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Der Doctor stand Sommers und Winters um fünf Uhr auf, studirte mehrere Stunden unausgesetzt und ließ sich nur in dringendsten Fällen Kranke anmelden. Durch dieses Studium blieb er nicht nur in seiner Wissenschaft, sondern wie er sich leiblich jeden Morgen in frischem Wasser badete, so war er auch geistig erfrischt; mochte am Tage kommen, was wolle, er hatte sein Stück wissenschaftliches Leben eingeheimst. Und das war's, warum er immer so frischauf war, so gespannt und munter. Gegen einen alten Kameraden bezeichnete er diese Morgenstunden als seine Kameelstunden, da trinke er sich voll und hole sich einen Trunk herauf, wenn es in der Wüste dürr geworden. Uebrigens erschien ihm das Leben gar nicht als Wüste, denn er hatte etwas, was überall gedeiht und Alles besiegt, und das war eine unzerstörbare Heiterkeit und ein Gleichmuth, den er allerdings auf seinen gesunden Magen zurückführte.
Als er hörte, daß Erich, der über seinem Studirzimmer wohnte, aufgestanden war, ließ er ihm sagen, er möge bald zum Frühstück kommen. Die Frau, welche in der Wirthschaft zu thun hatte oder eigentlich sich zu thun machte, um ihren Mann nicht zu nöthigen, ihretwegen das Gespräch auf minder gelehrte Dinge zu führen, hatte sich bald entfernt und wirthschaftete im Hausgarten, in welchem viele Ableger und Sämereien aus dem Garten Sonnenkamps gediehen. Der Doctor besprach aber mit Erich gar keine gelehrten Dinge.
In dem Frühstückszimmer hingen die Bildnisse der Eltern und Großeltern des Arztes und dieser nahm hievon Gelegenheit, aus seinem eigenen Leben zu erzählen. Der Großvater und der Vater waren Schiffer gewesen; der Doctor hatte die goldene Hochzeit Beider erlebt und sprach seine Hoffnung aus, daß er auch seine eigene feiern werde. Und nachdem er nun sein eigenes Ringen mit dem Leben geschildert, ging er darauf über, Erich nach seinen ökonomischen Verhältnissen zu fragen.
Erich legte unverhohlen die ganze Lage dar; die Mutter habe auf hohe und reiche Freunde manche Hoffnung gesetzt; er aber glaube, und ehrlich gestanden wünsche er auch nicht eine derartige Hülfe. Der Doctor sagte, daß ihnen Niemand gründlich und schön helfen würde; er entwickelte dabei ganz ketzerische Ansichten über die Wohlthätigkeit, er schalt über die Stiftungsmacherei und die verzettelten milden Gaben. Er behauptete, daß es viel schöner und echter wäre, eines Menschen oder einer Familie ganze Existenz sorglos zu stellen. Er berichtete, wie er oft versucht habe, solches zu bewirken; bei Herrn Sonnenkamp wäre dies nicht möglich, denn der wolle nichts mit den Menschen zu thun haben, denen er eine Gabe in den Bettelhut geworfen.
Da sich nun das Gespräch wieder auf Sonnenkamp gewendet hatte, erbot sich der Doctor – ja, er verpflichtete Erich, es ihm zu überlassen – alle äußeren ökonomischen Verhältnisse mit Sonnenkamp zu ordnen.
Erich sprach seine Freude aus, daß hier in dem kleinen Städtchen so viele schöne Existenzen seien, die eine reiche Fülle der Gemeinschaft bilden könnten. Der Doctor bestritt das, denn der Umstand, daß man auf einander angewiesen, und nicht wie in der großen Stadt eine Auswahl habe, mache kleinlich, herb und klatschhaft.
»Im Ganzen,« schloß er, »haben wir nicht mehr von einander, als eine sichere Whistpartie.«
Es war Zeit, daß man an die Abreise dachte. Der Doctor fuhr mit Erich bis zur nächsten Bahnstation; er wiederholte den Wunsch, daß sie mit einander leben könnten.
Ein Trupp fröhlicher jüngerer und älterer Männer grüßte den Doctor und stieg in den Wagen zu Erich. Der Doctor sagte diesem, daß es Weinprober seien, die zu einer Versteigerung reisten, welche heut im Keller des Weingrafen abgehalten würde. Er machte Erich noch besonders auf einen Mann mit weinseligem Gesichte aufmerksam, es war dies der Aichmeister, die feinste Weinzunge im Gau.
Die Locomotive pfiff; der Doctor faßte nochmals die Hand Erichs und sagte:
»Wenn einmal Einer von uns aufhören sollte, der Freund des Andern zu sein, so verpflichtet er sich hiemit, es ihm acht Tage vorher wissen zu lassen. Und nun leben Sie wohl.«
Erich fuhr heimwärts.
Er schaute vor sich nieder, aber plötzlich hörte er im Wagen rufen:
»Da reitet der junge Sonnenkamp!«.
Er schaute hinaus, er erblickte Roland, der aber schnell hinter einer Böschung verschwand.
Erich hörte nichts von dem lebhaften, oft von lautem Lachen unterbrochenen Gespräche der Weinprober; er hatte viel in sich hineinzudenken und war froh, als auf der nächsten Station die Weingesellschaft ausstieg und er allein blieb.
Zu Roland dachte er hin. Der Knabe ist ihm nochmals nachgeritten, und wie ist nun seine Seele bewegt, da er allein heimkehrt?
Es war wol weltklug, nicht sofort auf einen Abschluß zu dringen, aber gibt das dem Knaben nicht das bittere Gefühl, daß der ihn verlassen kann, dem er sich so frei und schön angeschlossen?
Als sollte Erich immer und immer wieder an Roland erinnert werden, stiegen von Station zu Station Knaben mit Schulränzchen auf dem Rücken zu ihm in den Wagen.
Er erfuhr auf seine Fragen, daß sie, bei ihren Eltern auf Landhäusern und in entfernteren Dörfern wohnend, tagtäglich nach der Festungsstadt zur Schule fuhren und Abends wieder heimkehrten.
Welch eine ganz andere Jugend wird das werden! Schon in der Morgenfrühe ins Eisenbahngeräusch versetzt, dann zum Unterricht sich sammelnd und wieder auf der Eisenbahn heimkehrend. Diese Jugend muß lernen, in Unruhe und Geräusch der neuen Zeit sich ihr Innenleben zu bewahren, das freilich ein anderes wird als das unsere war. Und schauen wir weiter hinaus in eine Zukunft, wo die erschreckende Vergrößerung der Städte verschwindet: die Menschen siedeln sich wiederum draußen an, wo das Grün des Feldes, das Blau des Himmels und der rauschende Strom täglich vor Augen und ihnen doch gegeben ist, alle Bildungselemente sich anzueignen und Alles, was das Zusammenwohnen der Menschen in großen Städten darbietet. Es dringt wieder Feldluft in die Seele.
Um dieselbe Zeit, als Erich mit dem Doctor abgereist war, saß die Frau Landrichter mit ihrem Mann und ihrer Tochter bei dem Morgenkaffee und erzählte vom Abendspaziergange mit Erich.
»Ist gut . . . ist gut!« sagte der Landrichter. »Der Mann ist höflich und gewandt, aber es ist doch gut, daß er fort ist; er ist ein gefährlicher Mensch.«