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Zweites Kapitel.
Eine tapfere Tat

Das Haus des Domherrn war, wie schon erwähnt, viel geräumiger, als die Frontseite vermuten ließ, da es durch verschiedene Anbauten sehr vergrößert war.

So war die die Grenze bildende Mauer an einer Stelle erhöht worden, um sie zu einer neuen Küche zu verwenden. Der hohe Schornstein am Ende des schrägen Daches war eine Quelle unaufhörlichen Ärgers für den alten Herrn Evans, der deswegen schon viele erbitterte Auseinandersetzungen mit dem Domherrn gehabt hatte, die damit endigten, daß letzterer ihn an einen Rechtsanwalt verwies. – –

Am Abend des ereignisreichen Tages, als der Sohn des »Emporkömmlings« mit seiner Nachtischzigarre auf demselben Pfad, den er morgens auf und ab geschritten war, spazieren ging, knackte plötzlich eine Schnecke unter seinem Fuß.

Diese brachte ihm die kleinen Nachbargäste wieder in Erinnerung und ein belustigtes Lächeln umspielte seine Lippen. Im nächsten Augenblick jedoch fuhr er erschreckt zusammen. Denn auf das schräge Dach der vorhererwähnten Küche wurde ein weißer Gegenstand mit solcher Gewalt geschleudert, daß er den Dachziegel, den er traf, mit lautem Krach zerbrach.

»Nun«, rief ein zartes Stimmchen von irgendwo aus dem Hause, »nun wage ich auf diesem schrägen Dach entlang zu gehen bis nach dem Schornsteinturm.«

Der junge Evans blickte in die Höhe. Und da, an einem offenen Fenster, ungefähr drei Fuß über dem Dache, stand eine kleine weißgekleidete Gestalt, deren schwarzes Haar und schwarze Augen sich scharf in der Dämmerung gegen die weißen Gardinen abhoben.

»Eins, zwei, drei«, fuhr sie fort, »und –«

»Guten Abend!« rief Georg Evans, laut genug, um von dem kleinen Mädchen – denn sie war es – verstanden zu werden.

»Oh, es ist der Schneckenmann!« rief eine feine, erschreckte Stimme. »Was tust du denn hier?«

»Ja!« stimmte der junge Evans zu. »Es ist der Schneckenmann. Und was ich tue, willst du wissen? Nun, bis jetzt ging ich hier ganz ruhig im Garten spazieren, aber nun beobachte ich dich. Möchtest du mir nicht sagen, ob du auch auf Befehl deiner Mutter Haarbürsten aus dem Fenster wirfst?«

»Nun, das gerade nicht. Aber bitte, gehe doch fort, weil du mich eben ganz furchtbar erschreckt hast; und ich möchte nicht gerne erschreckt werden, weil ich eine sehr gefährliche Reise vor mir habe.«

»Es scheint mir, daß du eine sehr lebendige, unternehmende Nachbarin bist. Morgens gab es eine Schneckenplage, und jetzt am Abend regnet es Haarbürsten,« bemerkte der junge Mann ironisch. »Und was deine Reise anbetrifft, so ist die einzige Reise, die du jetzt unternehmen wirst, in dein Bettchen, in dem du schon längst sein müßtest.«

»Ach! Aber ich habe mir jetzt gerade Mut gemacht, auf das schräge Dach zu gehen, und die Bürste zu holen: weil es nämlich gar nicht meine Bürste ist, sondern die Haarbürste von Mütterchen, aus Elfenbein, mit Silber auf der Rückseite. So siehst du, daß du es nicht verhindern darfst.«

Aber ohne sich von den scheinbar ganz richtigen Beweisgründen des kleinen Mädchens beeinflussen zu lassen, blieb der junge Mann fest dabei, ihr diese Heldentat zu verbieten.

»Ach! Aber sie werden so böse sein, wenn sie Mütterchens Bürste nicht finden; und es ist mir so schrecklich, immer bestraft zu werden, wenn ich nur etwas Gutes tun wollte.«

»Aber! Du kannst doch nicht im Ernst gedacht haben, daß du etwas Gutes tust, wenn du die hübsche Haarbürste deiner Mutter aus dem Fenster wirfst?«

»O doch. Ich wollte so sehr gerne tapfer sein, weil Mütterchen sich das so sehr wünscht.«

Die Kleine hatte nämlich ihre Mutter mißverstanden: sie hatte ihr gesagt, sie möchte brav sein, und das Kind hatte das als mutig aufgefaßt.

»Und als ich mich heute abend auszog, habe ich immer gedacht und gedacht, wie ich das wohl machen könnte. Ich wollte so gerne etwas so recht Mutiges tun, etwas, wovor ich mich sehr fürchten könnte. Und da fiel mir nichts anderes ein, als auf das schräge Dach zu gehen; und weil ich mich aber doch so sehr davor fürchtete, warf ich zuerst die Bürste hinaus, um mich mutig zu machen; weil ich wußte, dann müßte ich hinaufgehen, um sie zu holen. Deshalb, bitte, sprich nicht mehr zu mir, und ich werde es nun tun – – –«

»Du rührst dich nicht von der Stelle!« rief ihr der junge Mann erregt zu. »Du würdest sicher abgleiten und dich totfallen. Ich werde dir dann schon selber die Bürste holen.«

Und dem Worte die Tat folgen lassend, schwang er sich behende auf eine Regentonne, kletterte dann an der Rinne in die Höhe und von da auf das »schräge« Dach. – Es war in der Tat so schräge, daß es unmöglich war, darauf zu gehen. Zu des jungen Mannes großer Erleichterung konnte er indessen die Bürste erreichen, indem er sich der Länge nach auf die Dachziegel legte und die Hand weit ausstreckte. Nachdem er den so heiß ersehnten Gegenstand in seinem Besitz hatte, kroch er, auf dem Bauche liegend, weiter, bis er dicht vor dem Fenster des Kinderzimmers angelangt war. Da stand er vorsichtig auf.

»Hier ist sie, Kleine!« sprach er freundlich, indem er ihr die Bürste reichte. »Aber bitte, unternimm keine weiteren mutigen Taten mehr. Gott allein weiß, was geschehen wäre, wenn ich mich nicht zufällig im Garten aufgehalten hätte. Ich glaube wirklich, ich müßte es deiner Mutter erzählen, damit das Mädchen in Zukunft besser auf dich aufpaßt.«

»Ach! ich danke dir so furchtbar! Aber bitte, bitte, erzähle es doch nicht, lieber, guter junger Mann!«

Und zwei weiche kleine Ärmchen umschlangen seinen Hals und ein süßes Mündchen drückte einen zärtlichen Kuß auf sein Gesicht.

»Nun gut, ich werde es nicht erzählen. Aber du mußt mir auch versprechen, niemals aus dem Fenster zu steigen.«

»Ich verspreche und gelobe es dir feierlich!« entgegnete das kleine Mädchen ernst. »Und ich wünschte mir ja auch gar nicht so sehr, hinauszusteigen. Ich fürchtete mich ganz schrecklich in meinem Innern. Ich wagte es ja auch bloß wegen der Bürste. Und ich wollte so gerne eine Heldentat vollbringen, weil ich eine Prinzessin war, weißt du.«

»Eine Prinzessin?« fragte der junge Mann verwundert.

»Ja, eine große, wunderschöne Prinzessin, in einem Lande, wo man von niemand Schelte bekommt und wo jeder ganz glücklich ist! Und wo niemand, wenn man etwas Gutes tut, das nachher schlecht nennt. Aber natürlich ist das nur so zum Schein!« schloß sie, und ihre Stimme klang sehr traurig.

»Armes, kleines Geschöpfchen!« murmelte der junge Mann für sich.

Im nächsten Augenblick jedoch erheiterte sich das Gesichtchen der Kleinen wieder und sie rief fröhlich:

»Aber nun habe ich ja einen ›Prinzen‹! – Und Prinzen helfen den Prinzessinnen immer aus der Not – du bist nun mein ›Prinz‹. So ist dieses Mal doch etwas Gutes daraus geworden; weil natürlich eine Prinzessin nun nichts mehr zu tun braucht, wenn ein Prinz da ist, der alles für sie tut.«

»Inzwischen wirst du dich bis auf den Tod erkälten, und zwar nicht nur zum Schein!« bemerkte der ›Prinz‹ prosaisch.

Die kleine ›Prinzessin‹ zitterte und bebte am ganzen Körper und meinte seufzend:

»Nun, vielleicht gehe ich dann jetzt lieber in mein Bettchen. Aber bitte, vergiß doch nicht die schöne Geranie, welche wir uns verdient haben, in unseren Garten zu setzen. Weil sie doch unsere Geburtstagsüberraschung für Mütterchen ist, und ich wäre zu traurig, wenn wir gar nichts für sie hätten. Ach! ich freue mich ja so furchtbar darauf. Wir fürchteten nämlich schon, daß wir nicht genug Schnecken wegtragen würden, selbst wenn wir sie so schnell über die Mauer in deinen Garten warfen.«

»Du kannst ganz ruhig sein. Ich werde die Geranie nicht vergessen. Aber höre: du mußt niemand sagen, daß ich sie dir geschenkt habe. Das ist ein Geheimnis.«

»Natürlich nicht. Ich werde doch ein Geheimnis für mich behalten können. Übrigens hast du die Geranie uns doch nicht geschenkt. Hast du denn ganz vergessen, daß wir sie uns verdient haben, weil wir alle die gräßlichen Schnecken aufsammelten? Und« – hier seufzte das Kind tief auf – »es war eine schwere, mühsame Arbeit.«

»Das glaube ich dir, Kleine. Nun, dann ist ja alles in Ordnung. Aber da wir gerade von den Schnecken reden, so mußt du mir versprechen, kein Tier, welcher Art es auch sei, jemals wieder über die Mauer zu werfen, weil ich nicht weiß, was geschehen würde, falls mein Vater davon hörte.«

»Ich werde keine Schnecken mehr herüberwerfen, weil ich es jetzt gar nicht mehr eilig habe, schnell Geld zu verdienen. Und außerdem weiß ich doch nun auch, daß es unrecht ist, so etwas zu tun. Es ist sehr leicht, etwas nicht zu tun, wenn man weiß, daß es unrecht ist. Aber« – hier entrang sich wieder ein schwerer Seufzer ihrer Brust – »ich weiß nie, daß etwas unrecht ist, bis nachher, wenn ich es getan habe.« Dabei kam der Kleinen ihre neueste Dummheit in Erinnerung, und sie begann die Bürste, von welcher sie einen so unpassenden Gebrauch gemacht hatte, zu befühlen. »Ob wohl Mütterchens Bürste sehr verdorben ist? Ich hoffe nicht; Mütterchen hat sie nämlich sehr gerne. Aber ich würde mich gar nicht wundern, wenn sie sehr schlecht geworden wäre. Ich habe ja immer Pech. Bei mir geht alles immer so unglücklich. Natürlich! Sie ist ganz zerkratzt! Ach Gott! Nun gute Nacht, mein lieber Prinz! Morgen, wenn ich wieder Prinzessin bin, werde ich auch wieder nach dir ausschauen. Am Tage bin ich nur ein kleines häßliches Mädchen, außer für dich. Und du bist auch nur ein junger Mann, außer für mich.«

Eine Sekunde darauf war die kleine Gestalt vom Fenster verschwunden und der junge Evans kroch nun lachend wieder das Dach entlang, um dann in derselben Weise, wie er in die Höhe gekommen war, wieder herunterzuklettern. Dabei murmelte er: »Armes, kleines Geschöpfchen! Welch ein seltsames Wesen es ist! Woher mögen Kinder nur solch wunderliche Ideen bekommen? Inzwischen,« lachte er, »habe ich, ganz meiner prinzlichen Würde entgegen, meine Kleider bei der Kletterpartie beschmutzt.«

Dann fiel ihm ein, daß ja eins seiner prinzlichen Versprechen noch unerfüllt geblieben war, und er begab sich in das Treibhaus, um die große Geranie zum Geburtstagsgeschenk der beiden kleinen Sinclairs zu holen.

Nachdem er den Blumentopf in den Nachbarsgarten niedergesetzt hatte, ging er ins Haus und, um etwaigen Fragen wegen seiner unordentlichen und unsauberen Verfassung aus dem Wege zu gehen, zog er sich in sein Rauchzimmer zurück, wo er den Rest des Abends zubrachte.

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