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Vom Ändärum in Surejas Haus gelangte man durch einige, es im Kreis umschließende Haremsräume zu einer steilen, zierlichen Treppe, die in das Innerste des Gartens führte, das ebenso in seinem Mittelpunkt lag wie das Ändärum im Mittelpunkt des Hauses. Die zierliche Treppe glich mehr einer Leiter, auf der leichtbeschwingte Vögel ohne Schwierigkeit auf und nieder hüpfen mochten, die aber für Menschenfüße nicht sehr bequem war. Sie wurde auch nur von Frauen und Dienerinnen benutzt, wenn der Herr sich in diesem Teil des Gartens aufhielt.
Dieser Teil des Gartens war kreisrund und wurde durch dichtes Gebüsch, hohe Bäume und eine starke Rosenhecke, die vorgelagert war, vom übrigen Garten so abgeschlossen, daß niemand, der sich in ihm aufhielt, einen Blick in diesen Kreis tun konnte. Den größten Raum darin nahm ein künstlicher Teich ein, kreisrund, einen Meter tief, von einem klaren Wasser gespeist, mit bunten persischen Kacheln ausgelegt. Aus seiner Mitte stäubte ein zierlicher Springbrunnen zarte silberne Fäden in die Luft, die unter den Strahlen der Sonne, beim leichten Hauch des Windes in immer neuen, wechselnden, funkelnden Farben schillerten. Um den Teich schlängelte sich ein kreisrunder Weg, mit glatten, bunten Bergkieseln bedeckt, von stark duftenden Lilien und Narzissen umstanden, und lief in einer schönen Windung zu einem Kiosk, der aus edlen, hellen Hölzern in der Form eines luftigen, lustigen Zuckerhutes geschnitzt war, von Rosen überklettert. Neben dem Kiosk ein rundes, blütenweißes Zelt, mit bunten Seidenkissen wie gepflastert. Leise rieselten die Wasser, die Kacheln glänzten in der Sonne, Lilien, Narzissen und Rosen dufteten, und in den Büschen und Bäumen sangen die Vögel.
Jeder wohlhabende Mohammedaner hat so sein Paradies schon auf Erden, in dem sich wohlig träumen läßt von jenem Paradies der von Gott in Gnaden Aufgenommenen, in dem die Vögel noch lieblicher singen, die Blumen noch herrlicher duften, die Wasser noch heiterer rieseln, alle Farben noch prächtiger funkeln und man, von noch schöneren Frauen bedient, in seinem Zelt ruht und wunschlos träumt den ewigen Traum des Paradieses, wo jede Sehnsucht, kaum gedacht, auch schon erfüllt ist und kein Verlangen mehr quält, weil es sofort befriedigt wird.
Sureja ruhte schön gekleidet vor dem schneeweißen Zelt, in dem Teich badete Natascha, mit der er die Nacht verbracht hatte, und um sie waren zwei Dienerinnen beschäftigt. Sein Gehirn schlief und nur die Sinne lebten. Er hörte die Vögel, den Springbrunnen, das Kichern der Mädchen, er sah den hellen Glanz ihrer Haut, die an Luft und Licht gewöhnt war, die bunten Farben der Kacheln, der Blumen, das Funkeln der silbrigen Wasserfäden, in denen sich, je höher sie stiegen, um so zarter das Licht der Sonne brach und in allen Farben des Regenbogens spiegelte, er sog den Duft der Rosen, Narzissen und Lilien in sich ein. Hier schenkte der Tag von außen her die schönsten Träume, wenn man nur das Gehirn auszuschalten verstand, und erquickte, stärkte, erneuerte den Menschen, wie es sonst nur ein guter Traum in der Nacht vermag, der sich aber nicht rufen läßt, so sehr man ihn auch nach einem anstrengenden Tage herbeisehnen mag. In diesem Garten kommen die schönen Träume, nach denen man begehrt. In Asien weiß man, was das wert ist.
Die Mädchen im Teich wurden stiller. War ihr Herr eingeschlafen? Die alte Bibi-Dschanem kletterte rückwärts die Treppe hinunter in das kleine Paradies. Eins der Mädchen sprang ihr entgegen, und Natascha reckte sich hoch aus dem Wasser und legte beschwörend den Zeigefinger auf den Mund. Nun standen sie alle unbeweglich und sahen mit angehaltenem Atem auf den Herrn, der sich nicht regte, dessen Augen geschlossen waren. Allah schenke ihm gute Träume. Auch für sie selbst konnte das nur von Vorteil sein. Hörten nicht auch die Vögel zu singen auf, lief nicht plötzlich eine Wolke über die Sonne, daß alle Farben blaß wurden? Weshalb kletterte Bibi-Dschanem nicht wieder die Treppe hinauf und verschwand im Haus, wo sie doch sah, daß der Herr schlief und im Paradiese war? Baräkullah, Gott sei gepriesen!
»Komm nur näher, alter Teufel«, sagte der Herr plötzlich, ohne die Augen zu öffnen.
Die Mädchen erschraken, und die alte Dienerin wurde blaß. War sie gemeint?
»So komm doch, Bibi-Dschanem«, rief der Herr schon ein wenig ungeduldig, ohne die Augen zu öffnen. Aber um seinen Mund zuckte es böse. »Knie bei meinem Kopf nieder und sage mir, was du zu sagen hast, alte Schlange, leise ins Ohr. Die anderen brauchen es nicht zu hören. Geht ins Wasser und kichert und freut euch, wie es sich für junge Lämmer gehört.«
Schleunigst taten sie, wie der Herr befohlen. Er hielt die Augen immer noch geschlossen und sah doch, daß sie den Teich verlassen hatten. Oh Ali! Sie fürchteten sich.
»Dreimal habe ich ihn schon abgewiesen,« flüsterte Bibi-Dschanem zitternd ihrem Herrn ins Ohr, »aber er läßt sich nicht länger abweisen, er verlangt dringend, Euch zu sprechen!«
»Wer verlangt das?«
»Der türkische Konsul.«
Ein höhnisches Lächeln huschte über das Gesicht des Prinzen. Er öffnete die Augen immer noch nicht. »Halte dein Ohr näher zu mir, tue genau, wie ich befehle und schweige, ohne dich zu wundern, was du dir überhaupt endlich abgewöhnen mußt, wenn ich befehle. Verstehst du?«
»Beim Grabe meines Vaters«, hauchte Bibi-Dschanem.
»Du führst den Konsul durch den Garten bis zu dem Busch, den du kennst, und der dir schon manchen Tuman eingebracht hat, wenn meine Frauen hier baden.«
»O Gottvertrauen, o Gerechtigkeit!« wimmerte die Alte leise und schlug mit der Stirn den Boden. »Bei meinen Augen! ...«
»Schweig' und tue, was ich befehle, oder du hängst schon diesen Abend nackt an der Pappel im Hof.«
»Sei nicht böse, Herr, sei nicht böse!« schluchzte Bibi-Dschanem.
»Du läßt ihn durch den Busch in Ruhe alles sehen, was hier zu sehen ist und biegst dann so schnell die Zweige beiseite, daß ich ihn erblicke. Yalla, gum schu, vorwärts, geh verloren!«
Eilig trabte die Alte an dem Teich vorbei, kletterte die Treppe hoch und verschwand.
Natascha und die Dienerinnen lachten und tollten durch das Wasser. Der Herr war ja wach, wenn er auch immer noch nicht die Augen öffnete und unbeweglich liegen blieb.
Sureja lauschte. Durch das Zelt war er vor jedem Blick aus dem Busch rechts hinter ihm geschützt. Nach einer Weile hörte er leise Schritte in seinem Rücken näher kommen. Das war ein Bild für diesen Hund von Konsul. Beim Kopfe des Königs, das hatte er wohl doch nicht erwartet, der Bock. Konnte man nicht hören, wie ihm der Atem heißer und lauter ging hinter seinem Busche?
Mit einem Ruck, geschmeidig wie eine Katze, stand Sureja auf den Füßen und tat einen weiten, behenden Schritt nach rechts, indem er gleichzeitig den Kopf nach dem Busch wandte, dessen Zweige sich teilten. Er stand dicht vor dem Konsul. Schreiend fuhren die Frauen aus dem Teich, die Hände vor dem Gesicht, Natascha deckend so gut es ging. Schreiend, jammernd stürzten sie über die zierliche Treppe in das Haus. Ein fremder Mann hatte sie erblickt. Das kostete ihr Leben, wenn der Herr auf seinem Recht bestand und nicht Gnade übte. Oh Ali! Wütend schimpfte Sureja auf die Alte ein: »Ersticke, mach', daß du zum Teufel kommst!« Heulend, sich die Haare raufend, rannte sie durch den Garten. Sie wußte nicht mehr ein noch aus. Der Konsul stand stumm und blaß. Er hatte durch das Belauschen der Badenden Sureja schwer beleidigt. Er hätte sich sofort abwenden und fortgehen müssen. Aber die Versuchung war zu groß. Der Anblick Nataschas hatte ihn um allen Verstand gebracht.
Sureja verneigte sich leicht vor dem Konsul und meinte, indem er sich absichtlich des Französischen bediente: »Ich bedaure unendlich, daß die Alte uns beide in solche Verlegenheit gebracht hat. Ich bitte Eure Exzellenz um Entschuldigung. Wer konnte solchen Unverstand der Alten voraussehen? Wollen Exzellenz den Fehler, an dem ich nicht schuldig bin, gütigst vergessen. Bitte, lassen wir uns im Zelt nieder. Ich werde sofort Tee und Tabak besorgen lassen. Belieben Sie Platz zu nehmen. Friede sei mit Euch. Sie haben sich sehr bemüht.«
»Es ist Erholung, nicht Mühe für mich«, stammelte der Konsul und ließ sich nieder.
Der Prinz klatschte in die Hände und befahl einer Dienerin, die mit erschreckten, weit aufgerissenen Augen gesprungen kam, Tee und Pfeife zu bringen.
»Wasser und Luft sind heute wie das Paradies«, sagte der Prinz.
»Das Wetter ist klar, ohne Wolken und Nebel, ein Anlaß zu großer Dankbarkeit«, erwiderte der Konsul und wurde ein wenig ruhiger.
Im Weiß seiner Augen sind viele rote Flecke, einige Äderchen sind geplatzt vor Gier bei dem Blick in mein Paradies, dachte Sureja mit leichtem Spott, und die Halsader klopft immer noch etwas zu lebhaft. Einen auffallend mageren Hals hat er. Wie ein Hahn, der gerupft wird. Mit einer Hand könnte man ihn beinahe umspannen. Weshalb er es so eilig hat, mich zu sprechen, weiß ich auch. Selbst der Gouverneur spuckt Gift und Galle, weil er ihn nicht in Ruhe läßt, seitdem ihm jeden Tag ein Telegramm aus Wan oder Stambul ins Konsulat fliegt.
»Ihr erlauchtes Befinden?« fragte Sureja.
»Ich bin krank vor Ärger!« entfuhr es dem Konsul.
»Das möge Gott verhüten!« erwiderte der Prinz ganz erschrocken.
»Haben Sie schon gehört, daß Scharef Pascha ermordet worden ist?«
»Seit gestern abend spricht die ganze Stadt davon.«
Dem Konsul entfuhr ein leiser Fluch.
»Ich glaubte es natürlich nicht. Wer sollte den Pascha inmitten seiner Truppen in Wan ermorden? Ich bat den Gouverneur um Auskunft. Er bestätigte das Gerücht. Ich verstehe das nicht. Haben die Truppen gegen ihn revoltiert und ihn erschlagen? Er war ein grausamer Herr.«
»Er ist mit seinen Truppen ermordet worden.«
Sureja lachte. »Erlauben Sie, Exzellenz, einen Pascha und seine Leute kann man doch nicht ermorden oder abschlachten wie eine Hammelherde. Ist in Anatolien Revolution ausgebrochen, ist eine große Schlacht geschlagen worden, in der er mit den Seinen fiel? Wünschen Sie Hilfstruppen aus Maku zur Unterdrückung der Revolution? Befehlen Sie über mich, mein Bruder und ich stehen Ihnen ganz zu Diensten.«
Es würgte den Konsul, er schluckte hastig, als stecke ihm ein Holz in der Kehle, das er nicht wieder herausbekommen konnte. »Armenier haben ihn und seine Truppen vernichtet.«
»Türkische Armenier, Armenier in Wan? Verzeihen Sie, Exzellenz, das ist doch wohl nicht gut möglich. Seit wann fressen magere Schafe fette Wölfe?«
»Keine türkischen Armenier, persische Armenier.«
»Wie sollten die unbeachtet nach Wan kommen? Dann müssen es schon russische Armenier gewesen sein. Die russische Grenze ist nicht weit. Das ließe sich denken, obwohl ich mir nicht vorzustellen vermag, wie eine zusammengelaufene Herde feiger, verächtlicher Christen eine Elitetruppe wie die Scharefs besiegen kann.«
»Es geschah nicht in Wan und seiner nächsten Umgebung, es geschah weitab in den Bergen.«
»Dann waren es Bergkurden!« sagte Sureja.
»Die Toten, die gefunden wurden, sind Armenier.«
»Aber Armenier und Kurden hassen sich. Das wissen Exzellenz so gut wie ich!«
»Es sind auch keinerlei Bergkurden unter den Toten gefunden worden, sondern nur Armenier.«
»Wo hat man die Toten denn gefunden, wenn ich fragen darf, Exzellenz?«
»In den Grenzgebirgen, etwa zwei Tagereisen von Salmas entfernt.«
»Wie kommt Scharef dorthin, Exzellenz? Das ist doch merkwürdig. Ach so, ich verstehe, er war auf dem Wege, in persisches Gebiet einzufallen. Das habe ich schon seit längerer Zeit befürchtet. Vielleicht entsinnen sich Exzellenz, daß ich darüber einmal eine Andeutung machte. Er plante einen Raubzug nach Persien, und da ist ihm jemand zuvorgekommen, wie es scheint. Aber ob das wirklich Armenier waren? Ich für meine Person traue ihnen das nicht zu. Es müssen wohl doch Bergkurden gewesen sein. Vielleicht haben sie sich ein paar armselige Armenier als Kundschafter und Lastträger gepreßt. Diese sind natürlich zuerst erschossen worden.«
»Nach meinen Nachrichten wurden über fünfhundert tote Armenier gefunden«, sagte der Konsul.
Sureja verzog keine Miene, sondern dachte nur: daß du so unverschämt lügst, zeigt deutlich, daß du gar nichts Genaues weißt. »Fünfhundert Armenier? Und wenn es tausend gewesen wären, wagen sie sich noch nicht an hundert Hamidiekurden.«
»Sie haben die Leute im Schlafe zusammengeschossen. Aus weiter Entfernung, die Feiglinge.«
»Das muß sich ja leicht feststellen lassen.«
»Es ist festgestellt.«
»Nehmen wir also an, tausend Armenier haben hundert Hamidiekurden feige niedergeknallt, während diese im besten Schlafe lagen und an gar nichts Böses dachten, denn sonst hätten die ausgestellten Wachen doch etwas gemerkt. Tausend Armenier machen Lärm, sogar wenn sie fliegen könnten. Selbst hundert Wildenten hört man schon von weitem.«
»Es müssen ja nicht tausend gewesen sein.«
»Fünfhundert tote Armenier sind gefunden worden. Deshalb nannte ich die Zahl tausend. Es fällt doch nicht jeder. Aber sagen wir, es waren nur fünfhundert und alle sind gefallen, trotzdem die Hamidiekurden schliefen.«
Der Konsul unterbrach ärgerlich: »Die meisten wurden vom alarmierten türkischen Militär getötet.«
»Ich atme auf, Exzellenz. Eine reguläre Truppe läßt den Feind nicht mehr aus den Augen, folgt ihm auf den Fersen. Sie muß wissen, woher die Leute gekommen sind.«
»Sie sagen, die fünfhundert seien alle zwei Tagereisen von der persischen Grenze, auf türkischem Gebiet, getötet worden.«
»Aber die fünfhundert sind doch nicht, als sie noch lebten, durch die Luft geflogen. Man muß doch ihre Spuren zurückverfolgt haben, woher sie kamen. Es läge ja ein so unverschämter Bruch des Völkerrechts vor, wie er kaum denkbar ist, wie er noch nicht dagewesen ist.«
»Das sage ich auch.«
»Und zu welchem Resultat sind die regulären Truppen bei ihren Nachforschungen gelangt?«
»Sie sagen, die Armenier seien aus Persien gekommen.«
»Hoffentlich haben Sie Beweise dafür, denn dann müßte man auf das allerschärfste vorgehen und auch Persien mitverantwortlich machen.«
»Das geschieht auch. Im Auftrag meiner Regierung habe ich bei Amenisam und in Teheran protestiert und volle Genugtuung, schwere Bestrafung der Armenier und volle Entschädigung für alle Verluste gefordert.«
»Schwere Bestrafung der Armenier? Ich denke, sie sind tot? Ach so, Sie denken an die Dörfer, aus denen die fünfhundert stammen. Natürlich muß man diese Dörfer strafen, daß ihnen Hören und Sehen vergeht. Weiß man schon bestimmt, woher die Schuldigen kommen? Fünfhundert Männer fehlen doch jetzt irgendwo? Das muß sich leicht feststellen lassen.« Der Prinz schlug sich an die Stirn. »Verzeihen Sie, ich vergaß, daß wir ja keine Volkszählung haben.«
»Aber Steuerlisten«, sagte der Konsul mit Genugtuung.
Sureja lächelte bedauernd. »Sie sind leider nicht zuverlässig, und die Reichen werden es ja an Eifer nicht fehlen lassen, die Lücken in ihrer Verwandtschaft mit Geld zu verstopfen.« Der Prinz schüttelte den Kopf. »Fünfhundert Armenier, also doch wohl auch fünfhundert Gewehre und die dazu gehörige Munition. Das gibt es im Salmasdistrikt zum Beispiel nicht. Dafür ist er viel zu arm.«
»Ich denke auch vor allem an hier. Das Christenviertel ist groß und reich. Es ist zu allem fähig.«
»Handelsleute? Geschäftemacher?« meinte der Prinz geringschätzig.
»Hoheit kennen den Fürsten Akunian und kommen häufiger in sein Haus, wie ich weiß.«
»Recht genau kenne ich ihn, und gerade in den letzten Wochen war ich oft bei ihm. Mein Bruder will nun endlich doch eine breite Straße durch seinen ganzen Besitz legen. Die Perser braucht er ja wirklich nicht zu fürchten, und mit Rußland steht er sich gut. Wegen der Finanzierung habe ich da häufig mit dem Fürsten zu tun.«
»Er ist der einzige, dem ich so etwas zutraue. Er hat Geld und Mut und haßt uns. Wilder als alle anderen.«
Der Prinz lachte wie über einen köstlichen Witz. »Ein Bankier? Einem Bankier trauen Sie eine Schlacht zu, die überall Aufsehen machen muß, wo man davon hört? Gewiß, jeder Bankier ist daran gewöhnt, anderen Leuten den Hals abzuschneiden. Aber doch nur mit Zinsen und Papieren. Tausenden von Leuten, wenn es sein Vorteil ist. Aber nicht mit der Flinte in der Hand. Das tut kein Bankier. Weder ein christlicher, noch ein jüdischer, noch ein mohammedanischer. Das geht ihnen allen durchaus wider die Moral.«
»Nicht diesem Akunian!« knirschte der Konsul.
Der Prinz zuckte die Achseln. »Wenn Sie greifbare Gründe dafür haben, nachher werde auch ich an das Wunder glauben, daß ein Bankier einen Menschen mit dem Gewehr niederknallt, statt ihn auf gefahrlose, geräuschlose, ihm geläufigere Weise umzubringen.«
»Ich habe gute Gründe«, sagte der Konsul, »und bitte um Ihre Hilfe, da Ihr Besuch bei ihm keinen Verdacht erregt. Von außen wird der Besitz seit gestern gut bewacht. Es kann nichts Verdächtiges mehr aus Haus, Hof und Garten, ohne daß es bemerkt wird. Ich möchte Sie bitten, ihn in den nächsten Tagen zu besuchen und sich ein wenig umzusehen in Haus, Hof und Garten, ohne daß es auffällt. Seit Tagen liege ich dem Gouverneur in den Ohren, den Fürsten verhaften, eine Haussuchung veranstalten zu lassen. Er hat immer noch Bedenken und will erst beim Generalgouverneur in Täbris anfragen. Er hat ihm geschrieben, statt zu telegraphieren. Bis die Antwort hier ist, kann der Vogel ausgeflogen sein und alle Spuren verwischt haben. Ich werde noch heute Amenisam telegraphieren und um einen Haftbefehl bitten.«
»Tun Sie das ja, Exzellenz, tun Sie das sofort,« fiel Sureja lebhaft ein, »damit nur ja keine Zeit verloren geht.«
»Ich danke Ihnen aufrichtig, Hoheit.«
Endlich schwindet also dein Mißtrauen gegen mich ein wenig, du alter Fuchs, dachte Sureja befriedigt. Wie unbeliebt du dich dadurch bei dem Gouverneur machst, wenn du ihm eine so fette Gelegenheit, sein Kapital zu vermehren, aus der Hand nimmst, daran denkst du nicht in deinem Haß, in deiner Wut über die türkische Blamage, du Dummkopf. Es wird Zeit, daß du verschwindest, bevor du ganz Persien verrückt gemacht hast mit deinem blinden Eifer.
»Wissen Sie, Exzellenz, wann dieser Zug der Fünfhundert gegen Scharef vor sich gegangen sein kann?«
»Ich denke vor vierzehn Tagen etwa.«
»Das trifft sich schlecht, Exzellenz!« Sureja erhob sich. »Das trifft sich ausnehmend schlecht.«
Verwundert, mißtrauisch sah der Konsul auf und erhob sich ebenfalls.
»Gerade damals habe ich den armenischen Bankier häufiger besuchen müssen und kann bezeugen, daß er zu Hause und nicht auf Reisen war oder gar auf einer Kriegsfahrt gegen Scharef, um den es wirklich schade ist. Ein großer Verlust für die Türken, und wenn man die Hamidiekurden dazurechnet, die auch noch getötet wurden, wirklich schlimm. Ich kann mir vorstellen, wie das der hohen Pforte auf die Nerven geht und all ihren Feinden Freude macht.«
Der Konsul sah ihn giftig an. »Verstehe ich recht, Hoheit, Sie würden für einen Christen Zeugnis ablegen?«
Der Prinz lachte herzlich. »Wo denken Sie hin, Exzellenz, ich denke gar nicht daran, was geht mich dieser Christ an? Nur sein Geld interessiert mich.«
»Sie würden nicht als Zeuge für ihn auftreten?«
»Niemals, Exzellenz!«
»Ich danke Ihnen nochmals, Hoheit. Übrigens könnte er selbst ja zu Hause geblieben sein, das beweist nichts gegen meine Annahme.«
In jede Falle gehst du, so blind und taub bist du vor Wut, dachte der Prinz geringschätzig.
»Geruhen Sie, mich zu entlassen«, sagte der Konsul.
»So schnell wollen Sie fortgehen?«
»Ich telegraphiere gleich nach Täbris wegen des Haftbefehls, und wenn ich nicht bald Bescheid habe, telegraphiere ich nach Teheran. Ich gebe nicht nach, bis er verhaftet ist. Das möge meine Eile bei Ihnen entschuldigen.«
Sureja klatschte einer Dienerin und ließ Bibi-Dschanem rufen. Es wird Zeit, daß er verschwindet, wirklich hohe Zeit. Lächelnd trat er mit dem Konsul zu dem Busch im Rücken der beiden, teilte seine Zweige und sagte: »Ich liebe es zuweilen, von hier aus die Frauen zu beobachten, wenn sie sich unbeobachtet glauben.«
Ehe der Konsul etwas bemerken konnte, rief er der herbeikeuchenden Bibi-Dschanem den Befehl zu, seine Exzellenz durch den Garten zum Hof zu begleiten und dann sofort wieder hierherzukommen.
»Ich werde heute noch den Besuch machen, um Ihnen dienen zu können, Exzellenz.«
»Gott behüte Sie!« Der Konsul verneigte sich befriedigt.
»Gott behüte Sie!« Der Prinz verneigte sich nicht weniger zufrieden.
Als Bibi-Dschanem halbtot vor Angst zurückkehrte, saß der Fürst lächelnd in seinem Zelt, schönes weißes Geld vor sich ausgebreitet.
Bibi-Dschanem warf sich der Länge nach auf den Boden und suchte ihrem Herrn die Füße zu küssen.
»Stehe sofort auf!«
Erschrocken folgte sie dem Befehl.
Der Prinz nahm ein Geldstück und warf es ihr zu. »Fang, alte Hexe.«
Als ihre beiden Hände mit weißem Geld so angefüllt waren, daß sie nichts mehr hätte fangen können, sagte der Prinz: »Ich bin mit dir zufrieden, Bibi-Dschanem, das hast du gut gemacht.« Der Alten stürzten Freudentränen aus den Augen, und sie küßte ihm den Rockzipfel.
»Jetzt höre noch einmal gut zu, und es wird dein Schade nicht sein.«
»Ihr Sklave«, murmelte die Alte.
»Du wirst dich vor des Konsuls Tür setzen und ihm eine heimliche Botschaft bringen, wenn er aus dem Hause tritt. Du wirst nicht nachlassen, bis er anbeißt. Du wirst die Angel so geschickt werfen, daß sie ihm nicht mehr aus den Augen kommt. Wie du das machst, ist deine Sache. Alte Weiber verstehen sich am besten darauf, solche Fische zu fangen, wenn sie nach dem Köder lüstern sind. Du wirst ihm eine heimliche Botschaft von Natascha sagen, und ihn wenn er anbeißt, zu ihr bringen. Es ist ein wenig eilig damit. Natascha weiß nichts davon und soll auch nichts davon wissen. Verstehst du?«
»Mit Leib und Seele, nicht mit einem Herzen, mit tausend Herzen stehe ich für deine Befehle bereit«, murmelte die Alte.
»Niemand im Haus erfährt davon, niemand hört etwas. Wenn es soweit ist, gibst du denen im Harem ein kleines Schlafpulverchen. Du hörst gut zu?«
»Befehlen Sie noch einmal, damit ich nicht in Ihren Diensten fehle«, bat die alte Dienerin.
Sureja wiederholte und schloß: »Wenn er bei Natascha ist, sagst du es mir. In dieser Nacht hört und sieht niemand etwas außer mir und dir. Du allein bist mir verantwortlich. Wenn du mir die Nachricht gebracht hast, leg' dich schlafen und zieh dir die Burqä über Augen und Ohren, damit du nicht hörst und siehst, was nicht für dich bestimmt ist. Es könnte dir schlecht bekommen. Verstanden?«
Die Alte berührte mit der Stirn den Boden. »Ihr Sklave!« beteuerte sie.
»Yalla, vorwärts!«
Bibi-Dschanem verschwand durch die Büsche.
Die Vögel sangen, die Blumen dufteten, die Farben leuchteten. Jetzt verließ auch Sureja das Paradies, um den Fürsten aufzusuchen. Er lächelte befriedigt. Da Natascha ganz zu seinem Werkzeug geworden war, da er ihr eine Nacht geschenkt hatte, konnte der andere ihren Sinnen in der nächsten Zeit nicht gefährlich werden, würde sie keinerlei Widerstände zu überwinden haben, wenn er ihr das Nötige suggerierte. Wäre Dr. Durville kein Europäer, könnte man sein Material um einen gewiß nicht uninteressanten Fall bereichern.
»Begeben wir uns in das Zimmerchen, wo mir das hübsche Experiment mit dem alten Kurdenweib so gut gelang«, schlug der Prinz nach der Begrüßung des Fürsten vor. »Mehr als vier Ohren brauchen nicht zu hören, was wir einander jetzt zu sagen haben.«
Sureja warf sich in den Schaukelstuhl, Hakob Akunian setzte sich auf den einen Stuhl am Fenster, wo er auch damals Platz genommen hatte.
Leise schaukelte sich der Kurde und sagte: »Es ist soweit.«
»Auch mir fielen in den letzten Tagen die finsteren Mienen der Perser auf, wenn ich mit ihnen zu tun hatte.«
»Der Konsul schäumt und rast vor Wut, und der Gouverneur weiß noch nicht recht, wie er sich verhalten soll. Er wittert ein großes Geschäft und überlegt seine Chancen.« Sureja setzte den Schaukelstuhl in etwas lebhaftere Bewegung und lachte heiter und fröhlich. »Ich fürchte, das Geschäft ist zu groß für ihn. Ein größerer wird es ihm aus der Hand nehmen und er das Nachsehen haben. Tun Sie Geld in Ihren Beutel, Fürst, oder noch besser, stecken Sie Ihr Scheckbuch ein, damit Sie es zur Hand haben und nicht erst lange suchen müssen, wenn seine Stunde gekommen ist.«
»Bis jetzt sehe ich nur, daß Sie die Angelegenheit ungewöhnlich heiter nehmen, mein Prinz. Sonst verstehe ich noch kein Wort.«
»Die Wolken ziehen sich zusammen, der Konsul war bei mir und hat schon kräftig gedonnert. Vorläufig nur Wetterleuchten. Von wo der Blitz einschlagen wird, weiß ich noch nicht genau, ich vermute aber von Täbris her. Sie erfreuen sich unter den Mohammedanern eines so hohen Ansehens, Durchlaucht, daß der Konsul zum Beispiel sofort auf Sie getippt hat als Urheber der türkischen Riesenblamage. Der ahnungsvolle Engel. Ich habe ihm bedeutet, daß Ahnungen in solchen Fällen reinen Liebhaberwert haben und nur Beweise helfen können. Damit hapert es glücklicherweise bei ihm. Er sagte zwar einiges von guten Gründen, aber nicht von Beweisen. Ihre Gärten sind hoffentlich leer, Fürst, und alles, was verdächtig werden könnte, Menschen, Gewehre, Munition längst gen Djulfa auf dem Marsch?«
»Ich denke, meine Freiwilligen sind schon seit zwei, drei Tagen in Rußland.«
»Vortrefflich, Durchlaucht. Der Konsul läßt nämlich Ihr Haus bewachen, daß keine Maus mehr ungesehen heraus kann.«
»Wie kommt er gerade auf mich?«
Sureja lachte schallend laut auf. »Liegt das wirklich so fern? Man soll seine Gegner niemals für dümmer halten, als erlaubt ist.«
»Haben Sie die Güte, Hoheit, sprechen Sie für einen Augenblick etwas weniger in Aphorismen. Vielleicht erzählen Sie etwas mehr im Zusammenhang, was Sie in Erfahrung gebracht haben, und was man Ihnen erzählt.«
Sureja tat es, und des Fürsten Gesicht verfinsterte sich immer mehr.
»Ich sehe, Sie sind ernsthaft beunruhigt, Durchlaucht. Das verstehe ich nicht. So lange Beweise fehlen, kann es nicht den Kopf kosten.«
Hakob Akunian sprang auf und ging in langen Schritten durch das enge Zimmer. Als wäre er gefangen. Plötzlich hielt er vor dem Prinzen an, der sich gemütlich weiterschaukelte. Nur einen Augenblick, dann rannte er wieder durch den kleinen Raum. Als er den sich gemächlich wiegenden Sureja eben angeblickt hatte, war ihm, als läge statt des Prinzen der gemarterte junge Türke in dem Stuhl und grinste ihn schadenfroh an.
Sureja hielt seinen Stuhl an und sagte: »Hat sich etwas ereignet, was ich nicht weiß, was Sie mir noch nicht haben mitteilen können, was die Lage, wie ich sie bis jetzt übersehe, ändert, erschwert? Reden Sie, Durchlaucht.«
Hakob Akunian setzte sich wieder. Ihm war, als sollte er jetzt gemartert werden.
»Ich habe eine Dummheit gemacht, Hoheit. Das heißt, bisher glaubte ich das natürlich nicht, aber ich fange jetzt an, es zu glauben.«
Sureja lächelte und überblickte den Raum. »Das hier ist ein guter Beichtstuhl. In Paris sind sie auch nicht heller.«
»Ich habe ein langes Telegramm über den Zug gegen Scharef nach London an die ›Times‹ gerichtet.«
Der Prinz sprang auf. »Von hier aus? Womöglich durch den persisch-russischen Telegraphen? Sind Sie des Teufels, Durchlaucht?«
»Nicht von hier aus, auch nicht durch den persischen, sondern durch den englisch-indischen Telegraphen.«
»Wer ist der Telegraphist? Er muß sofort unschädlich gemacht werden. Wann war das? Und Ihr Name steht auch noch möglichst dick und fett darunter, nicht wahr, Durchlaucht?« Der Prinz lachte schneidend auf.
»Der Telegraphist heißt Feddersen.«
»Man muß ihm sofort den Mund stopfen. So oder so.«
»Das ist überflüssig, Hoheit. Er tut sowieso den Mund nicht auf.«
»Und wann war das?«
»Vor genau fünf Tagen.«
Sureja überlegte einen Augenblick. »Dann kann der Konsul noch nichts davon wissen, wenn dieser Telegraphist nicht geschwätzt hat.«
»Das ist ausgeschlossen, Hoheit.«
»Und Ihr Name dick und fett darunter?«
»Mit dem ausdrücklichen Befehl, ihn nicht zu veröffentlichen.«
»Als ob sich ein Journalist um andere Befehle kümmerte als um die, welche ihm der Vorteil seiner Zeitung eingibt! Und das Telegramm ist natürlich aus Persien datiert oder aus Rußland?«
»Aus Persien, in der Nähe von Djulfa.«
So fassungslos hatte der Fürst den Prinzen noch nicht gesehen. Er fühlte das Bedürfnis, ihm wenigstens die Gründe verständlich zu machen, die ihn dazu bewogen hatten.
Sureja unterbrach ihn nicht, nickte nur zuweilen spöttisch zu den Ausführungen. Dann meinte er langsam: »Das ist ja gewiß sehr edel, sehr schön, sehr begreiflich, aber soviel Edelmut vertragen unsere Pläne nicht, wie mir scheint, ohne daran kaputt zu gehen.« Er war außer sich, so sehr er sich auch zu beherrschen wußte.
»Wenn man nur wüßte, was die Esel in London damit angestellt haben«, rief Sureja.
»Vielleicht als inopportun in den Papierkorb geworfen«, meinte Hakob Akunian ironisch und bitter. »Das Telegramm jetzt noch telegraphisch zu unterdrücken, dazu ist es zu spät.«
»Oh Ali! Auch das noch, damit man erst recht darauf aufmerksam wird.«
Sureja warf sich wieder in den Schaukelstuhl. »Da sitzen wir, Durchlaucht, und werden langsam am Rost gebraten. Aellahu äkbär, Gott ist groß!«
Sureja schaukelte nicht mehr, aber sein Gehirn arbeitete.
»Ich nehme natürlich alles auf mich, und Sie bleiben ganz aus dem Spiel, Hoheit.«
»Als ob mir damit gedient wäre, daß Sie den Kopf verlieren.«
»Vater Gregor kann mich leicht ersetzen.«
Sureja lachte höhnisch. »Ein Geistlicher und ein Iblis ziehen nicht an demselben Strick.«
»Was haben Sie mit dem Teufel gemein?«
»Sie unterschätzen mich, Durchlaucht.«
Beide schwiegen einige Zeit. Plötzlich verließ Sureja den Schaukelstuhl und setzte sich auf den zweiten Stuhl am Fenster. »Dies verdammte alte Weib, das ich hier so hübsch in der Arbeit hatte, ist in der Nähe und grinst mich an. Oder sein Geist, oder sonst etwas von ihm, sein Fluid, sein Od, oder was weiß ich, sein Astralleib.«
»Wir sind noch nicht in Ramasan, er ist noch nicht in Stambul«, sagte Hakob Akunian trocken.
Mit einer Wendung des Kopfes sah der Kurde dem Armenier in die Augen. »Sie haben recht. Wenn Sie wollen, können Sie sich rühmen, mich nervös gemacht zu haben, wie man in Europa sagt, wenn man nicht weiß, was man sonst sagen soll.«
»Wenn die ›Times‹ die ganze Geschichte mit meinem Namen veröffentlicht hat oder in diesen Tagen veröffentlicht, ist alles klar. Der persische Gesandte in London telegraphiert das Nötige nach Teheran, der türkische nach Stambul, und die ganze Marter hat ein Ende. Wenigstens für mich. Auch die anderen Armenier wird man in Ruhe lassen, wenn ich alles auf mich nehme.«
»Und die Verwandten Ihrer Dreihundert? Glauben Sie, daß Ihnen der Gouverneur die Hand küßt und danke schön sagt?«
»Man wird ihnen Geld abpressen, und Vater Gregor wird es von mir bekommen.«
»Sie machen in diesem Augenblick, wie es scheint, vor mir als Zeugen Ihr Testament. Ihr Vertrauen ehrt mich, aber es wäre klüger gewesen, ich hätte es besessen, bevor Sie das Telegramm vom Stapel ließen.«
Hakob Akunian schwieg. Der Prinz hatte recht. Dagegen ließ sich nichts sagen. Warum er nicht vorher mit ihm gesprochen hatte? Jetzt wußte er es, der Prinz hätte abgeraten. Als Kurde konnte er kein Verständnis dafür haben. Er wollte das Telegramm abschicken, es sollte seine Volksgenossen, über die Europa meist nur ein wenig geringschätzig sprach, rehabilitieren. Ganz begriff er es im Augenblick selbst nicht mehr.
»Sie waren lange in Europa und überschätzen es immer noch. Daß Asien es tut, weil es Europa überhaupt nicht kennt, kann ich zur Not noch begreifen, aber daß Sie ...« Er brach ärgerlich ab; es hatte keinen Zweck, hinterher Vorwürfe zu machen.
Plötzlich fragte der Prinz: »Was haben Sie eigentlich telegraphiert?«
»Den Durchschlag kann ich Ihnen geben, wenn Sie wollen.«
»Den heben Sie immer noch auf und können sich nicht von ihm trennen, damit man ihn womöglich bei Ihnen findet? Ich bitte dringend, ihn mir auszuhändigen, bei mir sucht ihn kein Mensch.«
»Sie sollen ihn haben, wenn Sie das beruhigt, Hoheit. Wenn das Original in der ›Times‹ steht, ist es gleichgültig, wo der Durchschlag bleibt.«
»Sie träumen immer noch, Durchlaucht. Es wird hohe Zeit, daß Sie aufwachen, Durchlaucht. Wie will man beweisen, daß Sie das Telegramm geschickt haben, wenn Sie es leugnen? Ein Feind hat Ihnen einen Streich gespielt und Ihre Unterschrift gefälscht. Sie schicken noch heute einen vertrauenswürdigen Mann auf Ihrem besten Pferd zu jenem Telegraphisten. Er hat das Original an sich zu bringen. Im Guten oder im Bösen. Die Kopie, den Durchschlag bitte ich mir aus. Nachdem ich ihn genau gelesen habe, verbrenne ich ihn. Darauf können Sie sich verlassen. Was nicht in den Akten ist, ist nicht in der Welt, sagt man in Europa. Sie leugnen, Sie wissen von nichts, Sie haben keine Ahnung. Dafür spricht manches, denn wenn Sie etwas wüßten, wären Sie doch nicht so töricht, es auch noch in alle Welt zu telegraphieren. Das wäre doch der helle Wahnsinn, nicht wahr? Ein Gegner hat die ganze Geschichte angezettelt, ein Mohammedaner, um einen Christen zu beseitigen.« Sureja sprang auf. »Der türkische Konsul hat es getan, um Sie zu vernichten.«
Hakob Akunian lächelte dünn. »Der türkische Konsul wird sich bedanken.«
»Der türkische Konsul wird ...« Sureja brach ab. Dieser Christ war ja ein Kind, dem man nichts anvertrauen konnte, was nur Erwachsene hören können. Er seufzte ein wenig. »In Europa würden solche Argumente unbedingt durchschlagen, darauf können Sie sich verlassen. Man nennt das bei ihnen Psychologie, eine prächtige Erfindung des Verstandes, mit der man alles beweisen, aber auch alles widerlegen kann. Es kommt nur darauf an, wer am spitzfindigsten ist.« Er seufzte wieder. »In Asien kommt man freilich immer noch nicht so weit damit. In diesem Falle bedaure ich es sehr.«
»Es ist nichts mehr zu ändern. Man muß sich damit abfinden«, sagte der Fürst. »Ich habe mich in die Hand einer Zeitung gegeben. Ich sehe ein, es war ungewöhnlich dumm, das dümmste, was ich in diesem Fall tun konnte.«
»Ein erster Schritt zur Besserung.« Sureja lächelte schon wieder ein wenig. »Ich gebe das Rennen noch nicht auf, durchaus nicht, wenn Sie mir eins versprechen ...«
»Da ich auch Ihre Pläne durch Unverstand schwer geschädigt habe,« unterbrach der Fürst, »ist es selbstverständlich, was in meinen Kräften steht ...«
»Wir wollen alle heroischen und edelmütigen Gedanken beiseite lassen«, unterbrach Sureja ein wenig ungeduldig. »Oder legen Sie durchaus Wert darauf, nach Ihrem Tode als erlauchtes Beispiel für Heroismus in ein Lehrbuch für europäische Kinder zu kommen? Ich lege mehr Wert darauf, unsere Pläne zu verwirklichen.«
»Was meine Person angeht, sehe ich da keinen Weg mehr.«
»Ich für meine Person sehe noch viele Wege. Auch für Ihre Person. Aber Sie versprechen mir, wenn es zu einer Untersuchung kommt, unter allen Umstanden zu leugnen, daß Sie irgend etwas mit der Sache gegen Scharef zu tun haben. Doch nein, Sie sind ein schlechter Lügner. Also versprechen Sie mir, was auch kommen mag, zu schweigen und den Mund überhaupt nicht aufzutun. Höchstens sagen Sie: Ich weiß von nichts! Oder ist auch das zu schwer für Ihren edlen Charakter?«
»Sie haben allen Grund, zornig zu sein, Hoheit, und mich zu behandeln wie einen Unmündigen. Ich verspreche Ihnen in dieser Angelegenheit den Mund nicht wieder aufzutun, außer in dem von Ihnen gewünschten Sinn.«
Der Prinz reichte ihm lächelnd die Hand. »Seien Sie nicht böse, Durchlaucht. In den Augen eines Christen kann es doch auch unmöglich ehrverletzend oder eine Schande sein, wenn man glaubt, er sei kein guter Lügner, Sie merkwürdiger Bankier.«
»Ich freue mich, daß Sie wenigstens nicht mehr nervös sind, Prinz.«
»Sie wissen von nichts, von gar nichts, das ist die Hauptsache und im Augenblick meine beste Hoffnung. Das Originaltelegramm lassen Sie durch Ihren besten Mann dem Telegraphisten entreißen und vernichten. Die Kopie zerreiße ich. Alles Weitere hängt von den Umständen ab. Sie schweigen oder Sie wissen von nichts. Wenn die zwei einzigen sicheren Anhaltspunkte, Telegramm und Kopie, verschwunden sind, wissen die Richter auch nichts. Bei den meisten Untersuchungen ist das so, und die ganze Kunst des Untersuchungsrichters besteht ja nur darin, durch Fragen und Reden von dem Angeklagten, der alles weiß, etwas herauszubekommen, bis er schließlich auch etwas weiß. Wären die Angeklagten so klug, zu schweigen und sich unter keinen Umständen zum Reden verlocken zu lassen, alle Untersuchungen führten zu nichts, bei denen nicht das Korpus delikti schon vorher unter dem Gerichtstisch liegt. Ich werde den angeblichen Tatbestand schon so verwirren, daß dem Gouverneur, oder wer sonst als Blitz herniederfährt, Hören und Sehen vergeht.«
»Aber Sie werden doch nicht Ihre Person auch noch in Gefahr bringen? Dann war der Zug gegen Scharef ganz vergeblich.«
»Wenn es not tut, werde ich als Entlastungszeuge antreten. Ein Mohammedaner für einen Christen. Hat man schon jemals so etwas erlebt?« Sureja lachte wieder ganz vergnügt. Man muß diesem Kind unter allen Umständen ein heiteres Gesicht zeigen, dachte er, sonst macht er noch weiter heroische und edle Dummheiten.
Sie verließen den schmalen, unbehaglichen Raum und schlenderten durch den Hof.
»Darf ich mir die Kopie ausbitten?« fragte lächelnd der Prinz.
»Gedulden Sie sich einen Augenblick, ich hole sie.«
Ein Jungesel kapriolte herbei und beschnupperte aufmerksam den Prinzen. Jungvieh und Kinder, wohin man blickt, dachte Sureja. Aber der Fürst muß gerettet werden. Er ist unentbehrlich, heute mehr denn je. Wie soll man sonst die Armenier, diese störrischen Maulesel, gewinnen, die man braucht.
Sureja barg die Papiere, die der Fürst ihm brachte, sorgsam im Innern seines Rockes. »Vergessen Sie bitte nicht, Ihren besten Reiter dem Telegraphisten das Telegramm entreißen zu lassen. So schnell als nur irgend möglich. Bevor die persische Regierung auf den naheliegenden Gedanken kommt, danach zu suchen.«
»In einer Stunde reitet er ab.«
»Vielleicht ist unsere Sorge unnütz, vielleicht paßt den Engländern Ihr Schlachtbericht zur Zeit wirklich nicht in den politischen Kram. Aber wer kann das von hier aus beurteilen oder gar wissen? So haben wir ein ›X‹ in der Gleichung, das uns vorläufig noch unbekannt ist. Jeder Gewißheit kann man begegnen. Hier haben wir einen unsicheren, unklaren Posten. Rätsel raten ist nicht meine Sache.« Wieder lächelte Sureja freundlich. »Hoffentlich dauert es nicht mehr lange, bis das X uns bekannt ist. Dann hoffe ich es doch noch mit Erfolg in die Rechnung stellen zu können.«
Hakob Akunian sagte leise, unsicher: »Ich begreife mich im Augenblick selbst nicht, wie ich so unüberlegt alles aufs Spiel setzen konnte. Das Telegramm wäre ja auch noch in einigen Wochen nicht zu spät gekommen.«
»Auch dann immer noch zu früh«, bemerkte der Prinz trocken. »Befreien Sie sich von dem Gedanken, daß Telegramme nach Europa für Asien jemals zu guter Zeit kommen. Glauben Sie immer noch, weil Sie Christ sind, hätten Sie bei den Christen drüben einen Stein im Brett? Befreien Sie sich auch von dieser Illusion, und das Telegramm nach London war doch wenigstens zu etwas gut.«
Hakob Akunian meinte: »Ihre Pillen sind nicht gerade verzuckert.«
»Ich beziehe sie auch nicht aus Paris, Durchlaucht.«
Der Torhüter schob vorsichtig den Riegel zurück.
»Gestatten Sie, daß ich meine Pille durch eine kleine indiskrete Frage versüße, die leider einer Antwort bedarf. Wie befehlen Sie, daß es weiterhin mit der kleinen Miryäm in Maku gehalten werden soll?«
Der Fürst konnte, da die Frage ihn überrumpelte, nicht verhindern, daß ihm eine Blutwelle vom Herzen zur Stirn schoß.
»Ich werde meinem Bruder auf die Finger klopfen, daß er nicht selbst Geschmack findet an der Kleinen, oder sie an ihm. Das Telegramm verzögert Ihre Reise nach Maku, wie ich fürchte. Oder geruhen Sie, andere Befehle zu geben?«
»Ich werde Ihnen dankbar dafür sein, mein Prinz.«
Sureja trat unter das offene Tor. »Wenn der Blitz niederfährt, ducken Sie sich, Durchlaucht, und seien Sie heroisch im Schweigen.«
Lächelnd verabschiedete sich der Prinz, und der Fürst bemerkte jetzt erst, daß sein Gast diesmal zu Fuß gekommen war.
Sureja war erst wenige Minuten unterwegs, als der türkische Konsul auf ihn zutrat. Ebenfalls zu Fuß.
Erst als sie das Christenviertel hinter sich hatten, sagte Sureja: »Ich bedaure sehr, noch nichts Positives sagen zu können, Exzellenz. Haben Sie nur noch einige Tage Geduld. Der Fürst ahnt nichts von Ihrem Verdacht. Schon das ist viel wert. Leider muß ich morgen nach Delivan. Aber ich werde auch dort die Augen offen halten. Wenn fünfhundert Armenier aus dieser Gegend vor vierzehn Tagen oder drei oder vier Wochen aufgebrochen sind, muß man das in Delivan gemerkt haben. Meine Freunde in Delivan wissen dann sicher etwas davon. Eine kleine Stadt schläft ja schon deshalb nicht so fest wie eine große, weil sie immer mehr in Gefahr ist vor Überfällen. Einige haben da immer die Augen offen und die Ohren gespitzt. Und was in den armenischen Dörfern ringsum in den letzten Wochen vor sich gegangen ist, weiß man sicher in Delivan. Kleine Dörfer halten nicht lange ihre Geheimnisse fest.«
»Sie geben also noch immer nicht die Idee auf, den Hauptschuldigen oder die Hauptschuldigen im Salmasdistrikt ausfindig zu machen?«
»Wir suchen ein Wild, Exzellenz. Da sind Spuren zunächst wertvoller als Ideen, wie ich glaube. Deshalb gehe ich zunächst Spuren nach. Wenn ich sie finde, wie ich hoffe, werde ich Sie sofort nach meiner Rückkehr in drei, vier Tagen aufsuchen. Auf Grund der Spuren lassen sich dann hoffentlich mit großem Erfolg Ideen austauschen. Seien Sie unbesorgt, Exzellenz.« Er verneigte sich höchst zeremoniell: »Ihre Freundschaft mehre sich.«
Auch der Konsul verneigte sich zeremoniell: »Ihre Freundschaft möge nicht abnehmen!«