Sagen aus Griechenland
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Niobe

Niobe, die Königin von Theben, war die Tochter des Tantalos. Reiches Glück, das sie aber nicht zu würdigen wußte, hatte ihr das Schicksal geschenkt: Schönheit und königliche Macht, dazu einen Gatten, der so herrlich die Leier zu schlagen wußte, daß die Steine der Stadtmauer von Theben unter ihrem Klang sich von selbst zusammengefügt hatten.

Durch die Fülle dieses Glücks hatte Niobe sich zu hoffärtiger Verblendung verführen lassen; aber auf nichts von allem, was sie besaß, war sie so stolz wie auf die stattliche Schar ihrer Nachkommen. Vierzehn blühenden Kindern, sieben Söhnen und sieben Töchtern, hatte die Königin das Leben geschenkt. Mit Recht hätte man Niobe die glücklichste aller Mütter nennen dürfen. Aber sie verdiente diesen Ehrennamen nicht, weil sie selber ihn für sich verlangte. Im Bewußtsein ihres Glückes wagte sie es, sich mit den Unsterblichen zu messen und göttliche Ehren für sich zu fordern.

Eines Tages gab es in Thebens Straßen einen Auflauf. Manto, die Tochter des Wahrsagers Teiresias, die in der Stadt als Priesterin der Leto lebte, fühlte sich plötzlich von frommer Regung getrieben und eilte durch die Straßen, die Thebanerinnen zur Verehrung der Leto aufzurufen. »Kommt in Scharen!« rief sie, »und erweist unserer Göttin Leto und Ihren Kindern Apollon und Artemis die Ehren, die wir ihnen schuldig sind!«

Willig folgten die Frauen ihrem Ruf und begannen, die Opfer zu rüsten. Plötzlich hielten sie inne. Vor ihnen stand Niobe an der Spitze ihres Gefolges. Verächtlich ließ die Königin den Blick über die versammelten Frauen hingleiten; dann herrschte sie die Verschüchterten an: »Seid ihr denn wahnsinnig, Götter zu verehren, die ihr nie mit euren Augen gesehen habt – während ihr vergeßt, den Wesen Weihrauch und Opfer zu spenden, die mitten unter euch leben?«

Dann zählte Niobe in ihrer Vermessenheit auf, was sie Gründe für die ihr gebührende Verehrung nannte: daß ihr Vater Tantalos einst am Tische der Götter gespeist habe, daß ihre Mutter Merope, die Schwester der Plejaden, als glänzendes Gestirn am Himmel leuchtet, daß der gewaltige Atlas, der die Welt auf seinen Schultern trägt, einer ihrer Ahnen und Zeus gar ihr Großvater sei. Sie vergaß auch nicht, die Kunstfertigkeit ihres Gatten und ihre eigene königliche Macht zu erwähnen.

»Vor mir wollt ihr Leto, der unbekannten Göttin, den Vorzug geben, die nur zwei Kinder ihr eigen nennt? Das ist der siebente Teil meiner Mutterschaft! Und raubte mir die Schicksalsgöttin auch einige Kinder, niemals würde ich auf Letos armselige Zahl hinabsinken!«

Mit herrischer Gebärde jagte die vermessene Königin die Frauen nach Hause; nur im stillen wagten diese, die beleidigte Gottheit hinfort zu verehren.

Tief gekränkt aber rief Leto ihre beiden Kinder zu sich und berichtete ihnen von dem Geschehenen. »Soll ich mir solchen Schimpf gefallen lassen?« rief sie voller Unwillen.

Apollon und Artemis zögerten nicht, die Mutter zu rächen. In Wolken gehüllt, schwangen sie sich durch die Lüfte und ließen sich auf der Burg von Theben nieder. Gnadenlos ereilte nun das göttliche Strafgericht die Söhne, deren Niobe sich so sehr gerühmt hatte. Während sie sich vor den Stadtmauern im fröhlichen Spiel tummelten, traf sie nacheinander des Gottes Pfeil, den einen auf hohem Pferderücken, andere beim Ringkampf, wieder einen, als er in fassungslosem Schmerze die sterbenden Brüder in seinen Armen zu beleben versuchte.

Die Kunde von dem furchtbaren Unglück rief Niobe aufs Feld hinaus. Sie vermochte das Schreckliche lange nicht zu fassen: ihre sieben Söhne lagen tot vor ihr. Zugleich erhielt sie die Botschaft, daß Amphion, ihr Gatte, sich voller Verzweiflung den Tod gegeben habe.

In wilder Klage hob sie die Arme zum Himmel: »Freue dich jetzt nur an meinem Schmerz, du grausame Leto genieße den Triumph deines Sieges!«

Doch als ihre Töchter sich in Trauerkleidern um sie und die Toten scharten, bäumte sich Niobes Stolz von neuem auf: »Nein, du bist nicht Siegerin! Auch vor den Leichen meiner Söhne bin ich mehr als du!«

Sie sollte ihre Vermessenheit grausam büßen. Denn nun übernahm Artemis die Vollendung des Strafgerichts. Unter ihren Pfeilen sanken Niobes Töchter, eine nach der andern, in den Staub. Schon waren sechs gefallen, und in ratloser Angst flüchtete sich die letzte in den Schoß der Mutter, um dort Schutz zu suchen.

»Schone diese eine!« schrie Niobe in Verzweiflung, »nur die jüngste von so vielen!«

Aber ihre Bitte, die erste, die sie an die Göttin richtete, fand kein Gehör, und während Niobe noch flehte, stürzte das Mädchen tot zu ihren Füßen nieder.

Einsam, vor Schmerz gebrochen, saß Niobe inmitten der Leichen ihrer Kinder. Da erstarrte sie vor Gram, aus den Wangen wich alles Blut, unbewegt standen ihre Augen – es regte sich kein Leben mehr in ihr: Niobe war erstarrt und zu Stein geworden.

Nur ihre Tränen rannen über das leblose Antlitz. Dann erhob sich ein gewaltiger Wirbelwind, faßte den mächtigen Stein und führte ihn durch die Lüfte nach Lydien, in die Heimat der Königin. Im öden Gebirge unter den Steinklippen setzte er ihn nieder.

Noch heute steht Niobes Gestalt als Felsen im Gebirge und aus den steinernen Augen fließen die Tränen unaufhörlich in das Gebirgstal hinab.

 


 


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