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Besprochen
von
Heinrich Laube.
(November 1870.)
Das ist ja eine gar merkwürdige Aufführung, welche da allabendlich im Theater an der Wien stattfindet, die Aufführung des Volksstückes »Der Pfarrer von Kirchfeld«!
Aesthetisch merkwürdig und politisch merkwürdig. Aesthetisch, weil da feine, tiefliegende Gedankengänge und Charakterzüge dem Volksstücke einverleibt werden und weil neben unverarbeiteten Abstraktionen Scenen von blutvollem, echtem Talente zum Vorschein kommen. Durch diese talentvollen Scenen werden Uebergänge ermöglicht, welche kein Verstand der bloß Verständigen zu finden wüßte und welche eben nur dem kräftigen populären Naturell erreichbar sind.
Politisch, weil hier die empfindlichen, mit der Religion zusammenhängenden Fragen eines Parlamentes auf einmal schon in Fleisch und Blut vor dem großen Publikum schlankweg auftreten und von diesem Publikum mit einem Verständnisse begleitet werden, daß man sich erstaunt umschaut, nach den oberen Galerien hinaufblickt. Man fragt sich: sitzen denn da oben die alten, jetzt fast verschwundenen Habitués des Burgtheaters, welche die nur erst leise berührte Pointe jeder Scene auf der Stelle verstehen und die ganze Scene schon, wie der Börsenmann sagt, eskomptieren, ehe sie noch enthüllt ist? Nein, es ist wirklich das sogenannte Volk, welches da oben sitzt und sich so verständnisinnig wie rasch verstehend äußert, wo nur von gemischter Konfession, von gemischter Ehe und von einer aufdämmernden Notwendigkeit der Priesterehe die Rede ist. Noch mehr: Es bedarf gar nicht der Rede; eine Pause, ein Blick, das unscheinbarste mimische Zeichen genügt diesen Galerien, sie sprechen die Sachen aus, ehe sie auf der Bühne ausgesprochen werden.
Zweierlei tritt einem dabei jählings vor Augen: zuerst, daß diese politisch-religiösen Fragen, oder richtiger diese politisch-kirchlichen Fragen im Volke nicht nur lebendig, sondern schon vollständig erwachsen sind. Wenigstens in diesem Volke auf diesen Galerien. Und zweitens, daß die oft gebrauchte Phrase von der Macht des Theaters keine bloße Phrase ist und daß die Bühne eine unmittelbare Macht ausübt, wie sie selbst der Schrift kaum erreichbar sein mag.
Diese Macht der Bühne ist natürlich da am größten, wo ein Stück die Gegenwart darstellt und Gedanken, Fragen, Wünsche der Gegenwart berührt, ja behandelt.
Das geschieht in diesem »Pfarrer von Kirchfeld«. Er beginnt mit einem Gespräche zwischen dem Grafen Peter v. Finsterberg und Hell, dem Pfarrer von Kirchfeld. Die Namen Finsterberg und Hell bezeichnen die Gesinnungen der beiden Männer. Eine spitzfindige Debatte über allgemeine Fragen der Aufklärung läßt uns mehr ahnen und verstehen, um was es sich denn im besonderen handeln möge. Der Instinkt sagt dem Publikum: das ist ein feudal-klerikaler Graf und der Pfarrer ist josephinisch freisinnig, und dieser Instinkt genügt dazu, daß diese trockene, abgerissen hingestellte Scene, welche kein dramatisches Gefüge des Stückes erwarten läßt, applaudiert wird. Es folgen von verschiedenen Seiten zwei Aufzüge von Landleuten; der eine einen »Bittgang« vorstellend, welchen der Schulmeister von Altötting führt, der andere einen Brautzug. Der Bräutigam ist Katholik, die Braut ist lutherisch, sie ziehen zum Aktus einer Zivilehe. Die Aufzüge kreuzen sich und streiten sich. Der Gegenstand des Streites ist die Frage von der verdammlichen oder löblichen Zivilehe. Die Verteidigung der letzteren hat den Beifall des Publikums für sich.
Als die Scene wieder leer ist, erscheint die wichtige Figur des Wurzelsepp, den Herr Albin Swoboda vortrefflich spielt. Im Zanke mit Wirtin und Wirt des nahen Gasthauses enthüllt er sich uns als ein an Gott und Menschen verzweifelndes Menschenkind. Kirche und Pfarrer haßt er ingrimmig. Sie haben ihm in der Jugend die Ehe verweigert mit einer Andersgläubigen, sie haben sein ganzes Leben zerstört und ihn böse gemacht. Er sinnt auf nichts als darauf, wie er ihnen dies grimmig eintränken könne. Zunächst dem Pfarrer des Ortes, Hell, dessen menschenfreundliche, die ganze Gemeinde beglückende Gesinnung er verspottet und als bloße Maske verhöhnt.
Da kommt ein junges, frisches Bauernmädchen, Anna geheißen, des Weges. Wohin? – Zum Pfarrer Hell. – Wozu? – Sie sei ihm als Magd empfohlen.
Das kommt dem Wurzelsepp zurecht. Er sieht voraus, daß da eine Liebschaft entstehen werde, welche er zur Schande des Pfarrers vor der kindisch anhänglichen Gemeinde enthüllen könne, zum höhnischen Beweise, daß all die klerikale Enthaltsamkeit Heuchelei und zur Strenge gegen andere Menschenkinder unberechtigt sei.
So begibt es sich denn auch im folgenden. Anna gewinnt des Pfarrers Herz. Zwar tritt kein sträflicher Wunsch von ihm zu Tage, aber die Wärme des Herzens wird unverkennbar, und er schenkt ihr ein goldenes Kreuzlein seiner Mutter. Der Wurzelsepp hat diese Scene belauscht und tritt nun vor den Pfarrer mit dem ganzen Aufgebote seiner Anklage auf Heuchelei und mit der Ankündigung, daß die Gemeinde dies in schlimmster Deutung erfahren solle.
Im nächsten Akte hat sie es erfahren; das Ansehen des Pfarrers ist zerstört, und in der Gemeinde sind alle schlimmen Leidenschaften aufgewacht, welche die geachtete Stimme des Pfarrers immer niedergehalten. Anna sieht das und erkennt auch, daß ihr offen getragenes Kreuzlein, daß sie überhaupt die Veranlassung ist. Was thun? – Von dannen gehen? – Es ist nirgends geradezu ausgesprochen, ob auch sie den Pfarrer liebe, oder ob es nur innige Verehrung sei, was sie empfindet. Dies wird die Brücke zum Uebergange, der Bauernbursche Michel tritt zu ihr und beginnt ein Gespräch mit ihr. Dies Gespräch ist mit meisterhaftem Talente geführt und wird von Fräulein Geistinger und Herrn Szika ausnehmend gut gespielt. Sie sind Jugendbekannte, er hat sie immer geliebt und er kommt jetzt auf einem reizenden Wege dahin, ihr seine Hand zu bieten. Wir Zuhörer aber kommen auch dahin, kein wesentliches Hindernis in Anna zu entdecken, und sind höchlich erfreut, als sie zustimmt und er sie mit allen Liebesbeweisen eines Bauernburschen, mit In-die-Höhe-heben und dergleichen überhäuft. Da gerade tritt der Pfarrer ein. Sein Herz mag brechen, als er gebeten wird, dies Liebespaar selbst zu kopulieren. Wir sehen es brechen und hören seine Zusage.
Der nächste Akt bringt die Wendung des Wurzelsepp. Seine Mutter, schon lange irrsinnig über seine Abschließung von der Kirche und dabei selbst der Kirche ferne bleibend, ist ins Wasser gelaufen und hat sich ertränkt. Jetzt kommt er zerbrochen zum Pfarrer, er muß bitten, weil ihn der Herzenswunsch seiner Mutter, der Wunsch nach einem ehrlichen, kirchlichen Begräbnisse unwiderstehlich treibt. Denn bei allem Menschenhasse hat er doch die Mutter geliebt. Er muß bitten und hegt seinem vergifteten Charakter gemäß nicht die geringste Hoffnung, daß sein Bitten etwas erreichen könne. Welch ein Eindruck, als er allmählich zu der Ueberzeugung kommt, er habe sich in dem Pfarrer geirrt und dieser wolle und werde die Mutter, obwohl sie Selbstmörderin, ehrlich, christlich, kirchlich, ja er wollte sie selbst begraben! Des Wurzelsepps ganzes Truggebäude von Haß und Verachtung kracht in allen Fugen und stürzt prasselnd zusammen.
Auch diese Scene ist sehr gut geschrieben und wird von Herrn Swoboda sehr gut, von Herrn Grève gut gespielt.
Der letzte Akt bringt die Trauung Michels und Annas. Der gepeinigte Pfarrer siegt über alle seine Herzenswünsche und fragt nur traurig, ob es wohl wahrhaft zum Heile der Menschheit sei, den Geistlichen auszuschließen vom Troste der Familie. Umsonst! Umsonst sind seine Opfer! Die Gegner haben nicht nach seiner tapferen Haltung in so schwerer Lage gefragt, sie haben unterdessen die Anklage gegen sein freigeistiges Wesen durchgesetzt, der Führer des Bittganges aus dem ersten Akte, der Schulmeister von Altötting, bringt jetzt vom Konsistorium die Absetzung des Pfarrers Hell und die Citation zur Verantwortung. Man weiß, was solche Citation bedeutet; es ist also ein tragisches Ende, wenn Pfarrer Hell zum letztenmal die um ihn her knieende Gemeinde segnet. Tragisch? Doch wohl. Das Weh, welches man empfindet, wird durch nichts Unlauteres getrübt; alle übrigen Folgen sind wohlthuend, und der arme Pfarrer ist eben dem Geschicke hingegeben, welches wie ein Verhängnis hinter dem ganzen Stücke gestanden und welches nun wie ein Todesurteil in anderen Trauerspielen erscheint. Aber wie ein Todesurteil, das reinigend wirkt, wenn es vollführt werden sollte, reinigend, indem man den Weg frei gemacht sieht für die Zukunft. Eine Behörde, welche solchem Pfarrer gegenüber das Todesurteil sprechen könnte, würde – das empfindet man – in der Welt dieses Stückes nicht fortbestehen können. Das ist auch eine Versöhnung über dem Grabe.
Der Verfasser dieses merkwürdigen Stückes – auf dem Zettel »Gruber« genannt – soll Anzengruber heißen und schon eine große Anzahl von Stücken abgefaßt haben, welche sämtlich an der Schwelle der Theater abgewiesen worden sind. Dies ist nicht gar so auffallend; denn die Form auch dieses Stückes ist nicht eine volle Form, welche vollen Eindruck verspricht. Es ist ein Baum, welcher sich nicht ausbreitet in seinen Aesten. Die Entwicklung bleibt für ein Theaterstück in sehr engen Grenzen, ja in etwas steifen Grenzen. Das »Volksstück«, wie es sich nennt, verlangt eigentlich eine größere Behaglichkeit in der Ausbreitung seiner Teile, so wie das Volk selbst ein breiter, mannigfaltiger Begriff ist. Daß es dennoch ein Volksstück geworden, und zwar das gediegenste seit einer Reihe von Jahren, das verdankt es seinem Thema, welches offenbar die Seele des Volkes berührt; das verdankt es ferner dem edlen moralischen Ernste, welcher die Seele des Verfassers vollständig ausfüllt, und das verdankt es endlich dem gesunden Talente des Dichters für Ausführung der entscheidenden Scenen. Da, wo der abstrakte Gedanke zurückweichen und die humoristische Aeußerung frischer, natürlicher Menschen das ganze Heft in die Hand nehmen kann, da wirkt der Dichter allerliebst. Er hat also, wenn seine Thätigkeit voll entfaltet werden soll, sein Augenmerk darauf zu richten, daß die Komposition all ihre einzelnen Bestandteile in wärmere Berührung miteinander bringe. Dieser Graf Finsterberg zum Beispiele erscheint jetzt bloß in der ersten Scene; wir sehen ihn nicht wieder. Er erscheint wie ein bloßer Wegweiser. Wenn wir sein gegnerisches Treiben und das des Schulmeisters von Altötting in die Handlung des Stückes verflochten sähen, dann entstünde jene wärmere Berührung, welche wir vermissen. So aber wird der Hauptschlag gegen den Pfarrer hinter den Coulissen und nur hinter den Coulissen fertig gemacht.
Mit Ausnahme des Pfarrers und des Grafen Finsterberg wird das Stück im Dialekt gesprochen. Mir ist es zuweilen vorgekommen, als ob das Stück ursprünglich nicht in solcher Ausdehnung im Dialekt geschrieben sei. Es kommen Wendungen und Ausdrücke vor, welche wohl nicht dialektmäßig sind.
Jedenfalls wäre es den hochdeutschen Theatern zu wünschen, daß sie auch mit Stücken gesegnet würden, welche unsere lebendigen Interessen in wahren Ausdrücken behandelten. Der Verfall des Theaters liegt gewöhnlich darin, daß Schauspieler wie Publikum von der Wahrheit und Wahrhaftigkeit abgedrängt werden. Die Künstlichkeit macht sich dann breit, und es gelten Komödianten für talentvolle Darsteller, welche keinen Hauch von Unmittelbarkeit besitzen. Die Aufführung obigen Stückes im Wiedener Theater hinterläßt auch darum einen so erquicklichen Eindruck, weil alle Darsteller ungekünstelt sich äußern und in einfacher Weise charakterisieren.