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Erst nachdem Manu sich als dauerndes Mitglied von Katoyas kleiner Familie niedergelassen und ein für allemal den Beweis erbracht hatte, daß er trotz seiner gewaltigen Jagdkunst auf anderen Gebieten als Fallensteller für Fischreiher gar nichts taugte, beschloß Thunderboy, da er Quosk sichtbarlich nicht zu Leibe rücken konnte, diesen von nun an nur als unsichtbares Krächzen zu betrachten.
Nachdem also dieser Punkt ein für allemal erledigt war, lenkte Thunderboy seine Gedanken in eine andere Richtung und gelangte zu folgendem Ergebnis:
Wenn auch Quosk bis in alle Ewigkeit nur die ›Nächtliche Frage‹ bleiben würde, so war das doch noch lange kein Grund, weshalb der Donnervogel sich nicht als des ›Tages Antwort‹ enthüllen sollte. Daher erhob sich Thunderboy eines Morgens in aller Frühe, während Manu noch auf Jagd war und Katoya in tiefem Schlafe lag, mit äußerster Vorsicht von seiner Lagerstatt, denn er hatte in seinem Innern entschieden, heute wäre der große Tag der Entdeckungen.
Er schaute sich um: Das Lager lag in tiefem Schweigen. Dichter Nebel verschleierte den See. Vom Ufer aus vermochte man nur wenige Meter weit zu sehen. Drinnen in der Hütte machte seine Großmutter, ebenfalls im Nebel liegend, allerlei Geräusche durch die Nase. Zum Glück für Thunderboys Plan war aber auch Katoyas Inneres ebenso wie die Außenwelt von Dunstschleiern umwoben. Man konnte diese, wenn man wollte, als Schlaf bezeichnen. Wie man sie nannte, war ganz gleichgültig. Worauf es vor allem ankam, war, daß diese Hüllen auch über Katoyas Geist dicht genug lagerten, um sie vor sich selber zu verbergen. Für gewöhnlich hatte Katoya einen so leichten Schlummer, daß auch das geringste Geräusch sie aufschreckte. Damit soll nicht gesagt werden, daß sie wirklich hellwach wurde, vielmehr schwebte das Geräusch, falls es wirklich durch die äußere Schale ihres Bewußtseins drang, ohne sie jedoch vor einer Gefahr zu warnen, sogleich wieder, leicht wie Distelwolle, durch die Luft davon. Jetzt, nach Ablauf so zahlreicher Jahre, hatte Katoya die Fähigkeit entwickelt, unbewußt die verschiedenen Geräusche zu sichten und die warnenden von den harmlosen zu unterscheiden, sobald sie durch den Zeltvorhang ihres Schlafes in ihr Bewußtsein glitten. Doch Katoyas Unterscheidungsvermögen war nicht gleichmäßig entwickelt. Die kommenden Dinge, zum Beispiel, spürte sie stärker als jene, die sich von ihr fortbewegten. Fast schien es, als schickten alle Geschöpfe und Ereignisse, die sich ihr näherten, einen Teil ihres Ichs voraus, um Katoya noch vor ihrer eigentlichen Ankunft zu berühren.
Als daher ihr Enkel sich jetzt von ihr fortstahl, vermochte sie sich nicht durch den neblichten Dämmer ihres Geistes bis zu ihm hinzutasten.
Im grauen Zwielicht des Morgens sah Thunderboy den Nebel dahertreiben. Er wogte in dünnen und dichten Schleiern heran, kraft irgendeiner gewaltigen Bewegung, die ihren Ursprung anscheinend irgendwo im Norden hatte. Die kalte, feuchte Luft blies an ihm vorbei, bis ihm sein Gesicht fror. Es war nicht gerade verlockend, in all diesem wogenden Dunst den Donnervogel zu suchen. Aber er wußte, seine Großmutter würde, wenn er zu Hause blieb, bis der Nebel sich geklärt hätte, früher oder später aufwachen und ihm diese oder jene kleine Arbeit übertragen. Also wählte er vorsichtig seine Schritte und kroch aus der Hütte heraus, um im nächsten Moment, ohne jede Möglichkeit der Entdeckung, von dem Nebel verschluckt zu werden. Das heißt, es bestand keine Gefahr der Verfolgung seitens seiner Großmutter. Was Manu betraf, so war das eine ganz andre Sache. Kein Geschöpf war vor seinen behenden Füßen sicher, jenen furchtbaren lautlosen Sohlen, die in ihren dicken Polsterungen den krallenbewaffneten Tod bargen. Das Schlimme an Manu war, daß man niemals genau wußte, wo er sich aufhielt. Selbst wenn man ihn tausend Meilen fern glaubte, konnte er ebensogut hinter der nächsten Ecke auftauchen oder sich so dicht an den Boden ducken, daß man seine Gegenwart nicht ahnte.
Unterwegs verdichtete sich der Nebel, aber die Helligkeit wuchs. Der Wald wirkte doppelt geheimnisvoll; in seinem Innern spukten fremdartige Gestalten und allerlei seltsames Leben. Umrisse tauchten auf, verschwanden und wurden von neuem sichtbar, und zwar auf so verwirrende Weise, daß man nie wirklich begriff, was man eigentlich gesehen hatte. Die Dickichte schienen zu schwanken und dahinzugleiten. Selbst riesenhafte Baumstämme, deren vielverschlungene Fasern mit ihren Wurzelenden die Jahrhunderte umklammerten, wankten und taumelten unruhig hin und her, als hätten sie durch irgendein Wunder plötzlich Beine bekommen. Doch ob nun die Bäume sich rührten oder regungslos blieben, der Nebel verrichtete sein Zauberwerk, bis alles sich zu bewegen schien und man versucht war zu glauben, daß der Wald selbst umginge.
Weiter und weiter schritt Thunderboy mit ständig zunehmender Aufregung. Der Gedanke an den Donnervogel, der irgendwo auf jenen fernen Höhen jenseits des Nebels horstete, trieb ihn vorwärts. Im Weitergehen wiederholte er unablässig für sich seiner Großmutter Worte: »Der Donnervogel birgt den Donner in seinen Schwingen.« Doch er barg ihn nicht nur in seinen Schwingen, sondern auch unter seinen Schwingen – lauter riesenhafte, blauschwarze Eier, aus denen die Blitze und die Stürme, welche die Welt erschüttern, ausgebrütet wurden.
Falls die Sippen des Waldes wirklich unterwegs waren – Thunderboy bekam sie nur selten zu Gesicht. Einmal stieß er hinter einem Teebeerenstrauch auf einen Hirsch, doch verschwand das Tier mit einem einzigen Satz im Nebel. Das andere Mal gewahrte er die lange graue Gestalt eines Wolfes, die aber, gleich dem Hirsche, alsbald wieder ausgelöscht ward. Nach einer Weile begann der Boden zu steigen. Sehr bald bemerkte Thunderboy, daß er sich am Fuße irgendeines hohen Berges befand. Vielleicht war es der Tanukberg. Nach allem, was seine Großmutter erzählte, war gerade der Tanukberg der Ort, wo alle möglichen seltsamen Dinge sich zutrugen. Thunderboy war in seinem Innern überzeugt, daß dort, ohne Zweifel, auch der Donnervogel über seinen blauschwarzen Eiern säße.
Höher, immer höher ging es, und der Nebel lichtete sich. Auch die Bäume standen hier in größeren Zwischenräumen. Bald tauchten hier und dort große Felsblöcke auf, und es gab offene Lichtungen, nur mit Steinen bedeckt. Noch etwas weiter oben waren die Felsen zahlreicher als die Bäume, und bald stand Thunderboy auf der freien Berglehne, den Wald zu seinen Füßen.
Es war das erstemal, daß er sich so hoch einen kahlen Berg hinaufwagte. Nach dem dichtbewaldeten Seegebiet erfüllte ihn die fremdartige Kargheit der Landschaft mit einem Gefühl, nicht unähnlich der Furcht. Jetzt war der Nebel gewichen, die Sonne stach und die Steinwüste brannte in unbarmherzigem Licht. Thunderboy war eine derartige Helligkeit nur auf dem Wasser gewöhnt. So lange hatten seine Augen im grünen Dämmerlicht der Wälder geweilt, daß sie vor dem harten, weißen, von dem Gestein zurückgeworfenen Sonnenschein hier oben zurückschreckten. Nachdem er eine ziemliche Strecke zurückgelegt hatte, hielt er inne, um zu rasten. Er war sehr durstig und blickte sich nach Spuren von Wasser um. In einiger Entfernung zu seiner Rechten gewahrte er unter einem Felsen einen Grasfleck. Der großen Höhe nach ließ das auf Feuchtigkeit, womöglich auf eine Quelle schließen.
Oben angekommen, entdeckte er zu seiner Freude in dem Felsen eine kleine Wasserlache, der ein winziger kleiner Bach entsprang. Hier trank er lang und legte sich, nachdem er seinen Durst gelöscht, im Schatten der Felsen neben dem Tümpel schlafen. Und dank der Hitze und der weiten Entfernung, die er zurückgelegt hatte, und wohl auch, weil er vergaß, an irgend etwas Besonderes zu denken, sank er sehr bald in tiefen Schlummer.
Vielleicht streckte der Donnervogel einen seiner Flügel. Vielleicht flüchtete irgendein aufgeschrecktes Kaninchen voll wilder Hast in seinen Bau. Vielleicht war aber auch keines von beiden der Fall, und es schälte sich lediglich ein Teil des Tanukberges in der großen Hitze ab. Wie dem auch gewesen sein mochte, irgendwo lockerte sich ein Stein und donnerte keine drei Zoll breit an Thunderboys Haupt vorbei zu Tal. Im nämlichen Augenblick war er auch schon hellwach auf die Füße gesprungen. Er blickte hoch – dort war nichts weiter zu sehen als die hohen, kahlen Felsen und die baumlose Glut des fernen Gipfels. Doch gerade, weil er nichts sah, war Thunderboy um so mehr auf seiner Hut. Kamen Steine ins Rollen, so hatte höchstwahrscheinlich ein Fuß sie in Bewegung gesetzt. Mochte der Tanukberg auch noch so kahl sein, Thunderboy erriet, daß mehr als ein großes Raubtier hier in der ungastlichen Einöde sein Lager aufgeschlagen hätte. Wieder polterte ein Stein den Abhang hinunter; und wieder gewahrte Thunderboy im Aufblicken nichts als das ungeheure Gebirgsmassiv, über dessen riesenhafte Schultern seit einer Million Jahre die Steine heruntergepurzelt waren. Jetzt wußte er ohne jeden Zweifel, daß irgend etwas hier oben umginge. Aber das war noch kein Grund, umzukehren. Selbst ein verhältnismäßig kleines Tier konnte in dieser Welt der Schroffen und Felsvorsprünge, wo früher oder später alles nicht Wetterfeste ins Wanken geraten und zu Tal stürzen mußte, einen Stein gelockert haben. Außerdem mußten alle diejenigen, die auszogen, den Donnervogel zu suchen, ein unerschrockenes Herz in der Brust tragen und durften sich von einem stürzenden Stein nicht abschrecken lassen. Also setzte er den Aufstieg fort.
Er drang so leise wie nur möglich vorwärts, doch schienen in der heißen, stillen Luft selbst die behutsamsten Schritte ein flüsterndes Echo zu wecken, das ihm voran den Berg hinaufwanderte. Und jetzt war es, als habe sich der gesamte Gebirgsstock in ein einziges, gigantisches, lauschendes Ohr verwandelt.
Höher ging es, immer höher. Hier nahmen die einzelnen Felsblöcke ein Ende. Der Berg türmte sich zu Festungen und Schanzwerken, welche in immer steilere Höhen ragten. Falls der Donnervogel hier oben wirklich nistete, so war es kein Wunder, daß seine Eier gelegentlich aus dem Neste fielen und unter ohrenbetäubendem Lärm im Abgrund zerschellten. Thunderboy wußte genau, was er tun würde, falls er ein noch unzerschlagenes Ei fände. Er würde es sorgfältig nach Hause tragen und es für dringende Fälle aufbewahren. Wie angenehm, ein hübsches, privates, kleines Gewitter sicher verpackt zur Abwehr gegen unliebsamen Besuch bei der Hand zu haben! Allein obwohl er aufmerksam nach allen Seiten ausspähte, stieß er auf keine Eier, geschweige denn auf eine Spur des Donnervogels selbst. Er hatte inzwischen eine sehr große Höhe erklommen. Wenn er zurückblickte, sah er die Wälder in ungeheurer Entfernung zu seinen Füßen liegen, und rings von ihnen umsäumt funkelte und glänzte in der Hitze der große See. Dort unten befand sich Katoya – vielleicht auch Manu. Sie schienen jetzt sehr weit weg zu sein, fast in einem anderen Teile der Welt. Hier war er wirklich weit über sie erhaben, fern von ihrer Hilfe, falls er deren wirklich bedürfen sollte.
Was war das? – Eine Bewegung! – Eine dunkle Masse hatte sich eine Sekunde lang zwischen den Felsen gerührt und war dann wieder verschwunden! Wenn das der Donnervogel war, so glich seine Gestalt nicht im geringsten der eines Vogels, und sie war auch ganz anders, als Thunderboy sie sich vorgestellt hatte. Und doch – falls eine verschlafene Mulde, so trocken und kahl, daß nichts als braune und graue Flechten hier und dort das Gestein betupften, eine Mulde, wo die Felsen selbst vor Hitze zu bersten schienen, die beste Brutstätte für den Donnervogel bildete – so befand sich hier ohne jeden Zweifel der Horst jenes ungemein geräuschvollen, stürmischen Vogels.
Vorsichtig näherte sich Thunderboy der Stelle, wo das Geschöpf verschwunden war, aber als er sie erreichte, fand er sie leer. Hier an dieser einsamen Stätte, ohne Bewegung, ohne Geräusch, ohne Windhauch, wo selbst die Luft vor Hitze abgestorben schien, packte ihn eine Unruhe, die sich zum Schlusse bis zur Furcht steigerte. Das eine war gewiß: irgend etwas hielt sich hier zwischen den Felsen versteckt. Falls er sich vom Flecke rührte, konnte er es um die nächste Ecke herum auftauchen sehen. Wenn es nun aber wirklich der Donnervogel wäre, wie konnte er, Thunderboy, dann hoffen, sich an diesem wüsten leeren Ort vor seinen furchtbaren Flügelschlägen zu verbergen?
Er war gewarnt. Jene geheimnisvolle Warnung, welche die Wildgeschöpfe von einer Gefahr benachrichtigt, traf ihn jetzt mit eindeutiger Klarheit und gebot ihm eindringlich, umzukehren. Hätte er ihr nur gehorcht! Allein seine brennende Neugier war stärker als seine Furcht. Er hatte diesen weiten Weg zurückgelegt, um den Donnervogel aufzuspüren, und er wünschte doch so dringend, sich vor seiner Großmutter mit seiner Heldentat zu brüsten! Jetzt umkehren, da das Gesuchte sich um die Ecke herum hinter dem nächsten Felsen verbarg, wäre feige gewesen.
Er hatte starkes Herzklopfen und ein so sonderbares Gefühl in den Haarwurzeln. Aber er schritt weiter und äugte um den nächsten Felsvorsprung. Gleichzeitig vernahm er ein tiefes, polterndes Brummen und sah sich Angesicht zu Angesicht mit Okonupo, dem berühmten Grizzly.
Thunderboy hatte schon des öfteren in seinem Leben Bären gesehen – braune Bären, schwarze Bären, ja selbst gelegentlich einen Grizzly – niemals jedoch einen Grizzly wie diesen hier. Okonupo war so groß und schwer, daß er einem Stück Fels glich, das sich in einen Pelz gewickelt hat. Thunderboy ließ sich durch diese scheinbare Schwerfälligkeit und Trägheit nicht täuschen. Er wußte genau: hat sich ein Grizzly erst einmal in Bewegung gesetzt, so braucht man ein Paar wirklich langer Beine, um ihm zu entkommen.
Das mächtige Tier, das ihn jetzt tückisch aus kleinen Schweinsäuglein anglotzte, hatte sich im ganzen Tanukgebirge und auf den benachbarten Hängen einen furchtbaren Ruf geschaffen.
Der Ruhm seiner Kraft und Schlauheit hatte sich unter sämtlichen Tieren verbreitet. Ja, wäre das Land, in dem sie hier weilten, Katoya vertraut gewesen, auch sie hätte von dem mächtigen Grizzly gewußt, dem kein anderes Geschöpf außer Manu sein Jagdgebiet streitig zu machen wagte.
Thunderboy hatte wieder und immer wieder die Behauptung gehört, das Gefährlichste an einem Grizzly sei, daß man nie wissen könne, was er im nächsten Augenblick tun oder lassen würde. Der Geist eines Grizzly gleicht nicht dem eines gewöhnlichen Bären. Das eine ist jedoch sicher: hat ein Grizzly erst einmal einen Entschluß gefaßt, so vertrödelt er nicht erst die Zeit mit weiterem Nachdenken, sondern geht blitzschnell zur Tat über. Im gegenwärtigen Augenblick brauchte Thunderboy nicht viel über die Gewohnheiten des Grizzlys zu wissen, um zu erkennen, daß dieses besondere Exemplar seiner Rasse sich von Sekunde zu Sekunde in immer größere Wut hineinarbeitete. Das sagten ihm nicht nur die zornig glitzernden Augen, die ihn voll lauter kleiner Lichtpünktchen aus dem mächtigen Haupt anfunkelten, sowie die Haltung des riesigen Tierkörpers, bereit, sich in der nächsten Sekunde mit aller Kraft auf ihn zu stürzen; irgend etwas aus den Tiefen der Tierseele sprang in ihn über und warnte ihn, noch ehe der Leib zum Sprung ansetzte. Ein, zwei Sekunden stand Thunderboy regungslos und blickte der Bestie in die zorngeröteten kleinen Augen. Dann wich er Zoll für Zoll zurück, wobei er den Grizzly mit seinen Blicken bannte. Dieser Rückzug vollzog sich sehr langsam und fast geräuschlos, denn Thunderboy wußte, wenn man einem wilden Tiere gegenübersteht, so vermag eine einzige hastige Bewegung es bis auf das Äußerste zu reizen. Trotzdem war es unverkennbar ein Rückzug, und obwohl Thunderboy dadurch lediglich seinen Widerwillen gegen jede Einmischung hatte ausdrücken wollen, faßte der Grizzly es als ein Zeichen der Schwäche seitens seines Feindes auf. Okonupo war durchaus nicht zufrieden, einen Gegner in die Flucht geschlagen zu haben; im Augenblick sah es ganz so aus, als würde dieses Geschöpf seinen Klauen entrinnen; dabei spürte er doch die größte Lust – da es ja ein Mensch war – es Glied um Glied zu zerreißen.
Ein tiefes, heiseres Knurren stieg aus seiner breiten Brust auf. Hier war wirklich ein Donner – wenn auch von ganz anderer Art, als der Knabe ihn zu finden gehofft hatte. Er wartete nicht erst einen zweiten Ausbruch ab. Mit einer blitzschnellen Bewegung, wie nur ein Leben in der Wildnis sie lehren kann, sprang er zurück und um die Ecke des Felsens.
Zähnefletschend und mit einem Gebrüll, das fast einem Geheul glich, sauste der Grizzly hinterdrein.
Jetzt aber rannte Thunderboy ums liebe Leben; er führte dabei all seine Schnelligkeit ins Treffen; er rannte, als liefen sämtliche schnellfüßige Ahnen seines Mischlingsblutes in seinen Beinen mit. Er befand sich hier auf unbekanntem Boden und wußte daher nicht, welchen Weg er einschlagen sollte. Trotzdem stürmte er nicht blindlings ins Blaue hinein. Seine Augen waren so beschäftigt wie seine Beine und spähten in alle Richtungen nach dem sichersten Ausweg. Er brauchte sich nicht erst umzuschauen, um zu wissen, daß der Bär sich ihm dicht auf den Fersen befände. Mehr noch mit dem Gefühl als mit den Augen nahm er den wütenden, zittrigen Wirbelwind wahr, der lawinengleich über den Bergabhang polterte.
Anfänglich lief der Knabe in gerader Richtung bergab, getrieben von der unklaren Hoffnung, er könne vielleicht noch die Waldgrenze erreichen, ehe der Grizzly ihn eingeholt hätte; sehr bald jedoch erkannte er an dem furchtbaren Tempo, in dem der Bär sich vorwärts bewegte, daß das unmöglich sei. Außerdem zwang ihn eine zu seinen Füßen steil abstürzende Schlucht, die Richtung zu ändern und von neuem nach rechts und nach links die Berglehne entlang zu hetzen. Es war eine Wahl zwischen Leben und Tod, ohne daß ihm ein Moment zur Überlegung blieb. Er wandte sich nach rechts, weshalb, wußte er selbst nicht, zu seinen Häupten die steilen, felsigen Hänge, unter sich den Abgrund, und vor sich – das gewahrte er jetzt zu seinem Entsetzen – eine tiefe Bodensenkung, die er nicht rechtzeitig zu überqueren vermochte. Mit sinkendem Mut kehrte er sein Antlitz wieder dem steilen Gipfel zu; er wußte, der Bär würde ihn jetzt rasch einholen und alles dransetzen, ihm den Rückweg in die Tiefe abzuschneiden. Hinter seinem Rücken vernahm er das scharrende, gleitende Geräusch eines mächtigen Tierkörpers, der sich mit schierer Gewalt vorwärts über das Geröll die steilen Höhen emporzwingt und die losen Steine weit unter sich in die Schlünde und Schluchten schleudert.
Des Knaben Atem versagte. Er kam ihm jetzt in kurzen, qualvollen Stößen. Der Steinboden hatte seine Mokassins aufgeschlitzt und ihn an den Füßen verletzt. Hinter ihnen zog sich eine blutige Spur.
Der frische Blutgeruch brachte den Grizzly noch mehr in Wut. Schon kostete er im voraus seine Beute. Und während sich die Entfernung zwischen ihm und der Beute ständig verringerte, flammten seine kleinen Schweinsaugen vor wilder Begier. Mochte der Berg sich noch so steil auftürmen, die gewaltigen Hinterschenkelmuskeln trieben den schwerfälligen Körper unablässig vorwärts.
Verzweifelt blickte Thunderboy sich um. Überall umringten ihn die verwitterten, geborstenen Trümmer des Bergmassivs. Fels türmte sich auf Fels über tiefen, steinigen Abgründen; nirgends ein Unterschlupf, darein er sich vor seinem Mörder flüchten konnte.
Plötzlich gewahrte er zu seiner Rechten ein Felsband, das an einer steilen Wand über eine tiefe Schlucht hinführte. Am Anfang war es ziemlich breit, später aber wurde es zusehends schmäler. Ganz hinten, an seiner schmalsten Stelle, erweckte es den Anschein, als würde der Bär sich nicht an ihm vorbeizwängen können. Wohin es führte, das freilich konnte Thunderboy nicht erkennen, aber es bot ihm die einzige Rettungsmöglichkeit.
Der Bär hatte ihn jetzt fast eingeholt. Noch ein paar Sprünge, und alles war vorüber. Ohne innezuhalten, lief Thunderboy das Felsband entlang. Er verlangsamte auch nicht an der schmalsten Stelle seinen Lauf, denn er wußte, jedes Zaudern konnte verhängnisvoll werden, aber er wagte nicht, einen Blick in die Tiefe zu werfen. Erst als die Stelle hinter ihm lag, von der er hoffte, der Bär würde sie nicht überschreiten können, erkannte er, daß das Felsband abrupt endete.
Er blickte sich um. Der Grizzly kam ihm eilig nachgelaufen und schnitt ihm so jede Möglichkeit der Flucht in jener Richtung ab. Vor ihm bot der Berg keinen Stützpunkt, auf dem auch nur eine Bergziege hätte Fuß fassen können. Unter ihm senkte sich eine kahle Wand volle fünfhundert Fuß in die Tiefe.
Der Bär näherte sich der schmalsten Stelle und blieb stehen, als schätze er den Raum ab, den er überqueren müßte, bevor er die breitere Felsnische erreichen konnte, wo Thunderboy kauerte, eng gegen das Gestein geschmiegt. Es war klar, der Weg behagte der großen Bestie durchaus nicht; sie senkte den Kopf und beschnupperte ihn argwöhnisch, als wolle sie mit der Nase wie mit den Augen die Breite abschätzen. Ganz langsam, zuerst Fuß um Fuß, und dann, als der Steig sich noch mehr verengte, Zoll für Zoll rückte sie vor.
Mit angehaltenem Atem an den fernsten Rand der Nische gepreßt, beobachtete Thunderboy das riesige Tier, während es langsam näherkroch, sein ganzes Körpergewicht nach der Seite der Felswand überneigend.
Der Grizzly hatte jetzt die schmalste Stelle erreicht. Fast sah es aus, als würde er glücklich den Gefahrpunkt überschreiten. Er machte sich so flach, wie nur irgend möglich. Es war erstaunlich, wie eine so breite Brust sich durch sorgfältiges Anpassen der Schultern an das Gestein zusammenzuziehen vermochte, ohne das freie Spiel der Muskeln zu behindern.
Jetzt streckte er behutsam die riesigen Vordertatzen, eine nach der anderen aus, als gelte es, die letzten wenigen, verhängnisvollen Spannen auszumessen. Derweil preßte sich der Körper fest gegen die überhängende Wand, als vermöchte er schon durch sein ungeheures Gewicht den Berg zur Seite zu schieben.
Vor Entsetzen gebannt, beobachtete Thunderboy die Bewegungen der Muskeln unter jenem zottigen Gewand, das für ihn in Wahrheit das Gewand des Todes zu werden versprach.
Langsam – so langsam, daß er fast stille zu stehen schien, zwängte sich der mächtige Körper noch um einige Zoll vorwärts, dann hielt er, sämtliche Muskeln gestrafft, in momentaner Spannung inne. Er bedurfte nur noch eines Zoll breit Bodens, um sicher hinüberzugelangen. Falls der Berg sich weigerte, diesen einen Zoll nachzugeben, mußte der Bär sich zu seinem allergeringsten Leibesumfang zusammenschnüren oder die Sache aufgeben. Thunderboys Leben hing zitternd von jenem einen Zolle ab.
Die mittägliche Sonne brannte mit voller Kraft auf den Fels hernieder, der sich beim Anlehnen heiß wie ein Ofen anfühlte, doch sowohl Mensch wie Tier schienen jenseits der Macht jener glühenden Strahlen zu sein.