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Österreich ist ein Verband von Nationen, die alle das Gefühl haben, es wäre für jede besser, entweder einem anderen Staat oder sich allein zu gehören. Das österreichische Problem ist nun, diese sich abstoßenden, einander fliehenden Nationen zusammen zu halten. Man hat dies einige Zeit dadurch versucht, daß man eine von ihnen, die wichtigste, die vermeintlich gefährlichste, die deutsche, über die anderen herrschen ließ, in der Hoffnung, wäre sie nur erst durch die Lust an der Macht für den Staat gewonnen, mit ihr dann schon auch die anderen im Zaum halten zu können, denen man gelegentlich überdies unter der Hand zu verstehen gab, daß ein Wechsel in der Macht ja nicht ausgeschlossen und wenn einmal eine von ihnen durch ihren Gehorsam, ihr vaterländisches Gefühl, ihren Staatssinn noch bessere Bürgschaften zu stellen scheine als die jetzt herrschende, es ganz gut möglich sei, unter Umständen einen Tausch zu versuchen, wodurch zugleich der herrschenden wieder bange genug gemacht wurde, um zu verhindern, daß von ihr jemals die Herrschaft völlig ausgenützt worden wäre. Die eine bevorzugte Nation wurde also eben durch den Genuß dieses Vorrechts, aber auch durch die versteckte Drohung, es ihr ja wieder entziehen zu können, die anderen unterdrückten Nationen wurden durch Gewalt, durch Furcht und durch den heimlich genährten Wunsch, selbst auch einmal unterdrücken zu können, veranlaßt, ihre Abneigung gegen den Staatsverband zwar keineswegs aufzugeben, aber doch einstweilen, wie man das in Österreich zu nennen pflegt, »zurückzustellen«. Dies ist ein Lieblingswort in Österreich, hier muß in einem fort, um nur überhaupt zum nächsten Tag gelangen zu können, immer wieder irgend etwas »zurückgestellt« werden. Schon froh, sich nur des Augenblicks zu entledigen, haben denn die Staatskünstler auch unser eigentliches Problem »zurückgestellt«: der tiefen Abneigung unserer Nationen gegen den Staatsverband innerlich Herr zu werden ist gar niemals versucht worden, sondern nur ihre äußeren Wirkungen unschädlich zu machen, durch Ableitung des nationalen Gefühls auf irgend einen unmittelbaren Vorteil, dem zuliebe man sich entschließt, die nationalen Hoffnungen zu vertagen, da nun der Mensch einmal wenig geneigt ist, einer ungewissen Zukunft die Gunst der Gegenwart zu opfern. In einem fortwährenden Handel mit den Nationen hat sich die österreichische Staatskunst hingeschleppt. Sie nahm die Abneigung der Nationen gegen den Staatsverband als eine nun einmal gegebene, durchaus unabänderliche, ja sozusagen im Staatshaushalt anerkannte Größe hin, und das Staatsgefühl oder wenigstens die Bereitschaft, am Staatswesen teilzunehmen oder doch es nicht zu stören, suchte sie sich, soweit ihr das unentbehrlich schien, von Fall zu Fall gegen Bezahlung oder Promessen zu verschaffen. Der Preis, den sie bot, war natürlich um so höher, je stärker die Staatsabneigung schien, die man einer Nation abzukaufen genötigt, und je größer die Staatswilligkeit, die die Nation im Augenblick zu liefern bereit war. So hatte jede Nation denn alles Interesse, sich zugleich als möglichst gefährlich, wenn das Geschäft nicht zustande käme, aber auch als möglichst ergiebig für den Staat, wenn nur erst einmal der Handel geschlossen wäre, und schließlich die anderen Nationen als unzuverlässige Lieferanten von Staatstreue darzustellen. Um sich wirtschaftlichen Vorteil und politische Macht zu sichern, mußte jede Nation zunächst drohen, dann aber ebenso kriechen können. Sie mußte den Eindruck erwecken, es sei höchste Zeit sie zu kaufen, aber auch den Eindruck, es lohne sich sie zu kaufen. Jede Nation hatte deshalb, um sich wirtschaftlich und politisch behaupten zu können, abwechselnd Irredentisten und ebenso Patrioten nötig, um nach Bedürfnis aufzuwarten: mit jenen, wenn es galt, Furcht, mit diesen, wenn es galt, Vertrauen einzuflößen, und da unsere Nationen nicht reich an Personal sind, wurde sogar oft die Rolle der Irredentisten mit denselben Männern besetzt wie die der Patrioten, es ist bei uns nicht selten, daß ausgediente Hochverräter Exzellenzen werden. Erst die Demokratie hat nun den Gedanken gehabt, von diesem Verfahren abzulassen, das gar nicht versucht, die Nationen innerlich zu gewinnen, sondern alles getan glaubt, wenn nur wieder ein Preis gefunden ist, der eine Nation bestimmt, ihre Staatsabneigung so lange zum Schweigen zu bringen, bis das Budget bewilligt ist. Unsere Demokratie will anders verfahren: indem sie nun ein neues Österreich entwirft, mit dem gleichen Recht für alle Nationen, sich ihrem inneren Sinn gemäß zu entwickeln und selbst ihr Schicksal zu bestimmen, wodurch sie hofft, jene Abneigung gegen den Staat zu stillen, ja, mit der Zeit vielleicht in Zuneigung umzuwandeln. Alle Demokratie ruht ja auf der Wahrnehmung, daß das Individuum in der Berührung mit anderen stärker wird, ja durch sie recht eigentlich erst ganz zu sich selbst kommt. Es ist falsch, ihr nachzusagen, sie beschränke den einzelnen, indem sie ihn an die Gemeinschaft bindet. Nein, sie tut dies vielmehr, weil sie ihn eben dadurch erst auszudehnen und desto tiefer zu erfüllen glaubt. Daß der Mensch in der Vereinzelung, von den anderen abgeschlossen und in sich eingezogen, sich geringer entfalte als in der Wärme der Reibung an anderen, die Funken aus ihm schlägt, durch welche sein tiefstes Wesen erst entbrennt, ist der Glaube der Demokratie, der sie nun auch hoffen läßt, daß ebenso Nationen, anderen zugesellt, ihres eigenen Lebens mächtiger werden als von ihnen abgesperrt. Hat sie recht, so wäre damit zum ersten Mal der Grund zu einem wirklichen Österreich gelegt. Keine Nation wird ein Opfer bringen, weil man ihr sagt: Der österreichische Staat braucht es! Sie wird antworten: Aber wir brauchen ja diesen Staat nicht! Erst wenn sie einsehen lernt, daß sie durch diesen Verband mit anderen Nationen fähiger zu sich selbst und selbst ihres eigenen Wesens nun erst ganz bewußt und zur Erfüllung ihres tiefsten Sinns ermutigt wird, kann sie bereit sein, sich hinzugeben. Durch die Demokratie wird zum ersten Mal ein Versuch unternommen, Österreich möglich zu machen.
Wir sind aber noch nicht so weit. In der Gesetzgebung sind wir demokratisch geworden. Nicht in der Verwaltung. Noch weniger in unserer Gesinnung. Demokratie fußt im Glauben an Liebe. Der einzelne Mensch erlebt, daß er, indem er sich für einen anderen aufzugeben und selbst in ihm zu verlöschen scheint, sich eben dadurch erst findet und nun erst sein eigenes, ihm bisher verborgenes Leben erkennt. Dieses Erlebnis nennen wir die Liebe, und die Demokratie wendet dieses Erlebnis des einzelnen im allgemeinen an. So weit sind wir aber in Österreich noch immer nicht. In der Gesinnung, in den Sitten sind wir ganz undemokratisch geblieben. Die Demokratie glaubt, daß kein einzelner Mensch allein die Wahrheit hat, sondern daß erst aus allen einzelnen Meinungen zusammen, indem eine befruchtend auf die andere stößt, die Wahrheit entsteht. Die Demokratie glaubt, daß keiner jemals recht hat und daß alle immer recht haben. Die Demokratie glaubt, daß jeder nur ein Teil ist, der erst, ins Ganze gesetzt, sich selbst erkennen und sich selbst erfüllen kann. Wir sind noch nicht so weit. Wir glauben noch immer, daß jeder des anderen Feind sei, und wer einer anderen Meinung ist, muß bösen Willens sein; Widerspruch können wir uns nur aus Niedertracht erklären, Duldung einer fremden Meinung scheint uns Verrat an der eigenen und wer anders denkt, der irrt oder lügt uns. Unseren Sitten, unserer Gesinnung nach sind wir noch immer im alten Österreich der gegenseitigen Verdächtigung, der gegenseitigen Verleumdung, der gegenseitigen Verachtung, des allgemeinen Hasses, des allgemeinen Neides, des allgemeinen Mißtrauens.
Nun lebt unter uns eine sehr arme, wirtschaftlich schwache, geistig ungemein begabte, menschlich wertvolle, politisch ratlose, nirgends recht eingefügte, staatlich ganz vernachlässigte, in unserem Staatswesen umherirrende Nation, die Serben. In Ungarn sind sie verdächtig, nach Österreich auszublicken. In Österreich sind sie der Hinneigung zu Ungarn verdächtig. In Ungarn möchte man sie benützen Österreich Schwierigkeiten zu machen. In Österreich möchte man sie gern gegen Ungarn verwenden. Wie sie sich immer stellen mögen, irgendwo machen sie sich immer verdächtig. Sie und die Kroaten sind eigentlich, der Rasse nach, der Sprache nach, ein und dieselbe Nation. Aber die Geschichte hat sie getrennt, bis sie, vor wenigen Jahren erst, die gemeinsame Not wieder vereint hat. Nur können ihnen ja die Kroaten auch nicht viel helfen, weil es diesen selbst nicht anders geht; auch sie stoßen ja bei jedem Schritt an Hochverrat. Im kleinen zeigt sich das manchmal auf eine derb komische Art. Da ist in Agram nun eine sehr tüchtige, sehr eifrige, sehr ehrgeizige Gruppe von jungen Malern. Man kann sich denken, daß ihnen der Agramer Markt in keiner Weise genügt. Sie möchten draußen beweisen, was sie können; in die großen internationalen Ausstellungen zieht es sie. Aber dort einen eigenen Saal einzunehmen sind ihrer nicht genug und sie haben auch nicht das Geld dazu. Bei wem sollen sie also ausstellen, in welcher Abteilung? Als Ungarn? So verlangt man's ja von ihnen in Budapest, da sie doch politisch nach Ungarn gehören. Aber dies dürfen sie nicht wagen, der Haß ihrer Landsleute gegen Ungarn ist zu stark, sie wären Verräter. Im österreichischen Saal? Die Wiener hätten nichts dagegen, sie gastlich aufzunehmen. Aber dies dürfen sie nicht wagen, sie sind ja von Budapest abhängig, das Stipendien und Staatsaufträge zu vergeben hat, und, als Österreicher ausstellend, wären sie doch in Budapest Verräter. Sie haben sich also nicht anders zu helfen gewußt als durch ihre Vereinigung mit den jungen Malern in Belgrad und Sofia. Vor einigen Jahren haben sie mit diesen einen Verein südslawischer Künstler, Lada, gebildet, zu dem Zweck, gemeinsam internationale Ausstellungen zu beschicken. Dadurch haben sie's nun in Wien und in Budapest vertan, seitdem gelten sie hier und dort als Verräter. Man muß zugeben, daß es ihnen recht schwer gemacht wird, nicht Verräter zu sein. Wie ein Serbe, wie ein Kroate sich irgendwie geistig zu regen beginnt, ist er schon ein Verräter. Ein eigenes Leben, ihrer Vergangenheit gemäß, ihrem innern Sinn gemäß können sie nicht entwickeln, ohne sich dadurch sogleich der Trennung von Ungarn verdächtig zu machen. Zwar zwinkert man ihnen dabei von Wien aus aufmunternd zu, aber nie hat ihnen Wien geholfen. Wohin soll sich die Gier ihrer jungen Kraft nach Entwicklung, der Wunsch, sich geistig anzuschließen, die Lust zu streben und zu wirken, also wenden? Ist's ihnen zu verdenken, wenn sich in ihrer grenzenlosen Verlassenheit einmal die letzte Hoffnung regt, daß vielleicht Serbien wirklich das Piemont der Südslawen werden könnte? Sie haben auf Wien vertraut, Wien hat sie Ungarn preisgegeben. Sie haben versucht (in jener törichten Resolution von Fiume) auf Ungarn zu vertrauen, Ungarn hat ihnen alles versagt, was sie wirtschaftlich und geistig brauchen. Wär's ein Wunder, wenn sie, überall verraten, überall betrogen, in der letzten Not ihre Rettung auf Serbien setzten? In der Tat scheint es unter der kroatischen und serbischen Jugend solche Wünsche, solche Hoffnungen zu geben und sie könnten zu einer politischen Romantik führen, ähnlich jener, die unter Taaffe, nach Kuchelbad, die deutsche Jugend in Österreich betört hat; wir alle sind damals Irredentisten, Landesfeinde, Hochverräter gewesen, was uns übrigens nicht verhindert hat, diesem so verhaßten Staat später eine Reihe von Ministern, Hofräten und Patrioten zu liefern. Ich selbst bin damals, fünfundzwanzig Jahre ist es her, von der Wiener Universität mit Schimpf und Spott ausgewiesen worden, weil ich auf einem Kommers zum Andenken Richard Wagners eine vage großdeutsche Gesinnung zu erkennen gab. Daher weiß ich (von Freunden zu schweigen, denen es jetzt als Exzellenzen vielleicht unbequem wäre, daran erinnert zu werden, wie kurz es her ist, daß auch sie, einiger Kornblumen oder ihres schwarz-rot-goldenen Bandes wegen, der Verschwörung mit Bismarck bezichtigt wurden) aus eigener Erfahrung, wie grenzenlos albern es von den Regierenden ist, die schwärmende Trunkenheit junger Leute zu fürchten und Träumer, die, bis nur erst der junge Schwall verraucht ist, von selbst erwachen, an ihrer Freiheit, an ihrer Ehre zu bedrohen, wodurch man höchstens Märtyrer macht, unter denen manch einer dann aus Trotz weiter getrieben wird, als ihm sonst jemals eingefallen wäre. Ich glaube die Stimmung der Menschen in Dalmatien und Kroatien zu kennen, ich habe die Angeklagten in jenem unseligen Agramer Prozeß gesehen und ich kann versichern, der unerschütterlichen Überzeugung zu sein, daß es in ganz Kroatien und ganz Dalmatien so wenig einen Landesverräter gibt als damals unter uns deutschen Studenten von 1880. Wir wollten Deutsche sein und da uns dies unter Taaffe verboten schien, sehnten wir uns nach Deutschland. Sehnsucht fällt unter kein Strafgesetz. Seitdem haben wir uns in Österreich wohlfühlen gelernt. Sie wollen Serben sein, und mancher der das serbische Volk von Österreich oder von Ungarn bedroht glaubt, mag sich vielleicht in bangen Stunden nach Serbien sehnen. Ich sehe nicht ein, warum ihre Sehnsucht strafbarer sein soll als unsere. Ob sie auch ihnen vergehen und auch für sie die Zeit kommen wird, sich in Österreich wohl zu fühlen, hängt von Österreich ab. Solche Hochverräter heilt man nicht durch Drohungen, sondern indem man ihnen die innere Berechtigung, ja jeden Vorwand zum Hochverrat nimmt. Wofür wir das beste Beispiel an Andrassy haben.
Ich habe Zeugen, denen ich, als im März 1909 Friedjung eine groß-serbische Verschwörung behauptete, in die angesehene kroatische und serbische Politiker verwickelt wären, nach meiner Kenntnis dieser Menschen sogleich beteuerte: Dies ist unwahr und Friedjung, an dessen gutem Glauben zu zweifeln ich keinen Grund habe, muß betrogen worden sein; denn soweit sich überhaupt ein Mensch jemals für einen anderen verbürgen kann, will ich mich verbürgen, daß unter diesen Beschuldigten kein einziger schuldig ist! Aber es hieß, Friedjung hätte Beweise. Mir war vom Anfang an gewiß: Dann sind sie gefälscht! Jetzt ist das jedem gewiß. Vor Gericht ist erwiesen worden, daß die »Dokumente«, mit denen Friedjung drohend geprahlt hat, Fälschungen sind. Friedjung selbst hat dies schließlich zugestehen müssen. Keine seiner Anklagen ist von ihm bescheinigt, sein Verdacht durch nichts beglaubigt oder auch nur wahrscheinlich gemacht worden, kein Schatten auf den Beschuldigten liegen geblieben. Und nur eins versteht man nicht: wie denn der ernsthafte, wohlmeinende, ja gelehrte Mann, für den man Friedjung immer noch gern halten möchte, sich auch nur einen Augenblick lang von »Dokumenten« täuschen lassen konnte, denen die Fälschung an der Stirne geschrieben steht; es ist dargetan worden, daß ihrem Verfasser durchaus jede Kenntnis der Menschen und aller Verhältnisse fehlt, die zu verraten er gedungen war, ja daß er sogar des Sprachgebrauchs unkundig ist; er war für das Geschäft allein auf eine kindisch abenteuerliche Phantasie angewiesen und hat sich in Imaginationen bewegt, die lebhaft an die drollige Burschenverschwörung in Immermanns Epigonen erinnern. Wie konnte Friedjung auch nur auf den ersten Blick einer Täuschung erliegen, die kaum dem argwöhnischen Gemüt eines überall Bomben witternden Konfidenten zuzumuten wäre? Er hat sich auf den Grafen Aehrenthal berufen und seine Freunde sagen, auf den Kredit des Grafen hin habe er daran geglaubt. Woraus man ersehen mag, wie schwer es für einen regierenden Grafen sein muß, Urkunden oder was sich dafür ausgibt, prüfen zu lassen, wenn jeder, dem er sie zeigt, schon dadurch allein, daß der Graf, ein Graf!, sie ihm zeigt, so geblendet wird, daß er sich aus lauter Respekt vor dem Grafen und in der Rührung, eines so hohen Auftrages gewürdigt zu sein, sogleich jedes Zweifels, jedes kritischen Urteils und aller Besinnung begibt!
Es mag nun aber wunderlich scheinen, daß so viele Leute bei uns jenen Beschuldigungen gern geglaubt hätten. Wären sie bewiesen worden, dann hätten wir also ein Volk unter uns, dessen Führer und Vertrauensmänner fähig sind, im Krieg das Land an den Feind zu verraten; und es bliebe uns nach Vernunft und Gerechtigkeit kaum gut etwas anderes übrig, als dieses Volk je eher je lieber von uns abzutrennen. Wurden diese Beschuldigungen bewiesen, so war vor Europa der Beweis erbracht, daß eins unserer Völker uns innerlich schon völlig verloren ist und nur allenfalls durch Waffengewalt noch einige Zeit äußerlich behauptet werden kann. Dies hat Friedjung, der Patriot, vor Gericht erhärten wollen. Und es haben sich Leute gefunden, denen ein Beweis dafür erwünscht gewesen wäre. Das war an dem ganzen Prozeß eigentlich das Merkwürdigste. Es zeigt, daß wir Parteien haben, denen die eigene Macht wichtiger ist als das Vaterland. Es galt ihnen, um jeden Preis die Südslawen zu vernichten. Die Partei, die zurzeit noch (während dies geschrieben wird; vielleicht nicht mehr, wenn es gedruckt sein wird) über Ungarn herrscht, will die Südslawen vernichten, weil sie daran verzweifelt, sie zu Ungarn zu machen. Ein Rest von Altösterreichern, der nicht vergessen kann, will die Südslawen vernichten, weil er dadurch Ungarn zu treffen glaubt. (Jene Ungarn und diese Altösterreicher können ihnen die Fiumaner Resolution nicht verzeihen: jene nicht, weil die dort angestrebte Verständigung der Südslawen mit Ungarn mißlungen ist; diese nicht, daß überhaupt von den Südslawen eine Verständigung mit Ungarn jemals angestrebt worden ist.) Ein Teil der Deutschen endlich, jenes vermeintlich freisinnige Bürgertum, das zufällig zurzeit (da dies geschrieben wird, aber kaum mehr solange, bis es gedruckt sein wird) einen dünnen Schein von Macht in den ängstlichen Händen zu haben glaubt, will die Südslawen vernichten, weil es ihnen die Kraft zutraut, Österreich slawisch zu machen, ja diese vordringende Kraft schon überall in allen Gliedern spürt. Daß an jene gefälschten Dokumente jemals auch nur einen Augenblick lang geglaubt und daß dieser Prozeß gegen die Südslawen überhaupt eingeleitet werden konnte, das beweist, daß in jeder der drei Parteien, in jenen Ungarn und den Altösterreichern und diesen Deutschen, der Wunsch, ein Volk zu schlagen, dessen sie sich nicht bedienen können, stärker ist als alle Sorge um das Vaterland. Sie möchten sich jetzt freilich ausreden, indem sie diplomatisch tun und vorgeben, jene Verdächtigungen und Verleumdungen der Südslawen wären notwendig gewesen, um vor Europa, ja vor uns selbst Bosniens Annexion und unseren Drang nach dem Balkan zu rechtfertigen. Dies ist zu dumm, um erst widerlegt zu werden. Haben wir das Bedürfnis, wirtschaftlich oder politisch, auf den Balkan zu gehen, so ist dies allein Berechtigung genug. Wozu ein Staat oder ein Volk den Willen und die Macht hat, darauf hat er ein Recht, das ihm durch nichts bestritten werden kann als durch einen stärkeren Willen und durch eine höhere Macht. Bemächtigen wir uns des Balkans, so werden wir dadurch allein schon ermächtigt dazu sein.
Wer hat nun aber die Dokumente gefälscht? Ich begreife heute noch nicht, warum Friedjung den Spion nicht genannt hat. Ich an seiner Stelle hätte ihn vorgeführt: Da, beweise, daß du uns nicht um unser gutes Geld betrogen hast! Man hat mir entgegnet, dies könne man einem Menschen nicht antun, er hätte doch Unannehmlichkeiten gehabt. Aber man kann es fünfzig unbescholtenen, um ihr Land hochverdienten, ehrenwerten Führern des kroatischen und des serbischen Volkes antun, sie des Landesverrats und der Bestechung zu verdächtigen? Man kann es einem alten österreichischen General antun, ein Verschwörer mit dem Feind zu heißen? Man kann es solchen Prachtmenschen wie Supilo und Popovic, die an Geist, Willenskraft und Mut den besten Männern in Österreich nicht nachstehen, antun, daß sie erst beweisen müssen, sich nicht verkauft zu haben? Dies kann man und wird erst plötzlich sentimental, wenn es sich um einen Schandbuben von käuflichem Angeber handelt, und schont eine einzige Ehre, die des einzigen, von dem es, ob er für das Geld nun echte oder falsche Dokumente geliefert hat, vom Anfang an feststeht, daß er, auf jeden Fall, ehrlos ist. Den schont man, den allein. Das ist doch ein höchst fragwürdiges Zartgefühl und so rührende Züge von unbegreiflicher Zärtlichkeit bei sonstiger Grausamkeit finden sich wirklich nur noch in der Diebsmoral. Hielt man seine Dokumente für echt, warum wollte man ihn nicht zwingen, vor Gericht dafür einzustehen? War er denn genötigt, nach Serbien heimzukehren? Es hätte sich doch sicher für ihn ein schöner Posten bei uns finden lassen. Zweifelte man aber an seinen Dokumenten selbst, warum einen schonen, der dann nicht bloß ein Verräter, sondern auch noch ein Betrüger war? Warum den Betrüger noch schützen vor der Entdeckung seines Betrugs? Dies alles ist nicht aufgeklärt worden.
Wer war der Verräter, wer war der Betrüger? Wer hat die Dokumente gefälscht? Wo sind sie gefälscht worden? In Belgrad kaum. Dies ist ganz unwahrscheinlich, denn sie zeigen sich mit Belgrader Sitten, mit Belgrader Menschen, mit allen Verhältnissen dort so wenig vertraut, daß man sie keinem zumuten kann, der auch nur einmal einige Zeit in dieser Stadt unter diesen Menschen zugebracht hätte. Eher könnten sie in Agram verfertigt worden sein. Und es wird ja jetzt geflissentlich erzählt, daß schon der Vater des Baron Rauch sich gegen seine Gegner gern gefälschter Zeugnisse bedient habe. Man scheint damit anzudeuten, daß sich in gewissen Familien gewisse Methoden forterben. Vielleicht wird Friedjung selbst nicht ruhen, bis er den nennen kann, der ihn so betrogen hat; und wär's nur, um sich zu rächen, für seine tiefe Beschämung, aus der wir alle doch einen Mann, der, nehmt alles nur in allem, Verdienste hat und guten Willens war, sich wieder erheben zu sehen wünschen.
Immer aber kehrt dann die Frage wieder, wie denn nur Fälschungen von so lächerlich unglaubwürdiger Art Glauben finden konnten, so sehr auch bei vielen der eigene Wunsch nachgeholfen haben mag. Friedjung hat ihnen geglaubt, sagen seine Freunde, auf den Kredit des Grafen Aehrenthal hin. Sei's; wenn es auch allem Herkommen deutscher Wissenschaft widerspricht, sich's so leicht zu machen. Aber auf wessen Kredit hin hat ihnen der Graf Aehrenthal geglaubt? Es sieht ihm, der sich in Gefahren besonnen gezeigt hat und der doch lange genug in Petersburg war, um in der Verlogenheit von Konfidenten Erfahrungen zu haben, nicht ähnlich, Gespenster eines Spions zu fürchten. Und auf wessen Kredit hin hat ihnen (Friedjung hat sich auch darauf berufen) gar der Thronfolger geglaubt, der als ein bedächtiger, gerecht abwägender, nicht leicht zu verwirrender, eher zu Mißtrauen geneigter, jähen Stimmungen und Wallungen unzugänglicher Mann geschildert wird, und der es ja doch auch nicht nötig hat, den immer gleich aufflammenden Patrioten zu spielen? Dies könnte vermuten lassen, daß hinter den gefälschten Dokumenten vielleicht irgend ein noch unbekannter, noch ungenannter Bürge stand, der durch seinen Nachdruck für sie Gewähr bot, stark genug, um jeden Zweifel abzuschlagen. Der Thronfolger gilt für einen, der den Wert der Slawen für Österreich erkennt. Er hat den Ruf, selbst zu denken und selbst zu wollen. Viele bemühen sich um Macht über ihn; er hat noch allen widerstanden. Durch Schmeichelei, durch die gemeinen Bezeugungen überfließender Ergebenheit, durch alle Niedrigkeiten der Winkelpatrioten ist ihm bisher nicht beizukommen. Es droht uns also ein Regent, dessen sich noch keine Kamarilla bemächtigt hat. Ganz lustig ist es zuzusehen, wie sich ihm jeden Tag eine andere anzubieten versucht. Bisher noch immer vergebens. Wie, wenn sich nun einer des Mittels erinnert hätte, das noch bei keinem unserer Fürsten versagt hat: der Furcht? Wenn sich einer dieser ungeheuren Fälschung erkühnt hätte, um durch Furcht diesen einsamen, so verschlossenen, selbstwilligen Mann an sich selbst irre zu machen? Gar nicht der Südslawen wegen also, sondern nur deshalb gerade, weil der Fürst den Südslaven vertraut hat! Er hat den Südslawen vertraut, er soll erleben, daß er sich in ihnen getäuscht hat! Gar nicht sein Zutrauen zu ihnen bloß, sondern sein Vertrauen auf sich selbst soll zerbrochen werden, sein Mut zum eigenen Urteil, sein Stolz ein Eigener zu sein, der sich auf sich selbst verläßt! Des so zerbrochenen, in allen Hoffnungen getäuschten, an sich irre gewordenen, ratlosen und verstörten Manns wird man, hat ihn nur die Furcht vor verborgenen Feinden überall erst gar gekocht, habhaft werden können! Der Plan wäre nicht so dumm und er wäre ganz im altösterreichischen Stil. Aber ich muß gestehen, daß ich die Richtigkeit dieser Vermutungen nicht beweisen kann, die freilich nicht bloß die meinen sind.
Bis zur Demokratie sind wir in Österreich eigentlich anonym regiert worden. Denn weder die Dynastie noch die Nation, auf die sie sich, um ihrer Weltpolitik willen, zu stützen schien, hat über Österreich geherrscht, sondern ein Zwischenwesen mit doppeltem Gesicht, die Dynastie durch Drohungen erschreckend, zur Nation mit Versprechungen zwinkernd: der Familienverband unserer Bureaukratie. Ihre Methode war, sich die Dynastie durch Furcht vor immerwährenden Gefahren, die Nationen durch Neid auf einander, Eifersucht und Argwohn gehorsam zu machen; und ihre Haupttätigkeit war denn allein, das Verhältnis der Dynastie zu den Nationen und das Verhältnis der Nationen untereinander so zu trüben, daß jeder in jedem seinen Feind, in ihr noch allein den Retter sah. Unsere ganze Geschichte hat seit hundert Jahren keinen andern Inhalt als daß eine geheime Gesellschaft, eine Camorra, eben unsere Bureaukratie, nichts als den Vorteil ihrer Familien im Sinn, auf eine geradezu genialische Art der Reihe nach den Staat die Kirche, den Thron, alle Völker und alle Klassen betrügt, alle gegen alle ausspielt und indem sie dafür zu sorgen weiß, niemals den Haß, die Furcht und den Neid verlöschen zu lassen, ungestraft im Gedränge das ganze Land ausplündern und sich die Taschen füllen kann; diese Zeit über ist die Staatsräson Österreichs immer nur die Herrschaft der Staatsdiener über den Staat, über die Kirche, über die Dynastie, über alle Völker und über alle Klassen gewesen. Weshalb auch alle Bewegungen Europas, sobald sie nach Österreich schlagen, immer einen so fatalen Zug bekommen, denn sie werden hier, seien sie Bewegungen von Ideen oder der Wirtschaft, sogleich von unserer auflauernden Bureaukratie stets erst wieder umgefälscht, bis aus jeder Bewegung endlich wieder nur eine neue Verwirrung und Verwüstung wird. Diese Bureaukratie, ebenso monarchisch als, wenn's gerade darauf ankommt, revolutionär gesinnt, heute kirchlich tuend, morgen liberal, patriotisch erregt, deutsch aufwallend, tschechisch entrüstet, wie sie's gerade brauchen kann, neidisch auf jeden Wohlstand, tückisch gegen jedes Verdienst, zynisch bis zur Niedertracht, mit allen Frechheiten und allen Feigheiten, allem Dünkel und aller jämmerlichen Angst, dem inneren Schmutz und dem bösen Gewissen von Bedienten, denen der Rücken noch von Prügeln juckt, seelenlos, aller menschlichen Empfindung entwöhnt, unfähig eines lebenden Gedankens, weibisch, greisenhaft, jetzt gar in ihrer Verzerrung durch Todesangst unheimlich lächerlich grotesk, setzt nun noch einmal alles ein, was sie nur an List, Gewalt und Ruchlosigkeit aufzubieten hat, um Österreich zu verhindern. Sie weiß, daß ihr Ende schlägt, wenn es ihr nicht gelingt, die Demokratie, die schon bis in das Gesetz eingedrungen ist, doch noch zu bezwingen. Sie weiß, daß jede wirkliche Kraft, die sich nur erst einmal auf sich selbst besinnt, mit ihr unversöhnlich ist. Sie weiß, daß es ihre letzte Hoffnung ist, unsere Kräfte durch täglich von neuem erregten Haß aneinander aufzureiben. Daher haßt sie den Grafen Aehrenthal, als einen, den sie der österreichischen Kraft bewußt glaubt. Daher fürchtet sie den Thronfolger, als einen, der ihr verdächtig ist, ihre Netze zu zerreißen. Und ihr, die sich mit einer ja wirklich an sich bewundernswerten Kunst durch den Nationalismus allmählich aller Nationen für ihre eigenen Zwecke bemächtigt hat, wäre schon auch in der ungeheueren Spannung dieser letzten Stunde das Bubenstück solcher Fälschungen zuzutrauen.
Ein sehr kluger Mann hat mitten im Prozeß, als es einen Augenblick schien, selbst die Geschworenen könnten vielleicht den Verleumdungen erliegen und in dieser giftigen Luft von Verdacht und Argwohn ersticken, zu Friedjung gesagt: »Friedjung, ich warne Sie, besinnen Sie sich, Österreich ist in Gefahr, daß Sie freigesprochen werden!« So paradox es dem Friedjung klang, der kluge Mann hatte recht. Wie wären wir dagestanden, mit einer Nation unter uns, deren Anführern, geistigen Vorstehern und Seelsorgern Bestechung und Hochverrat nachgewiesen worden wäre? Wohin hätten wir uns vor Scham verkrochen? Wann jemals wieder den Mut, die Zuversicht gefunden, eine Tat zu wagen? Wer hätte noch dem Nachbarn trauen können? Wer sich noch erkühnt, Österreich für möglich zu halten? Aber die Gefahr ist weg, die Verleumdungen sind zerrissen, die Luft wird wieder rein. Viele fangen nun doch langsam an, sich zu wundern, daß sie jemals an Österreich so zweifeln konnten, bis zu so schimpflichem Verdacht. Sich zu wundern und sich zu schämen. Als der junge Goethe Lavater zum ersten Mal gesehen, schrieb er: »Ich habe auch da wieder gelernt, daß man über niemand reden soll, den man nicht persönlich gesehen hat; wie ganz anders wird doch alles!« Tausende haben sich bei uns jetzt, erstaunt und beschämt, dasselbe gesagt. Hier sind endlich einmal Südslawen, die wir geneigt sind uns als Fremdlinge, ja Halbwilde zu denken, Aug in Aug mit uns gestanden und wir haben in ihnen Männer der reinsten Gesinnung, des redlichsten Willens und einer vollkommenen Bildung erkannt, unserer Denkart gemäß und unserer Teilnahme wert. Wie ganz anders wird doch alles! Seltsames Land freilich, das erst ein hochnotpeinliches Gericht braucht, damit sich seine Kinder einmal sehen und kennen lernen! Und vielleicht beginnt nun manch einer darüber nachzudenken und es fällt ihm ein, daß ja, wie sich hier alles als Lüge gezeigt hat, was man von den Südslawen glaubt, ebenso vielleicht dieser ganze Haß aller Völker gegen alle in Lügen wohnt. Über Nacht wird der österreichische Wahn kaum zu heilen sein. Aber ein Anfang wäre jetzt gemacht. Wir könnten an diesem Beispiel lernen, daß wir uns lieber erst ansehen sollten. Wie ganz anders wird dann doch alles! Ich werde seit Jahren ausgelacht, als ein »Dichter«, wofür man mich jedesmal erklärt, wenn ich sage, daß sich unsere Nationen nur deswegen nicht verständigen, weil sie sich nicht verstehen, und daß sie sich nur deswegen nicht verstehen, weil sie sich nicht kennen; was sie trennt, sind nur die Lügen, die jede von der anderen glaubt. Man wird mich noch jahrelang auslachen, schließlich wird's aber doch nicht anders gehen, daß sich einmal ein Volk zum anderen setzt und sie gelassen einander ausfragen. Was willst du denn also eigentlich?, wird das eine sagen. Also höre!, wird das andere sagen, um nun der Reihe nach alles aufzuzählen, wovon es nicht lassen kann. Wie, wird dann das eine sagen, das ist es, was du willst? Ja, wird das andere sagen, das ist es, was ich will! Aber, wird wieder das eine sagen, das ist ja dasselbe, was ich will, ich auch! Wie?, wird wieder das andere sagen, du auch, du willst dasselbe wie ich? Und, wird das eine sagen, ich habe dich immer für einen Verräter gehalten, wie dumm von mir! Tröste dich, wird das andere sagen, ich dich doch auch! Und, werden sie beide sagen, da wir alle zwei doch ganz dasselbe wollen, und die anderen alle doch auch, soll's jetzt geschehen! Klingt wie ein Märchen. Ist auch eins. Das Märchen vom neuen Österreich, das der Maffia der Bureaukratie den Natternkopf zertreten haben wird.