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Vom Söller des Sommer-Casino's hatte Niemand dem Gruße Landolins gedankt. Die Kreisräthin, die vorn an der Brüstung saß, hatte freilich mit den Augen gewinkt, aber das war so weit hin nicht bemerkbar, und mehr wagte sie nicht zu zeigen, da heute fast vollzählige Versammlung der Casino-Mitglieder war, wie fast immer am Hauptversammlungstage an jedem ersten Mittwoch des Vollmondes; auch die auswärtigen Mitglieder, die katholischen Geistlichen und der einzige evangelische Pfarrer des Amtsbezirks mit seiner Frau hatten sich eingefunden.
Natürlich sprach man vor Allem von dem ungeheuerlichen Wahrspruch der gestrigen Schwurgerichtssitzung.
Der Advokat des Städtchens sagte, er sei froh, daß er die Vertheidigung Landolins abgelehnt habe; er könne sich vollauf den Schreck des Vertheidigers denken, als sein Client freigesprochen wurde; man müsse freilich alle Listen und Täuschungen der Dialektik in Bewegung setzen, aber man spüre es doch wie einen abprallenden Schuß auf der Brust, wenn solche Künste gelingen.
Der Reallehrer, der auch ungenannter Redacteur des Wochenblättchens »der Waldbote« war, beklagte mit ergriffenem Tone, daß dieser Wahrspruch der Bauernprotzen den Klassenhaß schüre; der arme Mann käme sich als rechtlos vor und es sei höchste Zeit, daß die Wahl der Geschworenen nicht mehr nach dem Steuerzettel vorgenommen werde.
Der Advokat stimmte ihm bei, ging aber weiter, indem er behauptete, daß es ein altes Vorurtheil des Liberalismus sei, daß der einfache Menschenverstand einen gesunden Wahrspruch schöpfen könne, und da ihm der Kreisrath zuwinkte, fuhr der heftige Mann fort: »Das ist wie die Sage von der Medusa. Wenn das ungebildete Volk in Einem Haupte sich darstellte und man in dieses Antlitz schaute, man würde versteinert vor diesen entsetzlichen Zügen, so verwahrlost, so boshaft, so lügnerisch, so gewaltthätig. Unser viel gerühmtes deutsches Volk ist noch nicht reif, nicht zur allgemeinen Wahl, nicht zur Rechtsschöpfung. Ja, seitdem wir erreicht haben, was wir so lange ersehnten, ist im Strom der Sittlichkeit die deutsche Volkswelle im Niedergang. Unser deutsches Volk ist weit weniger, als wir von ihm glaubten und hofften.«
Der Kreisrath legte hiergegen entschiedene Einsprache ein und behauptete, daß, wenn auch viele traurige Erscheinungen unleugbar seien, doch die Welle bereits wieder im Steigen wäre.
Der Arzt, der als alter Burschenschafter seine Idealität – immer gemischt mit einem tiefen Haß auf Metternich – bewahrt hatte, stand dem Kreisrath tapfer bei, indem er ausführte, daß »die ruchlose Metternich'sche Zeit« noch immer nachwirke, indem unser Volk noch immer glaube, Alles, was Staat und Regierung wolle, sei schlecht und tyrannisch, und ein Gesetz umgehen oder einen Gesetzesübertreter durchschlüpfen lassen, erscheine rühmenswerth.
Der Arzt konnte es am Schlusse doch nicht lassen, dem Advokaten, der ein Volksverächter und doch ein sogenannter radikaler Freiheitsmann war, zu verstehen zu geben, daß seine Partei an der Verwirrung des Volksgeistes viel schuld sei, indem sie das Große und Schöne, was doch auch wirklich geworden, verlästere.
Die Geistlichen sprachen unter einander, daß der Grund alles Unheils in der Lockerung des religiösen Glaubens liege, aber der Reallehrer war kühn genug, zu behaupten, daß in den gerühmten Zeiten des unerschütterten Glaubens weit mehr Schlechtigkeit in der Welt gewesen sei.
Das Gespräch schien sich in das religiöse Gebiet zu verlieren, das eigentlich im Casino verboten war. Die schüchterne und sonst so schweigsame Frau des evangelischen Pfarrers lenkte das Gespräch glücklich ab, indem sie in einer Pause fragte: »Bleiben nicht mehr Verbrechen unentdeckt, als vor Gericht kommen?«
Niemand schien auf diese Frage antworten zu wollen, die junge Frau erröthete über und über, weil Alles so still war, da erbarmte sich der Reallehrer ihrer und sagte lächelnd: »Genauer Entscheid läßt sich wol auf Ihre Frage nicht geben; aber es kann doch so sein wie bei den Meteorsteinen. Zwei Dritttheile unseres Planeten bestehen aus Wasser, zwei Dritttheile der Meteorsteine fallen also unbemerkt ins Wasser, und auch von dem letzten Drittel, das auf festes Land fällt, werden nicht alle gefunden.«
Mit diesem heiter und schicklich vorgebrachtem Vergleiche schien die Gesellschaft wieder in ansprechende Verfassung zurück geführt.
Der Reallehrer, der immer Alles ins Allgemeine zu wenden trachtete, fuhr fort:
»Ich möchte ein Anderes zur Erwägung bringen. Es wäre ergiebig, zu untersuchen, in welchem Grade bei verschiedenen Völkern von Natur und durch Erziehung sich der Wahrheitssinn constatirt. Diese Rubrik der Statistik wäre freilich die schwierigste.«
Das Problem wurde nicht aufgenommen, denn eben trat der Bahnmeister ein und berichtete, die Frau Landolins sei mit dem Fuhrwerk da, Landolin werde mit dem nächsten Abendzuge kommen. Und wieder wendete sich das Gespräch auf Landolin. Der alte Bezirksförster, der bisher gar nicht gesprochen, aber desto eifriger aus seiner langen Pfeife geraucht hatte, sagte mit seiner mächtigen, tiefernsten Stimme:
»Es kann doch nichts Schlimmeres geben, als wenn der beste und allgemeine Glaube, und das ist der Glaube an die Gerechtigkeit, erschüttert oder gar aufgelöst wird. Die öffentliche Meinung muß den Wahrspruch über Landolin kassiren, und es ist ein Trost, daß sich dies wie auf stille Verabredung bereits vollzieht. Keiner der Geschworenen ist zu dem Schmause gekommen, den Landolin nach seiner Freisprechung herrichten ließ.«
»Die That Landolins,« schaltete der Arzt ein, »war traurig, konnte ein Unglück sein; seine Lüge ist ein Verbrechen und hat noch die Geschworenen zur Lüge verführt.«
Der Bezirksförster nickte beifällig und schloß: »Ja, das Volksgewissen ist doch noch stärker und reiner; aber eben das, daß das Volksgewissen ihn und die Geschworenen obendrein verurtheilt, das lockert allen festen Bestand.«
Der Bezirksförster hatte kaum gesprochen, als der Bahnzug einfuhr. Man schaute aus nach den Ankommenden und bald fuhr Landolin in seinem mit den Rappen bespannten Wagen an dem Söller vorüber. Man war von den Tischen aufgestanden und jetzt saß der Arzt wieder neben der Kreisräthin.
Diese Beiden hatten die edelste Beziehung gefunden, denn sie fanden sich Beide oft in gemeinsamer Arbeit für Unglückliche.
»Glauben Sie,« fragte die Räthin, »daß die unschuldigen jungen Leute, Thoma und Anton, nun doch glücklich vereinigt werden können?« Der Arzt zuckte die Achseln, und die Räthin fuhr fort. »Ich wollte schon heute in das Haus Landolins gehen zu den Frauen, ich unterließ es, nun aber glaube ich doch bald da einwirken zu müssen und gut einwirken zu können.«
»Warten Sie jedenfalls noch einige Tage,« rieth der Arzt. »Sie wissen ja, man muß eine Wunde ausbluten lassen, ehe man sie schließt. Uebrigens glaube ich, daß jetzt die Stellung sich verändert hat; vordem hat der Landolin nur schwer seine Einwilligung gegeben, jetzt wird der Sägemüller dickköpfig sein und schließlich meine ich, daß die beiden jungen Leute selber –«
»Ich glaube, daß ich da helfe.«
Höflich sich neigend, antwortete der Arzt: »Der Glaube soll Berge versetzen können. Ich traue das Ihrem Glauben zu. Aber still jetzt!«
Das Klavier im Nebensaale ertönte, ein wohlbeleibter, überaus heiterer katholischer Pfarrer sang mit mächtiger Tenorstimme ein Lied, und bald wurde auch die junge Pfarrerin dazu gebracht, mit ihm ein Duett zu singen.
Heitere Lieder von schönen Stimmen klangen hinaus in die mondhelle Sommernacht, aller Zwiespalt und alles Elend schien vergessen.