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Zum vierzigjährigen Künstlerjubiläum
Wien ist daran, eine neue Stadt zu werden: das alte Wien verlischt, ein neues erwächst. Da steht nun der Wiener da, mit dem einen Fuß noch in jenem, mit dem andern ausschreitend. Und in diesem sehr merkwürdigen Moment der Stadt wissen die meisten nicht, wohin sie gehören und ob sie zögern oder eilen sollen. Sie möchten gern die alten Wiener bleiben, bringen es aber höchstens dazu, die alten Wiener zu spielen. Einen nur haben sie, der wirklich noch ein alter Wiener ist: nämlich diesen Schlosser aus Graz. In ihm allein ist die alte Wiener Art, zu der sich die anderen forcieren müssen, noch in aller Unschuld da, und wenn er spielt, wird das Verhältnis der Bühne zum Parterre vertauscht: denn wenn Girardi spielt, ist bei ihm auf der Bühne die Wirklichkeit und im Publikum ist der Schein.
Er hätte Petrucchio, Kent, Polonius, Harpagon, Tartüffe, Selbitz, Vansen, Mephisto, Kottwitz, der Erbförster und der Fuhrmann Henschel werden können; auch Novell ist von der Posse her gekommen. Burckhard hat ihn ins Burgtheater nehmen wollen, und als er dann im Volkstheater den eingebildeten Kranken, den Landstreicher Richepins und den alten Pfarrer in meinem »Athleten« gab, bestätigte es sich, daß er es gar nicht nötig hat, ein Couplet zu singen. Die Wiener fanden das sehr schön von ihm, erklärten aber: »Wann i scho den Girardi siech, will i a Couplet hör'n!« Und dabei blieb es. Denn sich gegen Widerstand durchzutrotzen, hatte auch dieser letzte Wiener nicht die Kraft.
Und dann haben sie ihn fortgeschickt. Für ihn war das ja sehr gut; denn erst von Berlin aus ist er berühmt geworden. Merkwürdig ist aber eigentlich doch, daß man jetzt nach Berlin fahren muß, um den einzigen Wiener von der alten Art zu sehen, der noch übrig ist.
30. Mai 1909.
Zum sechzigsten Geburtstag
Girardi gehört wie Baumeister zu den Schauspielern, die ganz Natur sind. Diese wirken durch ihre Macht, da zu sein. In allen Rollen stellen sie doch immer nur sich selbst dar. Ihre Kunst besteht darin, daß sie sich anläßlich irgend einer vorgetäuschten Handlung unter den Augen der Zuschauer erleben; immer wieder nur sich selbst. Die Grenzen ihres eigenen Wesens auch nur zum Schein zu verlassen, ist ihnen unmöglich, und niemals versuchen sie, in eine andere Haut zu fahren, wie das die Lebenslust der eigentlichen Komödianten ist. Die Gabe der Komödianten, sich selbst verleugnen und sich in andere verwandeln zu können, fehlt ihnen ganz. So sehr, daß es vielmehr gerade das Unvermögen, sich jemals etwas vom eigenen Wesen abhandeln, etwas Fremdes aufdrängen zu lassen, eigentlich zu sein scheint, was sie produktiv macht oder was in ihnen Produktiv wird. In unserem Leben nämlich, das, wenigstens wie die Menschen es jetzt vorläufig geordnet haben, nirgends einen ganzen Mann zuläßt und überall verlangt, daß sich jeder verleugne und verwandle, bis er in das von ihm fingierte Maß paßt, finden sie keinen Platz. Das ist es, was sie aus dem Leben fort und auf die Bühne treibt, wo allein man sich ebenfalls ein vollkommenes menschliches Exemplar noch gefallen läßt. Während es um die anderen, um die Komödianten, um die Spieler auf der Bühne eigentlich schade ist, denn die haben alles, um lebensfähig zu sein, sie könnten Staatswürdenträger werden. Daß nun aber im Theater zwei so grundverschiedene Wesen, der Schauspieler aus unüberwindlicher Wahrhaftigkeit und der Schauspieler der überzeugenden Verstellung, getrost beisammen sind, gehört zur großen Unheimlichkeit, die hauptsächlich den eigentlichen Reiz aller theatralischen Veranstaltungen auszumachen scheint. Diese beiden Arten von Schauspielern nun gegeneinander aufzustellen und an einander abzuschätzen, hätte wenig Sinn. Sie haben ja nichts miteinander gemein, woran man sie messen könnte. Die der tausendfältigen, sich ewig erneuernden, grenzenlosen Spieler, in denen das ganze Personal der Menschheit zu stecken scheint, lockt uns durch ihre schillernde, niemals zu fassende, unsere Schranken sprengende Kunst, und es ist ja für uns ein großer Trost, Menschen zuzusehen, denen gegeben ist, sich selbst entwischen zu können. Aber die zweite, die der Bekenner zu sich selbst, macht uns wieder stolz auf den Menschen, der, wenn er nur sich selbst hat, daran alles hat und von der ganzen Welt nichts mehr braucht. Jener ersten Art wird leicht, die Menge zu gewinnen, der es immer gefällt, sich zu vergessen und an irgend einen trügerischen Schein zu verlieren, während ihr der zweiten selbstgenügsamer, streng bei sich beharrender, abweisender Sinn eher ein Vorwurf ist. Baumeister hat an die dreißig Jahre warten müssen, ein Menschenalter lang, um in seiner Herrlichkeit erkannt zu werden, und der Verehrung Niemanns ist immer noch etwas wie Furcht beigemischt geblieben. Auch in den anderen Künsten hat es ja der Dürerzug am schwersten, er schmeichelt sich weder ein noch drängt er sich auf, er kündigt sich nicht einmal an, und so muß seine stolze Bescheidenheit warten, bis ihn die Menschen mit der Zeit, weil er doch nun einmal dasteht, mehr aus Gewohnheit ertragen lernen. Künstler mit dem Dürerzug brauchen immer lang, bis es ihnen verziehen wird. Es sei denn, daß einer in seiner festen abgeschlossenen Sonderart gleichsam ein Auszug der allgemeinen Volksart ist, worin sein Volk sich selbst erkennt und zu finden glaubt, was es selbst ist oder doch zu sein wünscht. Nur so hat es sich ereignen können, daß Girardi, dieser durch und durch deutsche, reine, ganz unkomödiantische Schauspieler, mit seiner aus dem Kern aufsprießenden, nur den inneren Menschen ruhig ausatmenden Kunst dennoch gleich ein Liebling der Stadt Wien geworden und nun bald vierzig Jahre lang geblieben ist.
Girardi stellt immer nur sich selbst dar. Seine Wirkung beruht darauf und besteht darin, daß er der Girardi ist. Er versucht gar nicht, darüber zu täuschen. Das Publikum will auch nur dies von ihm, es will den Girardi sehen. Wenn es, was in diesen vierzig Jahren auch bisweilen vorgekommen ist, einmal findet, daß der Girardi in irgend einer Rolle nicht gut war, so meint es damit, daß er nicht der ganze Girardi war, so wie es ihn zu sehen gewohnt ist und ihn immer wieder sehen will. Er war vielleicht in dieser Rolle gerade besonders gut, schauspielerisch genommen, weil er vielleicht, um ihr beizukommen, irgend einen Teil seines Wesens, der für sie nicht paßt, zugehalten oder eine neue, bisher an ihm verborgene Seite seines Wesens hervorgekehrt hat, was doch das eigentliche Verfahren der Schauspielkunst ist. Aber vom Girardi verlangt der Wiener gar nicht Schauspielkunst, sondern den Girardi. Ja, der Wiener bringt selbst sozusagen seinen Girardi schon ins Theater mit, und es ist dann sein Hauptvergnügen, den wirklichen Girardi auf der Bühne nun daran zu messen, ob denn der diese mitgebrachten Erwartungen auch alle genau Punkt für Punkt erfüllt. Weshalb auch die Tätigkeit der Autoren, die die Stücke für ihn liefern, sich darauf beschränkt, ihm Gelegenheiten zum Girardi zu bieten, nicht Gelegenheiten zur Ausübung irgend einer Kunst oder irgend welcher Fertigkeiten, wie sie die Lieferanten für die Sarah Bernhardt oder für die Réjane suchen, sondern Gelegenheiten zur Darstellung seiner Person. Die Stücke, in denen der Wiener den Girardi am liebsten sieht, sind die, worin der Girardi bei Laune ist, und der Erfolg seiner Autoren hängt davon ab, ob es ihnen gelingt, den Girardi in Laune zu bringen: denn dann öffnet er sich wie ein Mensch bei einem guten Tropfen, und dann kommt langsam, nach und nach, der ganze Girardi heraus. Seine Stücke wollen für den Zuschauer gar nichts sein, sondern nur dieser gute Tropfen für ihn, der ihn dazu stimmen soll, daß er Lust kriegt, der Girardi zu sein. Den will der Wiener. Wenn er ihn, ohne erst ins Theater zu gehen, unmittelbar haben könnte, bei sich daheim oder im Wirtshaus, wär's ihm wahrscheinlich noch viel lieber. Die persönliche Bekanntschaft mit dem Girardi sucht der Wiener im Theater. Und in diesem merkwürdigen Verhältnis zwischen dem Wiener und dem Girardi ist sogar eigentlich der Wiener der Schauspieler, nicht der Girardi. Denn dieser kommt nur einfach herein und stellt sich ruhig hin und bietet sich in aller Unschuld dar, wie der liebe Gott ihn erschaffen hat, der Wiener aber hört ihm seinen Ton, sieht ihm alle seine Gebärden ab und macht sie nach, und wenn dann ein junger Mensch in Wien einem Mädel gefallen will, stellt er sich an, wie er es sich vom Girardi gemerkt hat, die Silben vom Gaumen durch die Nase ziehend, neugierig den Kopf vorsträubend und mit den Beinen stochernd, ganz wie der Girardi. Die Wiener spielen viel mehr den Girardi als er sie. Er spielt sich. Aber darin muß nun also wohl irgend etwas enthalten sein, was den Wiener sehr stark berührt, woran er sich auf sein eigenes Wesen besinnt und wovon er doch selbst offenbar nicht genug hat, so daß er eine Art Nachhilfe dabei braucht.
Wenn Girardi auf die Bühne tritt, kommt ein kreuzfideler Mensch herein und macht Dummheiten. Es ist zunächst der alte Thaddädl. Alles an ihm ist dumm, man muß ihn auslachen, und ihm ist das recht, er treibt es immer ärger, je mehr man über ihn lacht; das scheint auch für ihn ein großer Spaß zu sein; er macht augenscheinlich nur den Dummen, er ist es sicher gar nicht. Das merkt man gleich, und es dauert nicht lang, so glaubt man auch schon zu wissen, warum er den Dummen macht. In seiner Stimme hat er dann nämlich auf einmal einen Klang von heimlicher Wehmut, und da erinnern wir uns, daß die Stimmen guter Menschen so klingen, die sich schämen, gut zu sein, und Furcht haben, es sich merken zu lassen, weil man sonst doch den Menschen ganz wehrlos preisgegeben ist. Der Zuschauer weiß also bald: dieser Thaddädl ist ja gar keiner, er tut nur so; er ist ein rührend guter Mensch, der sich nur davon nichts merken lassen will und es in Späßen versteckt, weil es doch nun einmal guten Menschen, wenn sie sich darauf ertappen lassen, in unserer bösen Welt zu schlecht ergeht. Der Augenblick, wo Girardi dies dem Zuschauer zu verstehen gibt, indem er auf einmal ganz leise den Thaddädl ein wenig hebt und uns darunter hören läßt, wie sein Herz schlägt, und dann wieder der Augenblick, wo er, ein bißchen beschämt, sich nun allmählich wieder verdeckt und aus dem Menschlichen zum Kasperl zurückkehrt, das sind immer die größten Wirkungen in allen seinen Rollen. Da spürt man, daß der Zuschauer durch ihn wirklich etwas erlebt. Irgendwie muß dies dem Wiener viel bedeuten. Man denkt dann daran, daß ja schon in der gepriesenen alten Zeit der Wiener immer durch seine Lustigkeit berühmt gewesen ist. Es blieb ihm damals auch kaum etwas anderes übrig, die meisten anderen Eigenschaften waren ja verboten oder machten wenigstens verdächtig. Der gute Kaiser Franz hat es nicht gern gehabt, wenn sich seine Untertanen ihr Leben durch Ernst beschwerten. Ferner ist Lustigkeit im alten Wien auch noch das beste Versteck vor Naderern gewesen. Es war ja halb eine höfische Stadt und lernte das ängstlich glatte Lächeln der Höflinge. Wachsend zog es dann immer mehr Leute vom Lande herein, und ländliche Menschen, gar Weinbauern, sind argwöhnisch und meinen, es sei besser, seine Gedanken, wenn man welche hat, bei sich zu behalten, was ihnen auch wieder in der hergebrachten allgemeinen Lustigkeit noch am leichtesten gelang. So wurde damals der Spaß der Grundton, ja die eigentliche Lebensform des Wieners, der aber dabei, so sehr es ihm schmeichelte, dafür berühmt zu sein, heimlich doch wieder gekränkt war, nichts als die lustige Figur Europas zu sein. Im Grunde war er ja doch ein Deutscher geblieben, und dazu einer von der bayrischen Art, der eine fanatische Wahrhaftigkeit im dicken Blut sitzt. Fand er es also, aus Angst, sich durch Ernst verdächtig zu machen, aus höfischer Gewohnheit, aus bäurischem Mißtrauen, zwar am bequemsten, in der allgemeinen Lustigkeit mitzutun, so war er sich doch dabei bewußt, innerlich mehr zu sein, und deshalb immer beleidigt, wenn man ihn nahm, wie er sich gab. Jeder dieser alten Wiener verachtete die allgemeine Wiener Lustigkeit, nahm zwar an ihr teil, wollte aber selbst von ihr ausgenommen sein, nämlich als einer, dem sie nur eine Form sei, in der er seinen echten Menschen verbirgt, weil ja nun einmal, wie man bei seinen Dichtern Grillparzer und Stifter nachlesen mag, das Echte des Menschen nur im Verborgenen erblühen kann. Vielen ist es ja im alten Wien, wo der Mensch verboten war, nur hinter dieser Lustigkeit möglich gewesen, doch irgendwie geistig vorhanden zu sein, und es hat sich dann allmählich eine Art Gesellschaftsspiel unter den Wienern herausgebildet, einander dennoch zu verstehen und in der allgemeinen Lustigkeit seinen eigenen Ernst erraten, aber doch niemals auf frischer Tat erwischen zu lassen. Bis tief in unsere Zeit herein, wo nun freilich Wien aufgehört hat, eine höfische Stadt, eine halb bäurische Stadt, die Stadt der trügerischen Lustigkeit, des Argwohns und der ewigen Ängstlichkeit zu sein, wo Wien nun schon überall spürt, daß es eine Stadt der Gegenwart wird, wo Wien eine neue Form seiner neuen Art finden muß. Da tritt ihm in Girardi seine Vergangenheit noch einmal entgegen, zum Abschied, mit dem Glanz der untergehenden Sonne.
Vor etwa zwölf Jahren hat sich Girardi ein paar Mal an Rollen versucht, die nicht bloß seine Person enthielten. Das wollten die Wiener nicht, und er gab es wieder auf. Wir haben dadurch einen großen tragischen Künstler verloren. Ich zweifle nicht, daß er zum Fuhrmann Henschel, zum Erbförster, zum Meister Anton, ja vielleicht zum Kottwitz, zum Kent und zum Attinghausen hätte kommen können. Es ist aber möglich, daß sein Instinkt, der ihn entsagen ließ, doch recht hatte. Die Deutschen hätten dann einen großen tragischen Künstler mehr gehabt. Er zog vor, ein Denkmal der verlöschenden alten Wiener Art in der erwachenden neuen Stadt zu sein.
2. Dezember 1910.