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Der lange hagere Legationsrat stand am Fenster seines Bureaus und sah auf die Straße, trotzdem auf ihr nichts zu sehen war. Er gähnte verstohlen und zog die Uhr. Noch eine halbe Stunde. Er trat in das Zimmer zurück, das nichts weiter enthielt als einen Schreibtisch und zwei Stühle, einen für den Legationsrat und einen für den Besuch, ein Raum von spartanischer Einfachheit. Kein Bild, kein Teppich, nichts, was den Raum irgendwie hätte wohnlich machen können.
Auf dem Schreibtisch lag ein Schreiben, das er vor einigen Minuten geöffnet und gelesen hatte und nochmals an das Monokel führte. Es wurde aber nicht interessanter dadurch. Er öffnete die zwei spitzen Finger, die das Schreiben hielten, so daß es wieder auf den Schreibtisch sank.
Wieder begab er sich an das Fenster, trat aber schnell einige Schritte in das Zimmer zurück. Peter Karakinow näherte sich dem Bureau.
Der Legationsrat öffnete die Tür in ein Nebenzimmer und sagte: »Ich bin jetzt für niemanden zu sprechen, erst heute nachmittag um sechs wieder.«
Vorsichtig trat er dann einige Schritte näher zum Fenster und machte einen langen Hals.
Er machte sich nicht viel aus den Mazedoniern, er machte sich überhaupt nicht viel aus den Leuten hier, nicht um ein Atom mehr, als es unbedingt sein mußte.
Der Legationsrat zog den Hals wieder ein und war befriedigt. Peter Karakinow ging am Bureau vorbei, er wollte ihn also nicht stören.
Der Legationsrat trat vorsichtig an das Fenster, um besser sehen zu können, wohin sich Peter Karakinow wohl begeben würde.
Peter Karakinow bog in die Schipkastraße ein.
Aha, er begibt sich zu Christo Serafinow, dachte der Legationsrat. Warum auch nicht? Die beiden spielen ja dasselbe Spiel.
Da fiel ihm etwas ein, und hastig entfernte er das Monokel vom Auge. Eigentlich wäre es recht bequem gewesen, wenn Peter Karakinow für eine Minute bei ihm vorgesprochen hätte, er hätte ihm dann wegen dieses Herrn von Kaufmann auf den Zahn fühlen können.
Er warf einen zerstreuten Blick auf das Schreiben auf dem Schreibtisch. Das Amt wollte ja etwas von ihm über den Mann wissen. Was war es doch gleich? Zum drittenmal schob er das Schreiben mit zwei spitzen Fingern vor sein Monokel.
Jetzt las er es zum erstenmal mit Aufmerksamkeit. Also der Mann wollte weg von hier. Verdenken konnte er das keinem Menschen, wahrhaftig nicht, und außerdem war der Mann ja auch völlig überflüssig hier.
Das Amt ersuchte um Mitteilung der Gründe des Mannes.
Schon wieder sank das Schreiben auf den Schreibtisch.
Zu dumm, daß der Mazedonier nicht doch auf einen Augenblick ins Bureau gekommen war. Er wußte wohl Bescheid, und man hätte ihn einfach gefragt.
Der Legationsrat fühlte, wie ein kleiner Ärger in ihm aufsteigen wollte. Da sagte er zu sich selbst, ich sehe Peter Karakinow ja doch einmal irgendwo in den nächsten Tagen, da werde ich ihn fragen – und der kleine Ärger war schon wieder verflogen. Es hatte ja keine Eile mit diesem Bericht über Herrn von Kaufmann, der ja soweit ein ganz ordentlicher Mann war.
Er zog die Uhr. Noch zehn Minuten.
Der Legationsrat öffnete die Tür in ein Nebenzimmer. »Haben Sie sonst noch etwas für mich?«
»Nein, Herr Legationsrat.«
»Guten Morgen, meine Herren.«
»Guten Morgen, Herr Legationsrat.«
Der Legationsrat putzte das Monokel, fuhr über seinen Hut und verließ in angemessener Eile das Bureau.
Peter Karakinow war in der Tat bei Christo Serafinow eingetreten, der in seinem Privatzimmer vor einigen Rechnungsbüchern saß, denn er war erster Rechnungskontrolleur der inneren Organisation.
Christo machte ein befriedigtes Gesicht, denn auch geschäftlich ging es der Inneren Organisation gut.
Er wandte sein Gesicht der Tür zu, sah Peter Karakinow aufmerksam in die Augen und fragte: »Ist dir etwas Unangenehmes zugestoßen?«
Peter Karakinow setzte sich, zog ein Schreiben aus der inneren Rocktasche, es hatte dasselbe Format wie das Schreiben auf dem Tische des Legationsrates, und reichte es Christo Serafinow.
Er las das Schreiben langsam und aufmerksam durch und blickte fragend Peter Karakinow an. Dann las er das Schreiben nochmals langsam und aufmerksam.
»Da muß etwas passiert sein?«
Peter Karakinow nickte zustimmend.
»Daß Herr von Kaufmann so plötzlich von hier fort will?«
»Das steht zwar nicht wortwörtlich in dem Schreiben«, meinte Peter Karakinow.
»Aber das ist doch wohl das Wesentlichste, was ich zwischen den Zeilen lese.«
Peter Karakinow nickte wieder zustimmend. »Ich habe mir hin und her überlegt, wer an seiner Stelle in Betracht kommen könnte. Herr von Henningen ist an der Front. Wir können ihn im Augenblick nicht um Rat fragen. Jemand anderen möchte ich aber nicht fragen, weil ich niemand so trauen kann wie Herrn von Henningen. Außerdem schon wieder ein neuer Mann! Das wäre der dritte in noch nicht zwei Jahren. Das geht doch eigentlich gar nicht. Bis man den neuen Mann genau kennengelernt und geprüft hat, bis man weiß, wieweit man ihm trauen kann, darüber vergehen wieder Monate, und bis dahin ist der Krieg vielleicht aus, und am Ende haben wir dann gerade im entscheidenden Augenblick des ganzen Krieges keinen deutschen Vertrauensmann. Das wäre doch einigermaßen bedenklich.«
»Das darf nicht sein«, stimmte Christo Serafinow zu.
»Wir müssen also Herrn von Kaufmann zu halten suchen«, sagte Peter.
»Um das zu können, wäre es wichtig, zu wissen, weshalb er nicht mehr bleiben will«, meinte Christo. »Vielleicht können wir dann die Gründe, die ihn wegtreiben, beseitigen, so daß er dann ganz von selbst bleibt.«
Peter Karakinow nickte.
»Vielleicht vermißt er einen höheren Orden? Das spielt bei den Herren ja eine Rolle.«
Peter Karakinow wehrte lächelnd ab. »Bei Herrn von Kaufmann nicht, leider. Es ist ihm überhaupt schwer beizukommen. Er hat wenig Steckenpferde und Liebhabereien außer der Jagd.«
»Hat ihn einer von den Unsern vielleicht ungewollt verletzt oder beleidigt?«
»Das scheint mir fast so«, sagte Peter Karakinow.
Christo Serafinow sprang auf. »Da soll doch aber gleich!« ... Er setzte sich sofort wieder. »Erzähle, was du weißt.«
Peter Karakinow sagte: »Ich habe mir alles genau überlegt und finde trotz allen Überlegens eigentlich nur einen einzigen Grund, der mir aber etwas lächerlich vorkommt und dir auch so vorkommen wird, aber ich weiß keinen andern.«
Er erzählte Christo Serafinow von jenem Abend im »Hotel Bulgarie«, an dem Leda wie Herr von Kaufmann schon von vornherein verstimmt gewesen waren, als hätten sie einen Ärger miteinander gehabt, und wie dann Herr von Kaufmann Leda zum Tanz aufgefordert, diese ihm aber einen Korb gegeben habe.
»Mein Gott, glaubst du wirklich ...?« Christo Serafinow zeigte eine sehr skeptische Miene. »Er ist doch ein erwachsener Mann.«
»Dann ging er weg, und sofort hat Leda mit anderen getanzt. Das gilt ganz entschieden als Beleidigung, das weiß ich noch sehr gut von Bonn her.«
»Aber wenn er fortging ...«
»Es gibt Leute genug, die es ihm erzählt haben können«, unterbrach ihn der andere.
Das war allerdings richtig, das war sogar sicher.
»Gerade weil sie eine Mazedonierin ist, mußte er das besonders übelnehmen«, fuhr Peter Karakinow fort. »Er konnte daraus vielleicht sogar folgern, wir steckten dahinter, wir wollten ihm auf diese Weise einen Wink geben ...«
»Ja, aber?«
Peter Karakinow ließ den andern noch nicht zu Wort kommen. »Wenn er das folgerte, und es wäre doch nicht unmöglich, dann mußte er auch über die Art beleidigt sein, in der ihm dieser Wink gegeben wurde. In solchen Dingen sind die Deutschen unglaublich empfindlich, glaube mir.«
Christo Serafinow schüttelte immer wieder zweifelnd den Kopf.
»Jedenfalls weiß ich durchaus keinen andern Grund«, fuhr Peter Karakinow fort. »Man könnte ihn ja selbst sondieren, aber es besteht die Gefahr, daß er sofort merkt, wir wissen um seine Absicht, und es ist sicher besser, er weiß das nicht.«
»Auch wüßte er dann, daß das Amt mit uns darüber korrespondiert hat, und das braucht er ebenfalls nicht zu wissen«, sagte Christo Serafinow.
»Am besten ist es vielleicht, die beiden sehen sich in der nächsten Zeit häufiger,« schlug Peter Karakinow vor, »da werden wir dann bald merken, ob er ernsthaft gekränkt ist. Merken wir es, dann wissen wir ja, was wir zu tun haben.«
»Dann werde ich Leda den Kopf zurechtsetzen, und das gründlich. Das wäre ja noch schöner, wenn einer von uns der Sache Ungelegenheiten bereitete, nein, das gibt es nicht, das werden wir nicht dulden, unter gar keinen Umständen.« Christo Serafinow war ganz erregt. »Soll ich nicht Adda rufen lassen?«
Aber Peter Karakinow riet davon ab. »Erst wollen wir selbst beobachten und uns nur auf unsere eigenen Augen verlassen. Adda ist zu temperamentvoll und würde sich wahrscheinlich verraten ... Wissen wir erst Bescheid, ist es ja immer noch Zeit, Adda ins Vertrauen zu ziehen.«
Das leuchtete Christo Serafinow ein. »Ich werde ihn mit einigen andern deutschen Herren zum Abendessen einladen. Das fällt nicht weiter auf. Aber Bulgaren lassen wir besser weg.«
»Am Ende wäre es noch besser, wir lüden ihn zu uns zum Abendessen. Ihr seid dann auch geladen. Glaubt er sich durch Leda gekränkt, dann sagt er womöglich ab, wenn du ihn einlädst. Wenn ich ihn einlade, ist das harmloser, auch werde ich ihm für alle Fälle nicht sagen, daß ihr auch da sein werdet, und wenn er mich direkt danach fragt, was ja auch möglich wäre, dann seid ihr eben nicht eingeladen und erst im letzten Augenblick für andere Gäste, die absagen mußten, eingesprungen.«
Auch damit war Christo Serafinow einverstanden.
Schon am nächsten Tage erhielt Friedrich Franz eine Einladung zu Karakinows zum Abendessen. Es mußte sich um eine größere Gesellschaft handeln, denn als Anzug war Frack vorgeschrieben.
Ihm war unbehaglich bei der Einladung. Da es sich um eine größere Gesellschaft handelte, würden wohl auch Serafinows geladen sein, die er meiden wollte. Er antwortete nicht gleich, sondern ging gegen Abend, wie zufällig in den Klub, weil er wußte, daß Peter Karakinow dort Bridge spielte, um ihn auszuhorchen.
»Also Sie kommen doch morgen abend? Meine Frau freut sich sehr«, sagte Peter Karakinow zwischen zwei Robbern und nannte die Namen derer, die er geladen hatte.
»Sind das alle, die Sie geladen haben?« fragte Friedrich Franz.
»Nicht einer mehr, nicht einer weniger.«
Nach einiger Zeit entfernte sich Friedrich Franz und sagte zu.
Als er bei Karakinows in das Empfangszimmer trat, waren Serafinows mit Leda schon anwesend.
»Oberleutnant von Hungen und Leutnant Peters haben im letzten Augenblick abgesagt, da sind Serafinows in freundlicher Weise eingesprungen«, sagte Peter Karakinow, indem er Friedrich Franz begrüßte.
Ein Blinder konnte es mit dem Stock fühlen, daß Friedrich Franz beleidigt war, und daß Leda die Ursache sein mußte.
Zwei Tage später erhielt Friedrich Franz eine Einladung von Serafinows zum Abendessen. Wiederum war Frack vorgeschrieben. Er sagte unter irgendeinem Vorwand ab.
Am andern Morgen in der Frühe fand sich Peter Karakinow wieder bei Christo Serafinow ein in dessen Privatkabinett.
»Was denkst du jetzt über die Sache?«
Der Hausherr erwiderte: »Es ist ganz klar, daß er sich durch Leda beleidigt fühlt ... Merkwürdige Leute, diese Deutschen, wie kann man sich nur durch die Laune eines Mädchens beleidigen lassen.«
Peter zuckte die Achseln. »Da habe ich in Bonn noch ganz andere Merkwürdigkeiten erlebt.«
»Wollen wir Leda herbitten?«
Peter Karakinow nickte.
»Oder sollen wir erst Adda verständigen?«
Peter meinte, damit könne man wohl noch warten. »Halten wir Adda in der Reserve, bis wir klar sehen, was eigentlich mit Leda los ist.«
Bald darauf erschien Leda und sah etwas erstaunt drein. Was tat der Onkel so früh am Tag schon hier?
»Bitte, nimm Platz«, sagte ihr Vater fast feierlich.
»Ihr habt wohl eine Mission für mich?« fragte sie ein wenig spöttisch, als sie sich gesetzt hatte.
»Es ist mir aufgefallen, daß Herr von Kaufmann gestern abgesagt hat«, begann der Vater.
»Er wird etwas Besseres vorgehabt haben.«
»Mir fiel auf, daß du bei unserer letzten Gesellschaft wenig höflich zu ihm warst,« sagte der Onkel, »daß ihr so gut wie gar nicht miteinander gesprochen habt.«
»Mein Gott, wenn wir uns beide nicht füreinander interessieren. Man kann ihn doch nicht gut zwingen, sich mit mir zu unterhalten.«
»Das sind Ausflüchte, Leda. Wir haben alle beide den Eindruck, daß ihr etwas miteinander gehabt habt.«
»Nicht daß ich wüßte, Vater.«
»Um so besser«, fiel Peter ein. »Das vereinfacht die Sache wesentlich. Wir haben nämlich besondere Gründe, dich zu bitten, freundlich gegen Herrn von Kaufmann zu sein.«
»Darf man diese Gründe wissen?«
»Selbstverständlich, Leda, warum denn nicht? Wir brauchen Herrn von Kaufmann. Du weißt, warum? Wenn er nun fortgeht ...«
»Er geht fort?« fragte Leda gedehnt.
»Wir haben seit einiger Zeit den Eindruck, daß er sich nicht mehr recht wohl hier fühlt«, fiel Peter Karakinow rasch ein. Es war durchaus nicht nötig, daß Christo womöglich den Brief aus Berlin erwähnte. »Wenn er sich nicht mehr recht wohl bei uns fühlt, ist es doch natürlich, daß er beabsichtigt, uns zu verlassen.«
Leda machte große Augen.
Ihr Vater begann von neuem: »Es ist uns unerwünscht, daß er jetzt fortgeht. Wir befinden uns im letzten Stadium des Krieges. Wir brauchen den Mann bis nach dem allgemeinen Friedensschluß als Vermittler mit Berlin. Wir können uns nicht wieder einen neuen Vertrauensmann suchen. Dazu ist es zu spät.«
»Einen Augenblick! Darf ich fragen, was ich damit zu tun haben soll?«
»Wir glauben, du hast ihn irgendwie gekränkt, vielleicht unabsichtlich, und deshalb fühlt er sich nicht mehr wohl hier.«
»Mein Gott, Onkel, ich glaube, du überschätzt meinen Einfluß auf Herrn von Kaufmann. Wißt ihr so bestimmt, daß er um meinetwillen gehen will?«
»Wenn du uns sagst, was du mit ihm gehabt hast, dann wissen wir es bestimmt.«
»Aber ich habe nicht das geringste mit ihm gehabt!« fuhr Leda auf. »Was denkt ihr euch eigentlich?«
Die beiden Männer sahen sich fragend an. Auf diesem Wege kamen sie nicht weiter.
Leda sah schweigend von einem zum andern.
Plötzlich sagte Christo Serafinow: »Ich verlange von dir, Leda, daß du deine schlechte Laune in Zukunft jedenfalls nicht an Herrn von Kaufmann ausläßt. Suche dir bitte dazu jemand andern aus. Ich verlange, daß du dich so benimmst, daß Herr von Kaufmann sich wieder wohl unter uns fühlt.«
Leda sprang auf. »Ist das dein Ernst, Vater?«
»Vollkommener Ernst, Leda!«
»Was habt ihr vor mit mir?«
Die beiden Männer schwiegen.
»Ich soll ihm schöne Augen machen, nicht wahr? Weil euch das im Augenblick in eure Politik paßt!«
»Stelle dich doch nicht so exaltiert an!« rief Christo ärgerlich.
»Flirten tun doch alle Mädchen gern«, meinte der Onkel sanft lächelnd.
»Aber ich will nicht!« rief Leda.
Nun sprang auch der Vater auf. »Ich verlange Gehorsam von dir!«
»Du hast kein Recht, einen solchen Gehorsam zu verlangen!«
Die beiden Männer waren starr. In Christo Serafinow würgte es. »Du wirst dir das überlegen, rate ich dir.«
»Ich tue es nicht, ich lasse mich nicht verkuppeln wie Katharina!« Fort war sie.
»Da haben wir die Bescherung«, sagte Peter Karakinow.
Christo sank in seinen Stuhl zurück. »Das ist ja ganz unglaublich.«
»Ich bin dafür, daß wir jetzt Adda zu Hilfe rufen«, meinte der Onkel.
Frau Adda wurde gebeten, und Peter Karakinow erzählte, was sich zugetragen hatte.
»Warum erzählt ihr mir das jetzt erst?«
»Mein Gott, Adda, wir hofften, auch ohne dich fertig werden zu können, wir wollten dir, wenn möglich, jede Aufregung ersparen«, sagte ihr Mann.
»Hätte ich doch Söhne statt dieser Mädchen!« rief Frau Adda.
»In diesem besonderen Falle ist ein Mädchen mehr wert,« meinte der Onkel sanft lächelnd, »wenn es nämlich schön ist wie Leda.«
»Wodurch mag sie ihn nur beleidigt haben?«
»Ich erzählte dir doch ...«
Aber Frau Adda unterbrach Peter. »Ich bitte euch, wenn ein Mädchen einen Tanz ausschlägt, deshalb läßt man sich doch nicht gleich versetzen, das ist doch Unsinn. Das kann der Grund nicht sein. Da muß mehr dahinterstecken.«
Sie versank in Nachdenken.
Plötzlich lachte Frau Adda. »Oh, was seid ihr Männer dumm! Ich will euch was sagen, ich glaube, ich weiß, weshalb Leda so heroisch tut, und weshalb Herr von Kaufmann fort will. Sie sind verliebt ineinander, das ist alles. Deshalb nehmen sie alles so tragisch. Ich versichere euch, das ist es. Verliebt sind sie. Deshalb benehmen sie sich so unzurechnungsfähig.«
Die beiden Männer starrten die Frau verwundert an.
»Verliebt?« meinte der Vater zweifelnd.
»Aber wenn man verliebt ist, läßt man sich doch nicht versetzen, beeilt man sich doch nicht, auseinander zu kommen«, meinte Peter Karakinow.
»Das versteht ihr beide nicht. So richtig verliebt wart ihr beide nie. Dazu hat euch die Politik keine Zeit gelassen. Glaubt mir, sie sind verliebt, und weil sie verliebt sind, quälen sie sich, und weil er sich quält, deshalb wirft er gleich die Flinte ins Korn und will weg.«
Sie lachte. »Oh, diese Kindsköpfe!«
»Wenn du recht hättest, Adda ...« Peter Karakinow schmunzelte.
Christo Serafinow lächelte. »Dann wäre ja alles sozusagen in schönster Ordnung.«
»Oder kann es wenigstens wieder werden«, meinte Frau Adda.
Peter Karakinow rieb sich die Hände. »Wenn du dich nur nicht irrst, Adda.«
»Das werde ich sehr bald heraus haben.«
»Willst du Leda einfach fragen?« meinte der Vater unsicher.
»Zunächst werde ich lieber mal Eveline aushorchen,« sagte Frau Adda, »was sie meint. Freundinnen wissen da am besten Bescheid.«
Auch den Männern schien das eine gute Idee zu sein, und alle drei sprachen jetzt von andern Dingen, die sie mehr interessierten als diese Liebesgeschichte, die ja in Ordnung kommen würde.
»Der Alte sitzt fester denn je, aber die Stimmung für Deutschland ist schon wieder im Abflauen«, sagte Christo Serafinow.
»Das ist die Rache des Alten, weil die Deutschen ihn fallen lassen wollten«, bemerkte Peter Karakinow. »Er benutzt mit großem Geschick die Dobrudschafrage für seine Zwecke.«
»Schlimmer ist noch etwas anderes,« fiel Frau Adda ein, »die Verpflegungsfrage. Überall munkelt man, die Deutschen seien schuld, daß es mit der Verpflegung schlecht steht, daß alles so teuer geworden ist. Die Deutschen führen zuviel nach Deutschland aus, die Deutschen zahlen zu hohe Preise.«
Während die drei über diesen Gegenstand sich ausließen und berieten, was sich wohl tun ließe, um dem Alten in dieser Hinsicht etwas entgegenzuarbeiten, lag Leda in ihrem Schlafzimmer auf dem Bett und weinte und ballte die Fäuste und weinte.
In einem stillen Winkel ihres Herzens hatte bisher doch immer noch ein schwacher Funke Hoffnung gelebt, daß sich doch irgendwie ein Weg auftun würde, der sie Friedrich Franz wieder näherbrachte. Aber jetzt gab es wohl wirklich keine Hoffnung mehr, nicht ein Fünkchen, nicht das kleinste Fünkchen.
Was der Vater und Onkel gesagt, zeigte ganz klar, was beabsichtigt war. Und daß Friedrich Franz nun Sofia verlassen wollte, wie die beiden als sicher annahmen, bewies ebenfalls, daß Friedrich Franz sich ihrer nur als politisches Werkzeug bedient hatte oder bedienen wollte.
Wenn er irgend etwas für sie fühlte, würde er doch nicht fortgehen und abreisen wollen.
Und wenn der Onkel so genau wußte, daß er abreiste, dann mußte Friedrich Franz darüber womöglich mit ihm gesprochen haben. Woher sollte der Onkel das sonst so genau wissen?
Wie kamen die beiden überhaupt dazu, ihr Vorwürfe zu machen? Dann mußte sich Friedrich Franz doch wohl irgendwie über sie beschwert haben bei ihnen. So schamlos, so rücksichtslos war er gewesen!
Von neuem ballte sie die Fäuste.
Das Ganze war ein abgekartetes Spiel gewesen, nichts weiter. Nun sah sie es ganz deutlich.
Sie trocknete ihre Tränen. Er war es nicht wert, daß sie um seinetwillen weinte.
Sie fuhr herum, denn plötzlich war ihr, als befände sich noch jemand im Zimmer. Da saß ja Eveline am Fenster und verhielt sich mäuschenstill.
»Bist du schon lange hier?«
Eveline nickte.
»Schon die ganze Zeit?«
»Du kamst so wild hereingestürmt, sahst und hörtest nichts, so daß ich mich gar nicht bemerkbar machen konnte.«
Leda erhob sich und trat langsam zu Eveline. Diese nahm sie bei der Hand und führte sie an den Spiegel. Leda erschrak vor sich selbst.
»Man soll sich nicht so aufregen, das nützt nichts und schadet nur dem Teint«, sagte Eveline, wusch Leda mit Kölnischem Wasser die Stirn, legte ihren Wangen ein wenig Rot auf und fuhr leicht mit der Puderquaste darüber.
»So, jetzt siehst du wieder manierlich aus.«
Eveline nahm Ledas Arm und führte sie in das Nebenzimmer, dem Wohnraum der beiden Mädchen. Sie bettete Leda in einen bequemen Sessel in der Nähe des Fensters und zog für sich einen niedrigen Hocker daneben.
»Du weißt, wie neugierig ich bin, Leda, du siehst, ich frage nicht, ich sage kein Sterbenswörtchen.«
Leda lächelte ein klein wenig.
»Ich kann mir ja ungefähr denken, was vorgefallen ist. Du hast dich mit deinen Eltern gezankt, und du hast dich aufgeregt, weil sie nicht wollen, was du willst ... Du lieber Himmel, als ob das nicht immer so wäre ... Aber es ist wirklich nicht nötig, daß du deshalb rote Augenlider bekommst und einen schlechten Teint. Nach innen fressen ist für uns Mädchen immer noch besser als weinen und sich den Teint verderben. Unser Recht nehmen wir uns schließlich ja doch. Auch wenn die Eltern noch so sehr dagegen sind. Die einzige Weisheit, die ich aus dem Robert College behalten habe. Amerikanische Erziehung.«
Leda lächelte stärker.
»Du weißt, wie neugierig ich bin, aber ich frage kein Sterbenswörtchen. Es hat natürlich wieder einmal Streit gegeben wegen Boris.«
»Du meinst wegen Boris Makarow? Keine Spur.«
Um so besser, dachte Eveline, dann war es sicher wegen Herrn von Kaufmann.
»Dann habe ich mich also geirrt«, sagte Eveline ruhig.
»Ich bitte dich, dränge mich nicht, ich kann darüber nicht sprechen, selbst mit dir nicht, noch nicht.«
»Aber Leda, ich dränge doch nicht.« Eveline tat beleidigt. Leda küßte sie. Die beiden Mädchen hielten sich umschlungen. Eveline wartete, aber Leda sagte nichts.
Am Nachmittag bat Frau Adda Eveline um ihre Begleitung in die Stadt. Sie wolle Leda mit einem Geschenk überraschen, und da Eveline Ledas Geschmack ja am besten kenne, solle sie ihr aussuchen helfen. Eveline war sofort dazu bereit. So ist es recht, wir werden sie schon zähmen, dachte Eveline.
Unterwegs nahm Frau Adda Evelines Arm.
Aha, jetzt geht es los, nun wird sie schon fast plump-vertraulich, dachte Eveline vergnügt.
»Wenn du dich verlobst, Eveline, was wünschest du dir dann am meisten?«
Eveline lachte. »Das weiß ich im Augenblick wirklich nicht.«
»Denke einmal darüber nach, Eveline!«
»Also ist es endlich soweit mit Leda und Boris Makarow?«
Frau Adda ließ erschrocken ihren Arm los. »Was sagst du da?«
»Ich denke, die beiden lieben sich, und die ganze Stadt wartet nur auf diese Verlobung.«
»Das ist ja Unsinn!« sagte Frau Adda ärgerlich. »Wir denken gar nicht daran, und Leda gewiß nicht.«
»Das möchte ich doch nicht sagen«, meinte Eveline ruhig. »Ich halte es doch für möglich, daß Leda sehr stark daran denkt.«
»Wie kommst du darauf, weißt du etwas Bestimmtes?«
»Leda ist stumm wie ein Grab. Ich habe es so im Gefühl«, sagte Eveline vorsichtig.
»Du irrst dich«, sagte Frau Adda heftig.
Mir soll es recht sein, dachte Eveline, denn an den Boris denke ich nachgerade selber, deutsch-türkisches Blut habe ich selbst, bei meiner Tochter soll auch noch bulgarisches dazukommen, und wenn die dann mal einen Österreicher heiratet, ist der Vierbund komplett.
»Du machst so ein vergnügtes Gesicht, Eveline!«
»Entschuldigen Sie, Frau Adda, ich habe manchmal verrückte Einfälle, denen ich nicht gebieten kann, und dann muß ich lachen. Aber ich bin schon wieder ernst, Frau Adda.«
»Wenn Leda wirklich an so etwas denkt, dann mußt du mir helfen, Eveline, es ihr wieder auszureden.«
»Aber wenn sie Boris nun liebt, Frau Adda?«
»Ihr jungen Mädchen seid wirklich töricht«, sagte Frau Adda erregt. »Was ihr euch so zusammenträumt von Liebe ... Das Leben ist in Wirklichkeit so ganz anders. Glaube mir, Eveline.«
»Darin haben Sie ja wohl mehr Erfahrung als ich«, bemerkte Eveline trocken.
»Und auf die Erfahrung kommt es an, glaube mir. Man muß vernünftig sein, man muß seine Gefühle beherrschen lernen, man muß den Verstand mitreden lassen. Die schönsten Gefühle reichen nicht weit; die Enttäuschung kommt sehr bald. Gefühl ist ja ganz schön bei einem Flirt und so. Aber bei einer Ehe, die das ganze Leben dauert, da sprechen doch ganz andere Dinge mit.«
»Es gibt ja auch noch eine Scheidung«, warf Eveline keck ein.
»Bei uns hier nicht,« sagte Frau Adda erregt, »das wäre ganz unmöglich bei uns, das kommt so gut wie gar nicht vor.«
Um so schlimmer, dachte Eveline, sagte es aber nicht.
»Nein, nein, nein, Leda macht sich nichts aus Boris, das weiß ich wirklich, das weiß ich ganz genau, Eveline.«
»Das ist mir eine große Beruhigung, Frau Adda.«
»Wieso, mein Kind?«
»Nun, wenn Sie ihn nicht als Schwiegersohn möchten, und Leda ernstlich in ihn verliebt wäre, das wäre doch recht schmerzlich für Sie und für Leda.«
»Gewiß wäre es das. Aber sie liebt ihn nicht, sie macht sich gar nichts aus ihm, denn siehst du, ich will dir vertrauen, Eveline, aber du darfst es niemand sagen, ich glaube, sie interessiert sich für ganz jemand anders.«
Nur ruhig Blut, dachte Eveline. Quälst du Leda, quäle ich dich.
»Davon habe ich noch gar nichts gemerkt, Frau Adda, und das ist doch wirklich merkwürdig, wie Sie zugeben müssen, denn wir sind doch den ganzen Tag zusammen, Leda und ich. Da hätte ich doch auch etwas merken müssen.«
Frau Adda sah Eveline betroffen an, nahm wieder ihren Arm und fragte leise:
»Hat sie nie über Herrn von Kaufmann mit dir gesprochen?«
»Herr von Kaufmann?« Eveline lachte laut und herzlich. »Aber Frau Adda, wie kommen Sie auf den Gedanken. Nicht ausstehen können sich die beiden. Davon kann gar keine Rede sein, daß Leda ein Interesse für ihn hat, das ist völlig ausgeschlossen.«
Frau Adda wurde blaß und biß sich auf die Lippen. Dumm, daß sie davon angefangen hatte. Eveline war ein ganz törichtes junges Mädchen wie die andern auch. Sie fühlte sich sehr enttäuscht. Eveline war ihr bisher immer verständiger vorgekommen.
Eveline dachte zufrieden: Das sitzt, und wenn sie nicht eine so eingefleischte Politikerin wäre und nicht eine Ministerliste an der Stelle hätte, wo andere Leute ein Herz haben, dann würfe sie sich, wenn sie nach Hause käme, auch auf ihr Bett und weinte vor Zorn und Wut. Aber ein wenig ist Leda auch jetzt schon gerächt.
Eveline war sehr zufrieden mit sich selbst und wurde sehr guter Laune zum Ärger von Frau Adda, deren Laune sichtbar schlechter wurde.