffen vernehmlich: offenbar kam Collin. Der Staatsanwalt verbarg sein Menschengesicht hinter einer Maske von Ernst, Camusot tat desgleichen, und gleich darauf erschien Collin in der Tür, ruhig und ohne jedes Staunen.
»Sie wollten mit mir sprechen,« sagte der Beamte.
»Herr Graf, ich bin Jakob Collin! Ich ergebe mich!«
Camusot erzitterte, der Staatsanwalt blieb ruhig.
»Sie können sich denken, daß ich meine Gründe dafür habe,« fuhr Collin fort und musterte die beiden Beamten mit spöttischem Blick. »Sicher bin ich Ihnen riesig unbequem, denn den spanischen Priester konnten Sie über die Grenze abschieben. Aber ich habe gewichtige Gründe, die ich freilich nur Ihnen allein sagen kann … Sollten Sie Furcht haben …«
»Vor wem? Wovor?« wunderte sich der Graf. Jetzt war er das lebende Bildnis des Beamtentums, das die schönsten Beispiele für persönlichen Mut liefern muß.
»Furcht, mit einem ausgebrochenen Sträfling allein zu sein.«
»Lassen Sie uns allein, Herr Camusot,« sagte der Staatsanwalt lebhaft.
»Ich möchte den Vorschlag machen, mich an Händen und Füßen binden zu lassen,« fuhr Collin kühl fort und umfaßte beide Beamte mit einem gewaltigen Blick. Nach einer Weile fuhr er ernst fort: »Herr Graf, bis jetzt besaßen Sie nur meine Hochachtung, aber nun bewundere ich Sie …«
»Halten Sie sich denn für gefährlich?« fragte der Beamte verächtlich.
»Mich für gefährlich halten? Ich bin's, und ich weiß es.« Collin nahm einen Stuhl und setzte sich so behaglich, wie einer, der sich in einer Besprechung über gegenseitige Machtfragen auf der Höhe des Gegners fühlt. In diesem Augenblick kam Camusot zurück und brachte den Erlaubnisschein. »Ach, das dreht sich um mich?« meinte Collin. »Quälen Sie sich nicht,« fuhr er gutmütig fort, »diese Frau ist meine richtige Tante, eine gute alte Frau. Geben Sie sich keine nutzlose Mühe, denn wenn ich nicht will, finden Sie sie doch nicht … Auf diese Weise kommen wir kaum vom Fleck.«
»Also lassen Sie uns allein,« wandte sich der Staatsanwalt an Camusot.
»Sie taten recht daran, den Mörder von Lucien fortzuschicken,« sagte Collin, ohne sich darum zu kümmern, ob Camusot ihn noch hören konnte. »Ich war dicht daran, ihn zu erwürgen …« Herr von Granville erschauerte. Niemals hatte er solchen Blutzudrang in den Augen eines Mannes, solche Blässe, solch schweißtriefende Stirn, solche Muskelspannung gesehen. Die trügerische Ruhe hatte eine furchtbare Nervenerregung verborgen.
»Wozu hätte Ihnen solch Mord genützt?« fragte der Staatsanwalt ruhig.
»Sie morden täglich und glauben die Gesellschaft zu rächen, und dann fragen Sie mich nach dem Grund einer Rache! Wissen Sie nicht, daß dieser Dummkopf ihn uns getötet hat? Denn auch Sie liebte er, und Sie haben ihn geliebt! Ich kenne Sie genau, das Kind erzählte mir allabendlich alles. Nie konnte eine Mutter ihren Sohn zärtlicher lieben, als ich diesen Engel liebte. Er war schwach, das war sein einziger Fehler; aber das sind gerade die schönsten Naturen. Kurz: eine mißglückte Frau! … Ach, ich habe vor diesem dummen rohen Kerl alles, was einem Gefangenen vor dem Richter möglich ist, getan, ja, was Gott für seinen Sohn getan hätte, um ihn zu retten!«
Ein Wasserfall von Tränen stürzte aus den lichtgelben Augen des Sträflings, die sonst wie die Augen eines während sechs Monaten in schneeigen Steppen verhungerten Wolfes leuchteten. Und dann fuhr er fort: »Dieser Schafskopf wollte auf nichts hören und so hat er das Kind zugrunde gerichtet! Ja, ich habe den Leichnam des Kleinen mit meinen Tränen gewaschen und zu dem gefleht, den ich nicht kenne und der über uns ist … Ich, der ich nicht an Gott glaube! Denn ich wäre nicht ich, wenn ich nicht Materialist wäre. Damit ist alles gesagt! Sie wissen nicht, kein Mensch weiß, was Schmerz ist; nur ich weiß es. Diese Schmerzensglut verzehrte meine Tränen, so daß ich heut Nacht nicht weinen konnte, und wenn ich jetzt weine, so tue ich's, weil ich mich von Ihnen verstanden fühle. Ach, Herr Graf, dieser verfluchte Richter hat mir meine Seele geraubt! Mein Leben, meine Schönheit, meine Tugend, mein Gewissen werden in diesem Augenblick beerdigt. Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen und sage: ich bin Collin, ich ergebe mich! Dazu entschloß ich mich heut früh, als man mir den Leichnam entriß, den ich wie ein Sinnloser, wie eine Mutter küßte … Ich wollte mich bedingungslos der Justiz ergeben, aber jetzt muß ich Bedingungen stellen, und zwar aus folgenden Gründen …«
»Sprechen Sie mit Herrn von Granville oder mit dem Oberstaatsanwalt?« fragte der Beamte. Beide blickten sich an. Der Sträfling hatte den Staatsanwalt tief gerührt, weil diesen himmlisches Mitleid mit dem Unglücklichen packte, dessen Leben und Empfindungen er ahnte. Er kannte Collins Leben seit seinem letzten Ausbruche nicht und glaubte, Herr dieses Verbrechers werden zu können, der schließlich doch nur eine Fälschung begangen hatte. Er wollte es mit Hochherzigkeit versuchen. Zudem bewunderte er zärtliche Naturen wie alle Menschen, die keine Liebe gefunden haben. »Sie haben doch eine Zukunft?« meinte er mit prüfendem Blick auf den niedergebrochenen Verbrecher. Der machte eine Bewegung, die vollkommenste Gleichgültigkeit gegen sich selbst ausdrückte. »Lucien hat ein Testament hinterlassen, worin er Ihnen dreihunderttausend Franken vermacht …«
»Ach, der arme, arme Kleine!« rief Collin, »immer viel zu ehrenhaft! Ich verkörperte alle bösen Empfindungen, er war das Gute, Edle, Schöne, Erhabene! Solch schöne Seelen lassen sich nicht ändern! Er nahm von mir nur mein Geld!«
Diese vollkommene Aufgabe der eigenen Person, die der Richter nicht wieder beleben konnte, bewies so sehr die Richtigkeit seiner schrecklichen Worte, daß Herr von Granville auf seine Seite trat, – es blieb nur noch der Staatsanwalt: »Wenn Sie nichts mehr kümmert, was wollten Sie mir dann sagen?«
»Sie wollten einen Unschuldigen köpfen lassen und ich habe den Schuldigen gefunden. Ich komme um Ihretwillen, ich will Ihnen einen Gewissensbiß fernhalten, denn ich liebe alle, die für Lucien Teilnahme empfunden haben, wie ich alle hasse, die sein Leben hemmten … Der Sträfling, den ich zum Geständnis brachte, konnte sich nur mir anvertrauen, denn er war einst mein Kettengenosse. Ich kenne jetzt den wahren Mörder der beiden Frauen, deren Tod ihm zugeschrieben wird, und wenn Sie die Hinrichtung Theodors aufschieben, dann werden Sie alles erfahren. Verbürgen Sie sich nur, daß er wieder ins Bagno kommt, wandeln Sie seine Strafe um … Geben Sie mir Ihr Wort, es genügt mir … Ich halte die Ehre dreier großer Familien in der Hand, Sie nur das Leben dreier Sträflinge. Ich bin also stärker als Sie.«
»Sie könnten wieder in Geheimhaft kommen. Was täten Sie dann?«
»Schön, spielen wir also! Bis jetzt sprach ich frei heraus, sprach mit Herrn von Granville. Meldet sich der Herr Oberstaatsanwalt, dann nehme ich die Karten wieder auf und spiele verdeckt. Und dabei hätte ich Ihnen gegen Ihr Wort Fräulein Clotildes Briefe an Lucien gegeben!« Sein Ton, seine Kaltblütigkeit und sein Blick verrieten einen Gegner, mit dem jeder Schritt gefährlich war.
»Verlangen Sie weiter nichts?«
»Ich werde für mich reden. Die Ehre der Familie Grandlieu gegen eine Begnadigung heißt viel gegen wenig tauschen. Was ist ein zeitlebens Verurteilter? Nein, ich, ich will mehr. Ich habe auch die Briefe der Gräfin und der Herzogin, und was für Briefe! Sehen Sie, Herr Graf, wenn Dirnen schreiben, suchen sie einen Stil und schöne Empfindungen; große Damen aber, die den ganzen Tag Stil und schöne Empfindungen zeigen, schreiben, wie Dirnen handeln. Die Frau ist ein minderwertiges Wesen, weil sie zu sehr ihren Organen gehorcht. Für mich ist sie nur schön, wo sie dem Manne gleicht. Diese Herzoginnen, die mit dem Kopfe männlich sind, haben Meisterwerke geschrieben …« Der Richter schämte sich. »Ich kann Ihnen welche zu lesen geben … Kein Spaß! Wollen wir offen spielen? Sie geben mir die Briefe wieder und verbieten, daß ich und der Bote bespitzelt werden.«
»Dauert das lange?«
»Nein … In vier Minuten kann ich einen Brief von jeder dieser Damen haben. Sie lesen sie und bestellen die Hinrichtung ab! Wäre ich nicht ich, dann bliebe ich nicht so ruhig. Übrigens sind die Damen benachrichtigt und laufen zum Justizminister, vielleicht gar zum Könige … Also Ihr Ehrenwort: es kümmert Sie nicht, wer kommt, und Sie lassen die Person eine Stunde lang unverfolgt?«
»Ich verspreche es.«
»Schön, Sie werden einen entflohenen Sträfling nicht betrügen … Nur lassen Sie Theodor nicht in der Qual der Vorbereitungen zum Tode …«
»Die Hinrichtung ist schon widerrufen … ich will nicht, daß die Justiz Ihnen nicht das Wasser reicht!«
Collin blickte den Staatsanwalt erstaunt an und sah ihn schellen. »Werden Sie sich nicht fürchten?«
»Geben Sie mir Ihr Wort, es genügt! Und nun holen Sie die Frau.« Der Bürodiener erschien. »Felix, schicken Sie die Schutzleute fort!«
Collin war besiegt. In diesem Zweikampf wollte er der Stärkere, Großmütigere, Größere sein, aber der Beamte zermalmte ihn. Trotzdem fühlte sich der Sträfling überlegen, denn er betrog die Justiz, der er die Unschuld eines Schuldigen einredete und einen Kopf abjagte. Nur blieb diese Überlegenheit verborgen, während ihn der Richter majestätisch bei hellem Lichte niederschmetterte.
Eben war Collin hinausgegangen, da meldete sich der Generalsekretär des Premierministers Graf Des Lupeaulx, mit einem kleinen gebrechlichen Greise.
»Was gibt's denn, lieber Des Lupeaulx?« erkundigte sich der Staatsanwalt.
»Der Fürst schickt mich,« berichtete der Graf leise. »Sie haben freie Hand, die Briefe der Gräfin, der Herzogin und Fräulein Clotildens abzuhandeln. Verständigen Sie sich mit diesem Herrn dort.«
»Wer ist denn das?« flüsterte der Staatsanwalt zurück.
»Ich habe ja kein Geheimnis vor Ihnen: Also es ist der berühmte Corentin. Der König will nicht am Vorabend großer Ereignisse den Adel beschmutzt sehen … Das wird eine Staatsangelegenheit …«
»Sagen Sie nur, ich brauche den Herrn da nicht. Es war schon alles erledigt, als Sie kamen.«
»Dann werden Sie mindestens Justizminister, wenn der jetzige Justizminister Kanzler wird.«
»Ich habe keinen Ehrgeiz!« versetzte der Staatsanwalt. Des Lupeaulx lachte. »Erbitten Sie zu halb drei auf zehn Minuten eine Audienz für mich,« fügte Herr von Granville hinzu und geleitete den Grafen hinaus.
»Wenn der Herr Generalstaatsanwalt die Briefe hat, wird mein Eingreifen ja überflüssig,« bemerkte Corentin, als er mit Herrn von Granville allein war, der ihn mit begreiflicher Neugier betrachtete.
»Ein Mann wie Sie ist in einer so kitzligen Sache nie zu viel,« versetzte der Staatsanwalt, als er sah, daß Corentin alles begriffen oder gehört hatte. »Es handelt sich um einen mordsmäßig gewappneten Kerl und es gibt nur zwei Auswege: entweder ihn an uns fesseln, oder uns seiner endgültig entledigen.«
»So hatten wir beide denselben Gedanken, und das ist eine große Ehre für mich. Ich muß soviel und für so viele Leute Ideen haben, daß ich in der Fülle auch einmal auf einen geistvollen Mann treffen muß.« Er sagte das so trocken und eisig, daß der Staatsanwalt schwieg und die Erledigung eiliger Arbeiten in Angriff nahm. –
Als Collin im Vorsaal erschien, geriet Jakobine in begreifliches Erstaunen. Dieser Streich übertraf doch alles, was sie bei ihrem Neffen gewöhnt war. Collin nahm sie beim Arm, führte sie hinaus, und während er die Treppe hinablief, sagte er: »Bitte, nicht lange staunen! Wo sind Paccard und Prudentia?«
»Er bei der ›Roten‹ und sie zu Hause als mein Patenkind.«
»Also zur ›Roten‹. Paß auf, ob wir verfolgt werden …«
Die ›Rote‹ war die Witwe eines berühmten Mörders, die Collin ähnlich in der Hand hielt, wie all seine Leute. Er ließ sich bei ihr einen Wagen besorgen, Europa wurde herbeigeholt, und bald darauf saßen alle zusammen: Collin und seine Tante, Prudentia und Paccard in einer Droschke auf dem Wege zum Schlagbaum von Ivry.
»Wo sind die siebenhundertfünfzigtausend?« fragte ›Betrüg den Tod‹ mit einem Blick, der die beiden schuldbeladenen Seelen erzittern machte.
»In Sicherheit,« erwiderte Jakobine. »Ich habe sie heut früh der Romette gegeben.«
»Schön, dann verzeihe ich euch. Und nun hört zu. Es gibt in der Barbarastraße ein Haus der Frau Saint-Estève, das die Gonore verwaltet.«
»Die Frau des armen La Pouraille,« bemerkte Paccard.
»Der nun auch Theodors Schuld mit übernimmt. Das gestohlene Geld liegt dort versteckt und Ihr habt drei Nächte Zeit, es aus seiner Vermauerung im Keller herauszuholen. Du, meine Tochter,« wandte er sich an Prudentia, »bekommst von meiner Tante die siebenhundertfünfzigtausend zurück, gehst unter einem Vorwande in Esthers Haus, kletterst durch die Dachluke und den Kamin in das versiegelte Schlafzimmer deiner verstorbenen Herrin und versteckst das Geld in der Matratze ihres Bettes. Dann bist du den Diebstahl los, heiratest Paccard und wirst Besitzerin des Ladens in der Barbarastraße. In deinem Alter Hurenwirtin, das ist etwas für eine königliche Prinzessin,« fügte er bissig hinzu.
»Welche Güte! Es lebe der Dab!« rief Paccard.
Collin ließ die Droschke anhalten und das Pärchen aussteigen. Dann hieß er, kehrt machen und in den Justizpalast zurückfahren. Unterwegs sagte er: »Die Gonore wird als Hehlerin überführt, dafür bekommt sie fünf Jahre Weiberhaus mindestens. Daraufhin können wir das Haus erwerben. Vor allem aber gib mir jetzt die Muster der Ware. Trenne den Rock auf. Ich habe festgestellt, daß die zwei Handlanger von Bibi-Lupin, Godet und Ruffard, Mithelfer an dem Raubmord Crottat sind. Von den gestohlenen vierhundertfünfzigtausend nehmen wir dreihundert, der Rest wird gefunden, die beiden kommen ins Loch, und was fehlt, haben sie eben auf die Seite gebracht.«
»Ich errate,« sagte Jakobine, »du willst Bibi-Lupin verdrängen.«
»Ganz recht. Spute dich! Du bleibst bei der Roten, und wenn ein Gerichtsdiener nach Frau von Saint-Estève fragt, gibst du ihm die drei Packen Briefe. Das ›von‹ ist das Stichwort und er muß sagen: ›Gnädige Frau, ich komme vom Herrn Oberstaatsanwalt, Sie wissen schon, weshalb‹. Stell dich an die Tür und paß gut auf.«
»Hier sind die drei Briefe,« sagte Jakobine, die eben die letzte Naht am Futter ihres Rockes aufgetrennt hatte.
»Schön, also jetzt kann ich bei meinem ersten Auftreten als Komiker den Raubmord Crottat aufdecken, das Geld und die Schuldigen finden lassen und auch anscheinend Theodors Mordtat aufklären. Wir haben dann unseren Draht wieder und sitzen im Herzen der Polizei. Erst waren wir Wild, jetzt sind wir Jäger. Das ist alles. Der Kutscher bekommt drei Franken!«
Der Wagen hielt und während Jakobine erstaunt bezahlte, ging ›Betrüg den Tod‹ die Treppe hinauf. Als er aber unter das Gewölbe des Treppenabsatzes gelangte, um zum Staatsanwalt zu gehen, begegnete er Bibi-Lupin, der ebenfalls zu Herrn von Granville sollte und aus allen Wolken fiel, als er den Abbé hier auftauchen sah.
»Jetzt habe ich dich, du Schuft!« rief er.
»Ei ei!« meinte Collin spöttisch. Beide Gegner standen sich wie im Zweikampf gegenüber. Collin hatte die blitzschnelle Vorstellung, daß Herr von Granville ihn hätte verfolgen lassen, und der Gedanke, daß dieser Mann kleiner sei, als er es erwartete, bereitete ihm seltsame Qual. Bibi-Lupin sprang Collin an die Kehle, der aber warf ihn mit einem kurzen Hieb rücklings zu Boden. Bibi-Lupin war zu geschickt, um zu schreien. Er sprang auf, lief zum Ende des Ganges und winkte einem Schutzmann. Dann kehrte er zu seinem Feind zurück, der ihm ruhig zusah. Collin sagte sich: ›Vielleicht weiß Bibi-Lupin nichts, und dann muß meine Stellung geklärt werden.‹ Er fragte also: »Willst du mich verhaften? Wohin willst du mich führen?«
»Zu Herrn Camusot.«
»Schön, aber warum nicht gleich zum Oberstaatsanwalt? Das ist doch näher.«
Bibi-Lupin wußte sich oben nicht gut angeschrieben und war zufrieden, sich mit solchem Fange zeigen zu können. Er sagte also: »Gewiß ist mir das recht, aber da du dich ergibst, so laß dich auch fesseln.« Er zog Handschellen aus der Tasche. Collin hielt die Hände hin und ließ sie sich anlegen. »Aha, du bist guter Laune. Dann sage mal, wie du aus der Vogtei gekommen bist.«
»Herr von Granville hat mich auf Ehrenwort losgelassen.«
»Du scherzest wohl?«
Eben sagte Corentin zum Staatsanwalt: »Herr Graf, es ist jetzt schon eine Stunde her, daß unser Mann fort ist. Fürchten Sie nicht, daß er uns narrt?«
»Entweder kenne ich mich mit Menschen nicht aus, oder er kommt wieder; er hat mehr von mir zu erlangen, als er gibt …«
Da trat Bibi-Lupin ein: »Herr Graf, ich habe eine frohe Nachricht! Collin, der entwischt war, ist wieder eingefangen.«
»So also halten Sie Ihr Wort?« rief Collin Herrn von Granville zu. »Fragen Sie Ihren Agenten, wo er mich gefunden hat.«
»Zwei Schritte von hier, im Gewölbe,« antwortete Bibi-Lupin.
»Nehmen Sie dem Mann Ihre Stricke ab,« bestimmte Herr von Granville streng. »Bis zu neuem Befehl ist der Mann frei … Gehen Sie … Sie haben sich gewöhnt zu handeln, als ob Sie Justiz und Polizei in einer Person wären.« Er wandte dem Chef der Sicherheitspolizei den Rücken. Dieser wurde blaß, zumal als er einen Blick von Collin auffing, der ihn seinen Sturz ahnen ließ.
»Ich habe Sie hier in meinem Kabinett erwartet und Sie brauchen nicht zu zweifeln, daß ich mein Wort hielt, genau wie Sie,« wandte sich Herr von Granville an Collin.
»Anfangs zweifelte ich an Ihnen, aber ich habe schon eingesehen, daß ich Unrecht hatte. Ich bringe Ihnen mehr, als Sie mir geben, also hatten Sie keinen Vorteil, mich zu täuschen.«
Der Beamte tauschte einen Blick mit Corentin und dadurch wurde er auf die Persönlichkeit aufmerksam, die in einer Ecke in einem Sessel hockte. Der Instinkt, der einem die Gegenwart eines Feindes verrät, ließ ihn sofort diesen Menschen betrachten. Er erkannte eine Verkleidung, und so hatte er in einem Augenblick seine Rache für die Demaskierung, die Corentin damals bei Peyrade gelungen war. »Wir sind nicht allein, und ich glaube, es handelt sich um eine alte Bekanntschaft … Nicht wahr?«
Er machte noch einen Schritt und erkannte Corentin, den wahren, anerkannten Urheber von Luciens Tod. Collins rotes Gesicht wurde in dem Bruchteil eines Augenblicks fast weiß: alles Blut strömte ihm zum Herzen, so glühend packte ihn der Wunsch, sich auf dies gefährliche Tier zu stürzen und es zu zertreten. Aber mit der ihm eigenen furchtbaren Kraft unterdrückte er diesen brutalen Drang, nahm ein liebenswürdiges Gesicht an und grüßte den Greis mit der gefälligen Höflichkeit, die er sich mit seiner Rolle als Geistlicher angewöhnt hatte: »Herr Corentin, danke ich dem Zufall das Vergnügen dieser Begegnung, oder sollte ich gar das Glück haben, die Ursache Ihres Besuches hier zu sein?«
Das Staunen des Staatsanwalts erreichte seinen Gipfel; er mußte unwillkürlich die beiden Männer beschauen, die sich vor ihm gegenüberstanden: Collins Worte verrieten eine Krise, deren Grund er gern durchschaut hätte, Corentin dagegen schnellte wie eine getretene Schlange auf, als er sich so wunderbar jäh erkannt sah. »Ja, ich bin's, mein lieber Abbé Carlos Herrera.«
»Sollten Sie zwischen dem Herrn Generalstaatsanwalt und mir vermitteln wollen? Sollte ich das beglückte Objekt einer Ihrer berühmten Verhandlungen sein? – Aber hier, Herr Graf, damit keine kostbare Zeit verloren geht, lesen Sie! Hier ist eine Probe meiner Ware …« Er reichte Herrn von Granville die drei Briefe. »Während Sie davon Kenntnis nehmen, gestatten Sie mir bitte, mit dem Herrn zu plaudern.«
»Zu viel Ehre,« meinte Corentin, der unwillkürlich erschauderte.
»Sie hatten in dieser Sache vollen Erfolg, aber einige Ihre Leute sind auf dem Kampfplatz geblieben … Der Sieg war kostspielig …«
»Ja,« nahm Corentin den Scherz auf, »Sie haben Ihre Königin verloren, aber ich verlor dafür zwei Türme.«
»O nein, Contenson war nur ein Bauer,« spottete Collin. »Gestatten Sie mir, Ihnen dies Lob offen auszusprechen: Sie sind auf Ehre ein großartiger Mensch!«
»Nein, nein, ich beuge mich vor Ihrer Überlegenheit,« meinte Corentin, als ob er spaßte. »Ich verfüge ja über alles, Sie aber stehen allein und doch hätten Sie fast gesiegt. Und was für Hilfskräfte wissen Sie aufzutreiben! Was gäbe ich darum, eine Köchin zu haben wie die der armen kleinen Esther … Wo treiben Sie Schönheiten auf wie das Mädel, das eine Weile für die kleine Jüdin einspringen mußte?! Nein, jedes Lob ist noch zu gering! Sie haben ja sogar Peyrade getäuscht, so, daß er Sie für einen Polizeioffizier hielt … Aber nun genug von unseren Lobsprüchen … wir stehen beide jetzt allein da, ich ohne meinen alten Freund, Sie ohne Ihren jungen Schützling. Wohl bin ich jetzt der Stärkere, aber warum sollen wir nicht gemeinsame Sache machen? Ich strecke Ihnen meine Hand hin, biete Ihnen vor dem Herrn Staatsanwalt volle Begnadigung und Sie werden mein Helfer, vielleicht mein Nachfolger.«
»Also Sie schlagen mir eine Stellung vor?« entgegnete Collin. »Eine schöne Stellung! Aus braun wird blond …«
»Sie kommen in eine Umgebung, wo Ihre Gaben Schätzung und Belohnung finden, wo Sie nach Belieben handeln können. Die politische Polizei ist nicht gefahrlos: auch ich habe schon zweimal gesessen! Aber man reist, ist überall, wo man will, setzt politische Dramen in Szene, wird von großen Herren höflich behandelt … Liegt Ihnen das nicht, lieber Collin?«
»Haben Sie diesbezüglich Befehle?«
»Ich habe Vollmacht …« versetzte Corentin, den diese Eingebung beglückte.
»Sie scherzen und werden mein Mißtrauen nicht übelnehmen. Ich kenne Ihre Säcke, in die Sie einen klettern lassen …«
»Schön, aber Sie trauen doch dem Herrn Generalstaatsanwalt?«
»Gewiß,« verbeugte sich Collin achtungsvoll. »Ich bewundere ihn, gäbe mein Leben hin, um ihn glücklich zu machen, und will daher damit beginnen, alle Gefahren von Frau Sérizy abzuwenden.« Der Staatsanwalt machte eine Bewegung höchster Freude.
»Schön, fragen Sie ihn,« fuhr Corentin fort, »ob ich nicht die Vollmacht habe, Sie Ihrer schimpflichen Lage zu entreißen und an mich zu fesseln.«
»Ganz recht,« sagte Herr von Granville und beobachtete den Sträfling.
»Zwischen uns beiden kann kein Mißverständnis bestehen,« versetzte Corentin mit soviel Großmut, daß jeder darauf hereingefallen wäre.
»Und der Lohn ist natürlich die Herausgabe der drei Schriftwechsel?«
»Das brauche ich doch wohl nicht zu sagen.«
»Mein lieber Herr Corentin,« sagte ›Betrüg den Tod‹ mit vollendetem Spott, »ich danke Ihnen, bin Ihnen für Ihre Anerkennung tief verbunden und freue mich über den Wert, den Sie darauf legen, mich meiner Waffen zu berauben. Ich werde das nie vergessen, bin Ihnen stets zu Diensten und muß Sie umarmen.« Er packte Corentin so schnell, daß dieser sich nicht wehren konnte, preßte ihn wie ein Spielzeug an sich, küßte ihm beide Backen, nahm ihn dann mit einer Hand wie eine Feder, öffnete mit der anderen die Tür und setzte ihn ganz zermalmt draußen auf den Gang. »Leben Sie wohl, Liebster,« flüsterte er. »Uns trennen drei Gräber. Wir haben die Degen gekreuzt, beide sind von gleicher Härte, gleicher Länge … Achten wir uns also. Aber ich will Ihnen gleichstehen, nicht Ihr Untergebener sein. Mit Ihren Waffen sind Sie mir als Vorgesetzter zu gefährlich. Also lieber einen Graben zwischen uns und wehe Ihnen, wenn Sie mir ins Gehege kommen!«
Corentin stand zum erstenmal in seinem Leben dumm da und ließ sich von seinem schrecklichen Gegner die Hand schütteln. »Dann wäre es für beide am vorteilhaftesten, Freunde zu bleiben …«
»Wenn jeder auf seiner Seite bleibt, sind wir stärker und gefährlicher. Gestatten Sie, daß ich mir morgen mein Handgeld auf unser Geschäft hole …«
»Ich sehe schon,« meinte Corentin gutmütig: »Sie überlassen meine Sache dem Herrn Staatsanwalt. Sie werden die Ursache zu seiner Beförderung sein und ich kann nicht verschweigen, daß Sie den rechten Weg gehen … Bibi-Lupin ist schon zu bekannt und abgenutzt, und seine Stellung schüfe Ihnen die geeignetsten Lebensbedingungen. Ich bin entzückt, Sie auf diesem Posten zu sehen …«
»Auf baldiges Wiedersehen,« sagte Collin. – Als er sich umwandte, sah er den Staatsanwalt am Schreibtisch sitzen und den Kopf mit den Händen stützen.
»Könnten Sie wirklich Frau von Sérizy vor dem Wahnsinn bewahren?« fragte Herr von Granville.
»In fünf Minuten.«
»Und können Sie mir all diese Briefe herausgeben?«
»Haben Sie die drei gelesen?«
»Ja, und ich schäme mich für die Damen, die sie geschrieben haben …«
»Schön, wir sind jetzt allein: lassen Sie niemanden vor, dann wollen wir verhandeln.«
Herr von Granville schellte und beauftragte den Bürodiener, Herrn Camusot zu rufen. Dann meinte er: »Also jetzt zum Ende! Ich möchte das Mittel kennen lernen, mit dem Sie die Gräfin heilen wollen.«
»Herr Staatsanwalt,« sagte Collin, der ernst geworden war, »wie Sie wissen, war ich wegen einer Fälschung zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden. Dadurch, daß ich ausbrach und wieder ergriffen wurde, verbrachte ich sieben Jahre im Bagno. Sie brauchen mich also nur für Zusatzstrafen begnadigen zu lassen, denn tatsächlich habe ich meine Strafe abgebüßt, und bis mir irgendein schlimmer Streich nachgewiesen wird, müßte ich wieder in meine Rechte als Bürger eingesetzt werden. Sie kennen meine Fähigkeiten. Als ich nun heut Nacht die eisige Hand des jungen Toten in meinen Händen hielt, versprach ich mir selbst, auf den sinnlosen Kampf zu verzichten, den ich seit zwanzig Jahren gegen die ganze Gesellschaft führe. In dieser Zeit habe ich die Kehrseite der Welt kennen gelernt. Jede schlechte Handlung sah ich durch irgendeine Rache vergolten, sah den Spieler mit den schönsten Trümpfen in der Hand vom Schlage getroffen werden: das ist Luciens Geschichte.
»In diesem Augenblick wird Jakob Collin mit Lucien begraben … Aber ich brauche einen Platz, nicht um zu leben, sondern um zu sterben … Bis jetzt habe ich trotz meiner Bereitwilligkeit, auf den Kampf mit dem Gesetz zu verzichten, den Platz an der Sonne für mich noch nicht gefunden. Nur einer paßt für mich: ich muß mich zum Diener der Macht machen, die auf uns lastet. Drei große Familien sind in meiner Hand. Glauben Sie nicht, daß ich an ihnen Erpressung üben will … Die Erpressung ist die gemeinste Form des Mordes, ja, in meinen Augen ein noch schändlicheres Verbrechen als der Mord, denn der Mörder braucht wilden Mut. Diese Briefe, die mich sichern und mir gestatten, derart mit Ihnen zu reden, diese Briefe stehen Ihnen zur Verfügung. Ihr Bürodiener kann sie in Ihrem Auftrage holen und bekommt sie ausgeliefert … Ich verlange dafür kein Lösegeld, ich verkaufe sie nicht! Als ich sie beiseite tat, dachte ich ja nicht an mich, sondern an die Gefahr in die eines Tages Lucien geraten könnte! Entsprechen Sie meiner Bitte nicht, dann habe ich wieder reichlich Mut und Lebensverachtung, um mir eine Kugel durch den Kopf zu jagen und Sie meiner zu entledigen … Ich könnte auch nach Amerika gehen und in der Wildnis leben, denn ich besitze alle Gaben dafür … Das waren meine Gedanken heut Nacht … Als ich sah, wie sorgfältig Sie Luciens Andenken zu retten suchten, weihte ich Ihnen – ein armseliges Geschenk! – mein Leben! Ohne das Licht, das es erleuchtete, war es für mich wertlos geworden, und ich wollte Ihnen die drei Briefpacken geben …«
Herr von Granville beugte den Kopf.
»Da entdeckte ich unten im Hofe die Täter von dem Verbrechen, dessen Theodor beschuldigt ist, sah ihn, der unfreiwillig hingezerrt worden war, unter dem Fallbeil,« fuhr Collin fort. »So stellte ich fest, daß Bibi-Lupin die Justiz hintergeht, daß einer seiner Agenten der Mörder der Crottats ist. Damit eröffnete sich mir die Möglichkeit, Gutes zu tun, meine Gaben und traurigen Erfahrungen in den Dienst der Gesellschaft zu stellen, nützlich statt schädlich zu sein; und ich wagte, auf Ihre Einsicht, auf Ihre Güte zu zählen.«
Die freie, naive, schlichte Art dieses Mannes, der ohne die Bitterkeit, ohne die Philosophie des Lasters beichtete, die seine Worte sonst so schrecklich machten, verrieten eine völlige Umwandlung. Das war nicht mehr er. Mit der Demut eines Büßenden fuhr er fort: »Ich glaube so fest an Sie, daß ich mich Ihnen völlig zur Verfügung stellen will. Bibi-Lupin ist abgedient, hat ein doppeltes Gesicht, und wenn Sie mich gegen ihn vorgehen lassen, habe ich ihn in acht Tagen ertappt. Ich werde ehrlich sein, besitze alle Gaben für dies Amt und, zum Unterschied von Bibi-Lupin, auch Bildung. Ich habe keinen anderen Ehrgeiz mehr, als ein Element der Ordnung, statt der Verderbnis zu sein. Also entscheiden Sie sich …« Und Collin nahm eine ergebene, bescheidene Haltung an.
»Haben Sie mir die Briefe zur Verfügung gehalten?« fragte der Staatsanwalt.
Collin las in dem Herzen seines Gegenübers und setzte sein Spiel fort: »Schicken Sie einen Vertrauensmann zum Blumenkai; an der Schwelle eines Eisenwarenladens ›Zum Schild des Achilles‹ findet er eine Alte im Gewande eines wohlhabenden Fischweibes. Er muß sie nach Frau von Saint-Estève fragen (vergessen Sie das von nicht) und sagen: ›Ich komme vom Generalstaatsanwalt, weshalb, wüßten Sie schon‹ … Dann erhalten Sie sofort drei versiegelte Pakete …«
»Sind da alle Briefe darin?«
»Sie sind tüchtig, Sie haben Ihre Stellung nicht gestohlen,« lächelte Collin. »Aber Sie kennen mich nicht! Ich vertraue mich Ihnen an, wie der Sohn seinem Vater …«
»Schön, Sie kommen jetzt wieder in die Vogtei zurück und erwarten die Entscheidung über Ihr Schicksal.« Der Staatsanwalt klingelte und sagte zu dem Bürodiener: »Bitten Sie Herrn Garnery her, wenn er da ist.«
Sein Sekretär, Herr von Chargeboeuf, war zu Luciens Beerdigung; deshalb ließ er einen der zwei Vertrauensleute rufen.
»Herr Oberstaatsanwalt,« begann Collin von neuem. »Ich habe Ihnen den Beweis gegeben, daß ich meine Ehre habe … Sie haben mich freigelassen und ich kam zurück … Eben ist es elf, Luciens Totenmesse ist zu Ende und der Zug setzt sich nach dem Friedhof in Bewegung … Würden Sie mir, statt mich in die Vogtei zu schicken, gestatten, daß ich die Leiche des teuren Kindes zum Friedhof begleite? Ich komme wieder in das Gefängnis zurück …«
»Gut, gehen Sie,« sagte Granville voller Güte in der Stimme.
»Noch ein letzes Wort: das Geld von Luciens Geliebten ist nicht gestohlen worden … Ich benutzte die kurze Zeit meiner Freiheit, die Sie mir bewilligt haben, um die Leute zu verhören, auf die ich mich verlassen kann, wie Sie sich auf Ihre Leute verlassen. Man wird also den Erlös der Rentenpapiere in Fräulein Gobsecks Zimmer finden, wenn die Siegel gelöst werden. Das Zimmermädchen sagte mir, daß die Verstorbene sehr mißtrauisch war und das Geld sicher im Bett verborgen hat. Sucht man das genau durch, öffnet man die Matratzen oder Kissen, dann wird das Geld gefunden …«
»Sind Sie sicher?«
»Auf die verhältnismäßige Ehrlichkeit meiner Schufte kann ich bauen … Ich habe das Recht über Leben und Tod bei ihnen … Das ist meine Macht. Ich werde auch das Geld finden, das bei den Crottats gestohlen wurde; ich überführe Bibi-Lupins Agenten, kläre Theodors Mord auf … Das ist mein Handgeld! Stellen Sie mich in den Dienst der Justiz und Polizei, dann werden Sie sich selbst zu meiner Enthüllung in einem Jahre beglückwünschen. Und ich werde in allem, was mir anvertraut ist, Erfolg haben.«
»Ich kann nur mein Wohlwollen versprechen, denn der König allein hat das Recht, auf den Bericht des Justizministers hin zu begnadigen, der Polzeipräfekt hat die von Ihnen erstrebte Stellung zu vergeben.«
Der Bürodiener meldete Herrn Garnery, der gleich darauf eintrat und mit Erstaunen sah, daß Herr von Granville Collin mit einem »Gehen Sie!« fortschickte. »Gestatten Sie, daß ich bleibe, bis Herr Garnery Ihnen gebracht hat, was meine ganze Macht darstellt?«
Diese Demut, dies völlige Vertrauen rührte den Staatsanwalt: »Gehen Sie nur, ich bin Ihrer sicher.«
Collin grüßte tief und mit der vollkommenen Unterwerfung des Untergebenen. Wenige Minuten später war Herr von Granville im Besitze der drei Briefpacken.
Als Collin draußen war, empfand er ein unbeschreibliches Wohlbehagen. Er fühlte sich frei, wie neugeboren, und eilte mit schnellem Schritt zur Kirche, wo gerade die Messe zu Ende war und die Bahre mit Weihwasser benetzt wurde. Nach diesem christlichen Abschied stieg er in einen Wagen und folgte der Leiche zum Grabe, das neben dem von Esther offen stand. »Zwei Wesen, die sich liebten und glücklich waren!« sagte Collin. »Nun sind sie vereint. Welch Glück immerhin, gemeinsam zu verfaulen. Ich werde mich auch dorthin legen lassen.«
Als Luciens Sarg hinabgelassen wurde, fiel Collin ohnmächtig zu Boden. Der starke Mann vertrug nicht das leise Geräusch der Erdschollen, die von den Totengräbern darüber geschüttet wurden. In diesem Augenblick erschienen zwei Agenten der Sicherheitspolizei, erkannten Collin, packten ihn und trugen ihn in eine Droschke.
»Was ist denn hier los?« fragte Collin, als er zum Bewußtsein zurückkehrte und sich in der Droschke sah. Er erblickte sich zwischen den zwei Agenten. Der eine war just Ruffard.
»Der Generalstaatsanwalt hat nach Ihnen gefragt,« erwiderte Ruffard, »man hat überall nach Ihnen gesucht und hat Sie erst auf dem Friedhof gefunden, wo Sie gerade kopfüber in das Grab stürzen wollten.«
Collin schwieg eine Weile und fragte dann den anderen Agenten: »Hat mich Bibi-Lupin suchen lassen?«
»Nein, Herr Garnery schickte uns; er meinte, Sie wären wohl noch in der Kirche, bei der Leichenfeier, sonst aber wohl auf dem Friedhof.«
»Vielleicht hat der Generalstaatsanwalt nach mir gefragt? So wird es wohl sein, er braucht mich ja.«
Er verfiel wieder in Schweigen, worüber die beiden Agenten recht unruhig wurden. Um halb drei etwa trat er in das Kabinett von Herrn von Granville, und fand dort Herrn von Bauvan.
»Haben Sie vergessen, in welcher Gefahr sich Frau von Sérizy befindet, die Sie doch zu retten versprachen?!«
»Herr Staatsanwalt, fragen Sie bitte die beiden Käuze hier, in welchem Zustand Sie mich gefunden haben.«
»Bewußtlos am Grabe des jungen Mannes, der eben beerdigt wurde.«
»Also retten Sie Frau von Sérizy,« sagte Herr von Bauvan, »dann erhalten Sie alles, was Sie wollen.«
»Ich will nichts,« versetzte Collin, »ich habe mich auf Gnade und Ungnade ergeben und der Herr Generalstaatsanwalt ist wohl im Besitz …«
»Sämtlicher Briefe,« sagte Herr von Granville. »Aber Sie wollten den Verstand von Frau von Sérizy retten. Ist das nicht Aufschneiderei?«
»Ich hoffe es zu können,« antwortete Collin bescheiden.
»Schön, dann kommen Sie mit,« sagte Graf Bauvan.
»Nein, ich fahre nicht mit Ihnen in einem Wagen … Noch bin ich Sträfling. Ich beginne nicht meinen Dienst, indem ich die Gerichtsbarkeit umgehe. Gehen Sie zur Gräfin, ich komme bald nach … Melden Sie ihr den besten Freund Luciens, den Abbé Carlos Herrera. Das Vorgefühl meines Besuches macht sicher auf sie Eindruck und begünstigt die Krise. Verzeihen Sie, wenn ich noch einmal trügerisch das Priestergewand verwende, aber es muß einen großen Dienst leisten!«
»Ich treffe Sie dort gegen vier Uhr,« sagte Herr von Granville, »denn ich muß mit dem Justizminister zum König.«
Collin nahm einen Wagen und fuhr in seine Wohnung. Er stieg hastig in sein Zimmer hinauf und nahm dann aus dem Einbande eines Breviers einen Brief, den Lucien an Frau von Sérizy gerichtet hatte, als er bei ihr in Ungnade gefallen war. In seiner Verzweiflung hatte er darauf verzichtet, den Brief abzuschicken, weil er glaubte, alles sei aus. Aber Collin hatte dies Meisterwerk gelesen, und da ihm jedes Wort, das Lucien schrieb, heilig war, so hatte er den Brief wegen der poetischen Beschreibungen dieser Eitelkeitsliebe in sein Brevier getan. Als er dann durch Herrn von Granville von Frau von Sérizys Zustand hörte, kam er kraft seiner Menschenkenntnis auf den richtigen Gedanken, daß die ganze Verzweiflung und Geistesverwirrung der Dame von dem Streite kommen müsse, den sie zwischen sich und Lucien hatte fortbestehen lassen. Er kannte die Frauen wie ein Beamter die Verbrecher, ahnte die geheimsten Regungen des Herzens und dachte gleich, daß die Gräfin ihrer Härte einen wesentlichen Anteil an Luciens Tode zuschreiben müsse und sich deshalb die bittersten Vorwürfe mache. Ein Mann, mußte sie sich sagen, der von ihr mit Liebe überschüttet wurde, hätte sich sicher nicht getötet. Wenn sie sich aber bis zuletzt geliebt sah, dann konnte ihr das den Verstand wiedergeben.
Man muß gestehen, daß Collin mindestens ebenso groß als Seelenarzt wie als Herr der Verbrecherwelt war. Daß er in den Räumen der Sérizys erschien, war zugleich eine Schande und eine Hoffnung. Mehrere Personen, der Graf und die Ärzte befanden sich in dem kleinen Salon neben dem Schlafzimmer der Gräfin. Damit aber jeder Ehrenmakel vermieden wurde, schickte Graf Bauvan alle weg und blieb mit seinem Freunde allein. Es war für den Ratspräsidenten schon ein recht empfindlicher Schlag, diese düstere, unheimliche Persönlichkeit eintreten zu sehen.
Collin hatte sich umgekleidet, war ganz in Schwarz, und seine Bewegungen zeigten vollendeten Anstand. Er grüßte die beiden Staatsmänner und fragte, ob er bei der Gräfin eintreten dürfe.
»Sie erwartet sie mit Ungeduld,« sagte Graf Bauvan.
»Mit Ungeduld? Dann ist sie gerettet.«
Wirklich öffnete Collin nach halbstündiger Besprechung die Tür und sagte: »Kommen Sie, Herr Graf, Sie haben kein Mißgeschick mehr zu fürchten.«
Die Gräfin hatte den Brief an ihr Herz gepreßt, war ruhig und schien mit sich selbst versöhnt. Bei ihrem Anblick entfuhr dem Grafen eine Bewegung voll Beglücktheit.
»So sind die Leute, die unser und der Völker Geschick entscheiden!« dachte Collin achselzuckend. »Ein Augenrollen verdreht ihnen den Kopf! Die Frau mit ihrem Henkergenie, ihren Foltertalenten ist und wird alle Zeit das Verderben des Mannes sein.« Er lächelte hochmütig. »Und so werden sie mir Glauben schenken, meinen Enthüllungen gehorchen, mir meine Stellung lassen! Ich werde alle Zeit über diese Welt herrschen, die mir seit fünfundzwanzig Jahren gehorcht …«
Er hatte die überragende Macht benutzt, die er einst über die arme Esther besessen hatte. Er hatte Lucien als einen Liebenden geschildert, der das Bild der Gräfin mit in das Jenseits hinüber genommen hatte. Keine Frau vermag dem Gedanken zu widerstehen, daß sie allein geliebt wird. »Jetzt haben Sie keine Nebenbuhlerin mehr!« war das letzte Wort des kalten Spötters gewesen.
Eine ganze Stunde blieb er, völlig vergessen, in dem Salon. Herr von Granville kam schließlich und fand ihn aufrecht, düster in Träumereien versunken. Der Staatsanwalt trat zu ihm und fragte: »Bleiben Sie bei ihren Absichten?«
»Jawohl, Herr Graf.«
»Schön, Sie bekommen die Stelle bei Bibi-Lupin und der verurteilte Theodor wird begnadigt … Sie dürfen ihn sogar bei sich in Dienst nehmen, aber die Begnadigung und ihre Ernennung hängt von Ihrem Verhalten während der nächsten sechs Monate ab, in denen Sie Bibi-Lupin beigeordnet bleiben.«
In acht Tagen brachte der Helfer von Bibi-Lupin einige hunderttausend Franken der Familie Crottat zutage und lieferte Ruffard und Godet aus.
Der Erlös von Esther Gobsecks verkauften Rentenpapieren fand sich im Bett der Kurtisane, und Herr von Sérizy ließ Collin die dreihunderttausend Franken überweisen, die Luciens Testament für diesen bestimmte.
Das von Lucien für Esther und ihn selbst bestellte Grabdenkmal gilt als eines der schönsten auf dem Friedhofe und die Stelle zu Füßen der beiden gehört Jakob Collin. Nachdem Collin etwa fünfzehn Jahre lang seinen Dienst getan hatte, zog er sich gegen 1845 zurück.