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Vierter Teil:
Vautrins letzte Verkörperung.


7. Die Geheimnisse des Gefängnishofes.

Ameliens Pläne.

»Was gibt's, Magdalene?« fragte Frau Camusot, als sie ihr Zimmermädchen mit dem bekannten Gesicht eintreten sah, das Leute in kritischen Lagen anzunehmen wissen.

»Gnädige Frau,« erwiderte Magdalene, »eben kommt der Herr vom Gericht; aber er sieht so durcheinander aus und befindet sich in einem derartigen Zustande, daß die gnädige Frau vielleicht gut täte, in seinem Arbeitszimmer nach ihm zu sehen.«

»Hat er irgend etwas gesagt?« fragte Frau Camusot.

»Nein, gnädige Frau. Aber nie haben wir beim Herrn solches Gesicht gesehen; es sieht aus, als ob eine Krankheit im Anzuge wäre. Er ist gelb, er ist ganz aufgelöst und …«

Frau Camusot wartete nicht ab, bis sie zu Ende gesprochen hatte. Sie stürzte aus dem Zimmer und lief zu ihrem Mann. Sie sah den Untersuchungsrichter in einem Sessel sitzen: Er streckte alle vier von sich, stützte den Kopf auf seine Akten, seine Arme pendelten, sein Gesicht war bleich, seine Augen starrten, kurz, er machte vollkommen den Eindruck, als wäre er ohnmächtig zusammengebrochen.

»Was hast du, lieber Freund?« rief die junge Frau erschreckt.

»Ach, meine arme Amelie, etwas Schreckliches ist geschehen … ich zittere noch! Denke dir nur, der Generalstaatsanwalt … nein, Frau von Sérizy … nein … ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll …«

»So fange beim Ende an …!« sagte Frau Camusot.

»Schön. Also eben hatte der Richter im ersten Beratungszimmer die notwendige Unterschrift unter das Freilassungsurteil gesetzt, auf das hin Lucien entlassen werden sollte … Kurz, alles war schon erledigt, der Schreiber stellte das Schreibzeug weg, ich sollte die ganze Geschichte los sein … Da kommt plötzlich der Vorsitzende des Gerichts in die Stube, sieht das Urteil durch und sagt mit eisigem Spott: ›Sie lassen einen Toten frei! Der junge Mann ist, nach der bekannten Redensart, vor seinen natürlichen Richter getreten. Er ist einem jähen Schlagfluß erlegen …‹

»Ich atmete auf, denn ich dachte, es sei ein Unglück geschehen.

»›Wenn ich richtig verstehe, Herr Präsident,‹ bemerkte der Richter, ›so handelt es sich also hier um den bekannten Schlagfluß durch einen Strick …‹

»›Meine Herren‹, versetzte der Präsident gewichtig, ›merken Sie sich: für die ganze Welt ist Herr Rubempré durch den Bruch eines Aneurisma gestorben.‹ Wir guckten uns alle an. ›In diese bedauerliche Angelegenheit sind sehr hohe Persönlichkeiten verwickelt,‹ sagte der Präsident. ›Gebe Gott in Ihrem Interesse, Herr Camusot, – obgleich Sie ja nur Ihre Pflicht getan haben, – daß Frau von Sérizy nicht infolge des Schlages, der ihr widerfahren ist, geisteskrank wird! Sie ist fast tot fortgebracht worden. Eben traf ich unseren Generalstaatsanwalt in einem Zustande der Verzweiflung, der mir wehe tat. – Sie haben links vorbeigestochen, lieber Camusot, flüsterte er mir ins Ohr.‹

»Liebste Freundin, als ich fortwollte, konnte ich kaum kriechen. Meine Beine zitterten derartig, daß ich mich nicht auf die Straße wagte und mich in mein Kabinett schleppte, um mich auszuruhen. Der Gedanke, durch die Art, wie ich den jungen Mann, der unter uns gesagt durchaus schuldig war, ausgefragt habe, könnte ich an seinem Selbstmord schuld sein, hat mich nicht mehr losgelassen, und ich war jeden Augenblick dicht daran, in Ohnmacht zu fallen, auch nachdem ich das Gericht verlassen hatte …«

»Du wirst dir doch nicht etwa einbilden, ein Mörder zu sein, weil sich ein Angeklagter im Gefängnis aufhängt, während du ihn gerade freilassen wolltest …?!« rief Frau Camusot. »Ein Untersuchungsrichter befindet sich in solchem Fall in derselben Lage wie ein General, dem ein Pferd unter dem Leibe getötet wurde … weiter nichts!«

»Deine Vergleiche, liebes Kind, sind zum Spaßen sehr nett, aber Spaß ist hier recht unzeitgemäß. ›Der Tote zieht die Lebendigen nach sich‹, heißt's in diesem Falle. Lucien nimmt unsere Hoffnungen mit in seinen Sarg.«

»Wirklich? …« meinte Frau Camusot mit tiefstem Spott.

»Ja, meine Laufbahn ist beendet. Ich bleibe mein Lebelang simpler Untersuchungsrichter. Herr von Granville war schon vor diesem unglückseligen Zwischenfall sehr unzufrieden mit der Wendung, die die Untersuchung genommen hatte. Aber seine Bemerkung zu unserem Präsidenten beweist mir, daß ich niemals vorwärts kommen werde, solange Herr von Granville Generalstaatsanwalt bleibt!«

Vorwärtskommen! So heißt das schreckliche Wort, heißt der Gedanke, der heutzutage den Richter zum Beamten macht.

»Und warum solltest du nicht vorwärts kommen?« spottete Amelie. Sie blickte ihren Mann scherzend an, denn sie merkte, wie nötig es war, ihm Schwung zu geben, ihm, der der Träger ihres Ehrgeizes war und den sie wie ein Instrument benutzte. »Warum verzweifeln?« fuhr sie fort und machte eine Bewegung, die ihre Gleichgültigkeit über den Tod des Angeklagten deutlich genug zeigte. »Dieser Selbstmord beglückt zwei Feindinnen von Lucien: Frau d'Espard und ihre Kusine, die Gräfin Du Châtelet.«

»Aber Herr und Frau von Sérizy!« rief der arme Richter. »Die arme Frau ist doch verrückt geworden, ich wiederhole es dir, und durch meine Schuld verrückt geworden heißt es!«

»Wenn sie verrückt ist, du urteilsloser Richter,« lachte Frau Camusot, »dann kann sie dir doch auch nicht schaden! Komm, erzähle mir, was heute alles vorgefallen ist.«

Aufmerksam hörte sie sich seinen stockenden Bericht an. Als er dann aber verzweifelt schwieg, meinte sie spöttisch:

»Glaubst du die Sache damit wirklich erledigt?«

Camusot blickte sie an, wie ein Bauer einen Marktschreier anstarrt.

»Wenn die Herzogin von Maufrigneuse und die Gräfin von Sérizy bloßgestellt sind, mußt du in beiden Beschützerinnen haben,« fuhr Amelie fort. »Sieh mal: Frau d'Espard wird für dich eine Audienz beim Kanzler durchsetzen, wo du ihm das Geheimnis anvertraust und er wird damit den König unterhalten; denn alle Herrscher haben ihren Spaß daran, hinter die Kulissen zu gucken und die wahren Gründe der Ereignisse zu kennen, die das Publikum mit Staunen-geöffnetem Munde anstiert. Dann brauchen wir weder den Generalstaatsanwalt noch Herrn von Sérizy mehr zu fürchten …«

»Was für einen Schatz habe ich doch an dir!« rief der Untersuchungsrichter, der wieder Mut schöpfte. »Eigentlich habe ich ja Jakob Collin aufgespürt, ich kann jetzt seine Sache vor die Geschworenen bringen und werde seine Schandtaten aufdecken. Das ist ein Sieg in der Laufbahn eines Untersuchungsrichters, den solch ein Prozeß …«

»Camusot,« versetzte Amelie, die mit Vergnügen bemerkte, daß er aus der moralischen und körperlichen Zerschmetterung wiedererstanden war, in die ihn Luciens Selbstmord gestürzt hatte, »der Präsident hat dir eben erst gesagt, daß du links vorbeigestochen hast, und jetzt gehst du viel zu stark nach rechts … du kommst wieder auf den falschen Weg, lieber Freund!«

Der Untersuchungsrichter blieb aufrecht vor ihr stehen und blickte seine Frau ganz verdöst an.

»Der König und der Kanzler können über die Mitteilung des Geheimnisses sehr zufrieden sein und doch recht ärgerlich werden, wenn sie erleben, daß die Vertreter freisinniger Anschauungen vor dem Gericht und der Öffentlichkeit durch Verteidigungsreden so gewichtige Persönlichkeiten, wie die Sérizys, Maufrigneuses und Grandlieus, kurz all die Leute, die mehr oder weniger unmittelbar mit den Vorgängen des Prozesses in Berührung stehen, vor die Schranken zerren.«

»Alle sind darein verschlungen! … Alle halte ich in der Hand!« rief Camusot.

Der Richter stand auf und ging mit theatralischem Schritt durch seine Stube, wie einer, der sich einer üblen Lage zu entziehen sucht. »Hör' mal, Amelie,« fuhr er dann fort, indem er sich vor seine Frau hinstellte, »da fällt mir eben eine Kleinigkeit ein, die zunächst winzig aussieht, die aber in meiner Lage geradezu ausschlaggebend sein kann. Denke dir, liebes Kind, dieser Jakob Collin ist ein Riese an List und Verstellung … ein ganz Geriebener … mit allen Hunden gehetzt …! So einen Verbrecher habe ich noch nie gesehen …! Er hat mich fast hineingelegt! … Aber bei solcher Kriminaluntersuchung schlüpft manchmal ein Faden vorbei, der zu dem Knäuel führt, mit dessen Hilfe man durch das düsterste Gewissenslabyrinth, durch den dunkelsten Urwald von Tatsachen sich hindurchfinden kann. Als mich Collin die Briefe durchblättern sah, die in Luciens Wohnung beschlagnahmt worden sind, da warf der Kerl einen Blick darauf, wie wenn er sehen wollte, ob noch ein anderer Packen dabei sei, und dann verriet er sichtlich Befriedigung. Dieser Diebsblick, der einen Schatz wägt, diese Angeklagtenbewegung, die da sagt: ›Ich habe meine Waffen an der Hand‹, ließ mich eine ganze Welt von Möglichkeiten begreifen. Nur ihr Frauen könnt, wie wir mit den Angeklagten, solche Blicke wechseln, ganze Szenen vorführen, in denen die verzwicktesten Betrügereien sich enthüllen. Siehst du, in einer Sekunde türmen sich dann ganze Bände von Verdachtsgründen. Das ist schrecklich, da geht's in einem Augenblick um Tod und Leben. Und sofort sagte ich mir: ›Dieser Schuft hat noch andere Briefe in Händen!‹ Dann beschäftigte ich mich mit sonstigen Einzelheiten und kümmerte mich um den Zwischenfall nicht mehr, denn ich hielt es für richtiger, die Gefangenen erst einander gegenüberzustellen und diesen Punkt späterer Untersuchung zu überlassen. Aber nehmen wir als sicher an, daß Collin nach Verbrecherart die am meisten bloßstellenden Briefe aus der Korrespondenz dieses von Frauen so umschwärmten jungen Mannes in Sicherheit gebracht hat …«

»Sieh mal an, und da zitterst du, Camusot? Du wirst bald Präsident des zweiten Gerichts sein, früher noch, als ich es erwartet habe! …« rief Frau Camusot, und ihr Gesicht strahlte. »Paß mal auf! Du mußt die Sache so drehen, daß alle zufrieden sind, denn bei der Gewichtigkeit der Angelegenheit könnte sie uns aus den Händen genommen werden! Der Generalstaatsanwalt, der sich offenbar so sehr für die Ehre von Herrn und Frau von Sérizy sorgt, könnte doch zum Beispiel die ganze Geschichte vor das Staatsgericht bringen und einen Staatsrat einsetzen lasten, der die Sache für ihn bearbeitet.«

»Alle Teufel! liebes Kind, wo hast du denn Staatsrecht studiert?!« rief Camusot. »Du weißt ja alles! Du bist mir weit über …«

»Wieso denn! Du glaubst, Herrn von Granville wird morgen nicht vor den möglichen Verteidigungsreden eines freisinnigen Anwalts Angst bekommen, den Collin sicher auftreibt? Denn man wird ihm sogar Geld anbieten, um ihn nur verteidigen zu dürfen! Diese Damen kennen die Gefahr gut genug, vielleicht sogar besser als du. Sie werden dem Staatsanwalt den nötigen Wink geben; dann sieht er all diese Familien dicht an der Anklagebank, weil Lucien mit diesem Sträfling zusammengewohnt hat und alle Familien mit Lucien in Beziehung standen. Es gilt also für dich, die Sache so zu führen, daß du dir die Zuneigung deines Staatsanwaltes, die Dankbarkeit von Herrn von Sérizy, von der Marquise d'Espard und von der Gräfin Châtelet gewinnst, den Einfluß der Herzogin durch den des Hauses Grandlieu ausgleichst und dir noch die Anerkennung des Präsidenten verschaffst. Ich übernehme Frau d'Espard, die Herzogin und die Grandlieus. Du läufst morgen früh zum Generalstaatsanwalt, der auch kein Heiliger ist, sondern nur ein Mensch wie alle anderen Menschen. Es kommt allein darauf an, seine schwache Seite zu finden, ihm zu schmeicheln. Frage ihn um Rat, zeige ihm die gefährliche Seite der Sache, krieche mit ihm unter eine Decke …«

»Nein, ich müßte die Spuren deiner Füße küssen!« rief Camusot, indem er seine Frau unterbrach, sie umfaßte und an sich zog. »Amelie, du rettest mich!«

»Ja, sei nur ruhig! ich will in fünf Jahren Präsidentin sein. Aber, liebes Kind, denke immer erst eine Weile nach, ehe du einen Entschluß faßt. So ein Richteramt ist nicht wie die Tätigkeit eines Feuerwehrmannes, – mit deinen Akten brennt's ja nicht, du hast immer Zeit nachzudenken. Darum ist bei deinen Angelegenheiten eine Dummheit immer unentschuldbar …«

»Die Macht meiner Stellung besteht hier einzig in der Identität des angeblichen spanischen Priesters mit Jakob Collin,« versetzte der Richter nach einer langen Pause: »Steht die einmal fest, dann mag der Hof sich noch soviel um den Prozeß kümmern: die Tatsache ist unerschütterlich, und man kann keinen Beamten auftreiben, der sie ausscheiden könnte. Der Staatsanwalt wird sich lieber mit mir verständigen, da ich allein dies Damoklesschwert beseitigen kann, das über dem Herzen all dieser vornehmen Familien hängt! … Aber du weißt ja gar nicht, wie schwer es ist, so etwas zu erreichen! … Der Generalstaatsanwalt einigte sich eben erst mit mir, Collin für das zu nehmen, wofür er sich ausgibt: für Carlos Herrera. Wir wollen ihn in seiner diplomatischen Eigenschaft anerkennen und ihn von dem spanischen Gesandten reklamieren lassen. Gemäß diesem Plane habe ich die Anordnungen getroffen, Lucien in Freiheit zu setzen, habe ich auch die Verhöre von neuem aufgesetzt, durch die meine Angeklagten weißgewaschen wurden wie Schnee. Morgen werden eine Reihe von Herren dem angeblichen Priester gegenübergestellt, und sie werden in ihm nicht den Collin wiedererkennen, der vor zehn Jahren vor ihren Augen verhaftet worden ist.«

Einen Augenblick herrschte Schweigen. Frau Camusot dachte nach. »Bist du sicher, daß dein Gefangener dieser Collin ist?« fragte sie.

»Sicher,« versetzte der Richter, »und der Staatsanwalt ist's ebenfalls.«

»Schön, also, dann laß dir deine Krallen nicht merken und sieh zu, im Gerichtsgebäude einen Skandal hervorzurufen! Sitzt der Kerl noch im Gefängnis, dann geh schleunigst zum Vogteidirektor und lasse es dahin bringen, daß der Sträfling öffentlich entlarvt wird. Sei kein Kind, sondern handle wie die Polizeiminister in absolutistischen Ländern, die Verschwörungen anzetteln, weil sie das Verdienst erlangen wollen, sie verhindert zu haben: dadurch machen sie sich unentbehrlich. Bring drei Familien in Gefahr, um den Ruhm zu haben, daß du sie dann errettest.«

»Welch Glück!« rief Camusot. »Mein Kopf ist so verwirrt, daß ich mich der wichtigsten Sache gar nicht mehr entsinne. Wir haben ja schon Befehl gegeben, daß einige Sträflinge, die Collin kennen, nach der Vogtei gebracht werden, und kommt er morgen auf den Gefängnishof, dann gibt es sicher furchtbare Auftritte … die Leute werden Rechenschaft von ihm fordern für ihr Geld, das er verputzt hat. Dann gibt es eine blutige Schlägerei, die Wachen müssen eingreifen und das Geheimnis ist öffentlich enthüllt. Es geht Collin ans Leben. Wenn ich also frühzeitig aufs Gericht gehe, kann ich bereits das Protokoll dieses Beweises aufnehmen.«

»Schön, und wenn die Sträflinge dich seiner entledigen? Dann wirst du einen äußerst begabten Eindruck machen! Geh' also nicht zu Herrn von Granville, sondern erwarte ihn im Gericht mit deinen gewaltigen Waffen. Das ist eine geladene Kanone, die sich gegen drei der angesehensten Familien des Hofadels richten. Sei kühn, schlage Herrn von Granville vor, Collin zu beseitigen, indem ihr ihn den Zuchthäuslern ausliefert, die sich ihrer Angeber zu entledigen wissen. Ich gehe inzwischen zur Herzogin, lasse mich von ihr zu den Grandlieus führen, besuche vielleicht auch Herrn von Sérizy. Vertraue mir nur, ich werde schon die Alarmglocke schlagen. Nur ein paar Worte schreibe mir, damit ich weiß, ob der Nachweis geführt ist. Sieh zu, daß du um zwei Uhr vom Gericht heimkommst, ich werde für eine Audienz beim Kanzler sorgen: vielleicht ist er dann bei der Marquise.«

Camusot stand so voller Bewunderung da, daß Amelie lächeln mußte.

»Komm essen und sei lustig,« sagte sie schließlich, »wir sind doch erst zwei Jahre in Paris, und nun stehst du ja schon im Begriff, vor Ablauf des Jahres Kammergerichtsrat zu werden. Von dort bis zum Präsidenten bleibt nur noch der kleine Schritt irgendeines politischen Dienstes.«

Diese geheime Beratung zeigt, wie sehr die Handlungen, ja, jedes kleinste Wort von Collin, der niedrigst stehenden Person des geschilderten Vorganges, die Ehre der Familien berührte, bei denen sein verstorbener Schützling verkehrt hatte.

 

Der Mann in Einzelhaft.

Luciens Tod und der Einbruch der Gräfin von Sérizy in die Vogtei hatten das Räderwerk der Maschine derart in Unordnung gebracht, daß der Direktor vergaß, die Geheimhaft des angeblichen spanischen Priesters aufzuheben. Während nun gerade der Direktor der Vogtei und Herr Lebrun, der Gefängnisarzt, über die Brüchigkeit von Eisenstangen und die Kraft verliebter Frauen vor dem Gefängnisgitter Betrachtungen anstellten, meldete ein Wächter dem Direktor, Herrn Gault, leise: »Der Geheimgefangene Nr. 2 meldet sich krank und bittet um einen Arzt; er behauptet, dem Tode nahe zu sein.«

»Wirklich?« fragte der Direktor.

»Er röchelt schon,« versetzte der Wächter.

»Es ist zwar fünf und ich habe noch nicht gegessen,« meinte der Arzt, »aber schließlich – ich bin ja nun einmal hier! Also los …«

»Geheimgefangener Nr. 2 ist just der spanische Priester, der im Verdachte steht, Collin zu sein,« sagte Gault zu ihm. »Einer der Angeklagten in diesem Prozeß, in den der arme junge Mann verwickelt war …«

»Ich sah ihn heute morgen schon, weil ich ihn untersuchen mußte, aber da ging es ihm glänzend,« antwortete der Arzt.

»Vielleicht will er sich auch töten,« meinte Gault. »Wir wollen beide einmal hinüber gehen, denn dabei sein muß ich, schon weil ich diesen seltsamen Anonymus in die Vorzugshaft überführen soll …«

Collin, ›Betrüg den Tod‹, befand sich seit seiner Rückkehr ins Gefängnis in einer Angst, wie er sie in seinem langen Leben voller Verbrechen nicht gekannt hatte. Ist dieser Sammelbegriff von Leben, Kraft, Geist und Verbrecherleidenschaft nicht geradezu ungeheuerlich schön durch seine hündische Anhänglichkeit an den, den er zu seinem Freunde erkoren hatte? Trotz seiner Gemeinheit, Schrecklichkeit und Verdammungswürdigkeit in so vieler Beziehung weckt diese vollkommenste Ergebenheit doch wahrhafte Teilnahme, und unsere Schilderung wäre trotz ihrem Umfange unvollendet, wenn die Entwicklung dieses Verbrecherlebens nicht noch über das Ende Luciens von Rubempré hinaus fortgeführt würde.

Dieser gemeine Sträfling hatte, wenn man sein ehernes Herz zu durchschauen verstand, seit sieben Jahren auf sich selbst verzichtet. Seine machtvollen Kräfte wurden ganz von Lucien aufgesaugt, arbeiteten nur für Lucien. Lucien wurde für ihn die Verkörperung seiner Seele. Durch ihn aß ›Betrüg den Tod‹ bei den Grandlieus, schlüpfte in die geheimsten Gemächer der hochstehenden Damen, liebte Esther, – kurz, Lucien war ein schöner, junger, edler Collin, der es bis zum Gesandten bringen sollte. Er war gewissermaßen die Verkörperung des Doppelgängertums, wo ein Teil selbst auf weite Entfernung hin die Wunde verspürt, die der andere davonträgt: der eine Teil brauchte von einer Untreue erst gar nicht zu hören, um ihrer dennoch gewiß zu sein.

Als Collin in seine Zelle zurückgeführt wurde, sagte er sich: »Jetzt wird der Kleine verhört.« Er erschauerte: er, der Menschen umbrachte, wie ein Arbeiter trinkt. Und er fragte sich: »Hat er seine Freundinnen sehen können? Hat meine Tante diese beiden verdammten Weiber angetroffen? Haben die Frauenzimmer sich in Bewegung gesetzt, das Verhör verhindert? Hat Lucien meine Anweisung erhalten? Und wie wird er sich halten, wenn das Geschick es fügt, daß er verhört wird? Ach, der arme Kleine, ich, ich habe ihn dahin gebracht! Dieser Schuft Paccard und diese Diebin Europa haben mit ihrem Diebstahl das ganze Durcheinander angerichtet. Aber sie werden den Spaß teuer bezahlen! Noch einen Tag, und Lucien war reich, heiratete seine Clotilde und Esther waren wir los! Denn dies Mädel hat Lucien viel zu sehr geliebt, während er diesen Rettungsbalken Clotilde nie geliebt hätte … Dann wäre er ganz mein gewesen! Denken, daß unser Schicksal von einem Blick, einem Erröten Luciens vor diesem Camusot abhängt, der alles sieht und ein schlauer Kerl ist! Denn als wir uns bei Erwähnung der Briefe betrachteten, da ahnte er, daß ich die Freundinnen Luciens kneifen kann!«

Dies Selbstgespräch dauerte drei Stunden. Die Angst war derartig, daß sie selbst mit dieser Eisennatur fertig wurde: Wahnsinn entflammte Collins Gehirn, er bekam solchen Durst, daß er, ohne es zu merken, alles Wasser austrank, das bei ihm stand. »Wenn er nun gar den Kopf verlieren sollte, was wird dann?!« fragte er sich und legte sich auf die Pritsche. Der Gedanke, daß durch Luciens Schwäche ein Unglück entstehen könnte, weil die Geheimhaft ihn kopflos machen würde, nahm in Collins Vorstellungen riesenhafte Formen an! Die greifbare Möglichkeit solcher Katastrophe preßte dem Unglücklichen Tränen aus den Augen, – das war ihm seit seiner Jugend nicht mehr widerfahren. »Ich muß ein Roßfieber haben,« murmelte er. »Vielleicht lasse ich den Arzt kommen und biete ihm eine hohe Summe, damit er mich mit Lucien in Verbindung bringt.«

Eben brachte der Wächter das Gefangenenessen.

»Überflüssig, mein Lieber, ich kann nicht essen. Sage doch dem Herrn Gefängnisdirektor, daß ich mich so schlecht fühle, als wenn meine letzte Stunde gekommen wäre.«

Als der Wächter den Gefangenen so röcheln hörte, nickte er zustimmend und ging fort. Collin klammerte sich wie toll an diese Hoffnung. Als er aber den Arzt zusammen mit dem Direktor eintreten sah, hielt er seinen Versuch für mißlungen, streckte dem Arzt den Puls hin und erwartete kalt die Wirkung des Besuchs.

»Der Herr hat Fieber,« meinte der Arzt zu Gault, »aber das Fieber kennen wir bei den Gefangenen schon: Für mich ist es immer der Beweis eines Verbrechens,« flüsterte er dem falschen Spanier ins Ohr.

In diesem Augenblick ließ der Direktor den Arzt unter Aufsicht des Wächters mit dem Gefangenen allein, um den Brief zu holen, den ihm der Staatsanwalt für Collin gegeben hatte. Als Collin den Wächter an der Tür sah, flüsterte er: »Es käme mir nicht auf dreißigtausend Franken an, wenn Sie Lucien von Rubempré fünf Zeilen von mir überbringen würden.«

»Ich will Sie nicht um Ihr Geld bestehlen,« versetzte Lebrun. »Niemand kann mit ihm in Verbindung treten, denn er hat sich erhängt …«

Ein Tiger, dem seine Jungen geraubt werden, könnte keinen gräßlicheren Schrei ausstoßen als Collin, der aufsprang, einen flammensprühenden Blick auf den Arzt schleuderte, dann auf seiner Pritsche zusammenbrach und röchelte: »Oh, mein Sohn …«

»Der arme Mensch!« rief der Arzt, den diese Naturäußerung aufs tiefste bewegte. Wirklich folgte diesem Ausbruche vollkommenste Schwäche, und die Worte: »Oh, mein Sohn« … waren nur mehr ein kaum vernehmlicher Hauch.

»Wird er uns unter den Fingern zusammenknacksen, der da?« fragte der Wächter.

»Nein, das ist ja nicht möglich!« fuhr Collin fort, richtete sich hoch und blickte die beiden Zeugen dieses Auftrittes mit blutlosem, totem Auge an. »Sie täuschen sich, das kann er nicht sein! Sie haben nicht recht gesehen, in Geheimhaft kann man sich nicht erhängen! Sehen Sie doch, wie sollte ich mich hier erhängen? Ganz Paris bürgt mir für sein Leben! Gott schuldet es mir!«

Der Wächter und der Arzt, die doch schon längst nichts mehr in Erstaunen setzte, waren jetzt starr. – Gault trat ein; er hielt Luciens Brief in der Hand. Bei seinem Anblick schien sich Collin, den die Wucht dieses Schmerzensausbruches niedergeschmettert hatte, zu beruhigen.

»Hier ist ein Brief, den mir der Herr Generalstaatsanwalt für Sie übergab. Er durfte ausnahmsweise verschlossen bleiben,« erklärte der Direktor.

»Ist er von Lucien?« fragte Collin.

»Ja!«

»Nicht wahr, dieser junge Mann …«

»Ist tot. Selbst wenn der Herr Doktor gerade dagewesen wäre, wäre er immer noch zu spät gekommen … Der junge Mann ist dort … in einem Vorzugsgefängnis … gestorben.«

»Kann ich ihn mit eigenen Augen sehen?« fragte Collin schüchtern. »Würden Sie einem Vater gestatten, daß er seinen Sohn beweint?«

»Wenn Sie wollen, können Sie sein Zimmer bekommen, denn ich habe Anordnung, Sie in ein Vorzugszimmer zu überführen. Die Geheimhaft ist für Sie aufgehoben.«

Die Augen des Gefangenen gingen leblos, glanzlos von dem Direktor zu dem Arzt. Collin fragte die beiden, fürchtete eine Falle und zögerte, fortzugehen.

»Wenn Sie die Leiche sehen wollen,« bemerkte der Arzt, »dann haben Sie nicht viel Zeit zu verlieren, denn sie soll heut nacht fortgeschafft werden …«

»Wenn Sie Kinder haben, meine Herren,« sagte Collin, »dann werden Sie meine Verblödung begreifen … Ich kann kaum etwas erkennen … Dieser Schlag war schlimmer für mich, als der Tod … Aber Sie können ja nicht wissen, was ich Ihnen da sage … Denn sind Sie Väter, dann sind Sie nur dies allein … Ich bin zugleich auch die Mutter … Ich … ich bin … verrückt … ich spüre es.«

 

Abschied.

Durch die Gänge, deren unnachgiebige Türen sich nur vor dem Direktor öffnen, kann man in kürzester Zeit aus den Geheimzellen zu den Vorzugszimmern gelangen. So war Collin, den ein Wächter am Arm hielt, und dem der Direktor voranging, der Arzt folgte, in wenigen Minuten in dem Raume, wo Lucien auf dem Bette lag. Bei diesem Anblick brach er über dem Leichnam zusammen, klammerte sich in verzweifelter Umarmung mit solcher Kraft und Leidenschaft an ihn, daß die drei Zuschauer dieses Vorganges erbebten.

»Sehen Sie diesen Menschen, diese Kraft eines Sterbensschwachen, wovon wir vorhin sprachen,« sagte der Arzt zu dem Direktor. »Er zerdrückt diesen Leichnam, und Sie wissen nicht, was ein Leichnam ist: hart wie Stein …«

»Lassen Sie mich hier allein!« sagte Collin mit verlöschender Stimme. »Ich kann ihn nicht mehr lange sehen, man wird ihn mir ja fortholen, um ihn …« Er brach vor dem Wort ›beerdigen‹ ab. »Gestatten Sie mir, ein Andenken von diesem teuren Kinde zu behalten. Bitte, Herr Doktor, schneiden Sie ihm einige Flechten seines Haares ab, ich kann es ja nicht …«

»Sicher ist es sein Sohn!« meinte der Arzt.

»Glauben Sie?« meinte der Direktor so tiefsinnig, daß der Arzt in kurze Träumerei versank.

Der Direktor wies den Wächter an, den Gefangenen hier in der Zelle zu lassen und, bevor der Leichnam fortgetragen würde, für den angeblichen Vater einige Haarsträhnen seines Sohnes abzuschneiden.

Um fünf einhalb Uhr kann man im Mai mit Leichtigkeit trotz den Gittern vor den Fenstern in der Vogtei einen Brief lesen. Jakob Collin ging also den schrecklichen Brief Wort für Wort durch, während er Luciens Hand festhielt. Kein Mensch kann zehn Minuten lang ein Stück Eis in der Hand halten, wenn er es kräftig in der Handfläche zusammenpreßt. Die Kälte dringt mit tödlicher Schnelligkeit zu den Quellen des Lebens. Aber selbst diese Wirkung solch schrecklicher, giftgleicher Kälte ist kaum mit der Wirkung zu vergleichen, die eine starre, tote Hand auf die Seele ausübt, wenn man diese eisige leblose Masse umklammert hält. Dann spricht der Tod mit dem Leben, kündet ihm schwarze Geheimnisse, die gar manches Gefühl ertöten; ist nicht ein Wechseln der Gefühle so viel wie sterben? Als Collin Luciens Brief von neuem las, wirkte das auf ihn wie ein Giftkelch. Und als man um ein Uhr morgens den Leichnam holen wollte, fand man Collin vor dem Bette kniend; der Brief lag auf der Erde: er hatte ihn wohl fallen lassen, wie der Selbstmörder die Pistole fallen läßt, die ihn getötet hat. Aber noch immer hielt der Unglückliche Luciens Hand zwischen den Händen und betete zu Gott. Als die Träger ihn erblickten, blieben sie einen Augenblick stehen, denn er glich den Steinfiguren, die auf den Gräbern des Mittelalters, vom Geiste genialer Steinmetzen erdacht, für alle Ewigkeiten knien. Mit seinen tigerklaren Augen und seiner übernatürlichen Bewegungslosigkeit machte er auf die Leute solchen Eindruck, daß sie ihn voll Sanftmut baten, sich zu erheben.

»Warum?« fragte er bitter. Aus dem tollkühnen ›Betrüg den Tod‹ war ein schwaches Kind geworden.

Der Direktor zeigte diesen Anblick Herrn von Chargeboeuf, in dem solcher Schmerz und der Glaube an die Vaterschaft Collins tiefe Ehrfurcht weckten. Er setzte ihm also Herrn von Granvilles Anordnungen bezüglich des Totendienstes und der Überführung von Lucien auseinander: daß er unbedingt in seine Wohnung gebracht werden müsse, um vor der Welt daheim als freier Mann gestorben zu sein und von dort aus beerdigt werden zu können. Die Geistlichkeit erwarte ihn, um für den Rest der Nacht bei ihm zu wachen.

»Daran erkenne ich die große Seele des hohen Beamten!« rief traurig der Sträfling. »Sagen Sie ihm, daß er auf meine Erkenntlichkeit zählen darf … Ich kann ihm große Dienste leisten … Vergessen Sie das nicht: es ist für ihn von größter Wichtigkeit. Ach, was für seltsame Wandlungen macht ein Menschenherz durch, wenn man sieben Stunden über solch einem Kinde geweint hat … Nun werde ich es also nie wieder sehen!«

Er warf noch einen Blick auf Lucien wie eine Mutter der man den Leichnam des Sohnes entreißt, und dann brach er in sich zusammen. Als er Luciens Körper hochnehmen sah, entschlüpfte ihm ein Seufzer, der seine Träger zur Eile spornte. Der Sekretär und der Direktor hatten sich bereits diesem Schauspiel entzogen.

Was war aus dieser ehernen Natur geworden, bei der die Schnelligkeit der Entscheidung dem Blicke gleichkam, Gedanke und Tat wie der gleiche Blitz aufflammten; deren Nerven durch dreimaligen Aufenthalt im Bagno gestählt, durch drei Ausbrüche abgehärtet, eine Widerstandskraft wie bei einem Wilden erlangt hatten? Vom Eisen, wenn es gewissen Schlägen nachgibt, sagt man, es sei müde. In solchem Zustande treffen Beichtväter und Untersuchungsrichter oft auch schwere Verbrecher an. Als um acht Uhr morgens der Aufseher der Vorzugsgefängnisse in Collins Zelle trat, fand er ihn bleich und ruhig, wie einen Mann, der durch einen heftigen Entschluß wieder stark geworden war.

 

Der Gefängnishof.

»Jetzt geht's in den Hof,« sagte der Schließer. »Wenn Sie Luft schnappen wollen, kommen Sie mit.«

Collin ahnte in seiner Versunkenheit die Falle nicht. Mechanisch ging er durch die Gänge, die zum Hofe führten. Als er hinunter kam, befanden sich die anderen Gefangenen bereits draußen. Drei von Collins Gläubigern standen zusammen. Einer davon, La Pouraille, hatte nur noch vierzehn Tage zu leben: er sollte dann wegen Mordes hingerichtet werden.

Als Collin erschien, wurde er von allen Sträflingen sofort bemerkt; die drei musterten ihn mißtrauisch.

»Sieh mal!« meinte La Pouraille zu Le Biffon, »ein schlechtes Zeichen: ein ›Schleicher‹ (Priester)! Was hat der hier zu suchen?«

Seidenfaden, der dritte alte Sträfling widersprach: »Das ist kein Schleicher, sondern ein Rückfälliger. Sieh nur, wie er das rechte Bein zieht!«

Man muß erklären, daß die Sträflinge im Bagno durch eine Kette am Bein zusammgekettet werden und sich dadurch das Nachschleifen des Beines angewöhnen. Diese Gewohnheit verliert sich nie mehr so vollständig, daß ein erfahrener Verbrecherblick sie nicht gewahrt.

»Das ist unser ›Dab‹!« meinte Seidenfaden, als er Collins zerstreuten Blick auffing.

Ilustration: Lutz Ehrenberger

»Teufel ja, das ist ›Betrüg den Tod‹!« meinte Le Biffon und rieb sich die Hände.

»Na, Alterchen?« wandte sich La Pouraille an Collin. Und alle drei versperrten ihm den Weg.

»Man sagt, daß du uns unseren Draht gemaust hast,« sagte Le Biffon drohend und legte Collin die Hand auf die Schulter. Diese Bewegung zusammen mit dem Anblick der drei Gefährten riß den ›Dab‹ jäh aus seiner Niedergeschlagenheit und gab ihm das Gefühl der Wirklichkeit wieder.

»Leg deinen Dab nicht herein!« murmelte er drohend. »Ich spiele Komödie für einen in Not. Behandelt mich als Priester oder zum Henker mit euch, euren Weibern und eurem Draht!«

»Kommst du, deine Tante retten? Theodor ist zum Abgang bereit!« sagte Seidenfaden.

Das war der endgültige Schlag für den zermalmten Koloß. Seine Beine knickten, La Pouraille und Le Biffon stützten ihn ehrfurchtsvoll, während Seidenfaden zum Wächter lief: »Der ehrwürdige Vater muß sich setzen, geben Sie einen Stuhl für ihn.«

So war Bibi-Lupins Streich mißlungen. Mit den zwei Worten: eure Weiber und euer Geld bewies er den Sträflingen, daß er noch immer ihr Vermögen und damit die Macht in Händen hatte; er hatte sie also nicht betrogen, wie die Spitzel sagten. Und auch die Kühnheit seiner Maske machte großen Eindruck auf die drei.

Der Vogteidirektor kam auf die Nachricht von dem Schwächeanfall selbst herbei, um Collin auszuspionieren. Er ließ ihn sich niedersetzen.

»Ach!« stöhnte Collin, »hier unter dem Auswurf der Menschheit …! Aber mit Gottes Hilfe werde ich auch hier Barmherzigkeit üben … ich werde diese verlorenen Seelen retten.«

Zwanzig bis dreißig Gefangene standen rings um ihn. La Pouraille meinte: »Den da würden wir anhören …«

»Hier im Gefängnis soll ein zum Tode Verurteilter sein …« wandte sich Collin an Gault.

»Ja, und er hat bis jetzt allen religiösen Beistand abgelehnt.«

»Ach,« flehte Collin mit wahrhaft himmlischer Inbrunst, »lassen Sie mich dies verstockte Herz zur Reue bekehren … Was fürchten Sie? Lassen Sie mich bewachen …«

»Ich will den Geistlichen fragen,« sagte Gault und ging voll Staunens über die gleichgültige Neugier der Sträflinge fort. Er suchte Bibi-Lupin auf, der alles durch ein Fenster beobachtete: »Keiner hat ihn erkannt … Und jetzt bittet er, den Verurteilten beichten zu lassen.«

»Das ist das letzte Mittel!« rief Bibi-Lupin. »Ich dachte nicht an Theodor, Collins Kettengenossen … Ich werde mich als Gendarm verkleiden und sie belauschen!«

»Dann aber schnell, – Sanson wartet schon auf den Befehl zur Hinrichtung. Leicht fällt es ja dem Herrn Generalstaatsanwalt nicht, denn Theodor ist ein echter Korse: er hat hartnäckig geschwiegen!«

In diesen letzten Worten lag die ganze Geschichte: Eine Steinbrecherwitwe war in ihrem abgelegenen Häuschen bei Nanterre, einige Tage nachdem sie eine Erbschaft abgehoben und heimgebracht hatte, samt ihrer Magd ermordet worden. Da man aber das Haus fest verschlossen fand, und weil die Fenster gut vergittert und weder sonst ein Zugang noch irgendwelche Spuren zu entdecken waren, stand die Untersuchung vor einem Rätsel, bis eines Tages eine Dirne Gedecke und Schmucksachen zum Kaufe anbot, die der Ermordeten gehört hatten. Der Geliebte der »blonden Manon« war Theodor Calvi, ein »schwerer Junge«. Er wurde verhaftet, gab aber an, die Sachen gekauft zu haben. Da er sich kurz vor der Tat in Nanterre aufgehalten hatte, wurde er zum Tode verurteilt, trotzdem es unerklärlich blieb, wie er in das Haus gelangt sein mochte. Collin war dieser Fall im Drange der eigenen Nöte entgangen.

Herr von Granville mußte um dieser Sache willen trotz seinen Nachtwachen im Hause Sérizy in sein Bureau kommen. Eben hielt er den Hinrichtungsbefehl in der Hand, als Herr Gault zu ihm kam. »Die Hinrichtung soll in einer Stunde stattfinden, wenn nichts Außergewöhnliches eintritt,« sagte er und gab Gault den Befehl.

Gault ging hinunter, um Collin zu Calvi führen zu lassen, wechselte unterwegs mit Camusot einige Worte, der sich eben zu Granville begab. Dann ließ er Collin holen.

»Ich will diese Seele für den Himmel erretten!« sagte dieser weihevoll, als er den Hof verließ. Bei diesen Worten wurde die abgöttische Bewunderung der Sträflinge unerschütterlich. Sie verstanden, daß er Theodor retten wollte, und er wurde ihrer aller Hoffnung.

Nunmehr spielte er seine Rolle glänzend: er verirrte sich vollkommen natürlich, und als er in der Kanzlei den Henker Sanson stehen sah, ging er mit den Worten: »Ah, der Geistliche!« auf ihn zu.

Alle erstarrten ob dieses grauenhaften Irrtums. Sanson sagte: »Nein, ich habe andere Pflichten!« und der Oberaufseher flüsterte: »Das ist kein Sträfling.«

»Ich beginne es zu glauben,« nickte Gault.

Alsbald wurde Collin in das Kellerloch geführt, wo Calvi in der Zwangsjacke auf dem Bettrande saß. In dem Lichtschein, der vom Gange hineinfiel, erkannte Collin den Gendarmen als Bibi-Lupin. Sofort sagte er italienisch: »Ich bin ›Betrüg den Tod‹! Sprich italienisch, ich rette dich. Aber erkenne mich nicht, – tu, als ob du beichtetest.«

»Gib einen Beweis, denn ich erkenne nur deine Stimme,« versetzte Theodor.

»Sehen Sie, er ist unschuldig!« rief Collin dem falschen Gendarmen zu, der voll Wut merkte, daß er nichts verstehen konnte.

Collin gab die Losung und flugs warf sich Calvi auf die Knie und erzählte seine Geschichte, wie alle sie kannten.

»Aber wie kamst du hinein?« fragte Collin.

»Ich kenne eine kleine Korsin, schlank wie ein Aal und behend wie ein Affe. Die kroch durch den Schornstein und schloß mir auf und zu.«

»Mit dem Gedanken hast du die Rettung verdient! Aber du wirst nach Toulon kommen. Dort brichst du aus und ich schaffe dir ein nettes Auskommen …«

Der Seufzer, der Theodors Munde entströmte, verblüffte Bibi-Lupin.

»Das ist die Wirkung der Absolution,« meinte Collin. »Ja, die Korsen sind gläubig! Und der hier ist schuldlos wie das Jesuskindlein …« Er wurde wieder ganz der Stiftsherr, und als er zu Gault zurückgeführt wurde, mimte er helles Entsetzen: »Erbitten Sie mir bei dem Herrn Oberstaatsanwalt fünf Minuten Gehör! Er ist schuldlos und hat mir den Schuldigen verraten. Inzwischen will ich auf dem Hofe die Bekehrung des einen schon erweichten Herzens vollenden.«

»Ich will zu Herrn von Granville gehen,« sagte Gault zum Erstaunen der Anwesenden, die erregt der Entscheidung wegen der Hinrichtung harrten.

 

Fräulein Collin tritt auf.

Just in diesem Augenblick ließ sich das Trappeln edler Rosse und das Rollen einer Equipage vernehmen, die vor dem Gitter der Vogtei anhielt. Der Wagenschlag wurde derart aufgerissen, der Tritt so schnell hinuntergeschlagen, daß jeder den Eindruck bekam, eine sehr hochstehende Persönlichkeit sei vorgefahren. Alsbald erschien eine Dame, die ein blaues Papier schwang, hinter ihr ein Diener und ein Jäger. Sie trat, ganz schwarz und prächtig gekleidet, mit einem Schleier über dem Hut zum Gitter, während sie mit einem breitbestickten Taschentuch ihre Tränen trocknete.

Collin erkannte sofort Asien, oder, um den wahren Namen zu gebrauchen, Jakobine Collin, seine Tante. Die schreckliche Alte, die ihres Neffen würdig war und den Gefangenen mit einer Intelligenz und einem Scharfsinn verteidigte, die mindestens so stark waren, wie die Macht der Justiz, hatte am Tage zuvor auf den Namen der Kammerjungfer von der Herzogin von Maufrigneuse durch die Empfehlung des Herrn von Sérizy die Erlaubnis erhalten, mit Lucien und dem Herrn Abbé Herrera sprechen zu dürfen, sobald sie nicht mehr in Geheimhaft waren. Der Abteilungschef hatte eine eigenhändige Bemerkung auf dies Papier geschrieben, dessen Farbe schon machtvolle Empfehlungen kündete.

Daher, und nicht minder beim Anblick des grün-und-goldschimmernden Jägers mit dem großen Federhut, dessen Gewand prunkte wie das eines russischen Generals, öffnete der Türschließer sofort das Gitter.

»Ach, mein teurer Abbé!« rief die angeblich so vornehme Dame und vergoß sofort einen wahren Sturzbach von Tränen, als sie den Geistlichen erblickte, »wie konnte man einen so heiligen Mann hierher schleppen!«

Während der Direktor den Erlaubnisschein nahm und las, sagte Herrera: »Ach, Frau von San-Esteban, Frau Marquise, welch schöne Hingebung!«

»Gnädige Frau, derart darf man mit den Gefangenen nicht verkehren,« rief der gute alte Gault. Er hielt selbst dies Faß von schwarzem Seidenstoff mit Spitzen im Laufe auf.

»Aber in so weiter Entfernung, und vor Ihnen allen!« meinte Collin und warf einen Blick rings auf die Umstehenden. Die Tante, deren Aufputz den Schreiber, den Direktor, die Wächter und Schutzleute blenden mußte, duftete riesig nach Moschus. Außer Tausend-Talerspitzen trug sie einen Kaschmirschal für sechstausend Franken. Und unten auf dem Hof erging sich der Jäger mit der Dreistigkeit eines Lakais, der seine Unersetzlichkeit bei einer anspruchsvollen Fürstin kennt.

»Was willst du? Was soll ich tun?« fragte Frau von San-Esteban in dem zwischen Tante und Neffen vereinbarten Kauderwelsch.

»Bring alle Briefe in Sicherheit, suche diejenigen aus, die für die Damen am meisten bloßstellend sind, und komm dann als Diebin in die Vorhalle zurück, wo du auf weitere Anordnungen wartest.«

Asien-Jakobine kniete vor ihm nieder, um seinen Segen zu empfangen und der falsche Abbé segnete seine Tante mit wahrhaft evangelischer Zerknirschung.

»Addio, Marchesa!« sagte er laut. Und in der vereinbarten Sprache fuhr er fort: »Finde Europa und Paccard mit den gemausten siebenhunderttausend Franken wieder, denn wir brauchen sie.«

»Paccard steht dort,« versetzte die falsche Marquise und wies mit tränenüberschwemmten Augen auf den Jäger. Daß sein Wunsch im voraus erfüllt war, entlockte dem Manne, der allein durch seine Tante in Erstaunen gebracht werden konnte, nicht nur ein Lächeln, sondern eine Bewegung der Überraschung. Die falsche Marquise wandte sich zu den Anwesenden wie eine Frau, die eine Rolle zu spielen wußte: »Er ist verzweifelt, nicht zur Beerdigung seines Kindes gehen zu können,« sagte sie mit ihrem schlechten Französisch. »Aber ich, ich werde der Totenmesse beiwohnen. Hier,« wandte sie sich an den Direktor und gab ihm eine Börse voll Gold, »hier ist etwas für die armen Gefangenen, um ihnen eine kleine Wohltat anzutun.«

»Hochnobel!« flüsterte der befriedigte Neffe ihr ins Ohr. Er folgte dann seinem Wächter.

Gleich darauf kam Bibi-Lupin, aber zu spät, um die vornehme Dame zu sehen.

»Dreihundert Stück für die Gefangenen!« sagte der Oberaufseher und zeigte Bibi-Lupin die Börse, die Gault dem Schreiber übergeben hatte.

»Zeigen Sie einmal,« meinte Bibi-Lupin. Er schüttete das Gold in seine Hand und betrachtete es aufmerksam. »Gold ist es! Und ein Wappen trägt die Börse! So ein Schuft! Der Kerl hat es los. Bis zur Vollendung. Jeden Augenblick steckt er uns allesamt in den Sack! Wie einen Hund sollte man ihn niederschießen!«

»Was gibt es denn nun schon wieder?« fragte der Schreiber, und nahm die Börse wieder an sich.

»Weiter nichts, als daß diese Frau eine Gaunerin ist!« rief Bibi-Lupin und stampfte wütend mit dem Fuß auf.


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