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Siebentes Kapitel

Die Nacht, die sonst Kühlung bringt, war schwül, schwarz und schwer. Kein Mond, kein Stern, nicht der Hauch eines Windes. Kein Blatt regte sich, kein Tier, kein Diener. Alles hing an seinem Zweig und lag an seinem Ort wie betäubt von schwerer, schwüler Dunkelheit. Kein Ast bewegte sich, kein Glied regte sich. Nur schwere Düfte wanderten ruhelos durch die Finsternis, die bewegungslos auf der Stadt lag wie eine brütende Henne. Allah allein weiß, was aus dem Ei kriechen wird.

Die schweren Düfte schlichen sich durch verschlossene Türen, stiegen über die höchsten Mauern, bedeckten den Boden, hoben sich zur Decke und drangen überall hin, wo weder Ohr noch Auge hingelangen kann. Das ermüdete Ohr ist taub, die ermatteten Augen schließen sich, alle Sinne wollen schlafen, verlöschen bis zum nächsten Tag. Da naht geräuschlos auf tausend unsichtbaren Füßen ein süßlicher Duft von mürbem Fleisch. Auch nur das Augenlid zu heben, wäre eine zu große Anstrengung. Neben dem Duft nach mürbem Fleisch schwebt wie auf Fledermausflügeln ein brandiger Geruch, als würde vielen Pferden, vielen Eseln oder einer Schafherde das Zeichen ihres Besitzers aufgebrannt. Die Augen bleiben geschlossen, aber die Nasenflügel öffnen sich und ziehen leise erbebend den Duft von mürbem Fleisch und den brandigen Geruch ein, der naht auf tausend unsichtbaren Flügeln, schwebt wie auf Fledermausflügeln, und dazwischen windet sich wie ein Wurm der Duft von saurem Essig. Das kitzelt und beißt und brennt die Nase so lange, bis das Ohr wieder wach wird und das Auge weit offen in die Finsternis starrt. An Schlaf ist für diese Nacht nicht mehr zu denken.

Die Muskeln spannen die Ohrmuschel wie eine Trommel. Dunkel rollt wie ferner Donner das Geräusch schwerer dumpfer Schläge auf das angespannte Ohr. Nun trifft es ein langgezogener, gellender Schrei, unmenschlich und doch aus einer menschlichen Kehle. Die weit aufgerissenen Augen erblicken in der schwülen, schwarzen Finsternis düsterrote Feuerflammen, als kämen sie aus der Hölle.

Die Perser ächzen, werfen sich auf die Seite, wenigstens das eine Ohr wieder taub zu machen, pressen die Augen zu, um das Feuer nicht mehr zu sehen, aber der Geruch von mürbem Fleisch, verbranntem Haar und saurem Essig geht nicht aus der Nase und hält auch alle anderen Sinne wach. Wenn es doch erst Tag wäre.

Acht Nächte geht es so, die schwül, schwarz und schwer bleiben. Die Gerüche werden immer schärfer, der dumpfen Schläge werden immer mehr, und gellende Schreie brechen bald von allen Seiten durch die Dunkelheit wie wilde Tiere.

Schon nach der zweiten Nacht, kaum ist die Sonne ihrer Herr geworden, trifft man auf den Straßen Trupps von Weibern, in deren Mitte ein Toter getragen wird. Nach jeder Nacht gibt es mehr solcher Weibertrupps mit Toten in ihrer Mitte. Sie schreien, sie singen, sie raufen sich die Haare, schlagen die Brust, und dann stimmen sie wieder Jubellieder an.

Kaum hat die Nacht den dritten Tag verschluckt – kein Mond, kein Stern, nicht der Hauch eines Windes – ächzen die Perser schwerer, werfen sich hastiger herum, pressen die Augen zu, aber nun hilft es schon gar nichts mehr. Dieser furchtbare Geruch sitzt ihnen in allen Poren, die ganze Luft ist wie erfüllt von dumpfen Schlägen, gellenden Schreien, und wohin man auch in die schwarze Finsternis starrt, überall brechen düstere rote Flammen auf. Der Mund füllt sich mit Speichel. Kaum hat man ihn heruntergeschluckt, ist er schon wieder da; und man muß ihn sofort schlucken, sonst überschwemmt er den Mund, tritt vor die Lippen und schäumt. Wie bei einem Wahnsinnigen.

Plötzlich aber schreit in diesem oder in jenem Haus einer wild auf, heult, Schaum tritt ihm vor den Mund, und er rennt fort. Seine Mutter erhebt sich, oder wenn sie nicht mehr lebt, sein Weib, oder wenn er noch zu jung ist, seine Schwester, und rennt ihm nach durch die Gassen. Sie hat auf diesen Augenblick gewartet. Vielleicht unter großer Angst, mit tausend Schmerzen, wenn ihre Frömmigkeit nicht stärker ist als alle Angst. Vielleicht mit Ungeduld, weil Allah sein Herz immer noch nicht kräftig genug berührt hat. Vielleicht sogar mit Scham, daß ihr Mann, ihr Sohn, ihr Bruder, solcher Gnade nicht gewürdigt wird. –

Sureja spielt mit Natascha Schach. Sie spielt recht gut, auch ohne Brett. Einmal hat er sogar eine Partie blind mit ihr gespielt, ohne seine Züge laut anzusagen. Er hat jeden Zug nur zum Greifen klar gedacht und deutlich vor sich auf dem imaginären Schachbrett gesehen. Zuweilen folgt Nataschas Gegenzug sehr schnell. Zögert sie und blickt ihn angstvoll an, denkt er den Zug so eindringlich, fast laut, und erblickt seine Hand, wie sie den Zug ausführt, so daß Natascha doch noch den Gegenzug findet. Heute aber ist nichts mit ihr anzufangen. Sie ist zerstreut, verwirrt, nervös, unruhig, unbrauchbar. Man kann nur auf dem Brett mit ihr spielen.

Es ist in der sechsten von den acht Nächten, die so schwül, schwarz und schwer sind, in denen es immer eindringlicher nach mürbem Fleisch, nach Brand und Essig riecht. Natürlich nicht hier im Ändärum eines Prinzen, aber er hat ihr ein Schlafzimmer dicht an der östlichen Mauer des Hauses unmittelbar unter dem Dach mit einem vergitterten Fenster, das nach den Schießscharten auf dem Dach offen ist, angewiesen. Da kommen die Gerüche, die dumpfen Schläge und gellenden Schreie bis zu ihr. Ob das ihr Empfindungsvermögen so alarmiert, daß sie ganz verwirrt ist? Oder steckt noch etwas anderes dahinter?

Nataschas Augen werden gläsern, ihre Nüstern ziehen ängstlich wie unter einem inneren Zwang die Luft ein, und über ihre Haut kriecht ein Zittern vom Kopf bis zu den Füßen. Dann zittert die Haut plötzlich nur unter den weit aufgerissenen Augen oder am Hals, auf der Hand, auf dem Fußrücken. Sie zittert, wie Sureja deutlich sieht, im Kreis von einem Nervenmittelpunkt aus. Wie wenn man bald hier, bald dort einen kleinen Stein in einen stillen See wirft. Merkwürdig beweglich wird auf einmal die Haut. Wie bei einer arabischen Stute, die auf solche Weise Fliegen abwehrt, wenn sie sich ihr auf den Hals, in den Nacken, auf den Leib oder die Kruppe setzen wollen.

»Behagt dir in diesen Nächten das neue Schlafzimmer nicht?« fragt der Prinz.

Natascha schlägt die Hände vor das Gesicht.

»Soll ich dir die alte Bibi-Dschanem ins Zimmer geben? Sie kennt diese Nächte und hat keinen Mann, keinen Sohn, keinen Bruder, um den sie fürchten muß.« Sureja lacht. »Nicht einmal einen Liebhaber, denke ich'. Für wen fürchtest du, Natascha?«

Sie gibt das Gesicht wieder frei. Es würgt ihr in der Kehle, sie preßt die Lippen zusammen. Da sie nicht gehorchen wollen, greift sie die Lippen mit den Zähnen so fest und hart, daß ein Tropfen Blut sie noch röter färbt. Sonst könnte sie den Schrei nicht zurückhalten, den Schrei, der durch diese Nächte gellt, der so unmenschlich ist und doch aus menschlichen Kehlen kommt.

Sureja erhebt sich und entblößt mit einem raschen Griff ihren Rücken. Über ihn zieht sich von rechts nach links ein breiter roter Streifen. Wie von einer Geißel. Aber er weiß genau, daß niemand sie schlägt. Keiner würde es wagen. Nicht einmal Bibi-Dschanem. Alle wissen, daß Natascha ihm besonders wertvoll ist. Die kleine Perwareh, der wilde Schmetterling, könnte aus Eifersucht wohl einmal die Nägel an ihr probieren, das ungebärdige Kurdenmädchen aus den Bergen. Aber hier ist ein schwerer Geißelhieb, ausgeführt von einer dicken, geflochtenen Schnur, wie sie gar mancher Fromme in diesen Nächten an einem kurzen Stiel über dem Kopf schwingt und quer über den Rücken klatschen läßt. Hassan und Hussein zu Ehren, den Kindern Alis, den heiligen Nachfolgern Mohammeds, mit ihnen sei Frieden, die in der Schlacht ihr Leben lassen mußten, der Hauptheiligen aller frommen Schiiten.

Nirgends befindet sich in seinem Haus eine solche Geißel und in Nataschas neuem Schlafzimmer schon gar nicht. Doktor Durvilles Lehren werden ihm immer wertvoller. Wenn sich sensible französische Nonnen allzu eifrig in das Leiden und Sterben ihres Häzrät Isa versenken, erscheinen seine Wundmale auf ihren Leibern. Die europäische Wissenschaft nennt das Hysterie, ein dunkles Wort für eine Sache, die sie nicht erklären kann. Ein kostbares Instrument, diese Natascha.

Er setzte sich wieder nieder und wiederholte seine Frage: »Für wen fürchtest du, Natascha?«

Da stürzt sie vor ihm auf den Teppich, küßt seine Hände, überströmt sie mit Tränen und stammelt: »Für dich, Herr.«

»Ich dachte gar nicht, daß eine Mohammedanerin aus dem Kaukasus, eine Mohammedanerin mit russischem Namen so fromm sein könnte.«

»Für dich, Herr!«

»Du brauchst nichts zu fürchten, Natascha. Das ist etwas für Brotbäcker, Schmiede, Bettler, Bauern, Derwische und Frauen. Oder glaubst du, daß der Gouverneur mitfeiert oder sonst ein Großer der Stadt? Und ich bin Kurde!« Er hob ihr das Kinn und sah in ihre Augen. Für einen Augenblick ruhte ihr Kopf in seiner Hand. Grenzenlose Hingabe und süßer Friede breiteten sich über ihr Gesicht. Sie fühlte sich geborgen wie der Vogel im Nest.

Sureja beugte sich über ihren Rücken. Der Geißelhieb verlor allmählich an Röte und verblaßte langsam.

Die achte und letzte dieser Nächte brütete über der Stadt. Allah allein weiß, was aus dem Ei kriechen wird. Es ist kein Schutz und keine Macht außer bei Gott, dem Erhabenen, dem Erlauchten!

Auch Sureja verließ das Haus. Zu Fuß. Seine Gänge vertrugen zuweilen nicht das Schnauben seines Jussuf und den harten Schritt des schweren Hengstes. Ihm war gerade in dunkler Nacht ein solcher Ausgang nichts Ungewohntes. Er verirrte sich nicht und hatte längst gelernt, sich schlimmstenfalls immer wieder an dem Bach zu orientieren, der die Stadt durchquerte.

So begab er sich zunächst nach dem Christenviertel. Ihn beunruhigte der Umstand, daß er seit über zwei Wochen keinerlei Nachricht über Hakob Akunian und den Ausgang seiner Expedition gegen Scharef erhalten hatte, viel mehr als der schiitische Brodem dieser Nächte.

Im Christenviertel hörte man kaum noch etwas von dumpfen Schlägen und gellenden Schreien; und man mußte schon genau wissen, was in der Stadt vorging, um auch nur noch eine Spur von dem Dunst dieser Nächte zu riechen, der wie aus den Höhlen wilder Tiere kam. Aber die Christen schliefen auch nicht wie sonst in so heißen Nächten auf den Dächern. Surejas feines Gehör hätte es bemerkt. Ein Kind weint, ein Mann wirft sich seufzend herum, eine Frau murmelt im Schlaf. Nichts dergleichen. Eine Stille überall, so undurchdringlich wie die Finsternis. In diesen Tagen verließ kein Christ sein Haus, um die Mohammedaner nicht zu reizen. Sogar die Wohltat, auf den Dächern zu schlafen, versagten sie sich.

Surejas Hand erkannte tastend das Tor zu des Fürsten bewehrtem Haus. Er wollte klopfen, zog die erhobene Faust aber wieder zurück. Es war unwahrscheinlich, daß man hier mehr wußte als er. Die erste Probe auf den gemeinsamen Plan wurde jetzt gemacht.

Seufzend wandte er sich wieder ab und lauschte in die Nacht. Nichts rührte sich. Auf einem Friedhof ging es lebendiger zu als hier.

Sureja wandte sich zurück in der Richtung, wo die Nacht nach wilden Tieren roch. Er brauchte nur seiner Nase zu folgen. Sie führte ihn sicher zu der Finsternis, die von Geschrei und Schlägen bebte und erfüllt war mit dem Geruch von mürbem Fleisch, versengter Haut und Essig. Bald hier, bald dort stach ein schmaler, blutroter Feuerschein spitz in die Luft und schnellte wieder zurück wie eine glühende Zunge in den schwarzen Rachen eines giftigen Drachen.

Der Prinz reckte sich, die Augen spähten scharf in die Finsternis, die Ohren nahmen willig jeden Schrei auf und jeden Schlag, der dumpf durch die Finsternis dröhnte, die Nase schnupperte nach allen Seiten und zog tief den Brodem ein. Fast genießerisch, wollüstig. Ganz von ferne erinnerte das alles an manche Feste in dem Kloster in Kurdistan.

Langsam setzte er sich wieder in Bewegung und ging buchstäblich dem Geruch seiner Nase nach. Vor einem offenen Torbogen blieb er einen Augenblick stehen. Schreie, dumpfe Schläge drangen durch einen Gang an sein Ohr, wie in einem Schlauch zusammengepreßt.

Am anderen Ende des Ganges wirbelten Rauchschwaden durcheinander, von Flammen durchzuckt, die knisterten und zischten. Er ging durch den Gang in einen runden Hof, in dessen Mitte gewaltige Holzstöße flammten. Sie umschritten, umtanzten Knaben, Männer, Greise mit nacktem Oberkörper in drei Kreisen. Der innerste der Kreise schritt, tanzte rechts herum, der zweite links-, der dritte wieder rechts herum. Der äußerste Kreis schwang Geißeln und schlug sich mit ihnen den Rücken blutig. Der zweite Kreis schwang klirrende Ketten, mit denen er sich bearbeitete, der dritte, der dem Feuer am nächsten war, schlug sich Brust und Arme mit Eisenstäben, die immer wieder neu im Feuer erhitzt wurden. Jeder Kreis schrie, heulte, brüllte in einer anderen Tonart die Namen der Heiligen: »Ei Häsän, ah Husein, ei Häsän, ah Husein!« Bald schneller, bald langsamer, bald schrill in der Fistel, bald tief aus der röchelnden Brust hervor. Hochauf loderte eine Flamme und beleuchtete grell einen schäumenden Mund, verglaste Augen, die nur noch das Weiße sehen ließen, eine schweißglänzende Brust, über die Blut rieselte und gerann. Die Flamme sank in sich zusammen,, eine andere loderte auf und beleuchtete einen anderen Mund, eine andere Brust, junge, alte, welke, kraftstrotzende, hagere, in denen das glühende Herz nur noch durch das Gitter der Rippen vor Schlag und Stoß und Brand geschützt war, fette, denen das Fleisch auf den Rippen erst mürbe geklopft und gebrannt werden mußte. »Ei Häsän! Ah Husein!« An der Hofmauer selbst aber saßen, tief im Schlund der Finsternis, die Mütter, Frauen und Schwestern im Kreis, klatschten in die Hände und klagten: »Ei Häsän! Ah Husein!«

Eine erhöhte Galerie lief um den Hof. Da hockten die entfernteren männlichen Verwandten und durch ein Gitter von ihnen getrennt die Tanten und Basen. Hier ließ sich auch Sureja nieder.

Ein gellender, Mark und Bein erschütternder Schrei durchschnitt die Nacht. In dem Kreis, der dem Feuer am nächsten war, eine Lücke. Einer wälzte sich am Boden oder brach zusammen wie von einer Axt gefällt. Die Weiber, die ihm am nächsten hockten, sprangen schreiend herbei und zogen ihn aus dem Kreis zu sich in den Schlund der Finsternis, wo sie ihn mit Essig besprengten. Schon war einer aus dem zweiten Kreis in die Lücke getreten, schleuderte die Kette klirrend von sich und griff zu einem Eisenstab, der im Feuer glühte. Aus dem dritten Kreis aber warf einer die Geißel hinter sich, griff die klirrende Kette auf und sprang in die Lücke des zweiten Kreises. Kam keiner von der Galerie, um die Geißel zu ergreifen und in den dritten Kreis zu treten, blieb die aufreizende, drohende, lockende Lücke. »Ei Häsän! Ah Husein! Ei Häsän! Ah Husein!«

Aus der Finsternis gellte ein Weiberschrei. Der Zusammengebrochene war tot, sein Herz stand still. Ihm half kein Essig mehr, soviel auch an ihn verschwendet wurde. Er war im Paradies. Wer in der Schlacht fällt oder Hassan und Husein zu Ehren, ist ein in Gnaden Aufgenommener, im höchsten Himmel, ihn brennt kein Fegefeuer und keine Hölle. Seine Mutter, sein Weib, seine Schwester schreit in der Finsternis nach dem Toten, sie rauft sich die Haare, schlägt sich die Brüste, zerreißt die Burqä, aber die Tanten und Basen auf der Galerie hinter dem Gitter preisen den Toten und danken Ali für seine Gnade und Güte. Wilder geht der Reigen in den drei Kreisen um die flammenden Holzstöße, lauter klatschen die Geißeln auf den Rücken, heftiger klirren die Ketten, Eisenstäbe glühen und zischen, Schweiß und Blut fließt in Strömen. »Ei Häsän! Ah! Husein!«

Wohl in fünfzig Höfen dieser Stadt geht es so wie hier. In Tausenden von Höfen in ganz Iran, soweit Schiiten es bewohnen. Acht Nächte lang Häsän und Husein zum Gedächtnis. Wahrlich, sie lassen es sich saurer werden als die Christen zum Gedächtnis ihres Häzrät Isa. Und dieses Talent zur Ekstase, das nur noch in Asien geübt und gepflegt wird! Ist sie letzten Endes nicht doch eine größere Macht als alle europäische Technik, die kaum nach Jahrhunderten zählt?

Erst als es Tag wurde, verließ Sureja den Hof. Aus den Bergen hatte sich ein starker Wind aufgemacht und fegte über die weite Ebene, als wolle er den Brodem der acht Nächte möglichst schnell zu Allah in den Himmel blasen. Ob es ihm wirklich ein Wohlgeruch war?

Der Torhüter flüsterte ihm ein Wort zu, das seinen Schritt beschleunigte. Eine ehrliche Freude auf dem sonst so verschlossenen Gesicht, trat er mit ausgestreckten Händen in das Herrenzimmer, ließ sie aber sofort wieder sinken. Hakob Akunian war bleich wie ein Gespenst, schwer erhob er sich aus dem Sessel, die linke Hand war verbunden und hing in einer Schlinge, auch um die Stirn war eine Binde geknüpft.

»Die Hauptsache ist, daß Sie lebendig wieder vor mir stehen, Durchlaucht. Ein wenig angeschossen, wie es scheint.«

Der Fürst schüttelte dem Prinzen die Hand. Die Freude auf dem sonst so verschlossenen Gesicht hatte ihm wohlgetan.

»Kommen Sie direkt aus den Bergen?«

Der Fürst nickte.

»Bitte, strecken Sie sich aus, machen Sie es sich bequem. Ich kann mir denken, daß Sie stark mitgenommen sind. Man sieht es Ihnen ja auch deutlich an. Haben Sie Wundfieber?«

»Nicht der Rede wert.«

»Darf ich uns Tee bringen lassen, kalten oder heißen? Etwas zu essen? Ein Glas Champagner? Bitte, verfügen Sie über mich und mein Haus.«

»Erlauben Sie, daß ich mich ein wenig niederlege. Ein Glas heißen Tees wäre mir angenehm, wenn es Ihnen keine Mühe macht. Auch irgendeine Kleinigkeit zu essen. Ich bin die ganze Nacht durchgaloppiert. Selbst mein armer Husein ist von den Strapazen dieser Wochen mager geworden; und in dieser Nacht habe ich ihm auch noch den Rücken wundgeritten. Diese verdammten europäischen Sättel. Lange hätte er nicht mehr mitgemacht.«

Sureja klatschte in die Hände und gab seine Befehle. »Haben Sie den Hengst bei mir untergebracht?«

Der Fürst nickte, und Sureja schickte nach seinem Stallmeister und dem besten Pferdewärter. Der Fürst wollte sprechen, aber der Prinz bat ihn, sich erst ein wenig zu stärken.

Das Gesicht des Prinzen zeigte einen so offenen und warmen Ausdruck, daß Hakob Akunian ihm nochmals die Hand reichte. Zwischen einem Armenier und einem Kurden schien trotz allem eine echte Männerfreundschaft möglich zu sein.

Bibi-Dschanem brachte selbst Tee, Brot, Fleisch und Obst. Beide griffen zu, denn auch der Prinz hatte Hunger.

»Liegen Sie bequem, Durchlaucht, oder haben Sie Schmerzen?«

»Ich danke bestens, Hoheit, ich liege gut.«

»Sind Sie mit Scharef fertig geworden? Was ist mit ihm?«

»Tot.«

»Und seine Leute?«

»Kaum einer ist entkommen.«

»Noch besser!«

»Und Ihre Leute?«

»Meist auch tot.«

Der Prinz war erstaunt. »Das verstehe ich nicht, wenn Sie meine Ratschläge befolgt haben. Das müssen Sie mir ein wenig erklären.«

Hakob Akunian verzog grimmig das Gesicht. »Nicht alle Ratschläge lassen sich befolgen. Man will es, aber es geht dann doch nicht.«

»Vielleicht erzählen Sie jetzt, wenn es Sie nicht zu sehr anstrengt?«

»Das Erzählen ist nicht so anstrengend wie das Erleben«, meinte der Fürst mit verhaltenem Grimm in der Stimme und erzählte.

Alles ging nach Wunsch, noch besser, als zu hoffen war. Die Kundschafter hatten zuverlässige Arbeit getan. Auch von hier kam man in der Nacht ungesehen fort. In kleinen Trupps. Immer ein Reiter und vier Mann. Genau nach dem Programm. Sechzig Mann zu Pferd und zweihundertvierzig zu Fuß. Nach fünf Tagen fand man sich bei dem zerfallenen Kloster Derik wieder zusammen. Kein Mann fehlte, alles wohl und munter. Auch die Pferde. Drei Tage und drei Nächte schlich man sich durch die Berge immer tiefer hinein in türkisches Gebiet. Dann blieben die Reiter zurück, damit die Pferde nicht laut wurden, wenn sie fremde Pferde witterten. Das Fußvolk kroch langsam weiter vor, denn die Kundschafter sagten, daß Scharef nur noch drei Parasangen von hier halt gemacht und sein Lager für die Nacht aufgeschlagen hatte. In einem engen Tal. Einen kleinen, tiefen, reißenden Fluß im Rücken. Es war nicht schwer, in der Nacht die umliegenden Höhen zu besetzen.

»Die aufgehende Sonne im Rücken«, sagte Sureja befriedigt.

Hakob Akunian nickte.

Als die Sonne aufging, zerstreute sie leicht und lautlos die dünnen Nebelschwaden aus dem Tal, so daß das Lager hell und klar in allen Einzelheiten deutlich in friedlichem Schlaf dem Gegner zu Füßen lag. Wachen hatte Scharef überhaupt nicht ausgestellt, so sicher und sorglos war er. Wer sollte ihm und seinen Hamidiekurden hier auf türkischem Gebiet auch gefährlich sein.

»Zählten Sie die Zelte?« warf Sureja ein.

»Hundert«, erwiderte Hakob Akunian.

Der Kurde pfiff durch die Zähne. »Also etwa tausend Mann gegen dreihundert.«

»Die Sonne lachte, das Tal lachte, der kleine reißende Fluß hüpfte und sprang vor Lust, und die Feinde schliefen. In der Mitte das schwarze Zelt Scharefs. Um diesen Mittelpunkt dicht aneinandergedrängt wie eine eingepflockte Herde die anderen Zelte, weiß, grau, gefleckt, geflickt, wenig sauber, aber zäh und dickhäutig wie alte Hammel.«

»Warum stocken Sie, weshalb zögern Sie?« fragte der Prinz.

»Ich winkte Vater Gregor und noch ein paar andere näher zu mir heran; und eine ganze Weile blickten wir in das sonnige, lachende Tal mit dem hüpfenden, silbernen Fluß im Rücken. Ich hob den Arm zu dem verabredeten Befehl ...«

»Und das Scheibenschießen hat endlich begonnen!« fiel der Prinz ungeduldig ein, »Sie waren doch nicht beisammen, um von der Schönheit eines Sommermorgens in den Bergen zu schwärmen, oder doch?«

Der Fürst biß sich auf die Lippen. »Wir brachten es nicht über uns, sie im Schlafe zu ermorden.«

Mit einem Fluch fuhr der Prinz in die Höhe. »Tausend gegen dreihundert!«

»Regen Sie sich nicht auf, Hoheit. Es läßt sich nichts mehr daran ändern. Wenn ich an die Folgen denke, weiß ich zuweilen wahrhaftig nicht, ob ich nicht doch lieber Ihrem Rat hätte folgen sollen.«

»Das mußten Sie! Unbedingt hätten Sie ihn befolgen müssen! Dreihundert gegen tausend!«

»Trotzdem ging es nicht. Auch Vater Gregor und die anderen teilten meine Ansicht. Es wäre eine Feigheit gewesen.«

»Seit wann nennen Sie Klugheit Feigheit?« warf der Prinz erbittert ein.

Man weckte Scharef und die Seinen durch ein paar Flintenschüsse aus dem Schlaf. Große Verwirrung im Lager. Als sie hinreichend wach zu sein schienen, begann das Scharfschießen. Der Gegner hatte die Sonne im Gesicht. Die Verluste der Armenier waren zuerst ganz gering. Immerhin, es waren tausend gegen dreihundert. Scharef selbst war noch in seinem Zelt gefallen. Das half und verwirrte den Gegner weiter. Aber tausend Kugeln sind nun einmal mehr als dreihundert und machen zwischen den Bergen einen Heidenspektakel. Wer von den Armeniern so unglücklich getroffen war, daß er sich nicht mehr frei bewegen konnte, wurde zu den Reitern geschafft, die inzwischen auch näher gekommen waren, und zu ihnen in den Sattel gehoben. Die Hamidiekurden versuchten immer wieder, die Höhen zu stürmen, waren aber zumeist schon in halber Höhe erledigt. Nur einzelne kamen weiter und wurden dann niedergemacht. Nach zwei Stunden liefen und schrien nur noch Pferde ohne Reiter durch das demolierte Lager, aber keine Menschen mehr. Inzwischen hatte aber die gewaltige Schießerei ein paar kleine türkische Bergfestungen alarmiert. Als die Armenier ihre Toten begraben hatten und sich langsam zurückziehen wollten, bekamen sie Flankenfeuer.

»Das kommt von ihrer Tapferkeit«, sagte der Prinz ruhig und ohne merkbare Ironie.

Zwei Tage und zwei Nächte dauerten diese Rückzugsgefechte. Die Türken blieben ihnen auf den Fersen, bekamen immer wieder frischen Zuzug. Erst am dritten Tag kam man von ihnen los.

Der Prinz schüttelte den Kopf. »Weshalb haben Sie nicht einfach Hals über Kopf Reißaus genommen, als Sie die Lage übersahen? Ich verstehe das nicht. Ihre Aufgabe, Scharef zu vernichten, war doch erfüllt. Was gingen Sie die regulären türkischen Truppen an?«

»Wir konnten doch unsere Verwundeten nicht einfach liegen und in die Hände der Türken fallen lassen.«

»Hatten Sie russische Uniformen mit?«

»Leider nicht.«

Der Prinz schüttelte wieder mißbilligend den Kopf.

»Mit den Sterbenden betete Vater Gregor, bis sie ausgelitten hatten.«

»Derweil wehrten Sie die Türken ab?«

Hakob Akunian nickte.

»Also immer wieder großer und gefährlicher Zeitverlust«, sagte Sureja unzufrieden.

»Wir hatten nicht mehr Reiter genug, um alle mitzunehmen.«

Hakob Akunian sank bleich in seine Kissen zurück und schwieg. Der Prinz klatschte in die Hände und befahl eine Flasche Champagner. Stumm reichte er dem Fürsten einen wohlgefüllten Becher, dessen Inhalt er auf einen Zug herunterstürzte.

»Dabei hatten Sie natürlich besonders große Verluste,« meinte der Prinz, »denn ich kann mir nicht denken, daß die Türken Ihren Priester bei seinen Sterbenden ungeschoren ließen, sie sind doch Mohammedaner.«

»Manchem Verwundeten, den wir nicht mitnehmen konnten, stieß Vater Gregor selbst den Dolch ins Herz, nachdem er mit ihm gebetet hatte, damit sie wenigstens nicht lebend in die Hände der Feinde fielen und seinen Martern ausgesetzt waren.«

Der Prinz nickte. »Sehr anständig. ›Heroisch‹ würde man vielleicht in Europa sagen, wenn man gerade mit Ihnen sympathisiert, Durchlaucht. Sonst wird man es unmenschlich grausam finden und besonders entsetzlich, daß sich ein Priester dazu hergab. Ich kann es nur höchst unklug finden, denn es kostete Zeit, die Sie besser verwandt hätten, würden Sie sich vom Feind möglichst schnell gelöst haben.«

»Mit achtzig Mann sind wir schließlich wieder in Derik angekommen, keiner unverwundet. Ein Drittel, vielleicht die Hälfte wird wohl jetzt noch den Wunden erliegen.«

»Da haben Sie's.«

Wieder schwiegen beide längere Zeit. Dann fragte der Prinz: »Wenn ich recht verstanden habe, sind Ihnen die Türken nicht bis zur Grenze gefolgt?«

»Schon vierundzwanzig Stunden früher hatten wir keine Verbindung mehr mit ihnen.«

»Sie sind dessen sicher?«

»Ganz sicher. Auch ihre Verluste waren groß.«

Das erleichterte den Prinzen. »Also können die Türken nicht beweisen, woher Sie gekommen sind. Sie können alles mögliche behaupten, sie können lügen, aber beweisen können sie es nicht. Wenigstens ein Glück in allem Unglück. Und wo befindet sich der Rest Ihrer Leute, der nicht nach Salmas gehört?«

»Wieder in meinen Weingärten.«

»Lange können sie da unmöglich bleiben.«

»Sowie es möglich ist, schicke ich sie bis auf weiteres mit persischen Pässen nach Rußland.«

»Haben Sie genügend persische Pässe?«

»Als ich die russischen Unteroffiziere aus Djulfa holte, habe ich mehr gekauft, als nötig sind. Ich rechnete mit viel geringeren Verlusten.«

»Da Sie nicht so klug waren, wie ich gehofft hatte, wie ich geraten hatte, sind die Spuren des Unternehmens nicht mehr so zu verwischen, wie es wünschenswert wäre. Immerhin, was jetzt noch möglich ist, soll geschehen. Aber sorgen Sie, daß die Leute aus dem Lande kommen. Je schneller, um so besser.« Er lächelte dünn und listig. »Dann kostet die Affäre vielleicht doch schlimmstenfalls nur noch ein tüchtiges Stück Geld, Herr Bankier, und nicht noch mehr Männer, die wir für die Zukunft nötig haben.«

Plötzlich sprang der Prinz auf, trat zu dem Fürsten und drückte ihm energisch die Rechte. »Die Hauptsache ist doch erreicht. Scharef ist vernichtet. Einen heilsamen Schreck wird das geben, und die Hohe Pforte wird schäumen vor Wut. Wäre sie klug, fräße sie ihre Wut und Schande in sich hinein und verdaute sie stumm, so gut es geht, ohne Lärm zu schlagen. Wie es einst die Engländer machten, als mein Vater sie hineingelegt hatte. Aber sie werden nicht so klug sein, die Narren in Stambul, sie werden schreien und alle Aufmerksamkeit auf ihre Blamage lenken. Sie werden natürlich Persien verdächtigen, denn es ist schwach und kann sich nicht wehren. Sie werden von Persien Genugtuung fordern.« Er pfiff durch die Zähne. »Wir werden ja sehen und sind darauf nicht unvorbereitet.«

Über das Gesicht des Prinzen zuckte es heiter. Er wollte von Miryäm anfangen, aber ein Blick auf den Fürsten sagte ihm, daß der Augenblick dafür nicht günstig sei. Also unterließ er es doch lieber. Auch mußte man ja sowieso noch einige Wochen hier aushalten, um die Folgen besser zu übersehen und soweit sie unbequem werden konnten, rechtzeitig abzuwehren.

»Was meinen Sie, wie lange wird es dauern, bis man in Stambul Lärm schlägt?« fragte Hakob Akunian und richtete sich von seinem Lager auf.

»In Wan wird man es nicht sehr eilig haben, wenn man sich erst den Schaden bei Licht besehen hat. Aber Unglücksgerüchte laufen schnell, fabelhaft schnell. Es wird nicht lange dauern, bis man hier davon munkelt. Es wird nicht lange dauern, bis die hohe Pforte einen Bericht vom Wali in Wan fordert. Wenn sich ihre Leute in spätestens acht Tagen aus dem Staub machen, tun sie gut daran. Daß es Armenier waren, sieht man an den Toten, daß es keine türkischen Armenier sind, ist klar, daß es russische Armenier waren, ist unwahrscheinlich, da der Überfall so weit fort von Wan vor sich ging, also bleiben nur die persischen Armenier übrig und die persische Regierung, die für sie verantwortlich ist.«

Sureja lachte. »Die arme persische Regierung. Wer schwach ist, muß jedes Unrecht ausbaden, das irgendwo in der Welt geschieht.«

Sie trennten sich, und auch Sureja suchte sein Lager auf. Er lauschte und nickte befriedigt. Die Stadt regte sich nicht. Alles war schlafen gegangen, nach den Anstrengungen dieser acht Nächte. »Ei Häsän! Oh Husein!«

Hakob Akunian hatte Glück, daß er gerade an diesem Morgen von seinem Zug gegen Scharef zurückgekommen war.


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