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Widersprüche

Antonio de Valbuena

1844-1929

Lange bevor ich wußte, was »heiraten« heißt, und bevor ich über irgend etwas ein klares Urteil hatte, war ich fest entschlossen, meine Cousine Rosa zur Frau zu nehmen.

»Mit wem wirst du dich verheiraten?« fragte mich die Tante Felicina, die Vertraute meiner kindlichen Wünsche, fast täglich.

»Mit Rosina,« antwortete ich dann unfehlbar.

Und dann gab sie mir drei oder vier Küsse und ebenso viele Äpfel, und ich trabte vergnügt mit den anderen Kindern davon, um am nächsten Tage dieselbe Frage zu hören und als Belohnung für meine Antwort dieselben Küsse und dieselben Äpfel zu bekommen.

Ich habe schon gesagt, daß ich nicht wußte, was »heiraten« heißt. Aber da ich sah, daß die, welche verheiratet waren, wie mein Vater und meine Mutter, immer in demselben Hause wohnten, immer zusammen aßen und immer zusammen zur heiligen Messe und zum Rosenkranzgebet gingen, dachte ich mir, da ich so gern mit Rosina ausging, mich so sehr freute, wenn ich bei ihr oder sie bei mir essen konnte, und es mich jedesmal Tränen kostete, wenn wir uns trennen mußten, daß es wohl am besten sein würde, wenn mir uns heirateten, damit wir stets zusammen sein könnten.

Rosina war sechs und ich vier Jahre alt; sie war ein sehr entwickeltes, für ihr Alter vielleicht etwas zu ernstes Kind, trotzdem aber sehr lieb und zärtlich.

Bei unseren kindlichen Spielen fiel es ihr niemals ein, ihr moralisches oder natürliches Übergewicht geltend zu machen; vielmehr fügte sie sich meinem gebieterischen und oft wankelmütigen Willen stets ohne Widerrede.

Ihre Spielsachen mit den meinigen auszutauschen, wenn jene mir besser gefielen, um sie dann, wenn ich ihrer überdrüssig war, wieder durch die alten zu ersetzen, das angefangene Spiel für ein neues auszugeben, eine Puppe auszukleiden, bloß um mir zu zeigen, was unter den Kleidern steckte, und sie dann wieder von neuem anzuziehen: das waren Dinge, um die ich sie sehr häufig bat, und stets erfüllte sie jeden meiner Wünsche mit der größten Bereitwilligkeit.

Und all das tat sie nicht etwa aus anerzogener Folgsamkeit oder angeborener Nachgiebigkeit, sondern weil sie sich sagte, daß ich, der ich doch noch kleiner war als sie, auch weniger vernünftig sei. Dafür suchte ich sie aber auch auf jede nur denkbare Art und Weise zu erfreuen, und brachte ihr eine stets wachsende Zärtlichkeit und Anhänglichkeit entgegen.

Wenn wir, als wir etwas größer waren, mit den anderen Kindern Ball, Bäumchenwechseln oder Räuber und Prinzessin spielten, tat es mir so leid, wenn sie verlor, daß ich stets eifrig bemüht war, ihr zum Gewinn zu verhelfen, um sie vor dem Spott und Hohn der anderen zu schützen, was von diesen oft genug bemerkt wurde.

Eines Tages – ich war damals ungefähr neun Jahre alt und es war der letzte Sonntag im Mai – sagte Silvano beim Ausgang der heiligen Messe zu mir:

»Willst du mit mir in den Wald kommen, um Vogelnester zu suchen?«

»Ich weiß nicht, ob meine Mutter mir das erlaubt,« antwortete ich zaghaft.

»So sage ihr nichts davon, unterwegs pflücken wir Veilchen.«

»Doch, sagen muß ich's ihr, sonst wird sie böse.«

»Also gut, geh und sag ihr's, aber rasch!«

Ich bat also um Erlaubnis, und erhielt sie nach längerem Bitten, aber nur unter der Bedingung, daß ich rechtzeitig zum Mittagessen wieder daheim sei.

Wir schlugen den weg nach dem Walde ein, und hatten kaum dreihundert Schritte zurückgelegt, als uns zwei gleichaltrige Kameraden, Simon und Faustino, begegneten. Der letztere trug neue Schuhe, und hob beim Gehen die Füße recht hoch auf, um uns die neuen Sohlen zu zeigen.

»Geht ihr zu den Vogelnestern?«

»Ja,« antwortete ihnen mein Kamerad.

»Wir kommen mit.«

»Habt ihr schon welche gefunden?«

»Nein, wir sind zum erstenmal hier.«

Auf dem Wege dorthin suchten wir Veilchen unter dem Weißdorn. Anfangs fürchtete ich mich, auf den Platz zu gehen, weil ich Angst hatte vor den Schlangen. Als ich dann aber sah, daß die anderen keine Furcht hatten, und Simon sogar barfüßig umherlief, beschloß ich auch Veilchen zu pflücken, wie sie, bis ich einen schönen Strauß gesammelt hatte, den ich mit auffallender Geschicklichkeit zusammenband, ganz begeistert von dem Gedanken, ihn meiner lieben Rosina mitzubringen.

»Die wollen wir dem Apotheker bringen, der kauft sie uns gewiß ab, um Wohlgerüche daraus zu machen,« sagte Simon.

»Ich nicht,« entgegnete Faustino, »ich bringe sie meiner Mutter.«

Ich schwieg, nahm mir aber innerlich vor, mich von meinem Entschluß, sie Rosa zu schenken, keineswegs abbringen zu lassen.

Nun begaben wir uns in den Wald, und Silvano, welcher der geschickteste von uns war, begann mit einem Stock zwischen die Zweige zu schlagen, während er uns zurief:

»Wenn ihr jetzt einen Vogel auffliegen seht, so sagt es mir rasch, weil man dann am besten sehen kann, wo das Nest steckt.«

Wir eilten über Wege und Pfade, wir durchdrangen Dornensträucher und Gestrüpp, aber alles ohne Erfolg. Da plötzlich rief Simon uns zu:

»Jungens, kommt mal schnell her, eben ist hier ein Stieglitz aufgeflogen.«

Wir liefen alle schleunigst herbei und untersuchten mit der größten Vorsicht die Dornenhecken und alle anderen Sträucher; und dann, nach Ablauf von kaum zwei Minuten rief ich freudig aus, wie einst Kolumbus, als er das gesuchte Land entdeckte:

»Seht, da ist es!«

Das Nest enthielt vier Eier.

Um zu berechnen, wie lange es wohl noch dauern konnte, bis wir die Vögel bekommen würden, mußten wir durchaus wissen, ob das Weibchen bereits auf den Eiern gebrütet, oder ob es sie soeben erst gelegt hatte.

»Wir wollen uns verstecken und aufpassen,« sagte Silvano, »denn wenn es brütet, wird es gewiß gleich zurückkommen.«

Wir versteckten uns also und sahen schon bald den Vogel, wie er langsam in kurzen Kreisen herannahte, um sich zu vergewissern, ob die Gefahr geschwunden sei und er sich ruhig dem Nest nähern könne.

»Das Weibchen brütet,« rief Silvano triumphierend aus, »heut in acht Tagen können wir uns die Vögel holen.«

Von dieser frohen Hoffnung beseelt, traten wir noch vor Mittag den Heimweg an und trennten uns, nicht ohne uns vorher gegenseitig das Versprechen abgenommen zu haben, niemandem etwas von dem Nest zu erzählen, damit uns keiner der anderen Jungen zuvorkomme.

Ich ging nicht gleich nach Hause, sondern zuerst zu meiner Tante Ines, um Rosina den Veilchenstrauß zu bringen, und ihr im geheimen und unter der Bedingung, daß sie zu keinem davon sprechen dürfe, anzuvertrauen, daß wir soeben im Walde ein Stieglitznest mit vier Eiern gefunden hätten.

Die kommende Woche erschien uns allen wie ein Jahr, und wir hatten nur den einen Wunsch: ach, wenn's doch endlich Sonntag wäre!

In solcher Eile hatten wir wohl selten die Sonntagsmesse verlassen, bei der diesmal, Gott verzeih's uns, die nötige Andacht fehlte. – Und dann stürzte ich so rasch wie möglich mit den anderen Kameraden in den Wald.

Währenddessen gesellten sich noch zwei andere Knaben zu uns, und nachdem wir sie endlich mit großer Mühe los geworden, schlugen wir den Weg zu dem Vogelnest ein.

Behutsam näherten wir uns und hörten das leise Piepen kleiner Vögel.

»Habe ich's euch nicht gesagt?« rief Silvano triumphierend aus. »Schon sind die Vögel herausgekrochen, nun schreien sie nach der Mutter, die aufgeflogen ist, als sie uns kommen hörte.«

Vorsichtig versteckten wir uns, um abzuwarten, ob der Vogel zurückkehren würde, und sahen ihn auch gleich darauf mit einem Wurm im Schnabel und einem Gerstenkorn in den Krallen näher kommen.

Bei seinem Herannahen schrien die Kleinen wieder, wenn auch nicht mehr gar so erschreckt, laut auf, streckten die Köpfchen über den Rand des Nestes und öffneten die Schnäbel, damit die Mutter ihnen das Futter hineinstecke.

»Glaubst du, daß wir sie am nächsten Sonntag herausnehmen können?« fragte ich.

»Nein,« erklärte Silvano, »heute in acht Tagen haben sie erst einen leichten Flaum, aber in vierzehn Tagen sind sie schon ganz befiedert.«

So vergingen auch diese zwei Wochen, wie alles im Leben vergeht.

Simon und ich gingen auch am nächsten Sonntag wieder zu dem Nest und sahen, daß die Vögel leicht befiedert waren. Halb und halb befürchteten wir, daß sie am nächsten Sonntag schon ausgeflogen sein könnten, allein Silvano beruhigte uns, und sagte, daß das keineswegs so rasch geschehen werde.

Allein die Klügsten irren sich am häufigsten, denn als wir am ersten Sonntag im Juni in den Wald kamen, waren die Vögel, wenn auch nicht fort, so doch im Begriff, auszufliegen, und ergriffen, als Faustino die Hand nach dem Nest ausstreckte, ängstlich die Flucht.

Aber weit kamen sie nicht, denn es fehlte ihnen an Kraft und Übung, und sie fielen sogleich wieder auf die Zweige herab. Dummerweise versteckten sie sich so tief, daß wir sie, trotzdem wir sie sahen, nicht greifen konnten. Zum Glück kehrte die Vogelmutter zurück, während wir noch über den mißlungenen Ausgang unserer Absichten sprachen, und begann, als sie das Nest nicht mehr fand, erschreckt nach ihren Jungen zu rufen.

Diese erkannten sofort die Stimme der Mutter und fingen an, aus ihrem Versteck hervorzukriechen, aber sie verließen das eine nur, um in das andere zu schlüpfen und hüpften schnell zu der Stelle, von wo aus die Alte sie, sich immer weiter von uns entfernend, zu sich rief.

Endlich machte einer von ihnen Halt, wie um zu horchen, und es gelang Silvano, ihn unter seiner Mütze zu fangen.

»So, den hätten wir,« sagte er befriedigt, während er ihn, die Finger sorgfältig unter die Mütze schiebend, bei einem Fuß ergriff.

Aber von den drei anderen bekamen wir jetzt keinen mehr zu sehen. Wir hatten gehofft, daß jeder einen Vogel haben würde, und jetzt gab es nur einen für alle!

Wer sollte den bekommen?

Wir mußten losen.

Simon riß einen Strohhalm in vier Teile, drehte sich um und hielt uns dann die geschlossene Hand hin.

»Wer das größte Stück zieht, soll ihn haben.«

In der größten Aufregung zogen wir nacheinander, und Silvano war der glückliche Gewinner.

Ich wurde ganz traurig bei dem Gedanken, daß ich Rosina den versprochenen Vogel nun doch nicht bringen konnte.

»Was für ein Glückspilz bist du!« sagte ich beim Abschied, dem Stieglitz das Köpfchen streichend, während mir die Tränen in die Augen traten.

»Möchtest du ihn sehr gerne haben?« fragte Silvano, der meinen Kummer gewahrte.

»Ja, sehr, sehr sogar,« antwortete ich ohne die geringste Verstellung.

»Dann nimm ihn, ein andermal kannst du mir dafür etwas schenken.«

Ganz berauscht vor Freude ging ich heim.

Ich entsann mich, daß ich auf dem Speicher einen Binsenkäfig gesehen hatte, der im vorigen Jahr für eine Drossel benutzt wurde. Er hatte die Form eines kleinen Bauernhäuschens, sein Dach war schwarz und die Wände weiß, und er war mit kleinen balkonartigen Ausbauten verziert, die als Futterstätten dienten und gleich der Tür und den blinden Fenstern rot und grün gestrichen waren. Ich holte ihn herbei, und setzte den Stieglitz hinein.

»Er wird entfliehen,« sagte meine ältere Schwester zu mir. »Er ist so klein, daß er zwischen den Binsen durchschlüpfen kann, wenn du keine besondere Vorrichtung triffst. Ich werde dir helfen.«

Und bei diesen Worten nahm sie aus ihrem Nähtisch einen blauen Seidenfaden und band den mit einem Ende an den Fuß des Vogels und mit dem anderen an den Käfig.

»Siehst du, jetzt kann er dir nicht mehr entschlüpfen,« sagte sie dann. »Jetzt bringe ihn Rosina.«

Rasch von dieser Erlaubnis Gebrauch machend, bevor sie am Ende wieder zurückgezogen würde, machte ich mich mit dem Vogel auf den weg.

»O, wie reizend!« rief Rosina aus, sobald sie das Vögelchen erblickte und begann, es sanft zu streicheln.

»Wollen wir ihm etwas zu fressen geben?«

»Natürlich,« antwortete ich, hocherfreut darüber, daß ihr mein Geschenk Spaß machte. – Darauf gab ihm Rosina ein wenig aufgeweichten Zwieback, allein der Vogel war nicht dazu zu bringen, den Schnabel zu öffnen. Er flüchtete in eine Ecke des Käfigs, ließ den Kopf hängen und schloß die Augen.

»Armer Kerl,« sagte Rosina mitleidig, »es scheint fast, als wolle er sein Testament machen.« – Schweigend blickte sie den Vogel an, öffnete dann ohne Zögern die Tür des Käfigs und ließ ihn hinaus. Der Stieglitz wollte fliegen, konnte aber nicht. Da ergriff Rosina rasch eine Schere, und schnitt die Seidenschnur entzwei, die den Vogel am Flug gehindert hatte. Und schon im nächsten Augenblick saß er auf dem Apfelbaum.

»Wie dumm!« rief ich aus. »Warum hast du ihn denn hinausgelassen?«

»Aber, Junge, hast du ihn denn nicht für mich mitgebracht?«

»Allerdings,« sagte ich. »Aber ich habe mir so viele Mühe gegeben, um ihn zu bekommen,« fügte ich weinend hinzu, »und bin deshalb so oft in den Wald gegangen.«

»Aber wenn du ihn doch für mich mitgebracht hast und ich ihn lieber frei als im Käfig sehe, brauchst du doch wirklich nicht darüber zu weinen.«

Dieser Beweisgrund war stichhaltig, aber ich konnte mich doch beim besten Willen nicht beruhigen und fuhr fort zu weinen, während der Vogel auf dem Apfelbaum laut piepte.

»Hörst du, wie er piept?« fragte mich Rosina, »er ruft wohl nach seiner Mutter. Wie schön ist es doch, einen Gefangenen zu befreien. Freutest du dich nicht auch damals, als deine Mutter dich auf meine Bitte hin aus dem dunklen Hause befreite? Dein Vater hatte dich eingesperrt, weil du der Carmen einen Stein an den Kopf geworfen hattest. Weißt du das noch?«

»Ach was! Du kannst doch einen Vogel nicht mit einem Menschen vergleichen,« rief ich schluchzend aus.

»Ich vergleiche ja auch gar nichts,« sagte meine Cousine, »aber ich kann dir sagen, daß sogar die kleinen Vögel ihre Gefangenschaft schmerzlich empfinden, verstehst du denn das nicht? Hast du nicht gesehen, wie traurig er aussah? Wenn er ein Mensch wäre, würde ich mich noch viel mehr freuen, ihn zu befreien, wenn es in meiner Macht läge. Da wäre mir kein Opfer zu groß.«

*

Fünfzehn Jahre sind inzwischen verflossen, und heute wiederholt sich wiederum die Szene von damals.

Der Käfig hat dieselbe Form, wie der einstige, nur ist er viel größer: es ist das Haus meiner Cousine.

Auch der Gefangene von heute ist größer, als der damalige, und die Kerkerwärterin hat sich völlig geändert.

Ja, dieselbe Rosina, welche einstmals so weichherzig war, einem Vogel die Freiheit wiederzugeben, und der kein Opfer zu groß erschienen wäre, um einen Gefangenen von seinen Fesseln zu erlösen, hält heute einen Mann gefangen. – Nun, da sie die Macht in der Hand hat, will sie nicht Erlöserin sein.

Im Gegenteil, sie freut sich meiner Gefangenschaft und läßt mich von Jahr zu Jahr auf ein Ja warten, das sie jeden Tag aussprechen zu wollen scheint, und das doch stets unausgesprochen bleibt. Ob meine Gefangenschaft eine freiwillige ist? Nein, glaubet das nur nicht.

Und während Juan diese letzten Worte aussprach, mit denen er die Geschichte seines Unglücks beendete, schloß er langsam seine melancholischen Augen.

»Nein, glaubet das nicht, sie ist nicht freiwillig.

»Als Beweis dafür gelte, daß ich täglich das Haus meiner Cousine mit dem festen Entschluß verlasse, es solle das letzte Mal gewesen sein, und daß ich doch stets wieder am folgenden Tage dorthin zurückkehre.

»Wohl öffnet mir Rosina die Tür des Käfigs, aber sie befreit mich nicht von meinen Fesseln.«


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