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Dreizehntes Kapitel.
Der Abschied

»Bitte, komme doch einmal her, lieber Prinz.«

Herr Evans war gerade dabei, mit einem Stock ein widerspenstiges Unkraut auszuroden, als der Ruf sein Ohr traf. Er blickte von seiner Arbeit auf, aber Daisy war nicht zu sehen.

»Wo bist du? Ist denn heute kein Stuhl da?« rief er verwundert. Denn die kleine Prinzessin stieg gewöhnlich vermittelst solch eines Meublements auf ihren Thron.

»Ich kann nicht mit einer Hand Numa Pompilius und Seraphia und Angelina in die Höhe heben. Bitte, komme doch her und hilf mir!«

»Jawohl!« entgegnete der gutmütige junge Mann, während er rasch zu seiner kleinen Freundin eilte. »Aber weshalb willst du denn Numa Pompilius auf die Mauer schleppen? Ich habe keinen besonderen Wunsch, den Herrn zu sehen.«

Numa Pompilius war der Nachfolger von Julius Caesar, der verstorbenen Schildkröte.

»Weil ich gerne möchte, daß du ihn, während ich fort bin, zu dir nimmst, und für ihn sorgst, damit er nicht verhungert.«

»Gut!« erwiderte Georg, während er mit einem kühnen Satz über die Mauer sprang und Daisy nebst ihren drei Lieblingen auf dieselbe hob, und ihr dann Numa Pompilius abnahm.

»Du mußt ihm Mittwoch ein Tellerchen voll Sahne geben, weil es sein Geburtstag ist.«

»Welchen Mittwoch?«

» Jeden Mittwoch, weil du ihn mir doch an einem Mittwoch geschenkt hast, weißt du.«

»Würde nicht einmal im Monat genügen?« wagte er vorzuschlagen.

»Nein,« entgegnete die Kleine bestimmt. »Man kann doch nicht wissen, wie lange er leben wird, und das arme Tierchen hat nichts anderes, worauf es sich freuen kann, als auf diesen Sahnetag!«

»Wie weißt du denn, daß er sich auf die Sahne freut?« forschte Georg.

»Weil er neulich den ganzen Teller ausgetrunken hat, und die Milch noch nie.«

»Vielleicht hat es die Katze getan,« warf der junge Doktor zweifelnd ein.

»O nein!« rief Daisy entsetzt. »Minette würde etwas so Unrechtes nie tun. Und hier,« fügte sie hinzu, »sind Angelina und Seraphia.« Und dabei hielt sie ihrem Freunde zwei schon sehr abgenutzte Puppen hin.

»Was soll ich mit den Damen?« fragte Georg, der fürchtete, er solle von ihrer ganzen Puppenfamilie Abschied nehmen.

»Du sollst sie auch bei dir behalten,« bat Daisy.

»Wie? Du willst dich wirklich von zwei deiner Kinder trennen?«

Daisys Augen füllten sich mit Tränen, zum ersten Male, seit ihre Verbannung beschlossen war.

»Ich würde natürlich nie so etwas tun!« rief sie gekränkt, und bildete dadurch unbewußt einen scharfen Kontrast mit der Handlungsweise ihrer Mutter. »Aber sie erlauben mir ja nicht, daß ich sie mitnehme. Und sie könnten sie fortwerfen, wenn ich sie zu Hause ließe. Und außerdem würden meine armen Kinder sich auch furchtbar verlassen fühlen, wenn sie niemand hätten, der mit ihnen spricht.«

Georg streckte willig die Hände nach den beiden so wenig verlockenden Geschöpfen aus. Er hätte es nicht über sein Herz gebracht, heute Daisy einen Wunsch abzuschlagen.

»Was soll ich mit ihnen sprechen?« erkundigte er sich. »Ich bin nicht sehr bewandert in der Puppensprache. Muß ich mich nach ihrer Gesundheit erkundigen?«

»Du mußt von mir mit ihnen reden,« entgegnete die Kleine ernsthaft.

»Gut denn!« stimmte Georg zu. »Möchtest du mir noch etwas anderes anvertrauen? Dann wäre es gut, du sagtest es mir gleich, damit ich es über die Mauer hole.«

Daisy sann einen Augenblick nach.

»Vielleicht könntest du noch ihren alten Puppenwagen nehmen, damit du sie spazieren fahren kannst, wenn das Wetter schön ist.«

»Das ist nicht nötig,« erwiderte Georg rasch. »Sie könnten sich erkälten, nun wo der Winter kommt. Und wenn es schön ist, werde ich sie auf das Fensterbrett setzen.«

»Und du wirst sie doch auch zum Schlafen in dein Bett nehmen, nicht wahr?« fuhr die Kleine treuherzig fort. »Und den Numa Pompilius auch?«

»Zum – ich wollte sagen, daß ich es für sehr ungesund halte, wenn Kinder so verwöhnt werden. Ich werde ihnen aber von meinen seidenen Taschentüchern eine schöne Lagerstätte machen, und Numa Pompilius soll einen ganz besonderen Kasten für sich allein im Gewächshaus bekommen!«

»Wie gut du bist, mein lieber Prinz!« rief Daisy erfreut. »Ich danke dir auch sehr – sehr vielmals! Ich fühle mich jetzt schon etwas glücklicher. Und du wirst mir doch auch bestimmt schreiben, und mir erzählen, wie es allen geht? Nun muß ich aber packen gehen. Gute Nacht, lieber Prinz!«

»Gute Nacht, liebe Prinzessin!«

Gleich darauf war die Kleine außer Sicht.

Nach wenigen Sekunden ertönte ihr feines Stimmchen von neuem:

»Lieber Prinz – –«

Georg blickte auf.

»Nanu?« fragte er. »Was gibt's noch?«

»Möchtest du vielleicht noch gerne meinen Zwerghahn haben, während ich fort bin?«

»Danke. Aber ich glaube, es ist besser, ich nehme ihn nicht; er würde sich wohl nicht gut mit dem Gärtner vertragen!«

»Dann muß ich ihn der Köchin überlassen. Sie hat mir auch schon versprochen, ihm einmal die Woche einen schönen, krausen Kopfsalat zu geben, um ihn zu trösten.«

Und nun verschwand die Kleine wirklich, um erst am nächsten Vormittage wieder zu erscheinen, wo sie von dem langmütigen jungen Mann den letzten Abschied nahm und ihm noch einmal ihre Kinder eindringlich ans Herz legte.

»Und du wirst doch auch nicht vergessen, Angelina ihr Halstuch umzubinden, wenn sie auf dem Fensterbrett sitzt, nicht wahr? Sie erkältet sich nämlich sehr leicht. Wahrscheinlich weil sie eine große Wunde am Hals hat. Und du wirst doch auch Seraphia gut unterhalten, weil sie nämlich nicht sehr glücklich ist. Sie kann nicht immer so freundlich lächeln wie Angelina, seit Eng'chen sie in die Badewanne fallen ließ und ihren halben Mund abbrach. Und sie fühlt es sehr gut, daß niemand sie lieb hat, und es macht sie sehr traurig.«

»Du kannst ganz ruhig sein, Herzchen!« versicherte Georg die liebevolle kleine Puppenmutter. »Ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht. Du aber lerne nun schön fleißig von Julius Caesar und Numa Pompilius in der Geschichtsstunde, und du wirst sehen, wie die Tage schnell vergehen!«

»Ja, das werde ich!« entgegnete Daisy, aber ohne Begeisterung. »Lise behauptet auch, daß die Tage kürzer werden. Aber ich kann das nicht finden. Es bleibt immer genau dieselbe Zeit vom Frühstück bis zum Mittagessen, und vom Mittagessen bis zum Abendbrot, und so sehe ich nicht ein, daß Lise recht hat. Aber sie sagt, sie hat immer recht. Also wird es wohl wahr sein.«

»Ja, es ist auch wahr!« bekräftigte Georg die Behauptung des Kindermädchens. »Und so mußt du wirklich schon heute fort, mein Herzchen? Um welche Zeit reisest du denn?«

»Jetzt – gleich –« entgegnete die Kleine.

»Jetzt?« rief Georg verwundert. »Du siehst aber gar nicht danach aus.«

Daisy saß ganz gelassen auf der Mauer, in einer Hand eine große Puppe, in der anderen ein Bilderbuch.

»Da bist du ja!« ertönte in diesem Augenblick die ärgerliche Stimme Lisens. »Ich hätte mir ja auch denken können, daß sie da sein würde«, sagte sie zu sich. »Komme sofort herunter, Daisy«, fuhr sie dann laut fort. »Die Droschke steht schon so lange vor der Türe, und wir haben überall nach dir gesucht.«

»Adieu, Kleine!« rief Georg zärtlich, während er sie küßte.

Daisy schlang die Ärmchen fest um seinen Hals »Adieu, mein lieber, lieber Prinz. Ich werde dir und Numa Pompilius und den anderen sehr oft schreiben, damit du dich nicht zu einsam fühlst. Und du kannst sie auch auf deinen Zigarrenspaziergängen mit dir nehmen.«

»Ja, das kann ich!« entgegnete er zu ihrer Beruhigung, indem er unaufrichtig zu einem Vorschlag, den er durchaus nicht die Absicht hegte, auszuführen, seine Zustimmung gab.

»Adieu! Adieu!« rief Daisy immer wieder und wieder, während Lise sie energisch fortführte.

Der junge Mann empfand noch lange den festen, leidenschaftlichen Druck der kleinen Ärmchen um seinen Hals, und er mußte immer wieder daran denken, wenn er den Domherrn und die übrigen Bewohner des Dekanats von der Herzlosigkeit des »kleinen Teufels« reden hörte.

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