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Im Kriege, dächte man, hätte die Tat das Wort, da wäre keine Zeit zur Betrachtung, und doch haben wir, seit wir uns erinnern, niemals eine so gesteigerte Selbstbesinnung bis aufs Innerste, bis ins Herz unsres tiefsten Wesens oder was wir dafür halten, erlebt, als eben jetzt, mitten im Waffenlärm und Schlachtendrang, in der äußersten Kraftanspannung, Kraftentfaltung und Kraftverschwendung dieses Krieges. In allem anders als alle zuvor, ist er es auch durch das »helle, ja überreizt helle Bewußtsein der Völker,« Friedrich Meinecke, »Probleme des Weltkriegs«, Neue Rundschau, Juni 1916. die hier abrechnen über Vergangenheit und Zukunft. Es ist ein Krieg, der, noch während er geführt wird, schon auch gleich selbst über sich reflektiert und philosophiert, sich kalkuliert, formuliert und kritisiert, ja durch geschichtliche Selbstbetrachtung distanziert, aber zugleich auch wieder, durch Voraussage der Folgen, in die Zukunft projiziert und mitten im noch nicht abgelaufenen Ereignis schon das Ergebnis, noch heiß vom Blut, gleich schwarz auf weiß drucken läßt. Denn um die furchtbaren Opfer, die er jedem der kämpfenden Völker abverlangt, zu rechtfertigen, nötigt er jedem die Pflicht auf, sich selbst und den andern darzutun, was es an sich hat und was die andern an ihm haben. Gar aber unser deutsches Volk, das im Frieden solange seinem eingebornen Sinn entfremdet und vom Geiste weg schon ganz der irdischen Gier verfallen schien, wird sich jetzt wieder bewußt, daß es das metaphysische Volk ist.
Wenn dieser Krieg aus sein wird, hat ihn jeder Deutsche schon gedruckt auf seinem Tisch vor sich, in allen Phasen; jede ist von einem Augenblick zum andern gleich in Geist abgezogen worden, alle liegen schon ausgesprochen, aufgeschrieben vor, dem Helden stand stets der aufzeichnende Chronist, dem Chronisten der erklärende Denker, dem Denker der mitteilende Redner auf der Ferse, jede Phase dieses Krieges ist, bevor er noch aus sein wird, längst schon Geschichte geworden.
Der ersten, der größten aller seiner Phasen wird keiner, der ihr Zeuge war, und wenn er hundert Jahre würde, je vergessen können. Wir haben nichts Größeres erlebt. Wir wußten ja gar nicht, daß so Großes erlebt werden kann; nie wären wir fähig gewesen, es uns auch nur vorzustellen. Dieses Erlebnis der Mobilmachung bleibt uns bis ins Grab: da ist uns das deutsche Wesen erschienen. Wir erblickten einander zum erstenmal. Wir erkannten, was wir sind; wir hatten uns wieder, und jeder andre Gedanke, jedes andre Gefühl schied. Was wir vor dem Krieg sonst noch alles gedacht und gefühlt, verstanden wir nun auf einmal selber nicht mehr, die Nacht zerrann, der Tag brach an, das deutsche Wesen war uns erschienen!
Das Wort dieser Phase sprach der Kaiser aus: »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!« Darin war der August 1914 enthalten: es gab nur noch Deutsche, und in jedem einzelnen Deutschen gab es nur noch den Deutschen. Uralte Sehnsucht der deutschen Seele schien erfüllt, die Sehnsucht zu »verwerden« (Meister Eckhart), sich zu »entselbstigen« (Goethe) und, von allem Eigensinn gelöst, ganz hingegeben, nur noch zu »dienen, dienen« (Wagner), die Sehnsucht, daß der einzelne mit seinem engen Selbst auslösche im ganzen Volke. Zu seinem Volke rückte jeder Deutsche damals ein. Eine Heimkehr war es, und so schien es zunächst nur eine Wiederholung, 1870 war, 1813 wieder da, das deutsche Volk traf ein, genau wie Bismarck es 1888 vorausgesagt, Wort für Wort: »Es muß ein Krieg sein, mit dem die ganze Nation einverstanden ist, es muß ein Volkskrieg sein, der mit dem Enthusiasmus geführt wird, wie der von 1870, wo wir ruchlos angegriffen wurden. Dann wird das ganze Deutschland von der Memel bis zum Bodensee wie eine Pulvermine aufbrennen und von Gewehren starren.«
Der Deutsche hatte wieder heimgefunden, heim zu sich selbst: das war das Gefühl jenes unvergeßlichen Augenblicks, und um es auszudrücken, genügte das alte Vokabular von 1870 und 1813. Die Lieder von 1870, die Reden Bismarcks erklangen wieder, und Treitschke, der Rembrandtdeutsche, Lagarde, die großen Sprecher eines idealistischen Nationalismus alle, ja bis zurück auf Fichte, Ernst Moritz Arndt, den Freiherrn vom Stein, Clausewitz, Gneisenau, Blücher und den großen Fritz, boten dieser Zeit, was sie zu sagen hatte. Die Phase der Mobilmachung hat sich so durchaus als Wiedergeburt gefühlt, daß sie mit Zitaten auskam: es war ja nichts Neues geschehen, das alte deutsche Volk stand auf.
Aber Individuen wie Völker wiederholen nichts. Individuen wie Völker erleben im Grunde freilich immer wieder dasselbe, weil sie ja nichts als immer wieder bloß sich selbst erleben, nur daß aber ihr eigenes Selbst sich doch von einemmal zum andern indessen schon wieder erneut hat. Das wurde der Deutsche jetzt inne, mit furchtbarer Gewalt: am Hasse der Welt. Der Ausbruch der Wut Europas tat dem deutschen Volke kund, daß es nicht mehr das alte Volk der träumenden Dichter, der sinnenden Denker, daß es jetzt ein Volk der Tat geworden war, Macht verlangend und Macht vermögend, zum Abscheu, Neid und Grauen der Nachbarn. Es sah sich plötzlich ausgespien von Europa, in Acht getan, als wäre sein bloßer Anblick Pest, sein Geruch Gift, sein Dasein Schmach für die gesittete Menschheit. Der Einigung durch das eigene Gefühl gemeinsamer Not folgte so die durch den gemeinsamen Haß aller Völker. Sie schrien es an: Weg mit dir, du bist nicht wie wir, sei verflucht! Und es mußte sich fragen: Was ist denn an mir, was mich ausstößt aus der Reihe meiner Brüder? Bin ich denn wirklich anders? Und wenn ich's bin, worin denn, wie denn? Was bin ich denn? Was macht mich zum Fluche der ganzen Welt? Und so ging es in sich, sein gebrandmarktes Wesen zu betrachten, um hinfort bewußt zu gestalten, was allen so verhaßt an ihm war: der allgemeinen Verachtung konnte der Deutsche nur antworten mit einer grausamen Selbstbesinnung, mit einem überwältigenden Selbstgefühl, wenn er ihr nicht erliegen wollte. Der allgemeine Haß zwang ihn, sich zum erstenmal als ein Geschöpf abgesonderter, wie von Gott selbst auserwählter und zu seiner nur ihm vorbehaltenen Sendung von Ewigkeit her gezeichneten Art zu fühlen, das also nun auch nach keinem allgemeinen Gesetze zu fragen, sich an kein gemeinsames Gebot zu halten, sondern sich das seine bloß aus seinem eigenen Sinne zu holen, sich selber sein eigenes Recht zu geben und es, unbekümmert um das Urteil der Menschheit, um ihre Satzungen, um Brauch, Herkommen und Sitte, nur vor Gott allein und dem eigenen Gewissen zu verantworten hätte. Nicht der Deutsche war es, der sich einer so furchtbaren Hoffart vermaß und diesen grausigen Abgrund aufriß zwischen sich und der Menschheit, er ist rein von dieser Schuld, er darf sich lossprechen, sie ist ihm aufgenötigt worden von den andern, sie wollten ihn nicht mehr unter sich leiden, sie trieben ihn aus, was blieb ihm übrig, als wenn er nun einmal anders war als alle, dieses sein so verfemtes Wesen, das Gott über ihn verhängt hatte, stolz zu tragen mit aller ihm zugeteilten Kraft bis ans verborgene Ziel? Um unter der ungeheuren Wucht des rings auf ihn einstürzenden Hasses nicht zermalmt, von der grauenhaften Vereinsamung, zu der er sich plötzlich, für sein Gefühl ohne Schuld, verdammt sah, nicht erdrückt, von der Wut Europas nicht erwürgt zu werden, mußte der Deutsche sich auf seine tiefbeklommene Frage, was ihn denn aus der uralten Gemeinschaft ausgestoßen hätte, als wäre er kein Christenmensch, sondern ein reißendes Tier, antworten, daß es nur der kraftlose Neid aller andern sei, nur weil er innerlich besser, äußerlich stärker und allen weit voraus. Aus jener Frage, dieser Antwort besteht die von der entsetzlichen Explosion des allgemeinen Hasses erregte Kriegsliteratur der Deutschen, aus ihnen entstand die bewußte Vorstellung der deutschen »Ideen von 1914«.
Das Wort hat ein deutscher Nationalökonom, Dr. Johannes Plenge, Professor in Münster, geprägt. Den Fachgenossen durch ein Buch über »Marx und Hegel« Tübingen, H. Laupp, 1911., das eine bewußte Synthese der beiden erstrebte, und durch eine Schrift über »Die Zukunft in Amerika« Berlin, Julius Springer, 1911., die, an Wells anknüpfend, die Verwandlung der Vereinigten Staaten aus einem jungen in ein altes Land darzutun und das merkwürdige Dreieck des amerikanischen Kräftesystems nachzuzeichnen versucht, bekannt, Arbeiten, in welchen sich die gründlichste Kenntnis der Weltwirtschaft mit einer ungemeinen philosophischen Bildung und einem damals, vor dem Kriege, seltenen philosophischen Sinne gesellt, war er der erste, der schon im Herbste 1915 in einer Abhandlung über den »Krieg und die deutsche Volkswirtschaft« Münster i. W., Borgmeyer & Cie., 1915. von den Ideen von 1914 sprach, als einer Antwort auf 1789 und einer Überwindung von 1789, einer Überwindung aber, die nicht etwa zur Vergangenheit zurück, sondern vorwärts blicke, nicht einer bloß 1789 verneinenden, sondern es aufsaugenden, in einer höheren Synthese doch auch wieder bestätigenden und also 1789 eigentlich erst erfüllenden Überwindung. Es hieß da: »Seit 1789 hat es in der Welt keine solche Revolution gegeben wie die deutsche Revolution des Aufbaus und des Zusammenschlusses aller staatlichen Kräfte des zwanzigsten Jahrhunderts gegenüber der Revolution der zerstörenden Befreiung im achtzehnten Jahrhundert … Der wirkliche Zukunftsstaat ist geboren als der gesteigerte Nationalstaat … In uns ist das zwanzigste Jahrhundert. Wie der Krieg auch endet, wir sind das vorbildliche Volk. Unsre Ideen werden die Lebensziele der Menschheit bestimmen.«
Diese Gedanken Plenges nahm dann der Schwede Dr. Rudolf Kjellén, Professor zu Gotenburg, Verfasser eines vielgelesenen Buches über »Die Großmächte der Gegenwart« B. G. Teubner in Leipzig. auf und gab einer kleinen Schrift den Namen »Die Ideen von 1914« S. Hirzel in Leipzig., was nun bald ein Schlagwort wurde, dessen man sich um so lieber bediente, weil es schillerte, so daß jeder sich dabei nach Belieben was andres denken konnte. Ein Weg in die Zukunft war verheißen, das entsprach dem deutschen Bedürfnisse so sehr, daß man nicht erst lang fragte, in welche. Dies hat erst Ernst Troeltsch, der große Berliner Theologe, versucht, der im Februar 1916 in der Berliner »Deutschen Gesellschaft 1914« einen Vortrag über die »Ideen von 1914« Maiheft der »Neuen Rundschau«, 1916, S. Fischer in Berlin. hielt. Er spann darin seine Kaiserrede »Über Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge«, gehalten am 27. Januar 1916. vom Januar aus, betonte das Erlebnis unsrer geistigen Isolierung, fand ihren Grund in unserm ganz andern, ganz eigenen Begriffe von Freiheit, der »Freiheit einer freiwilligen Verpflichtetheit für das Ganze«, und wies auf den neuen »Donaublock« hin, diesen »verbündeten Machtblock gegen die Monopol- und Riesenstaaten zum Schutz aller individuellen Volksgeister und ihrer freien Entwicklung«, nicht ohne schließlich auch anzudeuten, wie wenig uns geholfen ist, wenn zwar das seit 1789 entbundene Individuum wieder gebunden wird, nämlich an die Nation, aber die Nation noch immer unverbunden im Leeren hängen und das Bedürfnis einer metaphysischen Bindung unerfüllt bleibt. Nach Troeltsch nahm dann nochmals Plenge das Wort, im Frühjahr 1916 erschien seine Schrift: »1789 und 1914, die symbolischen Jahre in der Geschichte des politischen Geistes« Berlin, Julius Springer, 1916.. Sie sucht, welche von den Ideen, deren sich das deutsche Volk in der hohen geistigen Erregung des Kriegs bewußt geworden, ein »Leitbild« in der Geschichte der Menschheit werden könnte. Die deutsche Kriegswirtschaft gilt ihr für die »erste gewordene sozialistische Gesellschaft«. Und den entscheidenden Gegensatz zwischen 1789 und 1914 erblickt sie »in dem Grundbewußtsein, wie das Einzel-Ich seine eigene Stellung im Leben in sich erlebt: selbständiges Willensatom oder eingegliedertes Teil-Ich«.
Der Leser, der gern vereinfacht und sich ans Allgemeine hält, entnahm diesen Schriften die Lehre: 1789 habe das Individuum entbunden und für unbedingt erklärt, während 1914 das Individuum wieder binde und bedinge, aber freilich anders als durch die Bindungen und Bedingungen, welchen es 1789 entrissen worden. Während es von 1789 bis 1914 sein eigener Herr war, dient es jetzt wieder, es ist wieder eingegliedert worden, nur wird ihm sein Dienst jetzt nicht mehr durch die Geburt, sondern nach der eigenen Tüchtigkeit zugewiesen, es kehrt nicht in den feudalen Staat zurück, es geht in den sozialen Staat ein. 1914 ist also der Sieg des nationalen Sozialismus über den Individualismus, der bis 1914 Europa beherrscht hat. Hat er das, erst er? Ist das Individuum bis 1914 unbedingt gewesen, ist es erst 1914 wieder eingegliedert worden? Ist es eine Idee von 1914, das Individuum einzugliedern?
Als ich 1884, genau dreißig Jahre vor diesem Krieg, an die Berliner Universität kam, fand ich dort einen lebhaften jungen Verein vor, den »Verein deutscher Studenten«, der sich zu Bismarck gegen Eugen Richter, für den Nationalismus gegen den Liberalismus, für Sozialreform gegen Freihandel bekannte. Ich wurde der Schüler Adolf Wagners und saß drei Jahre in seinem Seminar, dem damals auch Heinrich Dietzel, jetzt Geheimrat, Professor der Staatswissenschaften in Bonn, Werner Sombart, seitdem durch sein großes Buch über den Kapitalismus »Der moderne Kapitalismus«, eben jetzt in veränderter, erweiterter und vertiefter Ausgabe wieder erscheinend. Bei Duncker & Humblot in München. berühmt, durch seine Schrift »Händler und Helden« fast berüchtigt, Wolfgang Heine, jetzt Mitglied des Reichstags, ein Führer der positiven Sozialdemokratie und Karl Kramarc, später eine Zeit fast ein ungekrönter König von Böhmen, angehörten, und wenn wir uns auch zuweilen untereinander mit Jugendlust befehdeten, wir fanden uns doch alle darin, daß wir zum Sozialismus standen, der eine zu dem konservativen und königstreuen des Rodbertus, der andre zu dem demokratischen, damals vom Sozialistengesetz bedrohten Bebels und Liebknechts, zum Bismarckischen der kaiserlichen Botschaft oder zum Kathedersozialismus unsers verehrten Lehrers oder wohl auch einmal gelegentlich zu diesen sämtlichen Sozialismen zusammen oder durcheinander oder einer höchst persönlichen Mischung aus allen, jeder aber mit Leidenschaft gegen jede Art von Liberalismus und Individualismus, die wir für einen Aberglauben unsrer Väter, für ein Gespenst von 1848, nun aber für überlebt und längst abgetan hielten. Meine erste Arbeit für das Seminar war über »Rodbertus' Theorie der Absatzkrisen«, die zweite hieß »Individualismus und Sozialismus«, die hier beide schon nicht bloß als wirtschaftliche Lehren, sondern als geschlossene Weltanschauungen betrachtet wurden, jener als die des entwurzelten, alle Geschichte verleugnenden, atomisierten, dieser als die des wieder eingegliederten, durch Herkommen, Erziehung und Umgebung bedingten, seine Kraft dem Ganzen der Nation darbringenden und aus dem Ganzen der Nation neue Kraft schöpfenden Individuums. Um jene Zeit schrieb Schäffle die »Aussichtslosigkeit der Sozialdemokratie«, ich antwortete darauf mit der »Einsichtslosigkeit des Herrn Schäffle«, einem jugendlich frechen und vorlauten Pamphlet, das ebenso recht als unrecht gegen Schäffle hatte, wir hatten beide so recht als unrecht zugleich, wir sahen nämlich jeder nur eine Seite der Sozialdemokratie, die damals noch aus ihren Anfängen einen revolutionären, ja fast anarchischen Ton mitgebracht, aber sich doch schon zum Gefühl, ja zur Anerkennung der Bedingtheit des Individuums durchgerungen oder jedenfalls den unaufhaltsamen Trieb dazu hatte. Schäffle vernahm nur den Aufruhr, von dem sie sich, besonders in der Mundart, noch nicht ganz loswinden konnte, ich nur ihren Drang zur Organisation, Bindung und Einordnung des Individuums, der ja doch auch ihr Kern war, freilich noch in der Schale von 1848. Die Entwicklung hat mir recht gegeben, das müßte heute Schäffle selbst gestehen, die Haltung der Sozialdemokratie im Kriege beweist es.
Die deutsche Jugend war also damals schon, vor vierzig Jahren, nationalistisch oder sozialistisch oder beides, der Individualismus überwunden, das Individuum wieder eingereiht. Und als ich vier Jahre darauf nach Paris ging, fand ich dort die Jugend dem General Boulanger untertan. Diese »Boulange« war eine recht gemischte Gesellschaft von Abenteurern, Strebern, Mißvergnügten, Schwärmern und Ahnenden, mit dem Zauber der Revanche zugedeckt; das Volk aber lief dem General mit den geheimnisvollen kalten schicksalsschweren Augen zu, weil er eine Fahne war, Ordnung verheißend, Pflicht gebietend, einigend. Hier wurde der einzelne sich selber los, trat ins Glied und lernte dienen. Unter den Boulangisten war ein hochaufgeschossener, bleicher, englisch aussehender Jüngling, ja fast noch ein Knabe, frisch aus der Provinz angelangt, Schüler Renans, der sich selber noch nicht recht entscheiden konnte, halb Dichter, halb Denker oder Seher, etwas Snob, aber mit Volksgefühl, voll Ehrgeiz, doch auch voll Demut, affektiert, aber von einer tiefen Sehnsucht echt zu sein, mit Worten spielend, nach Ernst verlangend, Artist, Dilettant, Anarchist, der in drei seltsamen, schon durch ihre gute Haltung und ihr reines Französisch aus der allgemeinen Sprachverwirrung und Formentartung hervorstechenden Romanen, die eher platonische Dialoge oder eigentlich, wenn man so sagen darf, platonische Monologe waren, den dédain de la vie commune, einen erst verlachten, bald aber modischen égotisme und die culture du Moi, das bewußte Schwelgen in den eigenen Sensationen, verkündete. Dieser Maurice Barrès, der erste Dekadent, damals das »Feinste vom Feinsten«, ließ sich zur allgemeinen Verblüffung plötzlich in die Kammer wählen, und der Deputierte von Nancy schlug (es war Panama) jetzt einen Ton an, dessen man längst entwöhnt war: er sprach von Recht, Pflicht und Tugenden, sprach vom Vaterland und vom Volke, sprach von den Vätern, die von ihren Gräbern aus noch immer in uns leben, in uns denken und fühlen, in uns sprechen und handeln – nicht wir sind die Täter unsrer Taten, die Väter sinds, es ist nicht unser eigener Wille noch unser eigener Sinn, der unser Leben bestimmt, es lebt aus den toten Vätern. Erstaunt horchte da die Jugend auf. War das der Nachkomme Stirners, der einsame Priester des eigenen Ich? Aber die Jugend verstand, daß er damit sein Ich nicht verriet. Er ging noch immer denselben Weg zu sich selbst. Er hatte nur jetzt sein eigenes Ich erst erkannt. Da fand er, daß der Mensch seinen Sinn und seinen Willen nicht von sich hat, sondern von seinen Ahnen, seiner Erde, seinem Volke. Er wußte jetzt, daß, wer sich selber finden will, seine Wurzeln suchen muß. »Penser solitairement, c'est s'acheminer à penser solidairement … Je ne puis vivre que selon mes morts. Eux et ma terre me commandent une certaine activité … Nous sommes la continuité de nos parents … Toute la suite des descendants ne fait qu'un même être«« Maurice Barrès, Scènes et Doctrines du Nationalisme, Paris, Felix Juven.. Er hatte heimgefunden, heim zum Vaterland. So schrieb er jetzt: Les Déracinés, den Roman der Verzweiflung des losgerissenen Ich, das Grundbuch des jungen Nationalismus in Frankreich.
Und als ich ein paar Jahr später nach London kam, fand ich dort die Fabier am Werk, einen von Sidney Webb, dem damals auf dem Kontinent noch unbekannten Bernard Shaw und John Burns geführten Verein, dessen Ziel die Permeation, die Durchdringung der Gesellschaft mit Sozialismus, die Überwindung des Individualismus war.
Ideen, welchen die deutsche Jugend schon in den achtziger, die französische und die englische jedenfalls seit den neunziger Jahren ergeben war, kann man nicht von 1914 datieren. Aber auch jene Jugend fand sie nur wieder, fand sie schon vor. Sie sind gut hundert Jahre alt. Allerdings sind sie die Antwort auf 1789, aber diese Antwort wurde gleich erteilt, gleich nach 1789, unmittelbar unter dem Eindrucke von 1789: Edmund Burke war der erste, der den Geist der Revolution überwand. Es ist kein Zufall, daß gerade ein Engländer zuerst wieder die natürliche Gebundenheit des Individuums erkannt hat, der es sich nicht entreißen kann, ohne sich selbst zu vernichten. Denn gerade in England steckt der einzelne, schon durch die Lokalverwaltung Siehe darüber Joseph Redlichs wundervolles Buch »Englische Lokalverwaltung«. Duncker & Humblot 1901., so tief in der Gemeinschaft, in der Geschichte fest, daß er sich nur anzublicken braucht, um sich überall bedingt, überall verknüpft, überall unablöslich zu finden. Das Individuum hat sich ja nur auf sich selbst zu besinnen, um national gesinnt zu sein, denn es selber ist nur in seinem Volke, durch sein Volk, an seinem Volke da. Solche Selbstbesinnung der Persönlichkeit auf den Grund ihres Wesens und ihrer Kraft war unsre deutsche Romantik. Novalis, die beiden Schlegel, Tieck, Adam Müller und Gentz, die Brüder Grimm, Uhland, Savigny, Dahlmann und Haller, sie wissen alle schon, daß das Individuum gar nicht gefragt wird, ob es sich binden oder lösen will, weil ihm, ob es will oder nicht, die Bindung ja schon gegeben, weil es selber schon Geschichte, weil es ein Geschöpf von Beziehungen, von Bedingungen ist. Wenn Goethe stets auf Entsagung, auf Einordnung, auf Bedingung und Bindung des Individuums dringt, so ist das kein Wunsch, keine Lehre, kein Rat, sondern er spricht damit nur einfach das Leben selber aus, das kein unbedingtes, kein entbundenes Geschöpf kennt, und wenn er, der seinen Jugendwahn der absoluten Persönlichkeit, seinen Titanismus selber niemals ganz an sich überwand, den Wilhelm Meister, der auf Durchbildung und Entfaltung der eigenen Persönlichkeit ausging, als Dienenden enden läßt, so stellt er wieder nicht eine sittliche Maxime, sondern ein Ergebnis dar: den Imperativ der menschlichen Natur. Das Individuum hat ja gar nicht die Wahl, es wird gar nicht gefragt, es steht ihm gar nicht frei, frei zu sein, und wenn es sich noch so frei glaubt, wenn es noch so frei tut, dies ändert an seiner Natur nichts, es bleibt überall bedingt, bleibt der Ausdruck, bleibt im Dienste dieser Bedingungen. Frei steht der Mensch nur gegen Gott: er kann Gott ja sagen oder nein, zusagen oder absagen, sich für ihn entscheiden oder gegen ihn; dies ist aber auch seine einzige Freiheit: die menschliche Freiheit wohnt über der Natur, drüben ist er frei, hier nirgends; hier steht er überall in der Natur, im Irdischen sieht er sich, wohin er auch blicke, wohin er auch trete, von Anfang an und bis ans Ende durch, von der Wiege bis ins Grab, überall durchaus bestimmt, bestimmt durch den Dämon, sein ererbtes, bei der Geburt unmittelbar ausgesprochenes Schicksal, seine mit ihm gegebene, von Urzeiten her fortwirkende Unveränderlichkeit (»Nach dem Gesetz, wonach du angetreten. So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen … Geprägte Form, die lebend sich entwickelt«), bestimmt durch Ananke, die Nötigung, der keiner entrinnt (»Und aller Wille ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten«), und am bedingtesten, wo wir, »scheinfrei«, wie Goethe sagt, das Gesetz zu brechen glauben, dann aber erst recht der dunklen Herrschaft der Triebe verfallen. Wer den Menschen bedingt nennt und ihn vom eigenen Selbst weg zur Gemeinschaft weist, stellt gar keine sittliche Forderung an ihn, sondern spricht bloß die Natur des Menschen aus, der sich zur Gemeinschaft, zur Geschichte nicht etwa erst wenden soll, an Gemeinschaft und Geschichte nicht etwa bloß halten soll, sondern es, ob er will oder nicht, muß und gar nichts andres sein kann als Gemeinschaft und Geschichte, mit der er so durchaus verwachsen ist, daß wer sich von ihr zu lösen auch nur versucht, schon sich selber damit zerstört hat. Weshalb auch Wissenschaft, wann immer sie den gegebenen Menschen nimmt, um auszusagen, was er ist, ihn immer gleich als ein gemeinsames und geschichtliches Wesen erkannt und ausgesprochen hat, sie findet ihn nirgends anders vor, das Individuum ist bloß eine Abstraktion vom Menschen. Wie denn etwa Gierke in seinem unvergeßlichen Werk über »Das deutsche Genossenschaftsrecht«, dessen erster Band schon 1866 erschien, in einer Zeit also, wo das politische Denken des deutschen Bürgertums durchaus vom Individualismus besessen, durchaus staatsfeindlich war, bloß, indem er es unternahm, das Verhältnis des Einzelnen im Ganzen beim Namen zu nennen, ohne Vorurteil und Absicht genötigt war, den Deutschen in seiner von Natur aus unmittelbar genossenschaftlichen Existenz und das unlösliche Miteinander und Ineinander von Individuum und Gemeinschaft darzustellen, die nur im Gedanken voneinander zu trennen, jedes aber doch nur an dem andern erst wirklich sind.
Aber da wird man einwenden, Kjellén und Plenge hätten ja gewiß auch gar nicht gemeint, die »Ideen von 1914« wären erst 1914 entstanden, und es komme doch auch gar nicht darauf an, wann eine Idee zum erstenmal ausgesprochen, sondern wann sie zur Tat wird. Mag immerhin die Idee des Nationalismus oder Sozialismus, der Eingliederung des einzelnen in Volk oder Staat, seiner Einordnung in den allgemeinen Dienst schon ein Jahrhundert lang lebendig gewesen, ja mag sie nichts als der Ausdruck der Wirklichkeit sein, so wußten doch die Handlungen der Menschen nichts von ihr; praktisch haben wir doch alle bis zum Kriege ganz individualistisch gelebt, und erst der Krieg hat uns belehrt, daß unser Leben nicht uns, sondern der Gemeinschaft gehört, daß wir kein Zweck, sondern bloß ein Mittel, daß wir nur soviel wert, als wir brauchbar sind. Hat uns das wirklich der Krieg erst gezeigt? Wer war denn vor dem Krieg sein eigener Zweck? Ein paar Millionäre, Dilettanten und Ästheten, die Handvoll vaterlandsloser Existenzen im Schlafwagen und in den großen Hotels, die sich Kosmopolis hieß, die Weltenbummler, Entwurzelten, Schweifenden mochten sich allenfalls einbilden, ihr eigenes Leben zu leben. Jeden andern lehrte seit dreißig Jahren jeder Schritt, den er tat, jeder Blick auf sich selbst, wie bedingt er war. Von klein auf sah sich das heute lebende Geschlecht überall eingereiht, immer schon im Dienste. Wo war denn in dieser ungeheuren Organisation unsers wirtschaftlichen Lebens, wo war denn in diesem alles verschlingenden, alles beherrschenden »Betrieb« Vgl. meinen Aufsatz »Der Betrieb« in »Inventur«. S. Fischer, Berlin. noch Platz für die freie Persönlichkeit? Der Betrieb nahm den einzelnen auf und nahm ihn ein, vom Menschen blieb nichts mehr übrig. Der Betrieb, der Herr der Welt, hatte sich den Menschen, seinen Knecht, innerlich und äußerlich so völlig angepaßt, daß schon alle Persönlichkeiten verschwanden. Es gab ja keine Persönlichkeiten mehr, es gab nur noch Typen. Die Menschen desselben Betriebs wurden einander immer ähnlicher; wer einen aus diesem Betrieb kannte, kannte alle, es gab keine Originale mehr. Sie wohnten gleich, dachten gleich, sprachen gleich, kleideten sich gleich, unterhielten sich gleich, langweilten sich gleich, litten gleich, hatten die gleichen Lüste, Laster und Krankheiten, lebten und starben gleich. Es gab keinen Herrn Soundso mehr, es gab nur noch den Fabrikanten, den Bankier, den Beamten, Berlin W oder Berlin O, auch in der äußeren Erscheinung schon, man war Schwerindustrieller oder Künstler oder Arbeiter, und so sah man auch aus, nach Börse, Warenhaus oder liberalem Beruf, nicht nach sich selbst, selber war man nichts, und selber auch nur etwas scheinen zu wollen, auch nur in der Tracht, Haltung oder Mundart, galt für affektiert, es war unnatürlich geworden, selbst zu sein, so sehr, daß die paar Sonderlinge, die das noch versuchten, aus Dünkel oder Pose, gleich auch wieder ein gemeinsames Geschäft, einen gemeinsamen Betrieb daraus machten und gleich auch wieder einen gemeinsamen Typ gaben; auch ihnen gelang es nicht, persönlich zu sein, auch sie wurden ihrem Betriebe gleich wieder assimiliert: Café des Westens oder Schwabing. Nein, der Krieg hat nirgends erst das Individuum überwinden müssen, er fand gar keins mehr vor, er fand nur mehr Typen vor, in festen Verbänden zusammengeschlossene, von diesen Verbänden beherrschte, geformte, ganz unpersönliche Typen. Die Frage war auch gar nicht, keinen Augenblick lang, wie sich der einzelne zum Kriege verhalten, ob er ihn bejahen oder verneinen würde, der einzelne war ja gar nicht mehr da. Die Frage war von Anfang an und blieb in allen Phasen dieses Kriegs: was sagen die Gewerkschaften, was die großen Banken, was die Industrien? Es war eine furchtbare Kraftprobe der Nation und des Staats, aber keinen Augenblick dem Individuum, sondern immer nur den Verbänden gegenüber, die jedes Individuum längst aufgesaugt hatten. Die bange Frage war, ob der Staat noch Macht über die Verbände hatte. Das Individuum war nicht erst einzugliedern, es ist es längst, seine Kraft und sein Sinn waren nicht mehr zu fürchten, es hat keine mehr, das jetzt lebende Geschlecht wuchs schon auf in Reih und Glied. Aber daß der Staat die Macht bewies, nun auch die Verbände, diese Sammlungen von Individuen, und den Eigensinn, den Eigenwillen der Verbände seinem Sinn und seinem Willen einzureihen und einzugliedern, daß es doch über den Verbänden etwas noch Lebendigeres und Gewaltigeres gab, das war das ungeheure Erlebnis, schon der Mobilmachung. Denn im Frieden schien ja die Macht der Verbände längst der Staatsgewalt entwachsen, weit über die Grenzen des eigenen Staats, des eigenen Volks empor, und mit denselben Verbänden fremder Staaten, fremder Völker zusammen; die Verbände schienen international und übernational, zwischenstaatlich und überstaatlich geworden. Und wir atmeten auf, als der Krieg überall bewies, daß der eigene Staat, das eigene Volk doch stärker als der Interessenverband, daß das Vaterland überall noch mächtiger als die Weltwirtschaft, daß in der Stunde der Gefahr der Geist wieder Herr über den Bauch war.
Wenn also das Individuum schon vor diesem Kriege längst eingegliedert war, so kann die Wegwendung von 1789, die Heimkehr des damals atomisierten Individuums zur Gemeinschaft und Geschichte nicht die Idee von 1914 sein. Und wenn uns dennoch das Gefühl nicht verläßt, daß mit diesem Krieg eine neue Epoche beginnt, nicht bloß für uns, sondern für die ganze Menschheit, daß, wie Troeltsch gesagt hat, »um uns Zukunftsluft weht«, und wenn wir verlangen, uns des Neuen dieser Epoche, uns dieser Zukunft, die wir wehen spüren, bewußt zu werden, so müssen die Ideen von 1914, die Ideen der von uns so stark als neu empfundenen Wirklichkeit, andre sein als der Abkehr von 1789, der Einkehr des Individuums in den allgemeinen Dienst. Nach einer solchen Idee, die der Ausdruck der neuen Wirklichkeit wäre, einer Idee der nahenden Zukunft, verlangt uns.
Irgend etwas Neues, Anderes, Unbekanntes muß in diesem Krieg erschienen sein, denn wir fühlen uns befreit, fühlen uns erlöst. Die Zeit vor dem Krieg war drohend durch ihre Willkür. Alles schien Zufall, und nirgends mehr, weder im Schicksal des einzelnen noch der Völker, ein waltendes Gesetz, alles unzusammenhängend. Jetzt aber empfinden wir überall Notwendigkeit, überall Schicksal, überall den festen Schritt einer bestimmenden Macht. Unser Gefühl ist, daß etwas an der Menschheit vollzogen wird. Wir hatten nur noch in lauter Relativitäten gelebt und werden staunend zum erstenmal wieder das Absolute gewahr.
Nach dem Absoluten, irgendeiner Form des Absoluten, irgendeinem letzten Punkt, woran er alles befestigen könnte, greift der Mensch immer, und nach einem Absoluten, das ihn selber dabei doch nicht vernichten, das ihn vielmehr bestätigen, das ihm seinen Raum anweisen soll. Das war das Furchtbare des »Betriebs«, daß er das Individuum zu verschlingen schien; es gab keinen Schutz mehr vor ihm. Darum atmeten wir auf, als der Krieg diesen überstaatlichen und übernationalen Verbänden, worin Individuen, Völker und Staaten verschwanden, Grenzen wies. Er war ein Sieg des Vaterlands, ein Sieg des Staatsgedankens, ein Sieg des Geistes über die Wirtschaft, und damit eine Rettung des Individuums. Denn das Individuum fühlte sich nun nicht mehr bloß einer einzigen Macht untertan, und sobald es inne wird, daß es, seiner Natur nach, nicht bloß einer einzigen Ordnung, sondern verschiedenen Ordnungen angehört und gegen jede dieser Ordnungen Pflichten hat, hat es auch Rechte, es wird sicher, es kann von keiner mehr verschluckt werden, eine schützt es vor der andern. Das Wesen des Menschen, das vorher schon fast an den »Betrieb« verloren schien, haben wir durch den Krieg erst wieder kennengelernt. Staaten und Völker sind da bereit, sich, wenn es sein muß, ausrotten zu lassen. Wofür? Um zu verhüten, was ihnen unrecht scheint. Um zu beschützen, was ihnen recht scheint. Für Ideen. Die Fischer in der Bretagne werden nicht reicher und nicht ärmer, ob das Elsaß deutsch bleibt oder französisch wird, der russische Bauer hat nichts davon und der in Oberösterreich, Tirol oder Steiermark hat nichts dagegen, wenn der Zar in Konstantinopel einzieht. Es wird an diesem Krieg verdient, in London und in Berlin, aber nicht in den Schützengräben, nicht im Trommelfeuer, nicht von den Kämpfern. Gekämpft wird für Ideen. Und daran, daß die Menschheit bereit ist, für Ideen zu sterben, erkennt sie wieder, daß sie für Ideen lebt. Der Geist ist auferstanden, vom geistigen Tode der letzten dreißig Jahre sind wir erwacht, das hat uns dieser Krieg erbracht. Nicht bloß die Bindung des Individuums. Es war längst wieder gebunden, an den Betrieb. Aber dies war eine Bindung im Leeren. Diese leeren, seelenlosen, das Individuum vernichtenden Bindungen der wirtschaftlichen Gemeinschaften weichen nun höheren, weichen sittlichen, weichen Bindungen des Gefühls. Ein Staatsgefühl entsteht. In der liberalen Zeit ist der Staat im besten Fall als ein notwendiges Übel geduldet worden, in der Zeit des Betriebs ist er verstanden worden, der Staatsgedanke wuchs, aber erst der Krieg gab, auch den Massen, eine lebendige Staatsgesinnung, ein unmittelbares Gefühl für den Staat. Jetzt erst hat der einzelne, wie Erich Evert in seiner klugen Schrift über »Das innere Deutschland nach dem Kriege« Diederichs in Jena, 1916. sagt, das Gefühl, »selber der Staat zu sein – nur ein Teil zwar, aber doch etwas vom Staate selber, ein Stück von ihm, nicht bloß dazuzugehören, wenigstens nicht als Zubehör, sondern mindestens wie ein Angehöriger. Es sind eben andre, wärmere, organischere Empfindungen an die Stelle der bloßen Unterordnung getreten.« Der Eingliederung in den wirtschaftlichen Verband, in den sozialen Beruf, in den Betrieb hat sich der einzelne gefügt, aber er ist ihrer nicht froh geworden, es hat ihm vor ihr gegraut, er ist bloß dazu genötigt gewesen, er hat bloß einem äußeren Zwange gehorcht, innerlich eher widerstrebend, er hat nicht anders können, er hat sich einordnen müssen, er hat es bloß erlitten. Aber jetzt ordnet er sich dem Staate willig, tätig, ja freudig ein. Staatsgesinnung, Staatsgefühl, Wille zum Staate sind plötzlich da, der einzelne steht dem Staate nicht mehr gegenüber, er stellt sich selbst in den Staat, der Staat ist nicht mehr die Obrigkeit, der einzelne nicht mehr der Untertan, Obrigkeit und Untertan sind verschwunden, seit beide sich eins fühlen, der einzelne sich als mitwirkendes, selbst den Staat tragendes, aber auch selber wieder vom Staate getragenes Glied fühlt, der Staat den einzelnen nicht bloß formt, sondern auch wieder selbst von allen einzelnen geformt wird. In den Nationalstaaten hat sich dieses neue Staatsgefühl unmerklich mit dem Nationalgefühl vermischt, das Nationalgefühl ist dadurch bloß sozusagen anders schattiert worden. Aber in den Völkerstaaten ist das Nationalgefühl durch das früher verborgene, jetzt im Krieg erst aufschießende Staatsgefühl gebändigt, zur Besinnung gebracht und zurechtgewiesen worden. Wo der Krieg in Völkerstaaten den einzelnen etwa zwang, zwischen Staatsgesinnung und Nationalgefühl zu wählen, hat der Instinkt überall, ohne zu zaudern, für die staatliche Pflicht gegen die nationale entschieden; wenn es vorkam, daß einer anders entschied, so war das immer ein Intellektueller, ein Entwurzelter, einer von den Verbildeten, die mit dem Herzen denken und mit dem Kopfe fühlen. Der natürlichen Empfindung der Massen war überall ihr Staat näher als die Nation, so hoch ist in diesem Kriege der Staat über alles gewachsen.
Aber zur selben Zeit, da der Staat so hoch, ja fast ins Grenzenlose, fast ins Unbedingte, fast zum Absoluten wuchs, fand er selber Grenzen, fand sich selbst auf einmal bedingt, fand sich selbst zum erstenmal eingereiht, und ein Höheres über sich, dem nun auch er wieder dient, wie das Individuum ihm. Auch die Staaten selber hat ja dieser Krieg in Reih und Glied gestellt. Nicht zwischen zwei Staaten geht er ja, sondern zwischen Staatengruppen, es steht nicht mehr Staat gegen Staat, sondern je ein Staatenverband gegen den andern, und hier wie dort herrscht das gemeinsame Ziel, dem der eigene Sinn, der eigene Wille eines jeden der verbundenen Staaten gehorcht, hier wie dort wird die Gruppe, wird der Verband mächtiger als jeder einzelne der verbundenen Staaten, und nicht etwa bloß notgedrungen ertragen die Völker dies, sondern sie stimmen so freudig zu, daß bald der Wunsch verlautet, diese zum Ziele notwendigen, vom Kriege gebotenen Vereinigungen, auch wenn das Ziel erreicht sein wird, nicht wieder aufzulösen, sondern auch im Frieden für die Zukunft zu bewahren. Möglich, daß dieser Wunsch, vom Krieg erregt, mit dem Krieg wieder verlischt, aber daß er nur überhaupt einmal sich regen konnte, daß die Nationen, eben noch vom Ideal des abgeschlossenen Nationalstaates beherrscht, auch nur des bloßen Gedankens fähig waren, sich über der Nation noch etwas vorzustellen, dem nun auch sie wieder sich unterordnen müsse, wie das Individuum ihr, daß ihnen dieser Gedanke nicht einfach unerträglich, daß er ihnen nicht ein Verrat, ein Sakrileg schien, daß er ihnen vielmehr die Verheißung einer besseren Zukunft scheint, das hätte noch im Juli 1914 kein optimistischer Phantast auch nur für das nächste Jahrhundert vorauszusagen gewagt. Ein Buch wie Naumanns Mitteleuropa wäre damals unmöglich gewesen – und heute bemerken wir schon gar nicht mehr, was es uns zumutet! Es will die Gruppen, die die Not des Augenblicks gebar, verewigen: die Völker, die der Krieg verband, sollen auch im Frieden verbunden bleiben. Wird dadurch nicht das heiligste Recht aller Völker, sich selbst zu bestimmen, bedroht? Man kann darauf mit einer Gegenfrage antworten: Wird das Individuum durch Einordnung in den Staat bedroht? Es gibt Einordnungen, die als solche Drohung empfunden werden, nämlich wenn sich das Individuum dadurch in seinem Innern gehemmt fühlt. Seinen inneren Sinn behaupten, entfalten und darstellen zu dürfen gilt dem Menschen für ein Urrecht, und dieses Urrecht zu verteidigen, wenn es sein muß mit Gewalt, für eine heilige Pflicht. So 1789. Hat das Individuum aber den Weg zu seiner Eigenart erst frei, so wird es bald gewahr, daß es aus eigener Kraft allein sie niemals erreicht: es enthält mehr, als es selbst gestalten kann, seine beste Kraft bleibt in ihm stecken, wenn ihm nicht von außen geholfen wird, und irgend einmal erlebt jeder an sich selbst das Wort Goethes: »Was der Mensch auch ergreife und handhabe, der Einzelne ist sich nicht hinreichend.« Das Gebot der Nächstenliebe ist im Grunde ein Gebot der Eigenliebe: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, weil du dann erst, nur an deinem Nächsten erst, zu dir selbst kommst!
Es ist bald fünfundzwanzig Jahre her, daß Ibsen, alt und geheimnisvoll, in Wien unter jungen Leuten saß. Die Nacht war vorgerückt, sie zechten scharf, das Gespräch wurde heiß, es ging, wie jedes damals, um Individualismus oder Altruismus, es war die Zeit der ethischen Bewegung. Das verdroß den Alten, der sich sein Recht auf Persönlichkeit durchaus nicht antasten ließ, er wurde wild und schlug auf den Tisch, bis es einem der Jünglinge, der später der Führer der österreichischen Sozialdemokratie wurde, noch im rechten Augenblick gelang, mit einer artigen Wendung die gute Laune wiederherzustellen, indem er sagte: »Ja, wenn ich Ihre Persönlichkeit hätte, die wäre mir auch genug! Und sie mag auch stark genug sein, im Unbedingten standzuhalten! Aber meine nicht, und so muß ich mich schon bescheiden, mir bleibt bei meiner Dürftigkeit und inneren Unzulänglichkeit nun einmal nichts übrig als mich anzuschließen und einzufügen, als aufzugehen im Allgemeinen.« Das gefiel dem Alten, er ließ es lächelnd gelten, die Becher klangen wieder hell. Heute verstehen wir die Frage jener Zeit eigentlich kaum mehr recht, wir wissen heute, sie war im Grunde falsch gestellt, denn es gilt da doch gar kein Entweder – Oder, sondern ein Sowohl – als auch; wir würden Ibsen heute antworten: Eben um der Persönlichkeit willen wollen wir mit unsrer dienen, weil Erfahrung zeigt, daß Persönlichkeit sich ja niemals aus eigener Kraft allein, sondern immer am gemeinsamen Werke mit andern erst ganz erfüllt.
Es hat lange gebraucht, bis das Individuum, aus dem Rausche der Revolution erwachend, das wieder erkannte und sich allmählich erst wieder selbst verstand. Und wenn sich heute jeder zum Sozialismus in irgendeiner Form bekennt, so widerspricht er damit dem Individualismus gar nicht, Individualismus und Sozialismus haben einander durchdrungen, in unserm Sozialismus lebt ein unentbehrlicher Individualismus fort, unser »Sozialismus« ist im Grunde bloß ein wohlverstandener, ein besser unterrichteter Individualismus. Und ebenso hat auch der Krieg den Nationalismus nicht etwa widerlegt, er hat ihn nur besser belehrt, auch die Nation hat jetzt, wie das Individuum, erst sich selbst verstehen gelernt, es geht mit Mitteleuropa nicht gegen den Nationalismus, es geht, was Naumann, der mehr die Kraft des Ahnens als des Schauens hat, vielleicht noch gar nicht weiß, vielleicht auch nur noch nicht zu wissen wagt, um einen höheren, um einen wohlverstandenen Nationalismus, um einen unter vielen, zwischen vielen, so daß jeder davon durch die Nähe der andern zwar noch mehr gespannt, aber auch zur Selbstbesinnung genötigt und in seine Grenzen gewiesen wird. Denn wie das Individuum nach Goethes Wort »sich von der einen Seite zu verselbsten genötigt ist«, aber doch auch »von der andern in regelmäßigen Pulsen sich zu entselbstigen nicht versäumen kann«, so hat auch die Nation ein Recht auf sich selbst, dem keine jemals entsagen wird, dem sie gar nicht entsagen darf, sie muß auf Eigenart, innere Freiheit und Selbstdarstellung dringen und wehrt von sich ab, was ihr Wesen, ihren Sinn, ihre Form zu vergewaltigen oder auch nur irgendwie zu verwischen droht, aber keine wird doch auch wieder eine tiefe Sehnsucht ins Weite los, Sehnsucht über sich hinaus, Sehnsucht gerade nach dem Fremden, Sehnsucht aus der eigenen Enge zur allgemeinen Höhe, freilich zugleich mit einer geheimen Angst vor dieser Sehnsucht, Angst, ins Leere zu verschweben, selbst zu zerrinnen, sich zu verlieren oder doch zu verarmen an Eigenart, an dem gerade, was nur sie hat und was allein nur sie der Welt geben kann und was zur Welt zu bringen ihre Pflicht, ihre Sendung, ja ihre Rechtfertigung für sich selbst und vor den andern ist. Diese Angst jagt jede Nation immer wieder in sie selbst zurück, jene Sehnsucht zieht jede Nation immer wieder über sie selbst empor, und so schwankt sie, wie sie sich entscheiden, was sie wählen, und erst seit diesem Kriege weiß jede, daß sie beides soll, weil erst dieser Krieg jetzt einer jeden gezeigt hat, daß es sie nicht schwächt, sich einzureihen, sondern stärkt, daß sie, wenn sie sich einreiht, darum nicht aufhören muß, sie selbst zu sein, sondern gerade selbst, eingereiht, erst zu Kräften, eigenen Kräften kommt, die sie, mit sich allein, immer schon in sich drängen, aber zu entbinden, zu entfalten, gar zu gestalten sich ohnmächtig fühlte, ja daß sie, wenn sie sich einreiht, gerade dadurch eine Macht gewinnt, mit der sie's getrost wagen darf, eingereiht zu bleiben, ohne Angst für sich.
Das ist das Neue, das wahrhaft Neue, das überwältigend Neue, das uns dieser Krieg erbracht hat: wie die Individuen längst, sind nun auch die Nationen organisiert worden, durch Willensvereinigung zu gemeinsamer Tat an gemeinsamem Werk bei gesicherter Freiheit jeder nationalen Eigenart.
Organisation von Nationen ist die Tatsache dieses Krieges. Sie ist da, an allen Fronten. Wird sie uns nur erst auch noch bewußt, dann haben wir an ihr die »Idee von 1914«.
Zeichen, wie stark sie sich ankündigt und selbst Widerstrebende nicht ausläßt, sind schon überall, Zeichen, wie wir unwillkürlich, ja widerwillig uns in einen neuen Raum gedrängt sehen, einen Raum über den Staaten. Der ganz im bürgerlichen Nationalismus aufgewachsene Kjellén, dem früher der Nationalstaat so sehr eine Notwendigkeit schien, daß er den Völkerstaat wider die Natur fand, selbst er muß in seiner letzten Schrift zugestehen, der Nationalstaat sei nicht das letzte Wort der Geschichte: »Es liegt nichts in seinem Wesen, was höhere Verbindungen verbietet«, und »daß die Geschichte auch die Nationalstaaten zu höheren Verbänden zusammenschließen wird, ist um so weniger ein fremder Gedanke, als dies der einzig organische Weg zum Universalstaat ist, auf den wir ja alle einmal in Vollendung der Zeit hoffen«. Und auch ein so streng national gesinnter Mann wie Friedrich Meinecke, so vom Geiste des Freiherrn vom Stein und Bismarcks durchdrungen, ein so kraftvoller und herzhafter Deutscher glaubt jetzt »Probleme des Weltkriegs«, Neue Rundschau, Juni 1916. die »Flegeljahre des aufgeregten Nationalismus« überwunden, der »zum großen Teil Pubertätsfieber war«, und hofft auf »ein föderatives und tolerantes Nationalgefühl in Mitteleuropa, das sich männlich bescheidet und die Notwendigkeiten der Lage anerkennt, denn zwingend und gebieterisch sind diese Notwendigkeiten. Der furchtbare konzentrische Druck von Westen und Osten zwingt alle mitteleuropäischen Nationen, sich zusammenzuschließen zu großen, leistungsfähigen Deichverbänden und sich dabei die Grundlagen ihrer nationalen Existenz zu garantieren. Je fester diese Deichverbände und je stärker die sie tragenden Solidaritätsgefühle sein werden, je mehr man aufeinander vertrauen lernt, um so weiter kann das Maß der politischen Bewegungsfreiheiten für alle angeschlossenen Nationalitäten gesteckt werden.« Und er unterläßt nicht, auszusprechen, daß gerade damit nur »die Idee der Bismarckschen Reichsgründung in loseren Formen auf die Weltstellung Deutschlands übertragen wäre«.
Wohin wir uns wenden, überall blickt uns der Nationalismus jetzt anders an als vor dem Krieg, er hat ein neues Gesicht, ein zweites Gesicht, zur Zukunft hin, die ihn verändert, aber eben dadurch nur bestärkt. Denn nicht bedroht oder gefährdet wird das Nationalgefühl in den großen Verbänden, in die der Krieg die alten Staaten eingereiht hat, sondern vergeistigt und verklärt durch die neue Idee. Aber – ist sie denn so neu, diese Idee einer Völkerverbindung zu gemeinsamer Arbeit an gemeinsamem Werk, die Idee von 1914?
1871 gab der alte Döllinger, als Rektor der Münchener Universität, dem damals aus Frankreich schallenden Ruf nach Rache und Vergeltung die deutsche Antwort: »Wir unsererseits nehmen dieses Kartell des Hasses und der Rache nicht an, nicht nur weil jeder Haß das Leben verbittert und verdüstert, sondern auch, weil wir meinen, Nachbarvölker seien bestimmt, als Brüder sich zu vertragen und einander zu helfen … Wissen wir doch, daß alle christlichen Völker Glieder eines Bundes sind, welcher, wie er Befugnisse verleiht, so auch Pflichten auferlegt, und daß jede der großen europäischen Nationen ihre eigentümliche Aufgabe für das ganze Menschengeschlecht zu erfüllen hat.«
Und schon 1809 schrieb Heinrich von Kleist für ein mit Dahlmann geplantes Wochenblatt einen Aufruf, da nennt er die deutsche Nation eine »Gemeinschaft, die, unbekannt mit dem Geist der Herrschsucht und der Eroberung, des Daseins und der Duldung so würdig ist wie irgendeine; die ihren Ruhm nicht einmal denken kann, sie müßte denn den Ruhm zugleich und das Heil aller übrigen denken, die den Erdkreis bewohnen; deren ausgelassenster und ungeheuerster Gedanke noch, von Dichtern und Weisen auf Flügeln der Einbildung erschwungen, Unterwerfung unter eine Weltregierung ist, die in freier Wahl von der Gesamtheit aller Brüdernationen gesetzt wäre.«
Ein uralter deutscher Traum ist die Symphonie der Völker. Fichte hat ihn geträumt und Novalis, in seiner Vision der alten Christenheit, ja schon Leibniz. Denn dieser Traum ist nichts als Erinnerung: der Deutsche will nur wieder, was er schon einst hatte. Denn der freie Völkerbund ist die germanische Form, in ihr beginnen unsre Stämme, Franken, Alemannen, Sachsen, ihr geschichtliches Dasein, und das Völkerreich Karls des Großen, das alle deutschen Stämme mit Galliern, Romanen und Slawen verband, ist es, das noch immer im Deutschen lebt, das kann er nicht vergessen, die Erinnerung daran ist die lebendige Kraft, der schaffende Trieb der ganzen deutschen Geschichte geblieben, sie hat die Hohenstaufen, sie die Habsburger beseelt, und was immer, wann immer durch Deutsche Großes geschah, jede wahrhaft deutsche Tat trägt die karolingische Spur, und selbst in dem heute lebenden, der Vergangenheit untreuen, an den Gelderwerb verratenen Geschlecht klingt die noch immer wache Sage nach, daß der alte Kaiser Karl immer wieder seine Raben aus dem Untersberg schickt, ihm zu melden, ob es denn noch nicht Zeit für ihn, wiederzukommen und die letzte Schlacht zu schlagen, in der die lichten Menschen über die finsteren siegen und dann das neue Reich aufrichten werden, das Reich der Freude, des Friedens und der Freiheit. So unvergeßlich, unauslöschlich, unsterblich ist dieser uralte deutsche Traum.
Aber diesen uralten deutschen Traum träumen auch andre Völker. Das ist sehr seltsam: jedes Volk Europas glaubt an ein Reich der freien Eintracht aller, aber erst, wenn es die andern mit Gewalt überwunden und sie zur allgemeinen Freiheit gezwungen haben wird. »Jedes große Volk,« hat Dostojewski gesagt, »glaubt und muß glauben, daß in ihm und nur in ihm allein die Rettung der Welt liegt, daß es bloß lebt, um an die Spitze aller Völker zu treten, sie alle in sich aufzunehmen und sie in voller Übereinstimmung zum endgültigen, allen vorbestimmten Ziele zu führen«. »Politische Schriften«. München, R. Piper. S. 212. Er, der in Rußland ganz allein die geistige Arbeit getan hat, die bei den andern Völkern an so viele verteilt war, der seine verirrte Nation aus dem Individualismus der »Westler«, der Scheineuropäer, der Nihilisten wieder heimgeführt hat ins eigene Land und zur eigenen Erde, zum Volke zurück, der in seiner Person den Russen wurde, was uns das Erbe Goethes, die Romantik, die geschichtliche Sprachwissenschaft, die geschichtliche Rechtswissenschaft, der Anblick Bismarcks, der Kathedersozialismus und die Sozialdemokratie, was auch in allen andern Ländern erst das Ergebnis von Geschlecht zu Geschlecht geduldig fortgesetzter Einwirkungen vieler war, dieser einzige, sein Jahrhundert in sich versammelnde Mann, traute dem Volke, »in dem die Wahrheit ist«, die Kraft zur Aussöhnung aller Widersprüche der geschichtlichen Menschheit in einer welterlösenden Synthese zu. Aber auch er nur seinem Volke. Wie wir alle. Alle Völker glauben, daß das letzte Wort der Menschheit noch nicht gesprochen ist, und alle Völker glauben, daß dieses letzte Wort die Gemeinschaft aller aussprechen wird, aber jedes glaubt, daß nur von ihm selber allein dieses Wort ausgesprochen werden kann, und erst, wenn ihm alle andern gehorchen. Diesen Glauben hat jedes Volk und muß ihn haben, wenn es sich nicht selbst verraten will. Und so, den ewigen Frieden alle verlangend, stehen wir im ewigen Kriege.
Solange, bis erst die Völker wieder etwas über sich anerkennen lernen werden, ein Gesetz, das nicht sie selbst sich geben, ein ewiges Gesetz, vor dem sie sich selbst vergänglich, dessen Werkzeuge sie sich fühlen. Der Anfang dazu ist jetzt da. Jene großen »Deichverbände« ordnen jedes der Völker, die durch die Not des Kriegs, durch den Willen zum Siege verwachsen, in den gemeinsamen Geist ein, einen Geist, zu dem sich alle diese Völker desselben Verbandes bekennen und der doch keinem dieser Völker allein gehört, der in ihrer Gemeinschaft und durch die Gemeinschaft erst entstanden, der etwas Höheres als jedes von ihnen, der über ihnen allen ist. Der Verband weist jedes dieser Völker auf das, was es ist, zurück, denn eben um jedem das, was es ist, die Freiheit seiner Eigenart zu sichern, ist er überhaupt erst entstanden, aber zugleich weist er jedes dieser Völker auch wieder über das, was es ist, hinaus, nämlich an die Gemeinschaft mit den andern. Jedes bleibt sein eigener Herr und lernt doch dienen, einer höheren Pflicht dienen, der es mit den andern zusammen gehorcht. Und wenn diese Verbände auch im Frieden erhalten bleiben und die Lehre, die sie schon durch ihre bloße Gegenwart sind, erst ein Jahrhundert lang auf ihre Völker fortgewirkt haben wird, dann können wir hoffen. Was Völkern wie Individuen am schwersten wird, hätten sie dann vielleicht gelernt, hätten das Recht auf Eigenart, das ein jedes für sich fordert, auch andern zugestehen gelernt, deren Eigenart ja schließlich die Bedingung der eigenen ist, da doch, wären alle gleich, keine mehr eigen wäre, und hätten gelernt, daß, wie der Nation jedes Individuum mit seiner besonderen Kraft an seiner besonderen Stelle notwendig ist, um, eben indem es sich auswirkt, die Nation zu tragen, mitzutragen und so zugleich sein eigener Zweck, aber auch ihr dienendes Glied zu sein, so auch über den Nationen wieder aus den Nationen sich der katholische Dom der Menschheit erhebt, der mit seiner Turmspitze Gott berührt. In diesem Dome bedingt sich alles, alles ist Zweck und Mittel zugleich, alles, indem es, um ein viel mißbrauchtes Wort recht zu gebrauchen, sich auslebt, sich seiner Kraft freut, sich tätig erfüllt, wirkt eben dadurch fürs Ganze, dient dem Ganzen, gibt ebenso selber dem Ganzen seinen Sinn und empfängt ihn auch wieder vom Ganzen, da doch dieser ungeheure Dom der Menschheit, dem alle Völker und in ihren Völkern wieder alle Individuen dienen, zuletzt bloß dazu dient, den einzelnen Menschen mit Gott zu verbinden. Wie der einzelne, der sich freudig in den Dienst der Nation stellt, sich dadurch nicht verwischt, nicht aufhört, seine Kraft und Eigenart zu regen, sondern dieser, indem er ihr ein Ziel gibt, an dem sie sich äußern kann, selber nun erst recht inne wird, sie nun erst zur rechten Wirkung bringt, so kann auch die Nation am Werke der Menschheit erst alle Herrlichkeit entfalten, zu der sie und gerade nur sie mit der vom Anbeginn in ihr waltenden, ihr allein mitgegebenen, von Gott zugewiesenen Tugend bestimmt ist. Das gemeinsame Werk der Nationen, dieser Gottesdienst der Menschheit, wird kein fauler Friede sein. Krieg wird immer auf Erden unter den Menschen der Vater aller Dinge bleiben, wie der alte Heraklit gesagt hat. Aber es wird dann ein andrer Krieg, es wird ein Krieg um die größte Tüchtigkeit, um die beste Leistung, um den höchsten Einsatz reinster Menschlichkeit sein, um die wahre Gotteskindschaft.
Aber haben wir denn nicht, wir Österreicher, schon ein Zeichen, gleichsam ein kleines Modell dieser von den neuen Staatenverbänden des Kriegs verheißenen künftigen Form an unserm alten Vaterland? Ist unser altes Österreich nicht immer schon ein solches Weltreich im kleinen gewesen? Sind wir nicht seit je ein vielgliedriger, vielsinniger, vielwilliger Völkerstaat, in dem jedes einzelne Glied, jeder einzelne Sinn, jeder einzelne Wille der vielen Völker sich mit seiner ganzen Kraft zu regen und zu dehnen und zu strecken verlangt, aber alle diese wetteifernden Kräfte, so sehr sie bisweilen einander zu fliehen, einander zu widerstreben schienen, doch immer wieder auf einmal geheimnisvoll gesammelt und noch in jeder Stunde der Gefahr wieder eines Sinnes und desselben Willens waren? Unser Österreich ist lange verkannt worden, auch von uns selbst. Man glaubte zu sehen, jedes unsrer Völker wolle nur sich selbst. Man sah ganz richtig, man deutete bloß falsch, was man sah. Man sah den Trieb unsrer Völker nach Entfaltung der ganzen Kraft eines jeden, und man sah den dadurch erregten inneren Zwist. Man übersah, wie stark, wie sicher, wie fest wir uns doch fühlen mußten, wir uns wissen mußten, um solchen inneren Zwist überhaupt nur wagen zu können. Ein Zeichen unsres Verfalls, ja Zerfalls schien, was die Bedingung, der Urgrund unsrer Kraft ist. Immer will in Österreich jedes der vielen Länder, jedes der vielen Völker seinen angeborenen Eigensinn den andern abtrotzen, von den andern ertrotzen, den andern auftrotzen, aber eben dieser Trotz ist es, durch den jedes stärker wird und höher kommt, als es allein, von den andern abgesondert und auf sich selber angewiesen, jemals gekommen wäre, ja jemals kommen könnte; und so fühlt jedes doch, weiß jedes doch tief in sich, daß es die Gemeinschaft mit den andern, vor der ihm so bangt, dennoch nicht entbehren kann, um seiner selbst willen nicht, weil es eben in der Furcht, sein eigenes Wesen an sie zu verlieren, dieses eigenen Wesens erst ganz bewußt, habhaft und mächtig wird, fühlt und weiß jedes tief bei sich doch, daß es Österreich braucht, fühlt und weiß jedes tief bei sich, daß es um seiner selbst willen Österreich will, weil nur Österreich die ganze wirtschaftliche, geistige und sittliche Tauglichkeit, Tüchtigkeit und Tätigkeit eines jeden seiner Völker aus ihm holt, zu sich hebt und in sich vollendet.
Uns in Österreich ist die Idee von 1914 nicht neu, wir leben aus ihr seit so vielen hundert Jahren, wir sind ihrer nur jetzt erst wieder einmal recht bewußt geworden. Lernten wir für die Ankunft bewußt aus ihr handeln, so wäre viel gewonnen. Der Mensch hofft immer auf bessere Zeiten, bleibt aber selbst unverbesserlich. Auch der Krieg wird uns im Grunde kaum sehr ändern. Aber er hat uns zur Besinnung gebracht, zur Besinnung auf uns selbst. Wir haben wieder Zuversicht: Das Erlebnis unsrer inneren Unzerstörbarkeit wird fortwirken. Wir werden nicht aufhören, gegeneinander zu trotzen, uns neidisch, eifersüchtig, argwöhnisch zu messen, in Streit und Fehde miteinander zu stehen. Aber, hat Dostojewski einmal gefragt, können sich denn die Streitenden nicht doch zu gleicher Zeit auch liebhaben? Wir wissen jetzt, daß es beides zugleich gibt: den Streit und mit ihm, in ihm, über ihm, ja durch ihn, aus ihm gerade die Liebe!