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Zweites Kapitel

Der Hungermond

Das Bündel auf dem Rücken setzte die indianische Mutter festen Schrittes ihren Weg fort. Solange Schlaf und Wärme das Bündel einwiegten, war sie bereit, der Wildnis mit ihren Schrecken – Hunger, Dunkelheit, Kälte und reißenden Tieren – zu trotzen, um dem größeren Schrecken der Bleichgesichter zu entfliehen, welche den Inhalt jenes Bündels zu einem weißen Manne erziehen wollten, um es so seiner Mutter zu entfremden. Freilich hatten sie ihr das nicht gesagt, doch sie kannte die Schläue, die sich unter der bleichen Haut des weißen Mannes verbarg. Sie wußte Bescheid!

Im Weitergehen blickte sie ängstlich nach Osten in Erwartung der Morgendämmerung. Mit dem Kommen des Tages mußte früher oder später ihre Flucht entdeckt werden, und sie wußte, man würde sie, wenn man sie verfolgte und einholte, in die verhaßte Siedelung zurückschleppen. Besser, ja tausendmal besser, im Schnee einzuschlafen! Besser die endlose ›Wolfsfährte‹ zu wandern und ihre Reise in den Mokassins der Toten fortzusetzen.

Was war das? Etwas hatte sich dort hinten zwischen den Fichten bewegt. Ein Fuchs vielleicht oder ein Polarluchs? Scharf spähte sie hinüber, aber sie konnte in dem undeutlichen Dämmerlicht nichts unterscheiden. Mochte der Fuchs auch noch so ausgehungert sein, vor ihm fürchtete sie sich nicht; aber ein Polarluchs mit dem kalten Funkeln des Hungermonds in seinen mitleidlosen Augen – das war eine ganz andere Sache! Selbst die Füchse lebten in tödlicher Angst vor jenen riesigen Katzen, sobald der Schnee weich und das Vorwärtskommen schwierig war.

Das Weib beschleunigte ein wenig ihren Schritt mit dem ganz neuen Gefühl, daß sie in dem schneeigen Schweigen der mächtigen Wälder nicht länger der einzige Wanderer sei. Horch – da war es wieder! Diesmal vermochte sie das Geschöpf deutlicher zu erkennen. Es war größer als Fuchs und Luchs, so groß wie ein ausgewachsener Wolf, und kaum war sie dessen sicher, da verschwand es auch schon wieder.

Von jenem Augenblicke an wußte sie, daß sie verfolgt würde. Mitunter sah sie einen flüchtigen, rotbraunen Schatten zwischen den Stämmen dahingleiten und, kaum gesichtet, auch schon wieder verschwinden, und ständig – so schien es ihr wenigstens – verringerte sich die Entfernung zwischen ihm und ihr.

Der Morgen war weit fortgeschritten, als das Tier sich endlich deutlich zu erkennen gab. Jetzt erst trat es furchtlos ins Freie, und das Weib sah, daß es ein großer Kuguar oder Silberlöwe war. Anfänglich ängstigte sie sich ein wenig, aber dann erinnerte sie sich dessen, was ihre alte, in der Wetterkunst und in dem Wissen von den Tieren erfahrene Mutter sie gelehrt, nämlich daß der Berglöwe des Indianers Freund sei, der, falls er nicht gereizt würde, niemals von sich aus den Kampf eröffnete. Und Katoya besaß, wie die ganze indianische Welt wohl wußte, ein ungeheures Wissen um die Tiere. Zur Zeit jedoch war man im Hungermond, da alle Welt aus Mangel an Nahrung abmagerte. Freundschaft wahrlich war eine Sache des Herzens, der Hunger aber – mit größerer Wahrhaftigkeit noch – eine Magenfrage. Der Magen saß tiefer als das Herz. Ein ausgehöhlter Magen war nichts weiter als ein leerer Raum, angefüllt von wildem Verlangen. Er kannte nur das eine Gesetz: die Gier.

Während sie innehielt und besorgt das Tier beobachtete, fing das Bündel auf ihrem Rücken leise zu weinen an. Auch dort, fiel ihr ein, trug sie einen kleinen Magen. Ausgehöhlt, konnte Thunderboys kleines Innere so erbarmungslos sein wie die Wölfe. Ja, in diesem Punkte wartete der Hungermond anscheinend nicht einmal den Kalender ab, sondern kam und ging mit erstaunlicher Regelmäßigkeit. Der Silberlöwe vernahm den schwachen Schrei und spitzte die spitzigen Ohren.

Thunderboys erstes Gefühl beim Erwachen war das der erwähnten Leere. Außerdem war es in der Zuckerkiste entschieden kälter geworden, und offenbar hatte sie plötzlich Beine bekommen. Sobald Thunderboy aber Hunger oder Kälte spürte, pflegte er regelmäßig zu einem unfehlbaren Gegenmittel zu greifen: er sperrte den Mund auf und schrie.

Als er sich aus dem Zwielicht des Opossumfells herausgearbeitet hatte und frei um sich blicken konnte, machte er eine wichtige Entdeckung. Die Zuckerkiste war verschwunden! Aber seine Mutter war noch da, und hinter ihr stand ein großes Tier, größer und haariger als der Ofen. Seine Farbe war ein rötliches Grau, das gegen die Weiße des Schnees fast gelblich schimmerte, und seine Augen waren die eines Luchses, von leuchtendem Grün und sehr klar. Es stand dort und starrte sie beide furchtlos an. Tonesta erwiderte den Blick mit gleicher Kühnheit, aber ihre Finger schlossen sich für den Notfall fest um den Griff ihres Jagdmessers.

Eine volle Minute lang stand der Silberlöwe, ohne sich zu rühren, nur leise mit dem Schwanze schlagend. Dann duckte er sich plötzlich wie zum Sprunge. Tonesta zog ihr Messer; statt sich jedoch auf sie zu stürzen, legte sich das Tier auf die Seite und begann, sich spielerisch hin und her zu wälzen. Das war nur der Anfang einer Reihe von grotesken Sprüngen, bei denen es sich genau wie eine junge Katze benahm, deren Körper ihren Verstand überflügelt hat.

Von jenem Augenblicke an wußte Tonesta, daß sie nichts zu fürchten hätte, und nachdem Thunderboy genügend lange gekräht hatte, um sein Entzücken über den possierlichen Anblick zu bezeugen, schälte sie ihn, soweit erforderlich, aus seinen Hüllen, um sein körperliches Bedürfnis zu befriedigen. Während sie sich mit dem Kinde zu schaffen machte, verfolgte das Tier all ihre Bewegungen mit tiefstem Interesse. Nichts, was sie tat, entging ihm, und als sie endlich fertig und Thunderboy wieder zu einem Bündel zusammengeschnürt war, setzte sie sich von neuem in Marsch mit dem Löwen, der manchmal voran und manchmal hinter ihr schritt, sich aber ständig in ihrer Nähe hielt, als treuen Begleiter.

Sobald sie sich an ihren seltsamen Weggenossen gewöhnt hatte, begann seine Gesellschaft hier in der grauen Einöde der winterlichen Wälder, wo keine Spur von Leben sich auf dem Schnee zeigte, sie ein wenig zu trösten. Es war ganz klar, auch das Tier genoß diese Kameradschaft; mitunter kam es so dicht an ihre Seite, daß sie ihm den dicken, rötlich grauen Pelz streicheln konnte. Mehrere Stunden lang war es ihr Reisebegleiter, dann schnellte es sich plötzlich aus irgendeinem unerfindlichen Grunde in eine Waldlichtung und verschwand.

Jetzt bedrückten das Schweigen und die Leblosigkeit der großen Wälder sie stärker als zuvor. Langsam verstrich die Zeit, bis das kalte Licht der Tagesmitte zum Dämmer des Nachmittages verblaßte.

Plötzlich blieb sie scharf lauschend stehen ... War das ein Schrei oder nur das Sausen des eigenen Blutes in ihren Ohren? Es war so kalt, daß selbst die Schneeeule Ohrensausen hätte bekommen können! Das Weib wartete zitternd, während es die endlosen Fernen mit angespanntem Gehör durchforschte ... Wieder jenes Geräusch, matt, unsicher, noch sehr weit weg, aber mit einem klingenden, weittragenden Ton wie von einer über die Schneefläche geworfenen Stimme. Und der Laut kam aus dem Norden – längs ihrer eigenen Spur!

Sie wartete nicht länger, sondern hastete vorwärts. Wieder trat der gehetzte Ausdruck in ihre Augen, allein diesmal waren die Jäger, die sie fürchtete, keine Menschen. Kaum weniger schlau, aber weit rascher und darum gefährlicher als der Mensch waren diese Verfolger, die jenen dünnen, weittragenden Ton, jenen Appell als Sammelruf in die Ferne warfen – deren abgezehrte Leiber sich endlich auf einer vielversprechenden Spur befanden ... Wölfe!

Besorgt spähte das indianische Weib nach einem Unterschlupf aus, der ihr in ihrer gegenwärtigen Lage Schutz zu gewähren vermöchte. Die Wälder lagen jetzt hinter ihr, sie war weit vorgedrungen in ein offenes, lang sich hinstreckendes Gebiet, begrenzt im Nordosten von einer niedrigen Hügelkette. Ganz in der Ferne erblickte sie wieder Wälder, gleich einer Mauer am Horizont, und die Spitzen der Tannen schienen den niedrigen Himmel zu berühren. Irgendwo jenseits jenes fernen Walles befand sich ihr heimatliches Dorf, aber sie wußte, die Wölfe würden sie überholen, lang, ehe sie dort Zuflucht suchen könnte. Während sie so verzweifelt in das schwindende Licht hinausspähte, bemerkte sie im Süden die schattenhaften Umrisse irgendeiner Erhebung. Es konnte eine Hütte, konnte aber auch nur ein Gebüsch sein; in jedem Falle würde es ihr den Rücken decken, wenn erst die Wölfe das Signal zur Einkreisung gegeben hätten.

Sie beschleunigte ihre Schritte. Es war jetzt ein leichtes Gehen über den festgefrorenen Schnee, und ihre kräftigen Beine kamen gut vorwärts. Aber sie hatte bereits einen langen Weg zurückgelegt, selbst ihre abgehärteten indianischen Sehnen waren am Erschlaffen. Längere Zeit vernahm sie den Ruf nicht wieder, ohne daß das Schweigen sie tröstete. Ein sechster Sinn, wie er allen gejagten Geschöpfen, ob Mensch, ob Tier, eigen ist, sagte ihr, daß die Gefahr langsam näher kröche. Alle paar Minuten warf sie einen Blick zurück über ihre Schulter.

Rasch schwand das Tageslicht, doch der Schnee spiegelte jeden dunklen Gegenstand, der sich auf seiner weißen Fläche abzeichnete, deutlich wider. Als die Indianerin abermals einen ihrer raschen Blicke über die Schulter warf, sah sie aus einer versteckten Bodensenkung eine Reihe schattenhafter Formen auftauchen.

Jetzt hatten die Feinde sie eingeholt!

Sie raffte ihre letzte Kraft zusammen und verdoppelte ihre Anstrengungen, den Unterschlupf, auf den sie zustrebte, zu erreichen. Im Näherkommen erkannte sie eine kleine Blockhütte. Das Schicksal trieb sie anscheinend von einer Behausung der verhaßten Bleichgesichter zur anderen. Auch hier konnten Bleichgesichter wohnen. Ohne den größeren Schrecken in ihrem Rücken wäre sie vorbeigegangen. Sie schaute sich noch einmal um. Bei dem Anblick, der sich ihr bot, maß sie verzweifelt die Entfernung, die sie noch von der Hütte trennte. Jene hageren Leiber schienen über den Boden zu fließen, statt zu laufen – Schattenleiber, ausgehöhlt von dem Hunger des Schnees, die sie jetzt zum Schluß in atemlosem Schweigen, fürchterlicher als jeder Laut, überholten!

Sie fühlte ihre Kräfte schwinden; es war ihr, als würden ihre Füße mit jedem Schritt schwerer, als wären ihre Schneeschuhe mit Steinen beladen. Aber sie wankte weiter in der verzweifelten Hoffnung, noch rechtzeitig ihr Ziel zu erreichen.

Jetzt endlich, mit der Beute dicht vor ihren Augen, gaben die Wölfe Laut.

Als das Weib jenen Chor abgerissener, wilder Kläfflaute vernahm, die den letzten Mahnruf eines jagenden Wolfspacks, das Signal zum Einkreisen und Niederreißen der Beute bedeuten, sammelte sie ihre letzte Kraft und gelangte glücklich an die Schwelle der Hütte. Ohne erst zu warten, stieß sie mit aller Kraft gegen die Tür, da diese aber dem Drucke nicht nachgab, warf sie sich mit dem ganzen Gewicht ihres Körpers dagegen. Noch immer hielt die Tür stand. Augenblicks machte die Mutter kehrt, um das kostbare Bündel, das sie bis zu ihrem letzten Atemzuge verteidigen wollte, zwischen ihren eigenen Körper und die Wand zu bringen.

Angesicht zu Angesicht mit ihren Verfolgern erkannte sie, daß ihr nur wenig Hoffnung blieb. Das Rudel bestand aus sechs ausgewachsenen Wölfen, und in jedem dieser erbarmungslosen Augenpaare flackerte unverkennbar der Schein des Hungers, das Todeslicht des Nordens.

Trotzdem griffen die Bestien nicht sofort an; wolfsgleich warteten sie, daß ihr Führer zuspränge. Hatte dieser erst Blut geleckt, dann würde das ganze Pack angreifen; das aber mußte der Anfang vom Ende werden. In jenen letzten wenigen furchtbaren Sekunden kam es zu einem Kampf der Augen zwischen Weib und Wölfen. Instinktiv hatte sie den Leitwolf erraten – ein schweres, etwas untersetztes Tier, aber mit einer breiteren Brust als die anderen – und hielt ihn mit ihren Augen in Schach. Er wurde unruhig unter der Festigkeit dieses Blicks, trat von einer Vorderpfote auf die andere und entblößte knurrend das schimmernde Gebiß. Als die übrigen die Unentschlossenheit ihres Führers erkannten, krochen sie langsam näher, und das Weib begriff angesichts des ständig sich verengenden Halbkreises gieriger Augen, daß es sich nur mehr um wenige Sekunden handelte, ehe das letzte Ringen seinen Anfang nehmen mußte. Doch ob auch Hunger aus den Augen der Wölfe funkelte, in den ihren glühte eine noch wildere Leidenschaft: Mutterliebe im Kampf gegen den Instinkt der Bestie, Weib gegen Wolf, denn dort auf dem Rücken der Mutter hing schwer und warm der mächtigste Medizinbeutel der Welt.

Hinter ihr in der Hütte blieb alles totenstill. Ihr indianischer Instinkt verriet ihr, daß diese verlassen sei – aller Wahrscheinlichkeit nach eines Holzfällers Blockhaus und seit dem Herbste geräumt, und doch glaubte sie einen menschlichen Geruch wahrzunehmen, der den Wölfen Argwohn einflößte und sie bis jetzt von ihrem Angriff mit abgehalten hatte.

Plötzlich, nur für den Bruchteil einer Sekunde, flackerte ein Schein, einer züngelnden Flamme gleich, in des Führers Lichtern auf. So flüchtig der Schein auch war, die Indianerin sah ihn und begriff. Rasch wie der Wolf, blitzte ihr Messer. Sie fühlte die Wolfsfänge ihre Backe streifen. Blut floß, aber nicht ihr Blut allein. Der Anführer fuhr zurück, aufheulend vor Schmerz. Noch ehe er ein zweites Mal zuspringen konnte, stürzte sie mit erhobenem Messer und gellendem Aufschrei vor. Wild knurrend bogen die Bestien aus. Der Indianerin unerwartete Handlung, verbunden mit dem drohenden Klang der menschlichen Stimme, hatte sie im Augenblick geduckt; als aber das Weib ihre vorige Stellung wieder einnahm, verengte sich der Halbkreis so erbarmungslos wie zuvor. Haarscharf beobachtete die Frau die Tiere, kein Zucken der Ohren, keine Bewegung der Lefzen entging ihr, während die Bestien ihrerseits mit gleicher Gespanntheit auf eine Gelegenheit zum Zupacken lauerten.

Ein zweites Mal stürzte der Leitwolf vor, diesmal mit einem Geheul, das ihm die Kehle zu zerreißen drohte. Wieder traf ihn das Weib mit ihrem Messer, jetzt jedoch hatten die übrigen ihr Signal erhalten, und das ganze Rudel ging zum Angriff vor. Das Weib wurde gegen die Tür gedrängt, wobei sie verzweifelt ihr langes Messer gebrauchte. Zwei weitere Wölfe erlitten Verletzungen, aber das Pack roch jetzt Blut – es hatte aufgehört, sich vor dem Menschen zu fürchten. Noch zwei weitere Male wurde die Indianerin gegen die Tür geworfen, doch stets bewahrte sie durch eine rasche Wendung ihres Körpers das kostbare Bündel vor dem Zerdrücktwerden. Endlich überwältigte sie die Überzahl, sie vermochte nicht mehr rechtzeitig ihren Körper zu drehen, und das Kind stieß einen leisen Klagelaut aus.

Dieser Schrei traf die Mutter tiefer als jeder Wolfszahn.

Eine Sekunde zuvor hatte das Pack noch genau gewußt, wem es sich gegenübersah – einem menschlichen Wesen mit einem Bündel auf dem Rücken. Jetzt aber trat ihm eine tollgewordene Furie entgegen, die mit ihrer einen furchtbaren Messerklinge um sich stach und hieb, als besäße sie derer sechs.

Vor diesem wütenden Angriff wichen die Wölfe zurück. Sie begriffen allmählich, daß ihre Beute ihnen nicht so leicht zum Opfer fallen würde, wie sie anfangs geglaubt hatten. Aber sie konnten warten; vor ihnen lag ja noch die Nacht, um ihr tödliches Werk zu vollenden. Lange bevor der Hundsstern den Zenit erklettert hätte oder der ›Letzte Bruder‹ mit langem Strahlenfinger auf das einsame Land hindeutete, würde das Messer müßig in dem blutgetränkten Schnee ruhen und das Bündel zu wimmern aufgehört haben. Dann würde das Pack zum letzten Male zuspringen!

Es kam eine kurze Pause, während der das Weib Atem schöpfte.

Noch einmal sammelten sich die Wölfe zum Angriff. Zwar verteidigte sich die Indianerin mit verzweifelter Tapferkeit, aber sie erkannte mit tödlicher Furcht, daß ihre Kräfte versagten, daß sich mit Windeseile der Augenblick nahte, da sie nicht länger die Macht haben würde, sich und das Kind vor diesen mitleidlosen Feinden zu schützen.

Der Glanz des Schnees vermischte sich mit der Abenddämmerung. Es war, als stehle sich der Schatten der kommenden Nacht aus dem Walde heraus und kröche nach der Hütte hin, wo das Weib den Todeskampf abwartete. Noch war der Schatten formlos wie Nebel, jetzt aber bildete sich aus dieser Formlosigkeit eine Gestalt, die sich rasch näherte. Näher und näher schlich sie – ein langer, schlanker Körper, der endlich in großen Sprüngen über den gefrorenen Schnee auf die Blockhütte zueilte.

Ein Wolf sprang der Indianerin an die Kehle – der verwundete Leitwolf. Mit dem letzten Rest ihrer Kraft stieß ihm das Weib ihr Messer mitten ins Herz, aber noch ehe sie die Klinge herauszuziehen vermochte, sprang ein zweiter Wolf hinzu. War es wirklich ein Wolf? Sie vermochte in dem dunkelnden Licht die einzelnen Körper nicht mehr klar zu unterscheiden, doch schien dieser ihr größer als ein Wolf und von hellerer Farbe zu sein: ein stumpfes Gelb gegen den Schnee. Was aber die Indianerin zu ihrer grenzenlosen Überraschung klar erkennen konnte, war, daß jenes Geschöpf, statt sie anzugreifen, wütend über die Wölfe herfiel. Sein Ansturm kam den Bestien so unerwartet, daß er sie in Verwirrung zurücktrieb. Ihre zahlenmäßige Überlegenheit wurde durch die Blitzesschnelle der Bewegungen und durch die unwiderstehliche Wucht des Angriffes wettgemacht. Alle hatten bereits zahlreiche schwere Wunden davongetragen, ja, in diesem Augenblick keuchte der Leitwolf auf dem blutbespritzten Schnee sein Leben aus. Trotz Hunger und Wut, daß ihnen die Beute gerade in dem Augenblick entrissen wurde, da sie sie fest in ihrer Macht glaubten, sank den Wölfen der Mut gegenüber diesem Wirbelsturm von Fängen und Tatzen.

Schaum vor den Mäulern und mit gesträubtem Fell stoben sie hastig nach verschiedenen Richtungen auseinander und ließen sich erst in sicherer Entfernung am äußersten Rande des nächtlichen Dunkels nieder, um ihre Wunden zu lecken.

Jetzt erst erkannte die Indianerin zu ihrem Erstaunen in ihrem Retter niemanden anders als den Silberlöwen, ihren Reisebegleiter vom gleichen Nachmittage. Ob nun seine verfeinerten Sinne ihn die Gefahr ahnen ließen, die der Indianerin drohte, lang ehe das Gekläff des jagenden Wolfspacks selbst sein scharfes Gehör erreichen konnte, oder ob er sich während des letzten gemeinsamen Angriffs der Wölfe zufällig in der Nähe befunden hatte, vermochte Tonesta nie zu ergründen. Sie hatte nur den einen Gedanken, sich möglichst rasch Eingang in das Blockhaus zu verschaffen. Zwar hielt die Türe immer noch stand, aber einer der Fensterläden hatte sich gelockert. Es gelang ihr, ihn aufzubrechen und mit ziemlicher Mühe durch die Öffnung zu kriechen. Drinnen fand sie zum Glück einen Haufen getrockneter Farnkräuter und ein paar alte Decken. Also stillte sie das Kind, machte sich und ihm ein Lager zurecht und sank fast augenblicklich in den Schlaf äußerster Erschöpfung.

Als sie erwachte, war es hellichter Tag. Da sie sich in Ermangelung von Holz kein Feuer bereiten konnte, beschloß sie, ohne weiteren Aufenthalt ihre Wanderung fortzusetzen. Zuvor jedoch spähte sie behutsam zum Fenster hinaus, ob auch keine Wölfe in der Nähe lauerten. Doch die Feinde und auch der Silberlöwe waren verschwunden. Nachdem das Weib sich also vergewissert hatte, daß weit und breit in der Gegend keine Gefahr drohte, band sie sich das Kind auf den Rücken und setzte sich noch einmal in Marsch.

Erst spät am Nachmittag traf sie auf altbekannte Wegzeichen; müde schleppte sie sich in ihr heimatliches Dorf und sank kraftlos zu Boden.


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