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Der Österreicher

Jetzt erblickt der Österreicher zum erstenmal sich selbst, den er ja bisher gar nicht gekannt hat, als höchstens vom Hörensagen. Er war gewohnt, den guten oder üblen Ruf, in dem er stand, hinzunehmen, ja selber anzunehmen, als wenn es ein Urteil wäre, gegen das man nicht berufen kann. An wen auch? Denn um sich dagegen auf sich selbst zu berufen, hätte er doch erst seiner selbst gewiß sein müssen, und das war er ja seit der barocken Zeit nicht mehr. Er suchte sich seitdem in einem fort; aber dort, wo er sich suchte, im Spiegel der öffentlichen Meinung, war nichts von ihm zu finden. Seine eigene Unsicherheit, der Wunsch zu gefallen, die Wehleidigkeit gegen Tadel oder gar Spott, der Ehrgeiz, Eindruck zu machen, das Bedürfnis nach Applaus ließen ihn nicht zu sich kommen. Wir waren ein Volk, das gewissermaßen immer auf der Bühne stand, ins Publikum schielend, vor Neugierde, was Europa zu uns sagen wird, und geneigt, es ihm zu glauben. Und erst als das nun nicht mehr möglich war, weil wir uns vor allem unsrer Haut zu wehren hatten, und auch schon deshalb nicht, weil auf einmal Europa nicht mehr da war, blieb uns nichts mehr übrig, als nun zu zeigen, wie wir sind. Und es erstaunten alle über uns, am meisten aber wir selbst.

Wie kommt es, daß wir immer nur in der letzten Not erst den Mut zu uns finden?

Österreicher sind zusammengesetzte Wesen. Ein Österreicher ist ein Deutscher oder ein Kroate, Serbe, Pole, Ruthene, Tscheche, Slowak, aber dieser Deutsche, dieser Slowak ist nicht bloß ein Deutscher, nicht bloß ein Slowak, sondern noch etwas dazu, nämlich etwas, was ihm eben dadurch, daß sein Volk seit Jahrhunderten mit andern Völkern, in andern Völkern und bald für, bald gegen sie lebt, ihr Schicksal teilt und daran sein eigenes Schicksal formt, zugewachsen ist, eben durch diese Art von unbewußtem geistigen Konnubium oder zuweilen auch im bewußten Widerstand dagegen, durch einen unausgesetzten, aber dabei stets die Farbe wechselnden inneren Verkehr, in dem sich schließlich Haß von Liebe kaum mehr unterscheiden läßt und überhaupt das Gefühl, so stark es ist, sich meistens gar nicht zu nennen weiß, ja um so weniger, je stärker es ist. Diesen Zuwachs oder Zusatz, dieses erst ganz unerklärliche, ratlose Plus in seinem Wesen muß der österreichische Deutsche wie der österreichische Slawe ja von seinem eigenen Volk aus, von seiner angestammten nationalen Eigenart aus, für sein deutsches oder slawisches Gefühl, zunächst als störend empfinden, er wird dadurch ja national gehemmt, er fühlt sich national geschwächt, er fürchtet, dadurch national bedroht zu sein. Jedem österreichischen Volk wird immer zuweilen angst vor Österreich, nämlich vor dem Österreich in der eigenen Brust, das es dann um so schwerer hat, sich gegen dieses Mißtrauen zu wehren, weil der nationale Teil des Österreichers ja stets über die Beredsamkeit eines ganzen Volkes verfügt, der österreichische Teil aber stumm bleibt. Österreich ist ja noch nie formuliert worden, es hat keine Sprache, es kann sich nur durch Musik und die bildende Kunst oder unmittelbar durch die Tat verständigen, also für das Auge, für das Ohr und für den inneren Sinn allein; aber durch Reden und vor dem Verstande läßt sich sein Geheimnis nicht beglaubigen. In der Kunst, in der Tat und in der Not erscheint es erst, nur dem Künstler, dem Helden und in Augenblicken der Gefahr ist Österreich gewiß. Dann empfindet nämlich auch der nationale Teil des Österreichers sich auf einmal durch jenen merkwürdigen Zuwachs oder Zusatz nicht mehr gehemmt, sondern bestärkt und erhöht. Der österreichische Deutsche fühlt dann, daß er zwar anders deutsch ist als die übrigen Deutschen, aber darum nicht weniger deutsch und nicht schlechter deutsch, sondern auf eine Art deutsch, durch die das ganze Deutschtum reicher wird, die das Deutschtum nun gar nicht mehr entbehren könnte, die sich aus ihm gar nicht mehr wegdenken läßt, um die es schade, deren Verlust unersetzlich wäre. Und auch die andern Nationen Österreichs alle fühlen das. Sie fühlen alle, daß ihnen allen Österreich eine nationale Notwendigkeit ist. Sie fühlen das und sind nur aber in Verlegenheit, es auszusprechen, weil das politische Vokabular unsrer Zeit nicht die Worte dafür hat, denn es ist ein Vokabular zum Gebrauch in Nationalstaaten.

Wenn Nationalgefühl zu räsonieren beginnt, stößt es zunächst auf den Nationalstaat. Der ist für den Verstand die bequemste Art, des Nationalgefühls Herr zu werden. Wenn der Verstand aber eines Gefühls Herr zu werden sucht, verfärbt es sich. Ein Gefühl, das zu vernünfteln anfängt, wird bleichsüchtig, der Verstand hat dürre Hände: was sie begreifen, verwelkt. Was sich begreifen läßt, ist kein Geheimnis mehr. Aber ein Gefühl, das kein Geheimnis mehr enthält, hat keine Kraft mehr. Starken Völkern ist darum der Nationalstaat eigentlich auch immer nur ein Argument; es wirkt gut in Diskussionen, am besten solange das Nationalgefühl noch unerfüllt ist. Sobald es erfüllt wird, hält es sich meistens bei diesem eben noch so hoch und teuer beschworenen Begriff nicht mehr lange auf. Sobald der Nationalstaat da ist, ist er schon meistens keiner mehr, oder er hat nichts Eiligeres zu tun, als sogleich über sich hinwegzukommen. Es zeigt sich sogleich, daß er dem Nationalgefühl nicht genügen kann. Ein geschlossenes Volk ist nur in Gedanken möglich, nicht in Wirklichkeit, weil Wirklichkeit lebt, weil Leben wächst, weil ein wachsendes Volk den Verschluß sprengt. Der Nationalstaat dient immer bloß dazu, die geeinte Nation so zu verdichten, daß die Spannung schließlich unerträglich wird, sich entladen muß und losgeht. Es gehört zum Wesen des Nationalstaats, daß er niemals »saturiert« sein kann, sondern eben in dem Augenblick, wo er es scheint, aus innerer Notwehr zum Angreifer wird. Der Nationalstaat hat keinen Ausweg als in den Imperialismus. Er kann es nicht vermeiden, im gegebenen Augenblick weltpolitisch zu werden, und indem er es wird, hebt er sich selber auf. Stehen sich erst einmal lauter weltpolitische Imperien gegenüber, so gibt es keinen Nationalstaat mehr. Denn die Nation eines jeden, genötigt, sich auf andre Nationen zu beziehen, mit ihnen zu hausen, sie sich und sich ihnen anzupassen, muß dann, ob sie will oder nicht, wissentlich oder unwissentlich, jenes seelische Konnubium erleben, das bisher immer ein besonderes Problem Österreichs war.

Das österreichische Problem wird jetzt auf einmal allen Völkern Europas gestellt. Die Nationalstaaten, durch das Gesetz ihrer Entwicklung zur Weltpolitik gedrängt, Imperien geworden, entweder offen oder versteckt, entweder Zwangsimperien oder freie, können ihre Nation dann nicht mehr vor den Verwandlungen des Willens, der inneren Schichtung, der geistigen Haltung bewahren, die sich in jeder Symbiose von Völkern ergeben, sie sei nun die gewaltsame des Herrenvolkes mit Heloten oder irgendeine auf Lehenspflicht. Um die Grenzen der neuen Imperien geht ja dieser Krieg. Stellen wir uns aber gar noch vor, daß ja die neuen Imperien sich dann auch wieder nicht mehr voreinander verschließen können werden, daß auch sie wieder miteinander verkehren und aufeinander einwirken müssen, ja daß, da jedes Imperium Nationen enthalten wird, von denen andre Teile wieder in andre Imperien versprengt sind, jedem Imperium eine Teile des andern anziehende Gewalt einwohnen wird, so daß sich jedes von einer Gewitterzone von durcheinanderflutenden, bald feindlichen, bald verbindenden Elektrizitäten umgeben fühlt, dann hätten wir ein Europa, das ja dann sozusagen nur ein größeres Österreich wäre. Und so sieht sich der Österreicher, der in der Zeit der Nationalstaaten schon glauben mußte, veraltet, von der Entwicklung überholt und mit seiner unbrauchbar gewordenen Form ausgeschaltet zu sein, jetzt auf einmal wieder in den Vordergrund gedrängt, und wenn er seiner Neigung, Wahrheiten auf eine so unwahrscheinliche Art auszudrücken, daß sie zu schlechten Witzen werden, nachgibt, mag er getrost sagen, daß ja jetzt in einem gewissen Sinn Europa nichts übrigbleiben wird als österreichisch zu werden (was übrigens, aus dem Zusammenhang gerissen und mit der gehörigen Entrüstung zitiert, sich in einer feindlichen Zeitung gut ausnehmen müßte!).

Der Österreicher, welcher Nation immer, ist, in seinen gelungenen Exemplaren, die allerdings sehr selten sind, ein Entwurf, gewissermaßen ein erster Versuch des Europäers. (Womit auch vielleicht zusammenhängt, daß ja die größten Österreicher, die österreichischsten Österreicher fast alle keine sind, wie Parazelsus aus Einsiedeln, Abraham a Santa Clara aus Baden, Prinz Eugen der edle Ritter von Savoyen, Mozart aus dem damals noch nicht österreichischen Salzburg, Metternich aus Koblenz.) Sonst kommt ja der Europäer bisher nur als Idee vor, als Wunsch, als Intention, bei Schwärmern, vom eigenen Volk Enttäuschten, aus dem eigenen Land geistig Verbannten, oder höchstens allenfalls als Privatunternehmen auf eigene Faust, wie Stendhal, Turgeniew, Chopin. Nur in Österreich gab es immer schon einen ganzen Kreis von Menschen, die, erbgesessen und keineswegs innerlich landflüchtig, stark an Heimat, festgewurzelt, sowenig sie geneigt oder auch nur fähig sind, eine andre als die österreichische Luft zu atmen, dennoch auf eine geheimnisvolle Art geistig über ihr Volk, über ihren Staat, ja über sich selbst hinaus und gewissermaßen daheim, zugleich aber auch noch in einer andern Welt leben. Dieses seltsame innere Doppelleben läßt sich kaum beschreiben. Wer aber einmal Gelegenheit hatte, mit unserm Adel oder mit österreichischen Geistlichen zu verkehren, kennt es. Sie sind nicht international, dieses Wort paßt auf sie gar nicht, sie sind ganz unverwaschen und unverwischt, Stockösterreicher, auf den ersten Blick, beim ersten Wort, ja schon an ihrer Haltung und jeder Gebärde kenntlich, aber ohne darauf zu pochen, ohne mit ihrer Landesart stramm zu stehen, auffällig national, aber unwillkürlich und unabsichtlich, eher fast selbst darüber ein wenig ärgerlich, ja sich darüber bei sich mokierend, und sie sind zu dem, was sie sind, immer noch auch etwas andres, sie sind mehr, als sie von Grund aus sind, oder sie sind es in einer Beleuchtung, die, was sie sind, anders erscheinen läßt, als man es gewöhnt ist. Sie sind Deutsche, Tschechen, Kroaten, aber von den andern Nationen beleuchtet, mit denen sie leben, und in diesem Lichte sieht das Deutsche, das Slawische anders aus, es wird beweglicher, flüssiger, es hat keine Schwere mehr, es wird sublimiert, es ist mehr sozusagen nur noch ein Abglanz von sich selbst. Daher auch, was man ja nicht verschweigen darf, die Gefahr, in der solche Menschen leicht sind, sie zu verflüchtigen: sie steigen leicht zu hoch und der Wind weht sie weg, nicht gleich, aber doch in der zweiten oder dritten Generation; gerade vom Stockösterreicher ist manchmal im Enkel schon nichts mehr übrig als die bloße Form. Auch in den Imperien wird man ja daran denken müssen, sich davor zu schützen. Wenn nach dem Kriege der Staatsdeutsche jetzt zum Weltdeutschen wird, muß er sich beizeiten vorsehen, national gut verankert zu sein. Er hat am Österreicher überall ein warnendes Beispiel. Denn überall steht dem Deutschen, wenn er sich jetzt in der Welt einrichten wird, im großen bevor, was der Österreicher in seinem Hause seit Jahrhunderten erlebt hat. Unsre österreichische Geschichte ist ein Anschauungsunterricht im deutschen Umgang mit andern Völkern, und der Weltdeutsche, den diese Zeit verlangt, wird nicht umhin können, ein vergrößerter Österreicher zu sein, hoffentlich stark und gut vergrößert. Das hätten wir uns auch nie träumen lassen, daß wir noch einmal Lehrmeister werden, die Lehrmeister, Tanzmeister Europas.


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