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Viele Jahre ist es her, da lebte im Pinzgau eine stolze Jungfrau, eines Grafen Kind, die von der Natur mit allen Vorzügen des Geistes und des Leibes bedacht war. Sie fühlte sich daher auch über alle Menschen erhaben, war anmaßend und hochmütig, und sie verachtete sogar ihre eigene Mutter, die sich über die Kälte und Lieblosigkeit ihrer Tochter zu Tode grämte.
Nun aber brach die Strafe des Himmels für dieses unkindliche Verhalten über die Jungfrau herein. Schwer und lang war die Buße, die ihrem Hochmut auferlegt wurde. Eine mächtige Bergfrau verwandelte sie in ein Wesen, halb Drache, halb Weib, und bannte sie in eine Felsenhöhle im Inneren der Gerloswand. In großer Einsamkeit, dem Licht der Sonne entrückt, hat sie nun Zeit zu bereuen, was sie verschuldet, und darf nur alle hundert Jahre einmal aus der Tiefe emporsteigen, um auf den zu warten, der sie erlösen soll Erlösung kann sie aber nur finden, wenn ein beherzter Jäger ihr den Kuß der Liebe weiht.
Einmal ist sie schon aus ihrer Höhle hervorgekommen. Glockengeläute im Tal verkündete ihr Erscheinen, aber niemand getraute sich in ihre Nähe. Endlich faßte ein mutiger Jägersbursche den Entschluß, das Erlösungswerk zu wagen. Tapfer schritt er auf die Felswand zu, wo die furchtbare Schreckensgestalt ihm schon von weitem entgegenrief: »Zittere nicht, du Lieber! Erscheine ich dir auch jetzt noch schrecklich und grauenhaft, so wird dein Entsetzen weichen und Freude und Glück dich erfüllen, wenn deine Lippen meinen Mund berührt haben. Weichst du aber von mir zurück, so sind wieder hundert Jahre Elend und Einsamkeit mein Schicksal.«
Mutig versprach ihr der Jäger, vor nichts zurückzuweichen. Als er sie aber in der Nähe in ihrer ganzen fürchteinflößenden Häßlichkeit sah, wich er entsetzt zurück. Wohl versuchte er ein zweites und drittes Mal näher zu treten, aber als der eisige Hauch ihres Mundes sein Gesicht umgab, taumelte er schwindelnd zurück und lag im nächsten Moment zerschmettert unten am Rand der Felswand.
Mit einem Jammerschrei wandte sich die Drachenjungfrau dem Felsen zu und muß nun wieder in ihrer finsteren Höhle, in Grauen versunken, hundert Jahre warten, bis sich vielleicht dann ein tapferer junger Mann findet, der sie ihrem Gefängnis entreißt und wieder in einen Menschen verwandelt