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Achtes Kapitel

Vater Gregor saß bei Hakob Akunian. Er leistete ihm jetzt häufiger Gesellschaft, denn er war ein erfahrener Wundarzt. Sowohl für Wunden, die Dolch, Schwert und Kugel schlagen, als auch für jene, welche die Reue sticht, brennt und wühlt.

Sie saßen in dem Pavillon, in dem Hakobs Mutter, wenn sie hier war, möglichst den ganzen Tag verbrachte, wenn es nicht fror. Der Perser nennt einen solchen Pavillon Kulah-i firängi, einen europäischen Hut. Dieser Pavillon machte dem persischen Namen alle Ehre. Steif und hoch klebte er an einer Zwischenmauer und war ohne bunte Farben, Ornamente und schweifende, das Auge und die Phantasie immer anregende Linien und Schnörkel. Nüchtern, hölzern, eckig, gleich im Dutzend in der Maschine hergestellt. Ein echt europäischer Hut eben.

In diesem Pavillon suchte Vater Gregor seit einigen Tagen der schwermütigen Reue Hakobs über die großen Verluste im Kampf gegen Scharef mit europäischer Logik beizukommen, die ebenso steif, steil, nüchtern und eckig ist wie ein Kulah-i firängi und in Europa ja auch längst maschinell hergestellt wird. Dann merkte Vater Gregor aber, daß diese schwermütige Reue immer mehr orientalisch ausschweifende Formen annahm und die merkwürdigsten Ornamente und Schnörkel durch die Seele seines Patienten trieb, wozu die europäische Logik gerade so schlecht paßte wie dieser Pavillon zu dem persischen Hof.

In seiner Mitte lag, zierlich überdacht, ein breiter tiefer Brunnen, dessen Wasser nie stille stand, sondern immer leise murmelte und aus seinem Behälter in den Hof rieselte, wo aber keine Pfützen entstanden, weil der sandige Boden die Feuchte unermüdlich schluckte und die Hitze den Rest schnell verdunsten ließ. Breitete sich die Feuchte wirklich einmal in einer Nacht weiter aus, trocknete sie der nächste Tag schneller als ein nasses Tuch, das in europäische Sonne gehängt wird. Auf dem Brunnenwasser schnalzten und schnatterten wilde Enten, die niemand zu zähmen versuchte, denen niemand die Flügel stutzte, so daß sie jederzeit ungestört wieder fortfliegen konnten, wenn sie von einem Weib aus der Küche gestört wurden, das Wasser holte. An den schattigen Stellen des geräumigen Hofes lagen Maultiere und Esel oder wälzten sich, staubaufwirbelnd, auf dem Rücken in der Sonne, schreiend, um sich bald wieder voll Behagen in den Schatten zu werfen. Niemand beobachtete oder störte sie, solange man sie nicht brauchte. Ihre Jungen kapriolten spielbedürftig durch den Hof und versuchten immer wieder den Pavillon zu erklettern, wenn jemand in ihm saß. Aber die Treppe, die zu ihm führte, war zu steil, und die einzelnen Stufen zu hoch. Unermüdlich waren sie, und niemand, der im Pavillon saß, störte sie in ihrem Vergnügen. Kam aber ein Mensch über den Hof, galoppierten sie hin, stießen ihn, umtanzten ihn, neckten ihn, und da sie jung waren, störte sie keiner in diesem Vergnügen, so wenig man ein Kind in seinem Behagen störte und ihm irgendein Vergnügen versagte. Das Leben erzieht alles, was jung ist, ganz von selbst, und wenn man erst erwachsen ist, ob Mensch oder Esel, hat keiner mehr viel zu lachen. Ebensowenig störte jemand einen Vogel oder einen Schmetterling. Einer Raupe konnte man wohl eine Weile zusehen, aber niemand fiel es ein, sie zu zertreten. Es waren ja genug Vögel da, sie zu fressen, wenn es an der Zeit war. Und wenn sich morgens durch den Hof eine Spur zog, breit wie ein Wagenrad, als wäre da ein Ochsenkarren auf einem Rad durch den Hof geknarrt, ging niemand solcher Spur nach, um die Schlange, die sie hinterlassen, zu suchen und zu töten. Was innerhalb der Mauern lebte, die Haus, Hof und Gärten umfriedeten, ließ man leben und setzte sich nur zur Wehr, wenn es angriff und das Leben des Menschen bedrohte. Sonst überließ man es den Tieren, miteinander fertig zu werden und ihre Freuden und Leiden untereinander auszumachen. Wie man auch die Menschen dabei nicht sonderlich störte, wenn man nicht selbst direkt beteiligt war. Dann freilich verbiß man sich ineinander und kämpfte wild und rücksichtslos oder mit aller Verschlagenheit. Wie die Tiere auch. Blieb aber einer tot am Platze und war die Rauferei vorbei, oh, wie konnte man sich dann die Brust schlagen, die Haare raufen, klagen, und die Tränen strömten nur so aus der betrübten Seele. Dafür war man Mensch und nicht Tier. Auch die Diener störte der Herr nicht, wenn er sie nicht gerade brauchte. Sie lagen irgendwo im Schatten wie die Maultiere und Esel. Sie saßen in einer Ecke und sangen oder spielten, träumten oder schnarchten, ohne weiter beobachtet zu werden. Ihren Kindern gehörte der Hof so gut wie den Jungtieren. Mochten sie spielen mit wem sie wollten, schlafen wo und wie sie wollten, sich im Staub wälzen, wenn es ihnen behagte, sich prügeln, wenn es ihnen Spaß machte, schreien, wenn ein Jungesel sie umstieß oder kniff. Die Väter kümmerten sich nicht darum, und die Mütter hatten keine Zeit, denn auf ihnen liegt alle Arbeit im Haus, um die sich kein Mann kümmert, wenn es der Herr nicht direkt befiehlt, was kaum, jemals einem Herrn einfällt.

Wenn Vater Gregor mit Hakob Akunian allein war, duzte er ihn, denn er kannte ihn von Jugend auf.

»Als ich in Berlin studierte, habe ich mir geschworen, nie mehr einen Feind zu töten, und ich habe den Schwur gehalten und gedenke ihn auch weiter zu halten, selbst wenn es mich das Leben kostet. Aber nicht einen Augenblick habe ich auf dem Zug gegen Scharef gezögert, meinen Brüdern den Dolch ins Herz zu stoßen, um sie nicht in den Händen der Feinde längerer Qual auszusetzen. Glaubst du, daß ich es heute bereue? Glaubst du, daß auch nur eine Mutter mir den Rücken gezeigt hätte, der ich die letzten Grüße ihres Sohnes brachte und sein Ende berichtete, wie es sich zugetragen hat? Mit Tränen in den Augen haben sie die Hand geküßt, die den Dolch geführt hat, und haben mir gedankt, daß ich dem Sohn die schlimmste Marter erspart habe. Erst dann haben sie geschrien und sich vor Schmerzen über den Verlust des Sohnes am Boden gewälzt, und es sind einige, die den Verstand darüber verloren haben und ihn wohl auch nicht wiederfinden, so sehr ich mich um sie mühe. Glaubst du, auch nur eine unter ihnen fände in der Verwirrung ihres Geistes ein Wort der Verwünschung über mich und mein Tun? O nein! Sie brüten vor sich hin oder rasen um den Tod ihres Sohnes, wie es die Natur ihnen eingibt, wie sie es von ihnen verlangt; und wenn sie einen Augenblick wieder zu sich selbst kommen, greifen sie nach meiner Hand, bedecken sie mit Tränen und Küssen, weil sie dem Sohn das Bitterste erspart hat. Verstehst du das nicht mehr? Bist du so viel mehr zum Europäer geworden als ich, daß dir heute der Tod als das größte Übel erscheint, weil es nach ihm kein Leben mehr gibt? Hast du ganz vergessen, daß das Leben auf Erden für alle Guten schwerer ist als das Leben nach dem Tod? Weißt du nicht mehr, daß wie vor diesem Leben auch nach diesem Leben nur wieder Leben steht, das nicht nach dem Tod in dieser Zeit gemessen wird, sondern nach dem Leben in ihr? Und weißt du nicht, daß wir nach der Geburt leben, ohne vom Tod, der ihr vorausging, etwas zu wissen? So werden wir auch nach diesem Tod wieder geboren, ohne von ihm noch etwas zu wissen. Das Leben entscheidet über das Leben. Nicht der Tod. Die Christen in Europa machen es sich zu leicht, indem sie den Tod über das Leben nach ihm entscheiden lassen. Nicht das Sterben, sondern das Leben unterscheidet die Menschen. Sonst müßten alle, weil sie sterben, selig werden. Ist Sterben ein Verdienst? Das Leben liegt in meiner Hand, nicht das Sterben. Wohl denen, die sich nicht selbst den Tod gegeben haben, wohl ihnen, daß meine Hand ihn gab, nicht die ihre. Möge ich dafür auch länger leben und leiden müssen, was nicht in meiner Macht steht, sondern in der eines anderen, der über mir ist, wie meine Hand über meinen Freunden war, daß sie nicht mehr leiden mußten, als sie tragen und ich mitansehen konnte. Und war es ein Frevel, denn niemand weiß, so lange er lebt, ob er die Wahrheit besitzt, so werde ich lange genug für den Irrtum büßen müssen. In diesem Leben und erst recht nach meinem Tod, von dem ich nichts mehr weiß, wenn ich wieder geboren bin. Wenn nur die anderen leben, ohne daß ein freiwilliger Tod oder eine lange Marter in den Händen ihrer Feinde, sie um die Frucht ihres Lebens gebracht hat, denn diese Frucht ist köstlich, da sie bereit waren, ihr Leben zu lassen für ihre Brüder.«

Vater Gregor hielt ein, trat ein paar Stufen die Treppe hinab, tätschelte einem Jungesel die feuchte, eifrige Schnauze, weil er gar zu laut nach einem Spielkameraden schrie, gar zu hastig die Treppe mit den Hufen trat und ihn dadurch völlig aus dem Konzept gebracht hatte. Der Jungesel trabte zufrieden von dannen, und Vater Gregor setzte sich wieder.

Es donnerte so laut und hastig an das verschlossene Tor, daß die ruhenden Maulesel verwundert die Köpfe hoben und alles Jungvieh die Hälse reckte. Vater Gregor und Hakob Akunian erhoben sich langsam. Sollte die Kunde von Scharefs Tod und der Vernichtung seiner Elitetruppen so schnelle Füße haben und jetzt schon drohend an das Tor klopfen?

Wieder donnerte es laut an das verschlossene Tor. »Sofort öffnen!« befahl der Fürst und schritt langsam mit dem Priester die Treppenstufen hinunter in den Hof, wo Diener und Tiere plötzlich auf den Beinen standen und nach dem Tor blickten.

Der Torhüter schob langsam den Riegel zurück, lehnte sich aber fest gegen das Tor, um es sofort zuschlagen zu können, wenn jemand, der ihm verdächtig erschien, Einlaß begehrte. Er erblickte nur ein abgehetztes Pferd, das ein Mann am Zügel hielt, der ebenso abgehetzt aussah wie sein Tier. Ein Mohammedaner war es nicht. Er ließ Roß und Reiter in den Hof und verriegelte sofort das Tor hinter ihnen.

Der untersetzte, dicke Reiter sah sich prüfend um und trat schnell zu dem näherkommenden Fürsten, »Ich lernte Sie vor einigen Wochen beim hiesigen Gouverneur kennen.« Er griff militärisch an die Lammfellmütze, was für den Fürsten komisch wirkte. »General Daschkow. Ich möchte Durchlaucht für eine Stunde um Gastfreundschaft bitten. Sie sind geborener Russe und Christ, also haben Sie hoffentlich einen Schnaps zur Hand, wofür ich besonders dankbar wäre.«

Der Fürst fühlte sich erleichtert, begrüßte den General sehr freundlich, stellte ihm Vater Gregor vor und geleitete ihn in den Pavillon. Einer von den beiden hohen Exzellenzen, die mit zwei Popen nach Urmia gereist waren. Was mochte ihm zugestoßen sein, und wo war der andere? Die beiden Armenier ließen den Dicken trinken, essen und wieder zu sich selbst kommen, ohne eine Frage zu stellen. Er würde nachher schon von selbst erzählen, was ihn so mitgenommen hatte. So geschah es denn auch.

General Daschkow hatte sich mit seinem Kameraden aus Urmia heimlich aus dem Staube gemacht, weil man sie auch dort keinen Augenblick allein ließ. Unerträglich wurden diese Höflichkeitsbesuche, Aufmerksamkeiten, Festlichkeiten, die Tag und Nacht in Anspruch nahmen; und wenn man sich für einige Stunden zurückzog, um ein wenig auszuruhen und zu schlafen, wachten immer neue Diener oder Tänzerinnen darüber, daß man nur ja nicht gestört wurde.

Vater Gregor schmunzelte in seinen grauen Bart. Die Russen verachteten die Perser, weil sie schlechte Soldaten waren, und unterschätzten deshalb ihre anderen Talente. Dieser General würde sie fortan nicht mehr unterschätzen, wie es schien.

Mit Hilfe einiger Syrer gelang es den beiden endlich, in persischer Verkleidung zu entwischen und die Rückreise nach Djulfa anzutreten. Ohne Begleitung, ohne Diener, aber mit wohlgefüllten Satteltaschen.

»Exzellenz sprechen persisch, nehme ich an?« fragte der Priester freundlich.

Mißtrauisch musterte ihn der General. »Nicht der Rede wert, nur ein wenig für den Hausgebrauch, um sich durchschlagen zu können, mehr nicht.«

Alles ging gut, wenn auch recht beschwerlich. Zuviel Hitze, zuviel Steine, zuwenig Wasser, wenig Wald, viele Herden mit bissigen Hunden, aber wenig Dörfer, um zu rasten. Ein verdammtes Land, wenn man alt und bequem wird und seinen Knochen nicht gerne mehr Strapazen zumutet, als sich durchaus nicht umgehen läßt.

»Darf ich Ew. Exzellenz ein Glas Champagner anbieten?« fragte der Fürst. Der General hatte nichts dagegen.

So ritt man im Schweiße seines Angesichts weiter. Eigentlich hatte man sich Land und Leute etwas interessanter gedacht, aber Sehenswertes gab es da für ein paar alte Herrn wirklich nicht viel. Dann sah man von weitem so etwas wie eine alte Festung. Endlich doch einmal eine kleine Abwechslung, dachte man und ritt näher. Es war aber nur ein altes zerfallenes Kloster, und keine Menschenseele weit und breit. Dafür um so mehr Hitze, die kaum noch zu ertragen war.

»Ein armes Land«, seufzte der Priester träumerisch, »und könnte doch so reich sein. Die Mohammedaner haben die Wälder abgeholzt und dem Land damit auch das Wasser genommen. Wenn man aufforsten könnte wie in Kaukasien seit hundert Jahren, seitdem es nicht mehr unter mohammedanischer Herrschaft steht, welch ein Paradies könnte das werden.«

Der General goß ein Glas Champagner hinunter und schüttelte sich wieder einmal. »Da geschah das Gräßliche. Jetzt frage ich mich, ob ich es nicht doch nur geträumt, sondern wirklich erlebt habe. Ein höllisches Land, eine Brutstätte des Teufels.« Er schlug ein Kreuz. »Mein Kamerad war weit hinter mir zurückgeblieben. Wie das so geht, wenn der Satan es haben will. Mein Gaul war schon lange unruhig und schnaufte aufgeregt. Ich achtete nicht darauf. Ich hatte genug mit der Hitze zu tun, die mich fast umbrachte.«

»Sie hätten besser getan, nachts zu reisen, wie das hier alle Welt tut«, meinte der Priester voller Teilnahme. »Aber freilich, Sie wollten ja etwas von Persien sehen. Daran dachte ich im Augenblick nicht.«

»Selbstverständlich«, murmelte der General. »Mein Gaul versuchte wiederholt, aus dem Wald auszubrechen ins freie Feld. Immer wieder brachte ich ihn zur Räson. Hatte das Biest einen Sonnenstich und allen Verstand verloren? Plötzlich höre ich hinter mir einen leisen Schrei und drehe mich um. Der Gaul ist mit meinem Kameraden ausgebrochen und rast wie verrückt querfeldein. Ich rufe, aber er hört mich nicht. Hat er alle Gewalt über sein Pferd verloren? Nun rast auch mein Gaul aus dem Wald, den Kopf gesenkt, die Trense fest zwischen die Zähne geklemmt. Ich haue ihm zwischen die Ohren, ich reiße an den Zügeln, ich schlage ihm die Sporen in den Leib. Er steigt, er tanzt, er feuert aus und schreit. Nur für Augenblicke kann ich ihn in die Richtung nach dem anderen zwingen. Er bockt, geht nicht von der Stelle, angelt nach der Trense, bis er sie wieder fest zwischen den Zähnen hat und jagt mit einem wilden Satz in der verkehrten Richtung weiter, als fürchte er nichts so sehr wie den anderen, der aber schneller ist und nun doch allmählich näher kommt. In Karriere sausen jetzt beide los. Nach einiger Zeit liegen sie fast parallel. Hinter dem anderen Gaul springt es wie dunkle elastische Bänder. Wohl ein Dutzend. Wie Blitze über den Boden hin. In rasender Geschwindigkeit. Ich begreife gar nicht, was das ist, und wie es so schnell vorwärts kommt. Jetzt sehe ich deutlich, wie die schwarzen, schmalen, elastischen Bänder sich fast zu einem Kreis zusammenziehen und dann vorwärtsschnellen, unermüdlich. Es schnellt an dem Gaul hoch, springt ihm nach dem Hals, nach dem Maul. Der Gaul schüttelt es wieder ab und rast weiter. Aber die schwarzen, schmalen Bänder werden immer elastischer und schneller, während die Kräfte des Gauls langsam, ganz langsam nachlassen.« Der General trocknete sich die Stirn und sagte fragend, unsicher: »Schlangen?«

Der Fürst nickte. »Bergschlangen.«

»Nun haben sie meinen Kameraden und seinen Gaul förmlich eingeschlossen wie in einen Kreis.«

»Meist jagen sie nur zu zweit«, unterbrach der Priester. »Selten sieht man mehr zusammen. Sie müssen schon lange kein Blut mehr zu trinken bekommen haben, daß ihrer so viele gemeinsam auf Jagd gingen.«

»Eine Hölle, dies Land!« schrie der General und schlug auf den Tisch.

»Dies Land wehrt sich anders als andere Länder«, sagte der Priester.

»Unsere Pferde kennen sich besser aus als die Fremden. Ihr Kamerad hat sein Pferd offenbar auch länger im Wald gehalten, als es wollte. Unsere Pferde wittern diese kleinen, wilden Bergschlangen sehr früh und rennen fort, wenn man sie gewähren läßt«, sagte der Fürst.

»Sie retten die Seele«, meinte der Priester träumerisch.

»Wenn man diese Schlangen mit dem Bleiknopf im Stiel der Reitpeitsche richtig auf den Kopf trifft, sind sie tot oder wenigstens für einige Zeit betäubt. Doch das will gelernt und geübt sein. Fremde wissen das nicht«, sprach der Priester wie zu sich selbst.

»Auch waren es, wie Ew. Exzellenz richtig gesehen haben, diesmal zu viele«, warf der Fürst ein.

Der General begann von neuem: »Der Gaul stürzte, wälzte sich, biß, schrie, schlug um sich. Mein Kamerad schrie, streckte die Arme hoch, wollte laufen und fiel. Mir standen die Haare zu Berge. Das ist kein Feind, mit dem man kämpfen kann, ich gab meinem Gaul die Zügel frei, und er raste von dannen. Ja, ist denn so etwas möglich, kann es das geben? Ein paar gar nicht große Schlangen wie die Teufel hinter einem Reiter her und überwältigen ihn?«

»Ew. Exzellenz können noch von Glück sagen, daß sie vor Jagdeifer und Blutdurst Ew. Exzellenz offenbar gar nicht bemerkt haben«, meinte der Fürst.

»Giftig sind sie nicht, aber bissig«, sagte der Priester. »Sie beißen Mensch und Vieh die Schlagadern durch und trinken das Blut.«

»Davor muß man den Fremden doch warnen? Wer kann denn das wissen?«

»Man hätte Ew. Exzellenz in Urmia sicher gewarnt, wenn man von der Absicht Ew. Exzellenz, so allein nach Djulfa zurückzureiten, etwas gewußt hätte«, sagte der Priester sanft und freundlich.

»Aber die Syrer, diese Hunde, hätten es uns sagen müssen!« rief der General und schlug wieder auf den Tisch.

»Wenn sie eine Ahnung gehabt hätten, daß Exzellenz durch die Berge wollten, hätten sie sicher gewarnt, denn ins freie Feld wagen sich diese Schlangen nur, wenn sie der Beute sicher sind. Im freien Feld sind Reiter meist schneller als sie. In den Bergen haben sie es leichter. Man hat den Herren wohl auch nicht gerade die besten Pferde verschafft.«

»Wer denkt denn auch an so etwas!« tobte der General.

»Was soll man dazu sagen? Maschallah sagt der Perser«, meinte Vater Gregor.

»Und mein Kamerad?«

»Um ihn brauchen sich Exzellenz keine Sorgen mehr zu machen.«

»Tot?«

Der Fürst nickte.

»Aber die Biester werden ihn doch nicht mit Haut und Haaren verschlingen!« rief der General.

»Gewiß nicht, Ew. Exzellenz. Sie trinken nur so viel Blut, daß der Rest nicht mehr ausreicht, um weiterleben zu können«, sagte der Priester ruhig und sachlich.

»Man wird den Toten finden und ...« der General verstummte.

»Unzweifelhaft. Heute, morgen oder übermorgen. Je nachdem einer nahe vorbeikommt oder in größerer Entfernung ihn sieht oder ihn riecht«, sagte der Priester wieder ganz ruhig und sachlich.

Der General kaute unruhig an seinen Lippen.

»Ich bin Priester und stehe Ew. Exzellenz ganz zur Verfügung«, sagte Vater Gregor.

»Man wird Anzeige erstatten, es wird Schwierigkeiten geben, man wird Nachforschungen anstellen ... der Teufel soll es holen!«

»Wenn Ew. Exzellenz das beunruhigt, darüber glaube ich Sie beruhigen zu können«, meinte der Fürst.

»Ich bin ein alter Mann und hasse unnütze Scherereien«, sagte der General.

»Wer den Toten findet, wird keine Anzeige erstatten, sondern ihn so schnell als möglich auf freiem Feld begraben, wenn es irgend geht, oder sowie es dunkel ist«, sagte der Fürst.

»Auch hierzulande liebt man keine Scherereien«, warf der Priester ein. »Die gibt es immer, wenn die Behörde von einem Toten erfährt, der ihr unbekannt ist.«

»Schreckliche Zustände!« murmelte der General, schien aber doch etwas erleichtert zu sein.

»In Rußland könnte es nicht vorkommen. Armes Persien!« seufzte der Priester.

So unterhielt man sich noch eine ganze Weile, und dem General wurde sichtlich leichter und freier ums Herz. Bald gab er sich wieder ganz kordial als harmlos vergnügte, breite russische Natur. Hakob Akunian lud ihn ein, über Nacht zu bleiben und auf den großen Schreck erst einmal einen guten Schlaf zu tun. Aber davon wollte der General durchaus nichts wissen. Er schien es sehr eilig zu haben, möglichst bald weiterzukommen.

»Dann darf ich Ew. Exzellenz wenigstens bis Djulfa einen Wagen und einen zuverlässigen Diener anbieten?« fragte der Fürst.

Auch dagegen wehrte sich der General längere Zeit, gab schließlich aber doch nach. Das Angebot war nach dem letzten Abenteuer zu verlockend. Ihm grauste allmählich vor den unbekannten, gefährlichen Zufälligkeiten, denen man so ahnungslos in diesem Lande ausgesetzt war. Er hatte genug, übergenug davon. Nur durfte es Seiner Durchlaucht keine Umstände machen, und jedes Aufsehen möchte er auch vermeiden. Schon um den Gouverneur nicht zu kränken, wenn er von diesem zweiten Besuch in seiner Hauptstadt erfuhr, ohne bei ihm vorgesprochen zu haben.

»Keine Sorge, Exzellenz, es geht, wenn Sie wünschen, ganz in der Stille und ohne jedes Aufsehen vor sich. Heute abend, wenn es dunkel geworden ist, und es dann Ew. Exzellenz nicht doch noch vorziehen, hier über Nacht zu bleiben und erst morgen abend weiterzureisen.«

Der Fürst erhob sich und bat, ihn für eine Weile zu entschuldigen, um selbst alle Anordnungen zu treffen.

Hakob Akunian kam plötzlich ein Gedanke, mit dem er allein sein wollte, um ruhig über ihn nachzudenken. Man könnte in einem Telegramm an die »Times« in London, wo er einst vorgesprochen hatte, wo man ihm sehr entgegengekommen war, den Zug gegen Scharef schildern, damit Europa sähe, daß die Armenier nicht nur Handelsleute waren, über die man so oft verächtlich die Nase rümpfte, sondern auch tapfer und mutig sein konnten, kämpfen und einen überlegenen Feind besiegen, nicht aus dem Hinterhalt, sondern in offener Schlacht. Man konnte so allen Lügen und Verleumdungen der Türken zuvorkommen, an denen sie es nicht fehlen lassen würden, wenn das Ereignis nicht totzuschweigen war. Man konnte die öffentliche Meinung in England und damit in Europa überhaupt wieder einmal für sich interessieren. Er konnte das Telegramm durch den Kutscher bei Feddersen abgeben lassen, der es sicher besorgen würde. Ob er nicht vorher mit Sureja darüber sprechen sollte? ... Das alles wollte gut und in Ruhe überlegt werden.

Auch Vater Gregor wurde offenherzig und kordial, auch er vermochte eine breite Natur herauszukehren, um derentwillen die Russen in aller Welt berühmt und berüchtigt sind.

Der General taute immer mehr auf, schlug sich die Schenkel, erzählte kräftige Witze, und Vater Gregor suchte es ihm in allem gleichzutun. Nur ab und zu sank er plötzlich in sich zusammen und seufzte schwer. Dann raffte er sich wieder auf und lachte und scherzte. Zwei vergnügte ältere Herren saßen in dem »europäischen Hut.«

Wenn der Pope nur nicht immer wieder zwischendurch so jämmerlich geseufzt hätte. Je mehr der General trank, um so mehr wurmte es ihn. Was hatte dieser Pope schon für einen Grund zu klagen? Für den General, der seinen besten Kameraden verloren, hätte das doch viel näher gelegen. Wenn er sich überwinden konnte und nicht mehr daran denken, was hatte dieser Pope da zu seufzen und ihm wieder die Laune zu verderben. Wozu nutzen Kummer, Klagen und Seufzen? Zu gar nichts. Hat schon jemand erlebt, daß dadurch irgend etwas besser geworden ist?

»Was haben Sie, Väterchen? Gräßlich ist das!«

»Rußland versteht uns nicht und nur Rußland könnte uns helfen«, seufzte Vater Gregor.

»Wie meinen Sie das, Pope? Wo drückt Sie der Schuh?«

Vater Gregor schüttete sein Herz aus, und was er sagte, konnte dem General nur angenehm zu hören sein. Mit den Syrern ist leicht fertig werden. Man bezahlt und sie gehorchen. Aber die Armenier sind störrisch wie Maulesel. Nie sind sie vergnügt, und immer haben sie etwas zu jammern. Niemand kann es ihnen recht machen. Kein Türke, kein Perser, kein Russe. Nicht einmal mit den Syrern vertragen sie sich, trotzdem auch sie Christen sind. Ein schreckliches und undankbares Volk.

Der General spitzte immer aufmerksamer die Ohren. Seine Mission war bisher recht kläglich verlaufen. Man würde in Tiflis nicht gerade erbaut sein und ihn geringschätzig wieder nach dem Ural abschieben. Einer von der Linie, zu nichts zu gebrauchen, als Sibirier zu drillen. Dummes Volk, für feinere Arbeit absolut untauglich. Persisch verstehen tut's auch nicht. Ein Dragonerleutnant, der sich im Salon zu bewegen wußte, hätte das besser gemacht, auch ohne Persisch zu können. Daß sein Kamerad ein so klägliches Ende gefunden, bewahrte den Überlebenden zwar vor gar zu unsanften Püffen, denn es bewies, daß die Mission nicht ungefährlich gewesen war. Aber die paar Lücken, die er in der Generalstabskarte hatte ausfüllen können, die paar Änderungen, die an die Stelle veralteter Merkzeichen eingetragen werden mußten, machten den Kohl nicht fett.

»Wie leicht könnten es die Russen mit uns haben,« seufzte Vater Gregor, »wenn sie nur den Katholikos in Etschmiadsin nicht wie einen Gefangenen hielten. Wohin sollte er den Russen eigentlich entweichen? Nach der Türkei? Nach Persien? Unter die Mohammedaner? Welch eine unmögliche Vorstellung, wenn man nur einen Augenblick darüber nachdenkt. Und weshalb lassen die Russen die armenischen Schulen in Transkaukasien nicht ruhig gewähren? Warum muß der heilige Synod sich da immer hineinmischen? Wäre es am Ende nicht doch klüger, die Schulen in Ruhe zu lassen? Sonst sind die Armenier doch ein Herz und eine Seele mit den Russen und erst recht hier in persisch Armenien unter Mohammedanern. Steht der orthodoxe Christ uns nicht viel näher als all diese Heiden?«

So lenkte Vater Gregor seufzend das Gespräch von Zeit zu Zeit auf diese Dinge, um dann wieder ganz heiter zu sein, zu lachen und zu schwatzen.

»Wenn nur die Engländer nicht wären«, seufzte Vater Gregor. »Sie kommen uns hier so weit entgegen, als wir es nur wünschen können. Natürlich, um uns gegen die Perser zu benutzen. Wir erfahren so manches, was den Engländern nützlich ist. Wir leben seit Jahrhunderten in diesem Land und kennen es wie niemand sonst. Es war ja einmal unser Land.«

Der General wurde recht nachdenklich. Man konnte darüber ja einmal mit dem Statthalter in Tiflis sprechen oder noch besser nach Petersburg darüber berichten. Man sah dann doch, daß man sich mit Erfolg im Lande umgetan hatte. Vielleicht konnte man diesen Popen oder noch besser den Fürsten eines Tages direkt als russischen Agenten benutzen, wenn die Engländer so eifrig nach ihnen angelten?

»Dabei ist Seine Durchlaucht in Petersburg gut bekannt und bei Hofe gern gesehen,« seufzte der Priester, »er wurde dem Zaren und der Zarin vorgestellt, als er von seiner Europareise zurückkam.«

Das klang für den General durchaus nicht unwahrscheinlich. Seit hundert Jahren war es russischer Regierungsgrundsatz, der sich noch immer bewährt hatte, all diese kleinen, depossedierten Fürsten aus Kaukasien, die immer bereit waren, Intrigen anzuzetteln, Putsche, Revolten zu inszenieren, an den Petersburger Hof zu ziehen, sie dort zu verwöhnen, zu verweichlichen und zu verderben. Durch Alkohol, Weiber und Spiel. So hatte man unzählige Siege über viele kleine unbotmäßige Stämme, die keine Ruhe geben wollten, errungen, ohne daß es einen Tropfen Blut kostete, und ohne daß irgend jemand in der Welt sich darüber empörte, indem man die Fürsten und ihre nähere Verwandtschaft, die geborenen und durch Jahrhunderte erprobten Führer ihrer Stämme, langsam, aber gründlich und für immer zugrunde richtete. Oh, der Petersburger Hof konnte all diesen kleinen Durchlauchten gegenüber sehr liberal und sehr splendid sein. Es war immer noch viel billiger als die ewigen Kleinkriege in neu eroberten Ländern.

Als der recht betrunkene lustige General am Abend im Wagen von dannen fuhr, sagte Vater Gregor schmunzelnd zu Hakob Akunian: »Wenn nicht alle Zeichen trügen, Durchlaucht, wird in nicht allzu ferner Zeit der russische Konsul in Täbris Verbindung mit dir suchen, und du wirst sie, denke ich, nicht ablehnen, wenn du klug bist.«

Er setzte das Hakob Akunian genauer auseinander und meinte dann: »Du brauchst nur noch den Prinzen von Maku zu veranlassen, das Vertrauen des englischen Konsuls in Täbris zu gewinnen, denn in Täbris, nicht in Teheran, befindet sich die Zentrale für alle russische und englische Spionage in Persien. Dann setzt ihr euch von Zeit zu Zeit zusammen und wißt über alles Bescheid, soweit Menschen das vermögen.«

»Was wissen Sie von Sureja und mir?« fragte der Fürst erstaunt.

Der Priester lächelte. »Ich weiß gar nichts, Hakob, aber ich kombiniere einiges. Ist das so verwunderlich nach den letzten Wochen?«

Jetzt hielt es der Fürst für das beste, Vater Gregor genauer in seine Pläne einzuweihen. Er hatte sowieso mit Sureja ausgemacht, wenn der Streich gegen Scharef gelang, den alten Priester ins Vertrauen zu ziehen. Er besaß unter den Armeniern das größte Ansehen, und sein Wort galt mehr als das irgendeines anderen, weil ja sein ganzes Leben vor aller Augen als ein einziges Opfer für die Sache seines Volkes offen dalag. Wenn Vater Gregor die Pläne billigte, war ein weiterer, wichtiger Schritt zu ihrer Verwirklichung vorwärts getan.

Stumm, ohne eine Miene zu verziehen, hörte der alte Priester sich an, was der Fürst ihm mitzuteilen und auseinanderzusetzen hatte. Es war für ihn nicht so neu, wie Hakob Akunian immer noch annahm. Schon lange arbeitete er darauf hin, zunächst persische Armenier und Bergkurden irgendwie zusammenzubringen. Erst wenn das gelang, konnte man von hier aus auf die Kurden und Armenier in der Türkei in derselben Richtung Einfluß gewinnen. Nur fand er bei dem alten Haß, der keiner Vernunft zugänglich war, und bei dem abgrundtiefen Mißtrauen gegeneinander keinen gangbaren Weg zu einer Verständigung. Auch er richtete bei seinen Gedanken auf ein solches Ziel seine Augen immer zuerst nach Maku, wo die Armenier unter der klugen Führung des jetzigen Fürsten am wenigsten zu leiden hatten. Nur von Maku konnte eine solche Verständigung ihren Ausgang nehmen. Schon lange beobachtete er mit großer Aufmerksamkeit den Verkehr zwischen Hakob Akunian und Sureja von Maku, der über das rein Geschäftliche hinausging. Zu einfachen Besprechungen trifft man sich nicht zu so ungewöhnlichen Stunden. Derlei wurde auch sonst am Tag abgemacht. Bankkunden verwenden dazu für gewöhnlich keine Nachtstunden. Auch kommen sie zu solchem Zwecke einander offen und ungeniert ins Haus, wie es auch andere Mohammedaner taten, die geschäftlich mit dem Fürsten zu tun hatten. Gerade sie vermieden mit Rücksicht auf das Mißtrauen der Perser jede Heimlichkeit einem Christen gegenüber. Bei dem Zug gegen Scharef war dem Priester seine Vermutung vollends zur Gewißheit geworden. Ganz so programmäßig hätte sich das nicht abwickeln lassen ohne die Hilfe kurdischer Kundschafter. Auch für die besten armenischen Kundschafter wäre es unmöglich gewesen, sich so genau zu informieren. Zuverlässige kurdische Kundschafter aber gab es nur für einen Kurden, nicht für einen Armenier. Wer sollte dafür gesorgt haben, wenn nicht Sureja von Maku?

Wiederholt hielt der Fürst in seinen Auseinandersetzungen ein und wartete auf eine Bemerkung des Priesters. Dieser aber sagte immer nur: »Laß dich nicht stören, Hakob, fahre fort, ich höre gut zu.«

Als der Fürst geendet hatte, schwieg der Priester immer noch. Erst nach einer ganzen Weile meinte er: »Wenn es überhaupt jemals zu einer Verständigung kommt, dann halte auch ich den Weg, den ihr zu gehen versucht, für den einzig möglichen. Nur darf am Ende des Weges kein gemeinsamer Aufstand gegen die Türkei stehen, denn ihm werden auch Kurden und Armenier zusammen auf längere Zeit nicht gewachsen sein. Die Türkei ist unter allen Umständen stärker als wir und findet deshalb sofort Freunde. Der Schwächere hat immer nur Feinde. Europa wird nie zulassen, daß wir die Türkei ernstlich in Gefahr bringen, dies Recht haben sich Rußland und England vorbehalten und werden es niemals aus der Hand geben. Ich hoffe, ihr wißt das?«

Der Fürst nickte.

»Sollte die Verständigung wirklich gelingen, liegt hier die Hauptschwierigkeit. Sowie Europa etwas davon merkt, wird bald Rußland, bald England alle Anstrengungen machen, euch unter tausend Versprechungen immer wieder zu locken und aufzustacheln, in der Türkei zu putschen, Revolten, Revolutionen zu machen, um euch dann samt der Türkei zu verderben, denn letzten Endes steht ja doch Europa gegen Asien. In unserem eigenen Interesse dürfen wir die Türkei nicht schwächen, denn wir gehören auch zu Asien, nicht zu Europa. Wir dürfen nur uns selbst durch Verständigung stärken, daß die Türkei mit uns rechnen muß.« Wieder seufzte Vater Gregor. »Dann käme der Augenblick, der Türkei klar zu machen, daß wir wie sie zu Asien stehen und ihr brauchbare Helfer gegen Rußland und England sein können, wenn die letzten Trümpfe ausgespielt werden. Ob sich darüber Armenier, Kurden und Türken einmal werden verständigen können, Hakob?« Der alte Priester fuhr mit einer weiten resignierten Bewegung durch die Luft.

»Das sind nicht mehr unsere Sorgen, Vater Gregor. Darüber mögen unsere Kinder und Enkel sich sorgen.«

»Du hast recht, Hakob. Aber es ist gut, sich jetzt schon danach zu richten, damit Kinder und Enkel einst für das Ihre sorgen können. Man muß auch an die Zukunft denken, wenn man sie nicht schon durch die Gegenwart verpfuschen will.«

Der Fürst drückte dem alten Priester die Hand. »Wir werden immer auf Ihren Rat hören, Vater Gregor, und wir bitten Sie, auch Sureja von Maku zur Seite zu stehen.«

Der Fürst hatte erwartet, der Priester werde seinen Händedruck kräftig erwidern, fortan mit Rat und Tat der Dritte im Bunde sein, sich über den guten Anfang der Verständigung freuen und dem jetzt endlich auch Ausdruck geben. Aber Vater Gregor tat das nicht, sondern blieb nachdenklich und merkwürdig zurückhaltend, was zu seinem sonstigen Temperament und Tatendrang gar nicht paßte.

Der Fürst war enttäuscht und gab dem unverhohlen Ausdruck. Vater Gregor lächelte wehmütig. »Du vergißt, Hakob, daß ich nicht nur Patriot, daß ich auch Priester bin. Was für ein schlechter Priester muß ich sein, daß ihr alle miteinander das immer wieder so leicht vergeßt.«

Der Fürst sah ihn verständnislos an.

»Ich habe da noch einige andere Sorgen, Hakob, die du wahrscheinlich gar nicht verstehst, da du nicht Priester bist.«

»Ich wäre trotzdem dankbar, wenn ich sie erfahren könnte.« Der Fürst lächelte. »Vielleicht kann ich sogar von Nutzen sein, trotzdem ich nicht Priester bin.«

»Ich habe schwache Stunden, Hakob, wo ich es bereue, Priester geworden zu sein. Es bürdet Lasten auf, die ihr nicht zu tragen braucht, und die auch mir manchmal zu schwer werden, so alt ich unter ihnen auch geworden bin.«

Der Fürst schwieg, denn er wußte durchaus nicht, was er dazu sagen sollte.

Vater Gregor richtete sich aus seiner müden, lässigen Haltung auf und straffte den zähen Körper. Alle Muskeln spannten sich wie zu einem Kampf, und er sagte: »Sureja von Maku ist ein böser Mensch, Hakob, so böse durch und durch, daß er es selbst gar nicht weiß. Solange man es noch weiß, ist man ja nicht durch und durch böse. Ich habe außer ihm noch nie einen Menschen gesehen, der nur böse ist. Gott allein weiß, was er vor seiner Geburt war, daß ich in diesem Leben gar nichts Gutes an ihm finden kann, Hakob. Wir alle sind ein Gemisch von Gutem und Bösem. Nur bei ihm finde ich nichts von solcher Mischung.«

»Aber Vater Gregor!« unterbrach der Fürst betroffen.

»Ich sehe, du bist erschrocken. Ich erschrecke immer von neuem, wenn ich ihn betrachte. Ich fasse es nicht, wie ein Mensch so durch und durch böse sein kann.«

»Ihr irrt Euch, Vater Gregor!«

»Ich glaube nicht, daß ich mich irre.«

»Er ist Mohammedaner. Nicht einmal ein guter, wie ich zugebe.«

»Ich dachte mir, daß du das einwenden wirst. Weil ich Priester bin, meinst du, ich verstehe ihn nicht. Ich denke jetzt nicht an Religionen. Judas war ein Christ und doch ein böser Mensch, und Mohammed war kein so schlechter Christ wie Judas, denn er war nicht von Grund aus böse. Im Gegenteil. Sureja von Maku aber ist es.«

»Und Sie meinen, man darf einen guten Plan nicht mit einem bösen Menschen ausführen, ohne daß er schlecht dabei wird?«

Der Priester wiegte den Kopf nachdenklich hin und her. »Wenn es so einfach wäre, Hakob, hätte ich keine Sorgen. Dann riete ich einfach ab und bekämpfte euren Plan. Aber die Wahrheit ist nicht so einfach, wie der Verstand sie haben will. Wäre die Wahrheit so leicht zu erkennen, wie der Verstand sich einbildet, weil er selbst so einfach ist, gäbe es überhaupt keinen Irrtum.« Der Priester rang die Hände. »Kein Tier, kein Strauch, kein Stein ist böse, denn sie haben keinen Verstand. Nur er unterscheidet zwischen Gut und Böse. Durch den Verstand ist die Natur über sich selbst hinausgewachsen und windet sich seitdem im Menschen zwischen Himmel und Hölle, sich selbst und uns zum Verhängnis oder zum Heil. Aber wo nur der Verstand herrscht, ist nur noch Verhängnis und kein Heil mehr.«

Der Fürst lächelte ein wenig spöttisch. »Dann wäre es um Europa übel bestellt, Vater Gregor.«

Der Priester nickte und sagte: »Das ist es auch, denn sie besitzen längst keine Weisheit mehr, sondern nur noch Technik. Ihr Verstand ist sehr stolz darauf, aber die Menschen selbst werden dabei nur elender.«

Nun lächelte Vater Gregor und wies lächelnd in den Hof. »Glaubst du, daß auch nur irgendein Tier in Europa so viel Stunden des Wohlseins kennt wie hier auf deinem Hof jeder Esel? Oder gar irgendein Diener, wenn er statt hier etwa in Paris dienen müßte?«

Der Fürst schüttelte den Kopf.

»Die Weisheit ist wie die Sonne. Solange die Welt steht, geht sie im Osten auf, nicht im Westen. Kannst du dir vorstellen, daß Buddha, Mohammed, Moses oder gar Christus in London das Licht der Welt erblickt hätten? Oder daß ein neuer Heiliger in einer solchen Stadt geboren werde?«

Der Fürst lachte laut: »Das kann ich wirklich nicht, Vater Gregor.«

»Siehst du. Und doch gibt es schon Asiaten, die sich einbilden und uns einreden möchten, vom Verstand und von der Technik Europas käme auch uns das Heil.«

»Entschuldigt, aber ich verstehe nicht recht, was das mit Sureja von Maku zu tun hat?«

»Das wirst du gleich verstehen, Hakob, denn du kennst ja auch Europa. Wo leuchtet die Sonne am hellsten, wo sind die Nächte am schwärzesten, wo ist der Gegensatz zwischen Licht und Finsternis am schroffsten, wo geht das eine so unvermittelt in das andere über wie in Asien?«

Der Fürst sagte neckend: »Wenn ich Sie recht verstehe, Vater Gregor, so sind Sie nicht sehr für Dämmerung und gemäßigtes Klima, wie man das nennt.«

»Ganz recht, Hakob. In Europa gibt es keine Menschen, die so böse sind wie in Asien. Aber auch keine, die so gut sind. Es ist eine mittlere Mischung, gemäßigt wie ihr Klima. Sie fühlen sich, wie es scheint, ganz wohl dabei, aber es kommt nichts Großes dabei heraus. Weder im Guten noch im Bösen. Bei deinem Plan nun ist meine Sorge: Ist er so gut, so lauter, so licht wie die Sonne, daß er einen so bösen Menschen wie Sureja verträgt oder vielleicht sogar nötig hat, um in dieser Welt der Mischungen aus Gut und Böse überhaupt Wirklichkeit werden zu können, oder nicht? Jetzt verstehst du hoffentlich meine Sorgen?«

Der Fürst drückte dem Priester die Hand: »Jetzt verstehe ich Euch, Vater Gregor. Ich glaube, der Plan ist so gut, daß er den Prinzen von Maku zu seiner Verwirklichung nicht nur verträgt, sondern nötig hat. So lauter und rein ist er.«


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