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XV.

Friedrich Franz erhob sich von seiner Bank im Stadtgarten und vertrat sich ein wenig die Füße. Er schlenderte durch die Straßen und begegnete überall Deutschen und Bulgaren, die sich nun die Schäden der Nacht ansahen. Da man es sich in der Nacht noch schlimmer vorgestellt hatte, wirkte die Besichtigung auf die meisten etwas beruhigend. Wenn nur nicht die Voraussage auf 11 Uhr gewesen wäre. Die Angestellten der Ministerien, der Banken weigerten sich, ihre Bureaus aufzusuchen, die Arbeit in ganz Sofia stand still. Es war sogar befohlen worden, das »Deutsche Haus« für den Vormittag nicht zu betreten. Nur im bulgarischen Kriegsministerium arbeitete man oder tat wenigstens zur Beruhigung der Bevölkerung so.

Als es allmählich 11 Uhr wurde, hielt wiederum ganz Sofia ängstlich den Atem an, aber es wurde Mittag, es wurde 1 Uhr, und von einem neuen Erdbeben war nichts zu merken. Da verließen einige die Straße und kehrten in ihre Wohnungen zurück. Ihnen folgten immer mehr, zumal sich der Himmel bewölkt hatte und ein leichter Regen zu fallen begann.

Den ganzen Nachmittag über machte man einander Besuche, um sich nach dem Befinden zu erkundigen und mit eigenen Augen zu sehen, wie es den Häusern der Bekannten ergangen war.

Am übelsten sollte es im Ministerski Savet ausschauen, in dem Gebäude, wo der Ministerrat seine Sitzungen abzuhalten pflegte.

»Das ist wirklich äußerst fatal«, sagte der Legationsrat zu einem jüngeren Kollegen. »Die Abergläubischen unter den Leuten werden daraus für uns nicht gerade angenehme Folgerungen ziehen. Es fehlt nur noch, daß die Geistlichen, unter denen uns ja noch mancher, namentlich unter den älteren, nicht gerade geneigt ist, irgendwas von einer Strafe des Himmels raunen und dergleichen, hm, na ja, dann haben wir den Salat.«

»Die Gesandtschaft hat auch ihr Teil abbekommen«, sagte der jüngere Kollege.

»Den Österreichern soll es noch schlechter ergangen sein.«

Der jüngere Kollege lächelte. »Solange nur die Häuser wackeln, das läßt sich reparieren.«

»Guten Tag, Herr von Kaufmann, Sie sehen blaß aus!« rief der Legationsrat.

»Sie sehen auch nicht gerade rosig aus, Herr Graf.«

»Fatal, diese Nacht.«

»Und man weiß nicht, was uns noch weiter bevorsteht. Die Wissenschaft versagt wieder einmal glänzend.«

»Wo haben Sie die Nacht zugebracht?« fragte der jüngere Kollege Herrn von Kaufmann.

»Auf einer Bank im Stadtpark.«

»Also ganz demokratisch«, spöttelte der jüngere Kollege. »Ich bin mit einem Auto vor die Stadt gefahren und habe da ganz erträglich kampiert. Die anderen Herrschaften, denen ebenfalls ein Auto zur Verfügung stand, haben es mir bald nachgemacht. So 'n Auto kann schon 'nen Puff vertragen, ohne aus dem Leim zu gehn.«

» Servus, servus, habe die Ehre!« Ein jüngerer Herr von der österreichischen Gesandtschaft trat zu der Gruppe. »Prr, mich graust's immer noch. I geh ins Kloster.«

»Da wackelt's auch, wenn's sein muß«, meinte Friedrich Franz.

»Wissens denn, was mir passiert is? Da werns schaun! Das Madel wohnt im 5. Stock. I hab grad die fünfte Stiegen hinter mir und tu an Schnaufer un poch ans Entree, da reißt's mi um, daß i am Boden sitz. Das Entree fliegt auf, es tut an Pumper, das Madel sitzt neben mir un schreit un schreit un ruft und rauft sich d' Haar. I flieg die Stiegn nunter, nix wie naus aus dem Haus ... Das is z'viel, i geh ins Kloster!«

Friedrich Franz und der junge Legationssekretär lachten. Der Legationsrat billigt das alles nicht und nimmt das Monokel aus dem Auge. Der österreichische Herr schüttelt den dreien die Hand und eilt weiter. Oberleutnant von Hungen tritt zu der Gruppe.

»Wissen Sie schon das Neueste?«

»Was ist denn schon wieder geschehen?« fragt der Legationsrat mißbilligend.

»Durch die ganze Stadt raunt es: Eine Wahrsagerin hat schon vor Monaten verkündet, daß 40 Tage nach dem Tode der Zarin ein Erdbeben kommen wird. Das war gestern, es stimmt. Vierzig Tage später wird Friede mit Rußland sein, und wieder vierzig Tage darauf wird ein neues Erdbeben Sofia dem Erdboden gleichmachen.«

»Da haben wir also gerade noch 80 Tage Zeit, um die nötigen Vorbereitungen zu treffen«, meinte Friedrich Franz spöttisch.

»Da haben wir's,« sagte der Legationsrat zu seinem jüngeren Kollegen, »jetzt ist der Aberglaube schon an der Arbeit.«

»Na, wenigstens haben wir in vierzig Tagen Frieden mit Rußland, das ist doch etwas«, sagte von Hungen.

»Meinen Sie das im Ernst?« fragte der junge Legationssekretär verwundert.

»Wer kann's wissen.«

Der Legationsrat verabschiedete sich mit den Worten:

»Ich fürchte, auch dieser einigermaßen erfreuliche Teil der Weissagung wird nicht in Erfüllung gehen.«

»Na, dann dürften wir also im Dezember Frieden mit Rußland haben«, sagte der Oberleutnant. »Die Herren von den Gesandtschaften haben mit ihrem Weissagen immer so viel Pech entwickelt, daß es in diesem Falle nicht anders sein wird.«

Der Legationssekretär lächelte ein wenig empfindlich und empfahl sich ebenfalls. Friedrich Franz und Herr von Hungen gingen miteinander weiter.

»Sehen Sie den Gonthard dort im vollen Kriegsschmuck. He, Gonthard, wo kommen Sie denn her?«

»Kondulenzvisiten gemacht, Herr Oberleutnant.«

»Das sagt man nicht mehr. Trauerbesuche sagt man jetzt oder Beileidsbesuche.«

»Zu Befehl, Herr Oberleutnant!«

Gonthard trat lächelnd zu den beiden. »Wir tanzen auf einem Vulkan.«

»Diese Bemerkung dürfte in diesen Tagen sehr oft gemacht werden«, versetzte Friedrich Franz.

»Und wie sich die Damen benehmen! Einfach fabelhaft, sage ich Ihnen.«

»Wen meinen Sie denn unter Ihrer weiblichen Riesenbekanntschaft, Gonthard?«

»Zuerst war ich bei der Petrowa, dann bei Serafinows, einfach großartig, keine Spur von Aufregung oder Angst. Die Serafinowa fragte gleich, wie es im › Hotel Bulgarie‹ aussähe, und ob ich etwas von Ihnen wüßte, Herr von Kaufmann.«

»Sehr verbunden, Herr Leutnant.«

»Als ich mir die Bemerkung erlaubte, wir tanzten auf einem Vulkan, hielt mir Eveline mit ihrem hübschen Händchen den Mund zu und behauptete, sie könne das nicht mehr hören, sie habe das schon zehnmal gehört und selbst gedacht, und wenn sie es noch einmal höre, müsse sie abreisen.«

Es begann wieder stärker zu regnen, die drei beschleunigten ihre Schritte, um wieder ins trockene zu kommen.

»Mir wird's in meinem Zimmer auf den Kopf regnen«, sagte Friedrich Franz, »ich werde mir eine andere Unterkunft suchen müssen.«

»Schlimmstenfalls spannen Sie sich 'nen Regenschirm übers Bett«, sagte Gonthard. »Das ist alles nicht so schlimm.«

Als Friedrich Franz wieder im Hotel war, wurde er ans Telephon gerufen.

»E-ve-li-ne Ali Bey.«

»Sie, gnädiges Fräulein?«

»Sie brauchen nicht zu erschrecken, ich wollte mich nur erkundigen, wie Ihnen die Nacht bekommen ist.«

»Danke, ganz gut, zu liebenswürdig.«

»Das bin ich immer, Herr Baron, aber ich finde, Sie sind nicht gerade liebenswürdig.«

»Ich bin mir keiner Schuld bewußt.«

»Hören Sie, Erdbeben gibt es doch nicht alle Tage. Da konnten Sie schon einmal Ihrem Herzen einen Stoß geben und anfragen, wie es uns geht, oder noch besser, uns einen Besuch machen, wie es fast alle andern Herren eben getan haben.«

»Ich traf Leutnant Gonthard ...«

»Um Gottes willen, der Vulkan!«

»Er sagte mir, daß Ihnen der Schreck gut bekommen ist, und das beruhigte mich. Auch wollte ich wirklich nicht heute schon Ihnen ins Haus fallen und womöglich stören.«

»Wie rücksichtsvoll Sie sein können.«

»Wundert Sie das?«

»Allerdings Herr Baron, denn seit längerer Zeit vernachlässigen Sie uns, und das kann ich beim besten Willen nicht rücksichtsvoll finden.«

»Ich werde mich zu bessern suchen, um nicht länger in Ungnade bei Ihnen zu sein.«

»Dann fangen Sie gleich damit an und besuchen uns morgen nachmittag.«

»Ich werde nicht verfehlen.«

»Darf ich Leda von Ihnen grüßen?«

»Ich bitte, gütigst mich der ganzen Familie empfehlen zu wollen.«

Er wartete, aber niemand sprach mehr.

Als er das Hörrohr wieder anhängte, ging ein heftiges Zittern durch den Boden. Etwas eilig verließ er die Zelle. Draußen donnerte ein Militärlastauto vorüber, daher das Zittern. Das Haus war in seinem ganzen inneren Gefüge so gelockert, alles saß nur mehr so lose aufeinander und ineinander, daß schon ein Beben durch das Gebäude ging, wenn nur irgend jemand im Haus laut auftrat. Den Lastautos sollte dieser Weg durch die Stadt verboten werden. Sonst fällt auch ohne weitere Erdbeben doch noch alles zusammen.

Friedrich Franz sah auf die Straße. Es goß in Strömen. Trotzdem lagerten schon wieder eine Menge Menschen im Stadtgarten und richteten sich dort für die kommende Nacht ein. Sie dachten wohl, lieber erkältet als bei einem neuen Erdstoß unter den Trümmern des Hauses begraben.

Der Wirt, immer noch mit grünem Gesicht, trat zu ihm und bot ihm ein anderes Zimmer an für die Nacht. Morgen kämen die Maurer, um alle Schäden zu beseitigen. Das Schlimmste sei vorüber. Von Zeit zu Zeit könne zwar immer noch ein kleiner Stoß kommen, aber das sei nicht mehr gefährlich.

»Jedenfalls danke ich Ihnen, daß Sie mich anderweitig unterbringen können. Ich hätte wirklich nicht gewußt, wo ich sonst hin sollte.«

Er begab sich wieder in den Saal, um zu Abend zu essen. Es waren nicht viele Gäste anwesend. Manche trauten sich auch wohl noch nicht so recht hierher. Sie zogen es vor, trotz des Regens recht lange im Freien zu bleiben.

Er setzte sich seufzend auf seinen gewohnten Platz und ließ sich servieren. Er mochte beginnen, was er wollte, er sah immer Ledas Gesicht vor sich, wie er es gestern abend für einen Augenblick beim Schein der Kerze im Garten der Serafinows erhascht hatte. Das schöne Gesicht hatte einen tiefen Gram gezeigt, daß es seinem Herzen einen Schlag gab, daß ihm das Herz auch jetzt wieder schmerzte, wenn er daran dachte und das Gesicht wieder zum Greifen deutlich vor sich sah.

Es war Gram gewesen, nicht Angst, und es hatte mit dem Erdbeben nichts zu tun.

Eigentlich hatte er die Serafinows ansprechen wollen gestern abend, um zu erfahren, wie es ihnen ging, um sich davon zu überzeugen, daß Leda nichts zugestoßen war. Aber als er für einen Augenblick den Ausdruck ihres Gesichtes erblickt hatte, vermochte er es nicht mehr. Er fürchtete, seine Stimme nicht ausreichend in der Gewalt zu haben. Deshalb hatte er sich stumm wieder fortgeschlichen.

Nun verfolgte ihn dieser Gesichtsausdruck. Hatte er ihr vielleicht doch unrecht getan? Oder wenn nicht, ging es ihr jetzt doch näher, als sie erwartet hatte, da sie einander so fremd geworden waren?

Er dachte wieder an die halbe Stunde in der halbzerfallenen kleinen Kirche. Läßt sich ein Mädchen aus gutem Haus so weit gehen, wenn es nicht liebt, kann ein junges Mädchen so raffiniert sein, Empfindungen zu heucheln, um einen andern damit einzufangen?

Dann fiel ihm wieder die Wagenfahrt an jenem Abend vom vierten Kilometer nach Sofia ein, als Boris Makarow neben dem Wagen ritt. Hatte sich da Leda nicht wirklich sehr raffiniert benommen?

Wer kennt sich aus in so einer Orientalin?

Plötzlich kam ihm ein Einfall. Daß er daran nicht früher gedacht hatte. Auf diese Weise konnte er höchstwahrscheinlich von seiner augenblicklichen Mission wieder loskommen. Er meldete sich wieder zur Front. Das ging allem anderen vor, dahinter traten alle anderen Rücksichten zurück, weder bei den Mazedoniern noch im Amt konnte man ihm das ernstlich übelnehmen. Er besaß ja einige militärische Beziehungen nach oben. Vielleicht verwandte man ihn in Palästina oder sonstwo im Orient, in Persien oder dergleichen, er war ja tropenfest.

Das war der beste Ausweg, eigentlich der einzige aus dem Dilemma. Daß ihm das jetzt erst einfiel! Ledas vergrämter Gesichtsausdruck verfolgte ihn in diesem Augenblick nicht mehr.

Aufatmend zündete er sich eine Zigarre an, während er sonst fast nur Zigaretten rauchte. Er empfand das fast wie ein Symbol: Loslösung von hier, Befreiung von allem Fremden. Die Zigarre schmeckte ihm. Auffallend gut sogar. Das hätte er gar nicht gedacht ... Ja, so würde er es machen.

Er bestellte sich eine Flasche Rheinwein, mochte sie auch vierzig Lewa kosten. Der Einfall mußte gefeiert werden. Er war die Rettung.

Am andern Morgen setzte er sich sofort nach dem Frühstück an den Tisch und schrieb zunächst einmal an einen alten Freund im stellvertretenden Generalstab in Berlin. Er würde sicher behilflich sein.

Nun war ihm schon bedeutend leichter zu Mut. Die Entscheidung war gefallen. Nun konnte er auch ohne besondere Aufregung an den Besuch denken, den er heute nachmittag bei Serafinows machen würde.

Frau Adda war an ihrer eigenen Anschauung doch etwas irre geworden seit jenem Gespräch mit Eveline. Aus Leda selbst war durchaus nichts herauszubekommen, und Herr von Kaufmann ließ sich auch nicht mehr sehen. Traf man ihn aber einmal unerwartet an drittem Orte, so entfernte er sich möglichst bald wieder und vermied es, sich mit Leda zu unterhalten. Das alles konnten immer noch Zeichen dafür sein, daß sie einander nicht gleichgültig waren, sondern sich nur erzürnt hatten. Waren sie sich wirklich gleichgültig, konnten sie doch ganz harmlos miteinander verkehren, wie das andere junge Leute auch taten. Aber die Erzürnung dauerte allmählich zu lange und konnte zur Entfremdung werden. Eigensinnig waren sie zudem alle beide. Und es hatte ihr doch so gut in all ihre Zukunftspläne gepaßt, wenn aus den beiden ein Paar wurde.

Aber Frau Adda wußte immer noch nicht, wie sie die Sache wieder einrenken sollte, zumal es sich ja nicht nur um Leda, sondern auch um einen Deutschen handelte. Sie hatte die Empfindung, als müsse man mit so einem Deutschen doch anders umgehen als mit einem Bulgaren, wenn sie auch nicht wußte wie. Mit Thea war auch kein vernünftiges Wort zu reden, obwohl sie eine Deutsche war und doch eigentlich hätte Bescheid wissen müssen.

Frau Adda war sehr ärgerlich und unruhig. Es kam ihr selten vor, daß sie einmal nicht ohne weiteres durchsetzen konnte, was sie sich vorgenommen hatte. Man hatte wirklich seine Last mit jungen Mädchen. Wieviel einfacher wäre alles, wenn sie Söhne hätte.

Aber sie mochte den schönen Plan nicht fahren lassen. Deutschland wurde immer einflußreicher und stärker im Osten. Da hatte es eine große Zukunft, bei der man auch sein Teil mithaben konnte, wenn man es geschickt anfing.

Gewiß, Katharina, das dumme Ding, fühlte sich immer noch nicht recht wohl in ihrer Stellung. Vor sich selbst leugnete das Frau Adda gar nicht, und sie leugnete auch nicht, daß sie selbst daran schuld war. Aber wer konnte denn auch ahnen, daß eine Tochter von ihr in ihren Empfindungen so schwächlich war, daß sie über eine kleine Liebesgeschichte nicht hinwegkommen konnte, nur weil der Narr sich erschossen hatte. Aber gerade darum wäre es doch sehr schön gewesen, wenn nun bei Leda Frau Addas Wünsche mit denen der Tochter zusammenfielen. Sie war doch keine Mutter, der es Freude machte, ihren Kindern nicht zu Willen sein zu können. Ihr war es doch auch lieber, wenn sie sich wohl fühlten in der Position, die sie für angemessen hielt.

Mit Peter und Christo war in dieser Sache auch nichts Rechtes anzufangen. Männer sind nun mal so ungeschickt ... Wenn sie nur mal mit Herrn von Kaufmann ein offenes Wort reden könnte, aber sie traute sich nicht, sie kannte ihn zu wenig. Auch wußte sie niemanden, bei dem sie Näheres über seine Eigenschaften hätte erfahren können. Der Mann lebte merkwürdig einsam und verschlossen. Das gefiel ihr, denn es war klug, aber ihr war es hinderlich, In ihrer Unruhe holte sie sich einmal wieder Eveline.

»Ich beunruhige mich ernstlich Ledas wegen.«

Eveline sah sie aufmerksam an.

»Ich finde, sie sieht elend aus.«

»Ich fange allmählich auch an, mich ein wenig zu beunruhigen, Frau Adda.«

»Vertraut sie sich denn dir auch nicht an, Eveline?«

»Nicht mit einer Silbe.«

»Sie hat einen Kummer, sie grämt sich.«

»Das denke ich auch.«

»Kannst du mir wirklich nicht sagen, worum es sich handelt? Ich möchte ihr so gern helfen.«

Eveline war auf ihrer Hut. Sie traute Frau Adda nicht. Sie glaubte, genau zu wissen, worum Leda sich grämte, aber ob sie das gerade der Mutter sagen sollte, dieser ehrgeizigen Mutter, der Gefühle sowenig bedeuteten? Es war doch wohl besser, sie schwieg.

»Ich glaube, du bist nicht ganz offen zu mir, Eveline, hast kein rechtes Vertrauen zu mir, aber ich versichere dir, ich mache mir ganz ernsthafte Sorgen um Leda. Sie lacht kaum noch, sie ist auch so gar nicht mehr leidenschaftlich und pathetisch, was sie sonst doch fast den ganzen Tag war. Sie ist fast apathisch allem gegenüber, und wenn sie wirklich mal den Mund auftut, kommt eine kleine Bosheit heraus. Findest du nicht auch?«

Eveline nickte.

»Nicht einmal das Erdbeben hat großen Eindruck auf sie gemacht. Am liebsten wäre sie gar nicht in den Garten, sondern zu Bett gegangen. So gleichgültig scheint ihr im Augenblick ihr Leben zu sein. Verstehst du das?«

Eveline überlegte wieder, ob sie Frau Adda nicht doch ihre Ansicht sagen sollte.

»So benehmen sich junge Mädchen doch nur, wenn sie unglücklich verliebt sind und sich einbilden, um deswillen könne die Welt ruhig zugrunde gehen.«

Ich schweige doch besser, dachte Eveline.

»Früher flirtete sie mit Boris Makarow, das macht ihr aber schon eine ganze Weile keinen Spaß mehr. Wenigstens habe ich nichts mehr davon bemerkt. Daß sie sich für Herrn von Kaufmann interessiert hätte, hältst du selbst für ausgeschlossen, wenigstens habe ich das neulich so verstanden.«

Bleibe nur noch eine Weile dabei, dachte Eveline.

»Ich habe schon daran gedacht, ob ich nicht Katharina herbitten soll. Die beiden vertrugen sich immer so gut, sie standen sich immer so nahe. Vielleicht kann Katharina erfahren, was Leda bedrückt und bekümmert.«

»Das ist eine gute Idee, Frau Adda. Wenn Katharina sich entschließen kann ...«

»Wenn es sich um Leda handelt, tut sie es sicher«, unterbrach Frau Adda.

»Dann würde ich ihr sofort schreiben, Frau Adda. Bis der Brief unter den jetzigen Verhältnissen glücklich nach Plovdiw kommt, bis Katharina von dort glücklich hier eintrifft, darüber vergeht doch noch eine ganze Weile.«

»Hältst du es für so eilig?« fragte die Mutter etwas unruhig.

»Warum soll man zögern, wenn man etwas als gut erkannt hat?«

Als Friedrich Franz gegen 5 Uhr in der Schipkastraße die Glocke zog, wurde ihm sofort geöffnet. Er wurde sofort, als hätte man ihn erwartet, in den Salon geführt, wo Eveline schon seiner harrte.

»Machen Sie nicht ein gar zu enttäuschtes Gesicht, Herr Baron, weil nur meine Wenigkeit Sie empfängt. Das Bessere kommt nach.«

»Sie verkennen mich, gnädiges Fräulein. Ich bin erschrocken, weil ich sehe, daß das Erdbeben auch hier nicht spurlos vorübergegangen ist.«

»Die Handwerker sind schon bestellt, in wenigen Tagen wird man nichts mehr davon merken.«

»Es freut mich, daß Ihre Nerven sowenig gelitten haben.«

»Mein Gott, das bißchen Erdbeben, man hat andere Sorgen«, erwiderte Eveline.

Friedrich Franz mußte lachen. »Das sagen Sie so feierliche wie ich es an Ihnen gar nicht gewöhnt bin.«

»Gott, für gewöhnlich kleide ich ja auch ernsthafte Angelegenheiten gern in einen Scherz, aber in diesem Augenblick vermag ich es nicht.«

»Darf ich erfahren, was Sie bekümmert, mein gnädiges Fräulein?«

»Deshalb habe ich Sie hergebeten, Herr Baron.«

Friedrich Franz wurde es unbehaglich, er wußte selbst nicht recht, warum.

»Machen Sie bitte nicht schon gleich wieder so ein verschlossenes Gesicht, Herr Baron. Ich will Ihrer Ehre keineswegs zu nahe treten.

Er lächelte und setzte sich.

»Es ist nett von Ihnen, daß Sie sich auf eine längere Aussprache Herrichten, Herr Baron.«

»Ich bin ganz Ohr, mein gnädiges Fräulein, bitte beginnen Sie, wenn ich Ihnen irgend dienlich sein kann.«

»Das sagen die Herren auf den Konsulaten auch, wenn sie fest entschlossen sind, einen im Stich zu lassen.«

»Jedenfalls bin ich zu ganz anderem entschlossen, gnädiges Fräulein.«

Eveline sah ihn an, wollte etwas sagen, brachte es aber nicht über sich und errötete.

»So helfen Sie mir doch, Baron!«

Nun wurde Friedrich Franz ein wenig verlegen, wenn er auch eigentlich keinen Grund dafür wußte. »Ich weiß wirklich nicht ...«

Eveline warf den Kopf zurück. »Ach was, wir sind doch alle beide erwachsene Menschen. Sie kennen mich auch ganz leidlich, wie ich glaube, weshalb soll ich mich genieren?«

»Das wüßte ich auch nicht.«

»Also nehmen Sie es so, wie es gemeint ist, ganz ernsthaft: Ich mache mir Sorgen um Leda. Bitte, nur einen Augenblick, Herr Baron. Ich kann mit niemandem anders darüber sprechen. Ihre Eltern würden mich nicht richtig verstehen, oder ich würde sie überflüssigerweise ängstigen. Leda ist ganz apathisch geworden, ganz gleichgültig gegen alles. Als gestern abend der schwere Stoß kam, wollte sie am liebsten ins Bett, damit ihr die Decke womöglich auf den Kopf fiele und alles aus wäre. Ich habe sie nur mit großen Schwierigkeiten davon abhalten können. Sie magert ab, sie ißt fast gar nichts, sie weint viel. Sie muß irgendeine große Enttäuschung erlebt haben, was sie als Unrecht empfindet, womit sie sich herumquält, ohne es abschütteln zu können, ohne es sich erklären zu können. Ich weiß nicht genau, ich taste selbst einigermaßen im Dunkeln, denn sie ist verschlossen gegen mich, wie sie es noch nie war.«

Nur immer weiter sprechen, ihn noch nicht zu Wort kommen lassen, dachte sie.

»Ich kenne Leda seit vielen, vielen Jahren, sie ist eigentlich das einzige Mädchen, das ich mag, und ich mache mir sonst gar nichts aus jungen Mädchen. Wir waren schon im Robert College zusammen. Sie ist ein so anständiger Mensch und ein so leidenschaftlicher Mensch zugleich. Ich kann temperamentlose Menschen nicht ausstehen. Und jetzt verzehrt sie sich um irgend etwas und richtet sich langsam zugrunde. Und nicht einmal Parfüms liebt sie mehr, wie wir das doch alle tun, solange wir einigermaßen gesund und guter Dinge sind.«

Sie schlug bittend ihre schönen blauen Augen zu ihm auf. »Ich bin ratlos, und in meiner Ratlosigkeit fiel mir ein, daß ich bemerkt hatte, wie Leda großes Vertrauen zu Ihnen zeigte, gern sich mit Ihnen unterhielt, und da kam mir eben der Einfall, Sie ins Vertrauen zu ziehen, Herr Baron, und Sie um Rat zu fragen, ob Sie mir vielleicht einen Wink geben können, ob Leda Ihnen vielleicht Vertrauen geschenkt hat.«

Herrgott, merkt er denn immer noch nichts! dachte Eveline, ein wenig verzweifelt.

Wohl ein dutzendmal hätte er sie am liebsten unterbrochen. Es war schon wirklich ein starkes Stück, das sie ihm da aufführte. Sogar sie wurde verlegen dabei. Eveline Ali-Bey verlegen! Das hatte er noch nie gesehen, das hätte er kaum für möglich gehalten. Eigentlich war es sogar rührend, wie sie sich ins Zeug legte aus Freundschaft für Leda, und deshalb vermochte er nicht, ihr ins Wort zu fallen, sie zu unterbrechen.

Jetzt schwieg Eveline, denn nun wußte sie nicht mehr weiter.

Er erhob sich und küßte ihre Hand. »Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, mein gnädiges Fräulein, ganz ernsthaft. Aber ich kann Ihnen leider nicht behilflich sein, denn Fräulein Serafinow würdigt mich schon längst nicht mehr irgendwelchen Interesses oder gar ihres Vertrauens. Ich weiß da genau sowenig Bescheid wie Sie.«

Er verabschiedete sich und verließ schleunigst das Haus.

Auf der Straße hörte er laut einen Esel schreien, auch ein Hahn krähte zu dieser ungewohnten Stunde. Die Tiere hatten ihre Angst überwunden, sie benahmen sich wieder wie vor dem Erdbeben.


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