Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Im Lande Thessalien wuchsen Phrixos und Helle, die Kinder des Königs Athamas, miteinander auf. Sie hatten ein hartes Leben; denn ihr Vater hatte seine Frau Nephele verstoßen und den Kindern eine Stiefmutter gegeben, unter der sie viel zu leiden hatten. Als die böse Ino gar den Knaben Phrixos opfern wollte, griff Gott Hermes zur Rettung der beiden Kinder ein. Er brachte Nephele einen riesigen geflügelten Widder mit einem Fell von lauterem Gold zum Geschenk.
»Dieser Widder mit dem goldenen Vlies soll deine Kinder aus der Gewalt ihrer Stiefmutter befreien« sagte Hermes; »denn er kann auf den Wolken laufen und wird sie ins Land Kolchis tragen!«
Nephele folgte dem Rate des Hermes, und bald darauf ritten die Geschwister eng umschlungen auf dem Rücken des Wundertieres durch die Lüfte. Doch als Helle das Meer in furchterregender Tiefe unter sich sah, ließ sie pIötzlich, vom Schwindel gepackt, den Bruder los und stürzte ins Meer, das noch heute der Hellespontos, das Meer der Helle, heißt. Phrixos dagegen erreichte glücklich das Land der Kolcher. Hier opferte er den Widder zum Dank für die Götter; das goldene Vlies gab er dem König Aietes, der ihn gastfreundlich aufnahm, zum Geschenk. Dieser weihte es dem Ares und ließ es in einem heiligen Hain an eine Eiche nageln.
Viele Jahre später herrschte in Thessalien der König Pelias, der seinen Bruder Aison, den rechtmäßigen Herrscher, des Thrones beraubt hatte. Vorzeiten nun war dem Pelias ein Orakel verkündet worden: ein Mann, der in nur einem Schuh zu ihm komme, werde auch ihn dereinst vom Throne stoßen. Einst veranstaltete Pelias ein Festmahl zu Ehren des Meergottes Poseidon, zu dem auch sein Neffe Jason, der Sohn seines Bruders, erschien. Dieser hatte auf seinem Wege zur Königsstadt einen Bach durchqueren müssen und dabei einen Schuh im Schlamm verloren.
Mit Entsetzen blickte Pelias auf den kraftvollen Jüngling, der – mit nur einem Schuh bekleidet – in die Königshalle trat. Als er in dem Fremdling seinen Neffen erkannte, verbarg er aber seine Furcht und nahm ihn freundlich auf.
Später jedoch suchte er einen nichtigen Vorwand, um sich des gefährlichen Nebenbuhlers zu entledigen. Schließlich wies er ihn außer Landes.
»Nicht eher sollst du mir wieder vor Augen treten«, gebot er ihm, »als bis du mir das goldene Vlies deines Vorfahren Phrixos herbeibringst!«
Durch diesen Auftrag glaubte Pelias den Neffen zu verderben, zumal da Jason zögerte, dem Befehl des Oheims zu folgen. Der Jüngling ahnte die Gefahren, die auf ihn warteten, und war deshalb bestrebt, mutige Gefährten um sich zu scharen.
Griechenlands berühmteste Helden folgten seinem Ruf. Unter ihnen waren auch Herakles und zwei Söhne des Windgottes Boreas, dazu Theseus und die Zwillingsbrüder Kastor und Polydeukes, auch Peleus, der Vater des Achilles, der Sänger Orpheus und viele andere zählten zu Jasons Fahrtgenossen.
Am Fuße des Berges Pelion baute Argos, der geschickteste Baumeister Griechenlands, ihm nach Weisungen der Göttin Athene ein Schiff, dem er den Namen Argo gab; die Helden nannten sich die Argonauten.
Das herrliche Schiff gelangte unter Jasons Führung bald zur Stadt Salmydessa, über die König Phineus herrschte. Zeus hatte den König einst wegen einer Untat erblinden lassen, und zur besonderen Strafe hatte er ihm als schreckliche Störenfriede seines Mahls die Harpyien beigesellt. Das waren gepanzerte Vögel mit scharfen Klauen, die zur Mittagszeit erschienen, dem König die Speisen raubten und das Zurückgebliebene besudelten. Vergeblich versuchten des Königs Diener immer wieder, die schrecklichen Tiere abzuwehren; ihre Panzer machten sie unverwundbar.
»Helft mir in meiner schweren Not«, bat der König die Helden unter Tränen, als die Argonauten bei ihm einkehrten, und er lud sie zu Tische; doch kaum war die Mahlzeit aufgetragen, da kamen die gierigen Harpyien herbeigeflogen. Jason und seine Gefährten hieben auf sie ein; die Schwertstreiche taten jedoch den gepanzerten Vögeln keinen Schaden. Da hoben sich Zetes und Kalaïs, des Windgottes geflügelte Söhne, in die Luft, griffen mit blankem Schwert die Harpyien an und bedrängten sie so hart, daß sie flohen und nicht wiederkehrten.
Mit großer Freude begrüßte Phineus die Rückkehr seiner Retter, die ihn von der schrecklichen Qual befreit hatten. Aber nicht ohne Sorge ließ er die Argonauten weiterziehen; denn er gedachte der Weissagung, die ihnen gefährliche Abenteuer verkündet hatte.
Unbekümmert stachen die Helden bei günstigem Fahrtwind in See, um nach Kolchis weiterzusegeln. Beim Eingang in das Schwarze Meer trafen sie auf zwei riesige Felsen, die wie Eisberge im Meer schwammen. Diese steinernen Säulen, Symplegaden genannt, schlugen beständig blitzschnell zusammen, so daß jedes hindurchfahrende Schiff von ihnen zerschmettert wurde.
Nach dem Rat des Phineus schickten die Helden eine Taube voraus; sie kam fast unversehrt hindurch, nur ein paar Schwanzfedern wurden ihr von den zusammenschlagenden Felsen abgerissen. Beim Zurückprallen der Steinwände gelang es den kühnen Männern, das Schiff blitzschnell glücklich hindurchzusteuern; nur das Schiffsheck wurde ein wenig beschädigt.
Noch vielerlei Abenteuer hatten die Argonauten zu bestehen, bis sie endlich ans Ziel gelangten: die Mündung des Flusses Phasis. Sie kletterten voller Freude an den Segelstangen empor und takelten das Schiff ab. Dann lenkten sie die Argo in das breite Bett des Stromes hinein, der durch Kolchis fließt, und gingen vor Anker.
Bald darauf stand Jason, den es drängte, seine Aufgabe zu erfüllen, vor Aietes, dem König des Landes.
»Ich komme aus Griechenland«, sagte er, »und bin vom König Pelias von Thessalien gesandt, um das goldene Vlies von dir zu fordern. Gewähre uns Gastfreundschaft, König Aietes, und gib uns das Vlies, um das wir bitten!«
Finster blickte Aietes auf die Fremden. Er war nicht gesonnen, Jason das goldene Vlies bedingungslos zu überlassen. So stellte er ihm eine schwere Aufgabe: »Zuvor mußt du die ehernen Stiere, die Hephaistos geschaffen hat, vor den Pflug schirren und ein großes Feld umpflügen. In diese Furchen sollst du die Zähne eines Drachen säen, die ich dir geben werde; eiserne, lanzenbewehrte Männer werden daraus erwachsen, die du im Kampfe besiegen mußt!«
Neben König Aietes' Thron stand seine Tochter Medea. Das Schicksal fügte es, daß ihr Herz, vom Pfeile des Liebesgottes Eros getroffen, in heftiger Liebe zu Jason entbrannte. So wollte sie es nicht leiden, daß der herrliche Held der Gefahr erliege, und nutzte die Zauberkraft, die sie besaß, zu seiner Rettung. Sie bereitete aus Bergkräutern einen wundertätigen Saft und brachte ihn Jason. Der Held wunderte sich, daß die Königstochter heimlich zu ihm kam, aber dankbar ließ er sich über die zauberkräftige Wirkung ihres Trankes belehren.
»In ihm wohnt große Stärke und hohe Kraft. Bestreiche damit Gesicht und Hände, Arme und Beine«, sagte Medea, »dazu Rüstung und Waffen. So wirst du gefeit sein gegen Verwundung und Feuer, und deine Waffen werden unwiderstehlich durch die härtesten Panzer dringen.«
König Aietes ahnte nichts von diesem heimlichen Tun seiner Tochter Medea. Er gebot Jason also, sich am nächsten Morgen einzufinden, um die gestellte Bedingung zu erfüllen. In aller Frühe war Jason zur Stelle, den zauberkräftigen Saft hatte er, wie Medea ihn geheißen, verwendet. Aietes war mit Medea und dem ganzen Hofstaat erschienen, um das Schauspiel mit anzusehen. Der König befahl nun den Dienern, die Tür des Stalles zu öffnen. Unerschrocken ging Jason hinein, löste die starken Eisenketten der feuersprühenden Stiere, packte sie mit übermenschlicher Kraft bei den Hörnern und zerrte sie heraus. Draußen preßte er ihnen Maul und Nüstern fest auf die Erde, um sie am Schnauben zu hindern, und warf ihnen das Joch über den Nacken.
Staunend standen die Einwohner von Kolchis. Finster blickte der König auf Jason, der so rüstig ans Werk ging. Die sonst so grimmigen Stiere wagten nicht, sich ihm zu widersetzen, da das Feuer, das aus ihren Nüstern sprühte, Jason nichts anhaben konnte. Und als die Sonne am höchsten stand, hatte er das ganze Feld umgepflügt.
»Jetzt gib mir die Drachenzähne!« rief er dem König zu, während er die Stiere ausspannte. Einen ganzen Helm voll reichte ihm Aietes. Jason schritt ungesäumt über das Feld, warf die Zähne in die Furchen und ebnete sodann mit seinem Speer die Erdschollen.
Jetzt hatte er Zeit, sich auszuruhen. Er füllte seinen Helm mit Flußwasser und löschte seinen brennenden Durst.
Als die Sonne sich zum Untergang neigte, begab sich das erwartete Wunder: eiserne Männer wuchsen aus der Erde, überall auf dem gepflügten Acker! Einige waren bereits bis zu den Füßen herausgewachsen, einige bis zu den Hüften und bis zu den Schultern, andere hoben sich soeben erst aus der Erde. Wütend schwangen die Eisenmänner die Spieße und schlugen kampfbegierig an ihren Schild. Schon drangen die, deren Füße frei waren, auf den Helden ein.
Da tat Jason, wie ihm Medea geraten hatte: er nahm einen großen Stein auf und warf ihn mitten unter sie. Einer der Riesen wurde von dem Stein getroffen und glaubte, sein Nachbar habe ihn geworfen. Sogleich griff er ihn mit dem Schwerte an, andere mischten sich in den Streit, und bald gab es ein allgemeines Getümmel, in dem jeder gegen jeden kämpfte. Nach kurzer Zeit lagen alle Riesen tot am Boden, und Jason war aus einer großen Gefahr befreit.
Während die Argonauten ihm zujubelten, wagte Medea nicht, ihre Freude zu zeigen. Noch ahnte ihr Vater nichts von ihrer Liebe, noch wußte er nicht, daß Jason ihr geschworen hatte, sie als Gemahlin mit sich nach Griechenland zu führen. König Aietes hatte keinen anderen Gedanken, als den verhaßten Fremden zu verderben. Er verweigerte ihm den ehrlich verdienten Siegespreis und sann sogar darauf, die Argo in Brand zu setzen.
Zum zweiten Mal wurde Jason durch Medeas Hilfe gerettet. Sie verließ in der Nacht das elterliche Haus und führte Jason in den heiligen Hain, wo das Vlies, von einem Drachen bewacht, an eine Eiche genagelt, hing. Das Untier reckte seinen langen Hals den Herankommenden entgegen und zischte fürchterlich, daß die Flußufer und der große Hain von dem Gedröhn widerhallten. Mit Waffengewalt hätte der Held den Drachen nicht besiegen können; doch die zauberkundige Medea rief mit süßen Gesang den Gott des Schlafes zu Hilfe, der den Drachen einschläferte. Zur Sicherheit besprengte Medea ihn noch mit einem Zaubersaft. Jason stieg über das Ungeheuer hinweg, hieb das Vlies von dem Eichbaum und trug es aufs Schiff, und schnell wurden die Anker gelichtet.
Rasend vor Zorn, vernahm König Aietes von dem Raube und der Entführung seiner Tochter. Vergeblich versuchte er den Argonauten ihre Beute abzujagen. Sein Sohn Absyrtos, der mit schnellen Seglern die Flüchtenden einholte, wurde von seiner Schwester Medea in eine Falle gelockt und von Jason erschlagen.
Nach mancherlei Fährnissen traf Jason mit seinen Fahrtgenossen in Thessalien ein.
Doch obwohl er dem König Pelias nun das goldene Vlies aushändigte, war dieser entschlossen, dem verhaßten Neffen das Erbe vorzuenthalten. Durch Medeas Zauberkraft kam Pelias jedoch auf schreckliche Weise ums Leben. Das Königreich aber verlor Jason an den Sohn des Getöteten, der ihn aus dem Lande vertrieb.
Jason und Medea flohen nach Korinth, wo sie lange Jahre in glücklicher Ehe lebten.
Medea gebar zwei Söhne. Als sie älter wurde und die Reize ihrer Gestalt schwanden, wandte sich Jasons Liebe der schönen Glauke zu, der Tochter des Korintherkönigs Kreon, mit der er sich vermählen wollte. Medea wurde von rasender Eifersucht ergriffen, und vergebens beschwor sie Jason, von seinem Vorhaben abzustehen. Aber Jason blieb hart. Da heuchelte sie Versöhnung, sandte der jungen Glauke Geschenke und bereitete ihr dabei durch Gift einen schrecklichen Tod. Danach legte sie in wilder Rachsucht Hand an die eigenen Kinder; beiden nahm sie das Leben, um den ungetreuen Gatten jeglichen Trostes zu berauben.
Als Jason seine Kinder in ihrem Blute liegen sah, war er von Schmerz und Verzweiflung von Sinnen, er wollte Medea zur Rechenschaft ziehen und Rache nehmen. Plötzlich vernahm er ein Rauschen über sich, und emporschauend sah er, wie die Mörderin sich in einem drachenbespannten Wagen in die Lüfte erhob und entschwand. In auswegloser Verzweiflung stürzte sich Jason in sein Schwert. Er fiel auf der Schwelle seines Hauses.