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Eine Erzählung von B. aus »Trewendt's Volkskalender, 1858«

Nicht mehr Kandidat!

»Also wieder einmal Silvesterabend heute! Andere feiern ihn auf Bällen, in Weinhäusern und Kränzchen; ich will ihn auf meinem Stübchen feiern. Wie ist's doch so gemütlich in meinem Stübchen! Im Ofen knistert das Feuer und sendet Wärme nach den Fenstern hin, auf die der gestrenge Herr Winter seine kalten, steifen Blumen zeichnet. Alter, grauer Tyrann da draußen, brumme und tobe, soviel du willst! Es soll dir nicht gelingen, mich aus meiner frohen, friedlichen Silvesterabendstimmung herauszutreiben. Ich trotze dir mit dieser Flasche köstlichen Ungarweins, die mir eine liebe Freundeshand zum Labetrunk an des Jahres Scheidegrenze verehrt hat!«

Dieses Selbstgespräch führte der Kandidat des Predigtamtes Siebold, während er, von einem Gang aus der Stadt zurückgekehrt, sich zur Feier des Silvesters häuslich und bequem einrichtete. Der saubergebürstete, doch schon etwas stark mitgenommene schwarze Visitenrock wurde abgelegt und der Schlafrock, dessen größtes Verdienst Bequemlichkeit, dessen geringstes aber Neuheit und Eleganz war, angetan. Die kalten, von den hartgefrorenen Stiefeln befreiten Füße fuhren in weiche, buntgestickte Pantoffeln, und ein schwarzsamtnes Käppchen mit seidener Quaste wurde aufs Haupt gesetzt. Und als nun noch die lange Pfeife mit der schön gebogenen Spitze und dem wie ein Türkenkopf gestalteten Meerschaumkopf angezündet war, als bläuliche, duftende Wölkchen dem edlen Kraut entströmten und im dämmernden Licht der Studierlampe in wunderbaren Ringlein und Zünglein verschwammen – da schien die Behaglichkeit unseres Kandidaten den höchsten Grad erreicht zu haben, der sich in dem zufriedenen Lächeln seines biederen und gutmütigen Antlitzes unverkennbar ausprägte.

Der Kandidat Siebold war leider kein Jüngling mehr. Die frohe, frische Zeit der Universität mit ihren goldenen Träumen und blühenden Hoffnungen lag schon weit hinter ihm; die beiden Examen, für den Theologen die Schlüssel zum Pfarramt, waren längst absolviert. Aber es hatte ein Unstern über ihm gewaltet. Wie viele Male hatte er angeklopft, und es hatte niemand »Herein!« gerufen. Wo immer ein Amt offen war, und wäre es das allerbescheidenste und dürftigste gewesen – gleich war er bei der Hand, um mit seinen schönen Kenntnissen, seinem frommen Herzen, seinem redlichen Willen dem Reich Gottes zu dienen; aber kaum, daß ihm zwei- oder dreimal das Glück einer Probepredigt winkte; überall kam er entweder zu früh oder zu spät; oder seine bescheidene, vielleicht etwas unbeholfene Erscheinung gefiel den Herren Patronen nicht; oder die Gemeinden nahmen Anstoß bald an seinem blassen Gesicht, bald an seiner zu lauten oder zu leisen Rede; oder seine Mitbewerber schnappten ihm, durch Verbindungen, Verwandtschaft und schimmernde Gaben begünstigt, den goldenen Apfel vor dem Mund weg. So eilten Jahre auf Jahre dahin, und am Schlüsse eines jeden hieß es: »Immer noch Kandidat!« Unser Siebold wanderte als Hauslehrer durch eine Menge adeliger und unadeliger Häuser, und wer diese Wanderung kennt, weiß, daß sie den Fuß selten über Rosen, viel häufiger über Dornen und Klippen führt. Er beschloß endlich, das Hofmeisterleben für immer aufzugeben und als Privatlehrer in seiner Vaterstadt – einer Stadt mittleren Ranges – der Erfüllung seines Wünschens, Sehnens und Hoffens entgegenzuharren. Hier verweilte er nun schon wieder ein Jahr, und »Immer noch Kandidat« hieß es nach wie vor. – Sehen wir ihn ein wenig näher an, wie wir ihn oben geschildert haben; bemerken wir seine hagere, magere Gestalt, sein von Linien durchzogenes Gesicht, die ersten verräterischen Schneeflocken in seinem sonst braunen, vollen Haupthaar: dann werden wir gewiß nicht irren, wenn wir ihn auf der Stufenleiter des Lebens bis zum vierten Jahrzehnt hinangekommen glauben.

Aber darin würden wir durchaus irren, wenn wir etwa meinen wollten, es habe ihn dieses lange, vergebliche Hoffen und Harren, Suchen und Ringen unglücklich gemacht oder die Säure menschen- und weltfeindlicher Laune in seinem Herzen angesetzt. Kein Sterblicher konnte in sich selbst stiller und inniger, mit Gott und der Welt zufriedener sein als unser Siebold. Seine demütige Seele empfand die oft wiederkehrenden Täuschungen und Zurücksetzungen niemals als Unrecht, sondern als die Fügung eines höheren, verborgenen, doch unendlich weisen Willens, dem er sich in Geduld und Ergebung unterwerfen müsse. Dabei stand seine Hoffnung felsenfest, daß seine Stunde gewiß kommen werde; seine Sache sei es, sich bereitzuhalten, an Gott aber, ihn zu rufen: dieser Gottesruf werde nicht ausbleiben, wenn es zur rechten Zeit und am rechten Orte sei; das Pfarrhäuschen und das Kirchlein seien gewiß längst gebaut und verbergen sich irgendwo unter hohen, alten, überhangenden Linden, wo er seinen Herd bauen und die Herde Christi weiden solle. »Wir rühmen uns auch der Trübsale«, dies war sein Lieblingsspruch, »denn wir wissen, daß Trübsal Geduld bringt, Geduld aber bringt Erfahrung, Erfahrung aber bringt Hoffnung, und Hoffnung läßt nicht zu schänden werden.«

Wundern wir uns also nicht, daß dieser alte, vielgewanderte und geprüfte Kandidat sich vornehmen konnte, mit sich selbst, seinen Erinnerungen und Hoffnungen einen fröhlichen Silversterabend zu feiern. Sein Stübchen umschloß für den Augenblick alles, wonach sein ergebenes und genügsames Herz begehrte. Wie war es darin so warm und traulich! Auf dem Tisch brannte die Lampe, die Lichtgeberin seiner nächtlichen Studien und literarischen Ergötzungen von der Universität her. An der Wand hing das Bild Luthers neben dem Melanchthons; darunter befanden sich einige Konterfeis bevorzugter Professoren und Lehrer aus alter und neuer Zeit; unter diesen eine Anzahl Porträts von besonders geliebten Universitäts- und Jugendfreunden. Ein alter, rostiger Degen, die letzte Reliquie aus dem jetzt schon in weiter, grauer Dämmerung zurückliegenden Burschenleben, steckte hinter dem kleinen Spiegel, unter welchem ein Pult den mäßigen Reichtum einiger sehr dickleibigen Bände neben vielen kleinen und schmächtigen verwahrte. Eine besondere Aufmerksamkeit schien dem Pfeifentischchen in einer Ecke gewidmet zu sein, wo eine ganze Reihe glänzend geputzter Rauchinstrumente die einzige Leidenschaft des guten Kandidaten verriet. Ach, wieviel ihm auch das Leben versagt und geraubt hatte, seine liebe, traute Pfeife war ihm immer getreu geblieben. Sie war immer seine willfährige, unzertrennliche Freundin gewesen, seine Trösterin in manchen trüben Stunden, und wenn der blaue Dampf in langsam ziehenden Wolken sein Stübchen durchdämmerte, hatte er ein unsäglich süßes Gefühl heimatlicher Sicherheit und Behaglichkeit.

Heute sollte überdies die Festlichkeit des Abends durch einen selten gebotenen und gestatteten Genuß erhöht werden. Der reiche Kaufmann, dessen Kinder er unterrichtete, hatte einige Flaschen edlen Tokajers zum Neujahr gespendet, und eine davon war dem Silvester zum Opfer geweiht. Siehe, da perlte der dunkelgoldige Wein in dem geschliffenen Glas, dem einzigen, welches Siebolds Junggesellenwirtschaft auf zuweisen hatte. Und Horaz kann nicht mit größerem Behagen seinen Falerner geschlürft haben, als unser Kandidat die ersten Tropfen des feurigen Nasses über seine Lippen gleiten ließ.

Den ersten Pokal dem scheidenden Jahr!« rief er, das Glas hochhaltend und, damit es doch einen Klang gebe, an die vor ihm stehende Flasche anstoßend. »Freilich, freilich, du hast mir nicht gebracht, was ich wünschte und hoffte; aber ich müßte undankbar sein, wollt' ich dich darum verdammen. Du hast mir dennoch manche Blume wachsen, mich manchen süßen, erquickenden Tropfen aus dem Becher des Lebens trinken lassen!« – Seine Seele verlor sich in Erinnerungen, welche weit über die Grenze des letzten Jahres in die frühe, im dämmernden Zwielicht der Ferne liegende Vergangenheit zurückgingen. Siebold hatte wie alle Gemüter, deren vorherrschendes Element die Liebe ist, ein seltenes Talent der Erinnerung, und keine Biene kann fleißiger sein, aus den schönen bunten Blumen den süßen Honig zu saugen, als er, um aus den lieblichen Erscheinungen und Ereignissen seiner vergangenen Tage das Beste und Beglückendste mit liebendem Gedächtnis zu sammeln. Dagegen war des Lebens Bitterkeit, Täuschung und Unbill mit ganz leisem Tritt und fast spurlos über sein Herz dahingegangen. So stiegen denn jetzt, verklärt durch den Geist des Feuerweins, all die lieben, holden Bilder seiner frühen Tage vor ihm auf; die goldene Kindheit mit den teuren Gestalten der längst entschlafenen Eltern und der jetzt nach allen Richtungen zerstreuten Geschwister; die blütenbekränzte Jugend mit den trauten Genossen und Freunden, die, ach, zum Teil schon heimgegangen, zum Teil durch den Drang und Wirrwarr des Lebens seinem Auge und Herzen entrückt waren. Zumal eines Freundes, seines geliebtesten und einst von ihm unzertrennlichsten, gedachte er, des trefflichen Ferdinand von Sommerfeld, mit dem er das Glück der Universitätsjahre und eine Zeitlang dasselbe Zimmer geteilt, und von dem er, da ihm reiche Mittel zu Gebote standen, unzählige ebenso gern gegebene, als ohne Bedenken angenommene Wohltaten empfangen hatte. Seit Jahren hatte er nichts von ihm gehört. Wo weilte er jetzt? Wie hatte sein Geschick sich gestaltet? – Siebold weihte ein volles Glas ihm und seinem Glück.

Aber eine Gestalt drängte sich doch vor allen in den Vordergrund seiner Seele; und wenn wir bemerkten, wie dabei sein Gesicht sich verklärt, wenn wir gar hören, mit welcher Innigkeit er den Namen Magdalene ausspricht, so wissen wir auch, daß es sich um eine Geliebte, vielleicht um eine Braut handelt. Freilich um eine Braut! Wo wäre auch ein Kandidat, der nicht sein Herz und seine Hand auf Hoffnung an ein geliebtes und liebendes Mädchen vergeben hätte! Unser Freund war schon seit zwölf Jahren versprochen mit einer Jungfrau derselben Stadt, in welcher er wohnte. Das war nun für ihn eine Quelle des reinsten und reichsten Glücks, aber freilich floß ihm aus ihr auch mancher Tropfen Wermut. Ach, sie war ja mit ihm zum Warten verurteilt! Jede fehlgeschlagene Hoffnung dünkte ihm wie ein Raub an ihrer Jugend. Jahre auf Jahre vergingen, und schon waren die Blüten des Frühlings vorüber. Obwohl bedeutend jünger als er, befand sie sich doch auf der obersten Stufe weiblicher Entwicklung, von wo es dann rasch bergab zu gehen pflegt. Und dazu noch die Mutter seiner Magdalene! Diese fing nachgerade an, sehr schwierig und unangenehm zu werden. Jede vergebliche Bewerbung unseres Kandidaten beschwor einen Sturm über sein armes Haupt, und neuerdings hatte sie es sehr deutlich merken lassen: es wäre ihr lieb, wenn die ganze Geschichte aufhörte; so ein armer Kandidat sei doch ein sehr unglücklicher Freier; es gebe genug andere, die nicht erst auf ein Amt zu warten brauchten, um ihr Lenchen zur Frau zu machen. Aber heute – sei es, daß die heitere Silvesterstimmung von vornherein alle trüben Gedanken verscheuchte oder daß der bereits reichlich genossene Wein dieses Wunder verrichtete –, heute stand Magdalene nicht im melancholischen Schleier der ungestillten Sehnsucht und oft getäuschten Erwartung, sondern im vollen Zauber der bräutlichen Liebe, Freude und Hoffnung vor seinem geistigen Auge. Ja, sie war immer noch schön, für unseren Freund das Musterbild aller weiblichen Herrlichkeit und Vollkommenheit. Ihr blaues Auge voll Güte und Seelenadel, ihr blasses Gesicht mit dem süßlächelnden Mund, ihre schlanke, hohe Gestalt voll natürlicher Anmut und Grazie, vor allem ihr Gemüt, rein und treu wie Gold, alles hundertfach verschönt durch den Duft seiner nicht leidenschaftlichen, doch reinen, wahren und tiefen Liebe, erfüllte sein Herz mit den zärtlichsten und zugleich heitersten und wonnigsten Empfindungen. »Magdalene, du herrliches Mädchen!« rief er voll Begeisterung aus. »Du Blume meines Lebens, du Stern meiner Sehnsucht und Hoffnung! Wie danke ich meinem Gott und Schöpfer, der dich mir zu eigen gegeben hat! Du hast bisher schon allen Himmelssegen über mich gebracht; wie reich werde ich erst sein, wenn du ganz – ganz mein sein und als meine liebe Hausfrau an meinem Herd walten wirst! Du hast niemals an mir und meinem Geschick gezweifelt. Wie oft du auch mit mir getäuscht wurdest, deine Liebe und Treue ist nur immer reiner und edler aus dem Feuer der Trübsal hervorgegangen. Nein, du sollst nicht umsonst deine Jugend, dein reiches Herz, dein ganzes blühendes Sein der Barke meines Geschicks anvertraut haben. Schon winkt der Hafen. Der ahnende Geist sagt mir, das kommende Jahr wird nicht vorübergehen, ohne daß sich irgendwo eine Pforte auftut, durch welche wir Hand in Hand zu unseres Lebens Fried' und Freude eingehen werden.«

So phantasierte sich der gute Kandidat immer tiefer in eine hoffnungsselige Stimmung hinein – und er merkte nicht, wie ein Sandkorn des dahineilenden Jahres nach dem andern herabrollte; er hörte es kaum, daß drunten eine Schar fröhlicher Gesellen unter Gesang und Musik vorüberzog; nur in sich, seinen Wünschen, Hoffnungen und Träumen lebte er, und vielleicht gab es in diesem Augenblick in der ganzen großen Stadt kein Gemüt, reicher an Frieden und stiller Wonne als das des armen Kandidaten. Da schlug auf dem nahen Ratsturm die Glocke 12 Uhr, und sogleich ließ sich vom Markt herüber ein ernster, feierlicher Männergesang vernehmen. »Also das Jahr ist da!« rief Siebold, von dem Gewicht des Augenblickes ergriffen. »Sei mir willkommen, was du auch bringen mögest! Aber ich hoffe – ich hoffe Gutes. Ich erflehe es von dir, du Herr meines Lebens, du Vater über alles, was da Kinder heißet im Himmel und auf Erden – ich erflehe es nicht um meinetwillen, aber um des Engels willen, der mit liebendem Vertrauen all sein Glück auf das meinige gesetzt hat.« – Vielleicht war es der gute Geist seines Gebets, der bald darauf, nachdem er sein Lager gesucht hatte, den Schlummernden mit allerlei holden Bildern umgaukelte. Er sah sich in einem im vollen Glanz des Frühlings blühenden Tal. Ein Kirchlein erhob sich vor ihm, in Linden schier vergraben, und dicht dabei ein Häuschen aus der Umkränzung blühender Obstbäume heimatlich blinkend und winkend. Die Glocken des Kirchturms sandten ihre Klänge in die kühle, blaue Morgenluft, und jeder Ton war wie ein Ruf: »Das ist deine Kirche! Dies ist dein Pfarrhaus!« Dann stand er predigend in der Mitte einer andächtig horchenden Gemeinde, und all die lieben, bekannten und vertrauten Blicke schienen ihm zuzuwinken: »Du bist unser. Wir sind deine Herde und folgen dir gern auf die grünen Auen, zu welchen du uns hinführst.« Wieder entrückte ihn der Traum unter das niedere Dach des Häuschens, und siehe – strahlend in Jugend, Liebe und Freude, trat ihm Magdalene entgegen, nicht mehr seine Braut, nein, sein liebes, schönes Weib, und hinter ihm mit stolzem, befriedigtem Lächeln reichte ihm die Mutter die Hand und begrüßte ihn als Herrn Pastor und Schwiegersohn. So wechselten noch vielerlei anmutige Bilder eines süßen Glücks und Friedens, bis der volle Schlaf die Geister des Traums in ihr luftiges Reich zurücksandte.

Siebolds Erwachen am Neujahrmorgen war freilich von der wonneseligen Stimmung des vorigen Abends sehr beträchtlich unterschieden. Das Feuer des ungewohnten Weins mochte doch wohl einen bedeutenden Anteil an seiner Begeisterung gehabt haben, und jetzt, da es verraucht war, fühlte er sich nüchtern, unbehaglich, und keines von den reizenden Bildern, die ihn gestern so reichlich umschwärmt hatten, wollte sich an den kahlen, rauchgeschwärzten Wänden seines Stübchens blicken lassen. Rasch raffte er sich auf und warf sich in seine Kleidung, denn es war Zeit zur Kirche, in welche sein erster Gang gerichtet sein sollte. Der zweite folgte dem Zuge seines Herzens. Wie konnte er die fast schwermütige Stimmung, welche ihn wider Willen und ganz gegen seine sonstige Gewohnheit belastete, besser loswerden, als wenn er sich zu seiner Magdalene flüchtete, deren Geistesklarheit und Herzenswärme immer wie Sonnenschein auf ihn wirkte? Überdies mußte er ja ihr und der Mutter seine Grüße und Wünsche zum neuen Jahr darbringen.

Er fand sie allein auf ihrem Zimmer. Betrachten wir sie einen Augenblick. Wahrlich, die aufgeregte Phantasie unseres Freundes hatte ihr kaum zuviel Reize beigelegt. Was ihr an regelmäßiger Schönheit und jugendlicher Frische fehlte, ersetzte sie reichlich durch einen wunderbaren Hauch geistiger Regsamkeit, der ihrem Antlitz und allen ihren Bewegungen das Siegel innerer Schönheit aufdrückte. In ihren tiefen, blauen Augen drängte sich so viel Güte, Liebe und Seelenadel, daß man den Zauber wohl begriff, den sie immer auf ihren Freund und Geliebten ausübten. Aber, was dieser sogleich nach den ersten Begrüßungen bemerkte – heute waren diese sonst so mutigen und freudigen Augen trübe und verrieten sogar die Spur vergossener Tränen.

»Du bist nicht heiter, teuerste Magdalene«, sagte Siebold, nachdem beide auf dem Sofa Platz genommen hatten. »Und doch wünschte ich, du möchtest heute mit dem ungetrübten Auge der Hoffnung in das neue Jahr hineinblicken.«

»Kann ich's? Kann ich's?« fuhr das Mädchen fast leidenschaftlich auf. »O wüßtest du, wie heute mein Herz schon zerrissen worden ist, wie grausam ich habe leiden müssen!« Es folgte diesen Worten ein Tränenstrom, den sie schluchzend hinter dem Schnupftuch verbarg.

»Fasse dich, meine Geliebte!« bat jener, sich liebevoll zu ihr hinneigend. »Ich sehe alles. Nicht wahr, deine Mutter hat dich wieder bestürmt? Du sollst mich aufgeben?«

»Oh, daß ich nein sagen dürfte! Aber – so schlimm war es noch nie! Sie will, daß wir unser hoffnungsloses Verhältnis abbrechen, daß du unser Haus nicht wieder betreten sollst.«

»Wo ist deine Mutter?« rief Siebold aufspringend. »Ich will zu ihr, um sie zu beruhigen.«

»Sie ist nicht da. Sie war in der Kirche und macht jetzt einen Besuch in der Nachbarschaft. Ich erwarte sie jeden Augenblick zurück. Ach, Gustav, du wirst einen schweren Stand mit ihr haben.«

»Ich fürchte mich nicht vor ihr«, erwiderte der Kandidat mit Festigkeit. »Du bist mein: denn sie selbst hat dich mir zugesagt. Du bist hundertfach mein! Denn ich habe dein Wort, dein Herz, deine Liebe! Keine Macht der Erde kann uns trennen! – Darum beruhige dich, meine einzige Magdalene! Der Sturm wird vorübergehen. Sie zürnt ja nicht zum ersten Male, daß ich dich und sie bisher nur mit eitlen Hoffnungen habe abspeisen müssen.«

»Ach, diesmal ist's schlimmer!« seufzte das Mädchen. »Gustav, es schmerzt mich unsäglich, daß ich dich betrüben muß. Aber ich kann dir's nicht ersparen. Besser, du erfährst es durch mich als aus dem Munde der Mutter.«

»Was werde ich hören müssen?« rief Siebold gespannt, als Magdalene ängstlich innehielt.

»Der Kaufmann M., unser Nachbar – du weißt, daß er mich längst mit seinen Aufmerksamkeiten belästigt –, hat gestern an meine Mutter geschrieben.«

»Nun?« fragte Siebold in höchster Aufregung.

»Er hat um meine Hand angehalten!« sprach das Mädchen mit leiser, zitternder Stimme. »Der Schurke!« brauste der Siebold auf. »Er hat es gewagt, und er weiß doch, daß du mit mir versprochen bist.«

»Ja, er hat es gewagt, weil er weiß, daß er an meiner Mutter leider eine allzu geneigte Fürsprecherin seiner Wünsche hat.«

»Und du, Magdalene?« Siebold stand bei dieser Frage vor der Geliebten; seine Hand ruhte auf ihrer Schulter, und sein fester, ernster, melancholischer Blick suchte fragend den ihrigen. »Und du, Magdalene?« wiederholte er mit leisem Beben der Stimme.

»Ich?« erwiderte sie, und ihr Auge hielt fest und treu den Blick des Freundes aus; ein Lächeln unaussprechlicher Liebe zog über ihr blasses, feines Gesicht, und ihre Hand zog die seine innig an die Brust. »Ich? Kennst du mich nicht besser?«

»Ja, ich kenne dich!« rief er erleichtert und drückte die Braut zärtlich an sein Herz. »Eher glaube ich, daß das Licht von der Sonne, der Duft von der Rose sich trennt, als daß deine Liebe mir untreu wird. Du bist nicht in dem Komplott, welches die letzte Blume aus meinem armen Leben zu reißen droht. Aber, o großer Gott, darf ich hindernd zwischen dich und ein günstigeres Geschick treten? Was kann ich dir bieten, außer Hoffnung und immer wieder nur Hoffnung, während dir von dort Wohlsein und eine gesicherte Existenz winken?«

»Aber auch Liebe?« entgegnete sie mit tiefer Innigkeit. »Meinst du, daß deine Liebe mir für die Schätze der ganzen Welt feil wäre? Mein Freund, wir gehören einander! Daran glaube so fest wie an das Dasein Gottes! Dann werden wir zwar kämpfen müssen – aber wir werden siegen. Gott wird die redliche Liebe und Treue nicht sinken lassen.«

Sie hatte kaum diese Worte vollendet, als sich draußen Tritte und das Rauschen von Kleidern vernehmen ließen. Gleich darauf trat die Mutter ein, eine bejahrte, aber noch rüstige und in ihrem Feiertagsstaat recht stattlich aussehende Frau. Ihr Gesicht war vom Frost stark gerötet, und obwohl man es sonst für gutmütig und munter gelaunt hätte halten können, nahm es doch, als sie des armen Kandidaten ansichtig wurde, einen strengen und gereizten Ausdruck an. Seine wortreiche Begrüßung und Beglückwünschung erwiderte sie sehr, sehr kühl, und es folgte eine höchst verlegene Pause, welche die Frau Mama endlich mit den Worten unterbrach: »Geh in die Küche, Lenchen, und sieh nach dem Essen! Ich habe mit dem Herrn Kandidaten zu sprechen.«

»Setzen Sie sich, Herr Kandidat!« sagte sie, als beide allein waren, während sie selbst mit ihrer Leibesfülle und ihren bauschenden Kleidern das Sofa beinahe ausfüllte. Sie betonte dieses »Herr Kandidat« mit besonderer Schärfe, und noch nie hatte unserem Freund dieser ehrwürdige Titel so widerwärtig geklungen wie diesmal. Er setzte sich verlegen und herzklopfend vor ihr auf einen Stuhl.

»Sie haben mir nun schon«, fuhr die Dame fort, »zum zwölften Male Glück zum Neujahr gewünscht. Aber ich muß Ihnen sagen, daß mir Ihre Glückwünsche kaum mehr angenehm sind. Denn sie gehen niemals in Erfüllung.«

»Sie meinen«, erwiderte Siebold kleinlaut, »weil ich immer noch Kandidat bin?«

»Was soll ich sonst meinen?« rief jene etwas gereizt. »Andere Männer in Ihren Jahren sind doch schon etwas. Aber Sie – nehmen Sie mir es nicht übel –, was sind Sie denn?«

»Wie? Ich wäre ein Nichts?« fuhr Siebold unwillig auf, während ihm das Blut heiß zum Herzen stieg. »Habe ich mich nicht zu dem wichtigsten und heiligsten Amte, welches die Erde kennt, vorbereitet? Und kann ich nicht, wenn Gott mich ruft, jeden Augenblick in dieses Amt eintreten?«

»Ach, gehen Sie mir mit solchen Reden!« entgegnete die Frau geringschätzig. »Die kenne ich nun schon auswendig. Daß Sie vorbereitet sind, weiß ich längst. Aber das Amt, das Amt! Wo ist denn das Amt?«

»Es wird kommen, ich gebe Ihnen meine heilige Versicherung.«

»Oh, schon hundertmal haben Sie mir dasselbe gesagt. Ich kann's gar nicht glauben, daß für Sie noch eine Stelle in der Welt vorhanden ist.«

»Sie sind grausam, höchst grausam!«

»Nun freilich, angenehm mag's Ihnen nicht sein, daß ich einmal so frei von der Leber weg spreche. Aber ich muß es! Ich bin Mutter, Herr Kandidat! Eine Mutter muß an ihr Kind denken. Mich jammert mein Lenchen. Sie verblüht immer mehr und wird endlich zur alten Jungfer.«

»Einst sprachen Sie anders, als Sie mit Hoffnung und gutem Vertrauen die Hand Ihrer vortrefflichen Magdalene in die meine legten. Und damals war ich dasselbe, was ich heute bin.«

»Ja, mein guter Herr Kandidat, nur mit dem Unterschied, daß wir damals alle zwölf Jahre jünger waren. Und das ist ein gewaltiger Unterschied. Damals war eben mein guter Mann gestorben; Gott habe ihn selig; er war ein braver Mann; zwar nur ein schlichter Bürgersmann, kein Studierter; aber er hatte sein redliches Auskommen. Wir waren in großer Not und Betrübnis. Da kamen Sie, und ich dachte, der Herr habe Sie uns zum rettenden Engel geschickt. Da hing Ihnen noch der Himmel voller Geigen. Wenn man Sie reden hörte, so war es nicht anders, als brauchten Sie nur die Hand auszustrecken und gleich hingen zehn Stellen daran. Wenn ich damals gewußt hätte, was ich heute weiß, dann würde ich mich hundertmal besonnen haben, ehe ich einmal ja gesagt hätte.«

»Ja, damals waren Sie arm«, entgegnete Siebold mit Bitterkeit. »Seitdem sind Sie wohlhabend geworden. Vielleicht ist Ihnen meine Armut zuwider.« »Nein, Herr Siebold, nein, das ist es nicht! Es ist wahr, der Herr hat Erbarmen gehabt mit der armen Witwe und der verlassenen Waise. Mein armer, seliger Bruder – er wollte niemals heiraten, weil ihm seine Geliebte in der Jugend gestorben war – hat uns ein hübsches Erbteil hinterlassen. Gott sei Dank, mein Lenchen braucht sich nicht zu schämen; sie hat eine schöne Aussteuer und wohl noch einen Notpfennig dazu. Aber nach Geld steht nicht mein Sinn. Haben Sie ein Amt, gut, so ist sie die Ihrige. Doch ohne Amt kein Lenchen. Sie sind ja ein gelehrter Mann. Das müssen Sie doch einsehen.«

»Sie wissen, daß ich mich um die offene Stelle in X. beworben habe. Ich erwarte täglich die Antwort und glaube wirklich einige Aussicht zu haben.«

»Es wird nichts sein, es wird nichts sein!« rief die Frau Mama, welche sich vorgenommen zu haben schien, alle Hoffnungsblüten unseres armen Freundes im Keime zu ersticken. »Und alles in allem, so muß ich Ihnen sagen, daß ich nicht länger gesonnen bin, mich durch Ihre zwar sehr schönen, aber doch sehr luftigen Hoffnungen hinhalten zu lassen. Mag's denn geradeheraus gesagt sein: Ich wünsche, daß das Geschleppe (sie brauchte wirklich diesen häßlichen in ihrem Sinne sehr bezeichnenden Ausdruck) endlich einmal aufhört. Bei dem ewigen Liebeln, Sehnen, Küssen und Naschen kommt nichts heraus. Das Herz wird darüber abgenutzt, und die Schönheit gewinnt auch nichts dabei. Wie sieht mein armes Lenchen heute aus, wie blaß und abgehärmt, und was war sie einst für ein frisches, blühendes Röschen! Wenn ein Mädchen bald dreißig Jahr alt ist, dann ist's die höchste Zeit für sie zum Heiraten. Für meine Tochter hat sich eben jetzt eine passende Gelegenheit gefunden.«

»Meine Braut (Siebold brauchte absichtlich und mit Nachdruck diese Bezeichnung) hat mir bereits gesagt, daß der Kaufmann M. es gewagt hat, in meine heiligen Rechte einzugreifen.«

Die Mutter überhörte den tiefen, traurigen Ernst dieser mit Nachdruck gesprochenen Worte. Sie fuhr fort: »Nun, es ist mir lieb, daß Sie es schon wissen. Da werden Sie denn gestehen müssen, daß ich als Mutter verpflichter bin, das Beste meiner Tochter wahrzunehmen. Die Partie ist in jeder Beziehung gut und passend. Der Mann ist in den besten Jahren, ist unbescholten, wohlhabend und lebt in geordneten Verhältnissen. Was sagen Sie dazu?«

»Was ich sagen soll?« rief Siebold mit Leidenschaft, und seine Augen füllten sich mit Tränen. »Nein, tausendmal nein! Großer Gott, soll denn das einzige Glück, dessen ich mich freue, mit einem Schlage vernichtet sein?«

»Wenn Sie Lenchen wirklich lieben«, sagte die Mama mit mehr Schlauheit, als man ihr zugemutet hätte, »muß Ihnen dann ihr Glück nicht höher stehen als das eigene?« »Nein, nein! Auch Lenchen wird nicht glücklich. Wie können Sie nur daran denken! Sie liebt mich tief und innig. Wie könnte sie einem andern angehören? Aber das wird immer geschehen. Meine Magdalene wird in Ewigkeit nicht wollen.«

»Das ist eben das Unglück, daß sie nicht will. Darum sollen Sie sie dazu bestimmen.«

»Das fordern Sie von mir?«

»Ja, ich fordere es, denn ich kenne Sie als einen rechtschaffenen Menschen. Entscheiden Sie selbst: hier ist alles, was zu einer anständigen Versorgung meiner Tochter erforderlich ist: Haus, Herd und Wohlstand. Was haben Sie dagegen zu bieten? Konen Sie sagen: Ich habe ein Amt? oder: Ich werde in einem Viertel-, einem halben Jahr eins haben? Können Sie das?«

»Nein, das kann ich nicht!« rief Siebold verzweifelt. »Herr des Himmels, das ist ja mein Unglück, daß ich nichts, gar nichts in der Welt bin!«

»Nun also, was wird Ihnen dann übrigbleiben?«

Das plötzliche Eintreten Magdalenes ersparte ihm die Antwort. Sie fiel ihrer Mutter um den Hals, und schmeichelnd und liebkosend flehte sie: »Liebe, gute Mutter, quäle doch meinen Gustav nicht länger! Du weißt ja, wie es mit mir sieht. Ich lasse nicht von ihm. Ich müßte mich ja selbst hassen und verachten, wenn ich seine jahrelange Liebe und Treue so schlecht vergelten sollte. Du weißt, Herzensmutter, ich bin dir immer gehorsam gewesen. Aber, Gott weiß es, in diesem Fall kann ich dir nicht gehorsam sein!«

Die Mutter war sehr erzürnt über diesen Überfall der Tochter. Sie sprach viel von kindlichem Eigensinn, Unverstand und Undankbarkeit. Aber Lenchen war entschlossen, sie nicht zu Wort kommen zu lassen. »Ich werde gewiß krank werden!« rief sie. »Ja, ich werde sterben, wenn du mich zwingst, meinem Gustav zu entsagen und diesen Menschen, den ich nicht ausstehen kann und der es mit seinem Antrag gewiß nur auf dein Geld abgesehen hat, zu heiraten. Das wäre aber ein schönes Glück für dich, wenn du mich vielleicht nach einem Jahr schon draußen auf dem Kirchhof suchen müßtest.«

Das schlug eine sehr empfindliche Saite in dem mütterlichen Herzen an. Mama war keine böse, sondern nur eine eigensinnige, heftige und etwas eitle Frau. Das beste Gefühl ihres Herzens war die Liebe zu ihrer einzigen Tochter, und am Ende war es nur diese, welche ihren Zorn gegen den armen Kandidaten so heftig erregt und ihre Gunst dem neuen Freier zugewendet hatte.

»Mein Gott«, schrie sie, »Magdalene, ist das eine Wirtschaft mit deinem Kandidaten, als wäre er mindestens ein Prinz: Wenn es denn sein muß, eh' du mir krank wirst und stirbst, so sei's denn drum! Aber ich bin böse, sehr böse auf dich. Und Sie, mein Herr Kandidat, sind schuld an dem ganzen Jammer.«

»Meine Verehrte«, sagte Siebold, der dieser eben geschilderten Szene verlegen zugeschaut hatte, »erlauben Sie mir einen Vorschlag! Sie haben nur allzu recht! Ich sollte Magdalene entsagen; aber ich fühle mich jetzt zu schwach dazu. Haben Sie noch ein Jahr Geduld! Wenn mir in diesem heut begonnenen Jahr kein Amt zuteil wird, dann will ich es als einen Wink von oben ansehen, daß der Himmel unsere Verbindung nicht will. Dann soll Magdalene frei sein.«

»Oh, nach einem Jahre werde ich doch noch dein sein, wie heute!« rief diese mutig.

»Still, Magdalene, auch eine Mutter hat geheiligte Rechte, und es wäre ein Verbrechen von mir, wenn ich dein Glück noch länger an mein hoffnungsloses Geschick binden wollte. Sind Sie es zufrieden?«

»Mag es so sein!« erwiderte die Mama verdrießlich. »Ich will Herrn M. schreiben, daß es vorderhand nichts ist. Aber ich tue es ungern, höchst ungern.« Sie verließ zürnend das Zimmer.

Siebold pflegte sonst an Sonn- und Feiertagen bei seiner Braut zu Mittag zu speisen. Diesmal hatte ihn die Mama nicht eingeladen, und der Ärmste wußte nicht, ob er gehen oder bleiben sollte. Aber Magdalene machte schnell aller Verlegenheit ein Ende. Sie deckte, wie gewöhnlich, für drei Personen und trug die Suppe auf. Die Mama mußte es sich gefallen lassen; aber es war ein wenig erfreuliches Mittagessen. Sie war höchst unangenehm und gereizt und machte beißende Bemerkungen, daß unserm armen Freund der Bissen im Mund quoll. Wie jämmerlich ihm zumute war, kann sich jeder denken, der jemals als hoffnungsloser Bräutigam seiner erzürnten und mißgelaunten »Schwiegermutter in Hoffnung« gegenübergesessen und bei ihr gegessen hat.

Es war, als ob sich am ersten Tag des Jahres alles vereinigt hätte, um dem unglücklichen Kandidaten das Leben sauer und schwer zu machen. Kaum war er nach den aufregenden Morgenszenen auf seinem Stübchen wieder angekommen, als sich der Briefträger mit einem Brief meldete. Er hatte deren schon zu Dutzenden empfangen, so daß er mit instinktartigem Gefühl den Inhalt schon im voraus witterte. »Es wird wieder nichts sein!« sagte er kleinlaut, während er mit zitternder Hand das Siegel erbrach. Aber, trotz dieses resignierenden »Es wird wieder nichts sein!« traf es ihn doch wie ein Keulenschlag, als er in zwei dürren Zeilen las, daß seine Bewerbung um das Pfarramt in X. nicht berücksichtigt werden könne, da dasselbe bereits anderweitig besetzt sei. – Er schleuderte den Brief in eine Ecke des Zimmers, und eine Träne trat in seine Augen. »So ist denn wieder eine Hoffnung dahin!« rief er, heftig im Stübchen auf- und abschreitend. »Die letzte, die ich hatte! Oh, ich bin zum Unglück geboren! Magdalenes Mutter hat recht. Sie hat mich tief gekränkt; aber sie hat recht. Für mich ist keine Stelle auf der ganzen Erde vorhanden; kein Ort, wo ich ausruhen, kein Wirkungskreis, in dem ich etwas Gutes und Tüchtiges schaffen könnte! Ich bin zum unsteten Wandern ohne Zweck und Ziel verurteilt, und so wird's fortgehen, bis mein Haar grau und meine Kraft gebrochen wird. Ein Jahr habe ich mir noch erbeten. Ich Unsinniger! Das Jahr wird vorüber sein, und der Fluch: ›Immer noch Kandidat!‹ wird auch dann noch an meinen Fersen haften!«

Wir sehen, daß unser armer Freund eine besonders finstere Stunde hatte, wie sie wohl auch über das beste, frömmste und ergebungsvollste Gemüt bisweilen zu kommen pflegt, wenn die unaufhörlichen Nadelstiche des Geschicks sich zu einem großen und unerträglichen Schmerz steigern. Dasselbe Stübchen, welches gestern von so vielen lieblichen Hoffnungsträumen erfüllt war, sah heute den unglücklichsten und hoffnungslosesten aller Kandidaten. Der frühe Abend war schon hereingebröchen, als er noch immer über seinem Mißgeschick brütete und sich umsonst aus den Schlingen der düstersten Schwermut zu entwinden bemühte. Da hörte er draußen auf der Treppe polternde Männertritte, offenbar von einem, der, unbekannt mit der Örtlichkeit, mühsam und suchend die Stufen herauftappte. Bald darauf erscholl eine starke, muntere Stimme: »Aber so bringt doch ein Licht, daß ich diese verwünschte, finstere Treppe hinauf finde!« Siebold horchte auf; die Stimme schien ihm bekannt. Seine nächste Bewegung war, daß er in hastiger Eile ein Licht anzündete und die Tür aufriß. Eine hohe, in einen Pelz gehüllte Männergestalt trat ihm entgegen. »Wer bin ich?« rief der Fremde heiter, die Mütze herunterreißend und den Pelz auseinanderschlagend. »Sommerfeld!« schrie Siebold, das Licht hochhaltend und mit großen Augen die Erscheinung anstarrend. »Ja, Sommerfeld, wie er leibt und lebt!« entgegnete jener fröhlich. Die Freunde lagen nach vieljähriger Trennung einander in den Armen.

»Aber sage mir, du Lieber, Bester, wie kommst du hierher?« sagte Siebold nach den ersten stürmischen Begrüßungen. Die Erscheinung des geliebten Jugendfreundes hatte ihn mit einem Male von allen finsteren Gedanken erlöst, und sein blasses Gesicht glänzte wieder im Widerschein einer herzlichen, inneren Freude.

»Wie ich hierherkomme?« erwiderte Sommerfeld. »Das ist ganz einfach. Ein Geschäft führte mich in eure Stadt. Da höre ich im Gasthofe deinen Namen. Ich horchte weiter und – nur du kannst es sein. So bin ich hier!«

»Das ist schön von dir. Ich dachte, du würdest mich ganz vergessen haben.«

»Nein, bei Damon und Pythias, Kastor und Pollux und allen, die in der Welt berühmte Freunde sind. Ich habe dich nicht vergessen. Aber ein verdienter Vorwurf liegt doch in deinen Worten. Ich habe lange, lange nichts mehr von mir hören lassen. Aber wußte ich denn, wo du warst? Deine Briefe hörten endlich auch auf. So ist leider der Welt Lauf. Die innigsten Jugendfreundschaften werden am Ende von ihrem Unkraut überwuchert. – Aber nun sage mir, alter, lieber Freund, wie es dir geht!«

»Nein, sage du es zuerst! Ich hoffe, du bist glücklich. Gestern abend, als ich hier mit mir und meinen Erinnerungen allein Silvester feierte, habe ich ein volles Glas auf dein Glück geleert. Aber darf ich erst fragen? Wie wohl siehst du aus! Was bist du für ein prächtiger Mann geworden!«

»Nun, dem Himmel sei Dank, ich darf mich nicht beklagen. Du weißt, daß Fortuna von jeher etwas für mich getan hat. Mein Vater war ein reicher Mann, und ich bin es wenigstens zur Hälfte, da sein schönes Erbe nur unter zwei Brüdern zu teilen war. Mehrere Jahre war ich auf Reisen im Ausland und sammelte einen Schatz reicher Erfahrungen und herrlicher Erinnerungen. Vor zehn Jahren trat ich die väterlichen Güter an, wählte mir aus den Töchtern des Landes die schönste und holdeste, und ich habe nun schon ein ganz artiges Häuflein kleiner Sommerfelde, die mir viel Spaß und Freude machen.«

»Du Glücklicher!« seufzte Siebold, trübe vor sich hin blickend. »Du hast einen Wirkungskreis, eine Familie, Haus, Hof und Herd; aber ich!«

»Ja, Freund! Wie kommt das? Ich dachte, du müßtest längst versorgt sein, und finde nun zu meinem Erstaunen, daß du immer noch Kandidat bist.«

»Immer noch Kandidat!« bestätigte Siebold mit melancholischem Lächeln.

»Sonderbar! Bei deinen Gaben, deinen schönen Kenntnissen, deinem ernsten, redlichen Streben! Wie ist es möglich, daß du so lange hast übersehen und zurückgesetzt werden können?«

»Deine Freundschaft denkt wohl zu gut von mir! Aber es ist wahr, es muß dir wohl sonderbar vorkommen, daß du mich immer noch als Zwitterding zwischen Sein und Nichtsein findest, ich möchte sagen, als eine Raupe, die ihrer Entpuppung zum Schmetterling noch entgegensieht, wenn du der stolzen Luftschlösser gedenkst, die ich einst im frohen Mut der Jugend von künftigem Glück und Wirken vor dir auf gebaut habe.«

»Ich sehe, das Geschick ist ungerecht, höchst ungerecht mit dir umgegangen.«

»Ungerecht? Sag das nicht. Nur ein wenig unbegreiflich. Das Leben ist voll solcher Unbegreiflichkeiten. Ich zürne nicht darüber, daß die meisten meiner Alter- und Studiengenossen zum Teil längst, zum Teil spielend versorgt worden sind. Ich sage mir: sie waren wohl würdiger als ich. Oder:

Gott hat den Ruf früher an sie ergehen lassen, weil er ihren Dienst früher und gerade an dieser Stelle brauchte, meinen aber nicht. Freilich tut es weh, immer übersehen zu werden und müßig am Markt stehen zu müssen. Aber der Herr geht ja noch um die neunte und elfte Stunde aus und sendet in seinen Weinberg, wen er findet. Wenn mir auch in trüben Stunden bisweilen der Gedanke kommt, er werde mich gar nicht rufen, so sagt mir doch immer wieder mein besseres Bewußtsein, daß er mich am Ende doch noch finden werde.«

»O Freund, ich merke, du bist demütig, vielleicht die schlimmste Eigenschaft in dieser bösen Welt. Glaube mir, die Welt macht nur das aus uns, was wir selber aus uns machen. Man muß sich der Welt aufdrängen, wenn sie uns nicht haben will.«

»Der Welt ja, aber auch dem Reich Gottes? Du weißt, das Vordrängen war nie meine Sache, und meine Natur ist nicht dazu geschaffen, daß sie sich selbst aufdrängt. Auch ist mir das ›sanftmütig und von Herzen demütig sein‹ nach dem Vorbild meines Herrn und Meisters nicht ein bloßes Wort, sondern eine heilige Lebensregel. Aber glaube nur nicht, daß ich versäumt habe, was mir die Pflicht geboten und Ehre und Gewissen gestattet hat. Ich kann dir ein ganzes dickes Aktenstück zeigen, aus dem sich die klägliche Geschichte eines suchenden und nicht findenden Kandidaten zusammenstellen ließe.«

»Armer Freund, wie unglücklich mußt du dich fühlen!«

»Nun, mein teurer Sommerfeld, damit hat's im ganzen gute Wege. Mag es dir auch sonderbar vorkommen, so ist es doch wahr, daß die Grundstimmung meiner Seele keine unglückliche, sondern eine zufriedene und heitere ist. Dem Herrn vertraut man nicht umsonst, und Gott sei Dank, dieses mein Vertrauen ist noch nicht wankend geworden. Auch hat mich bisher immer noch die Hoffnung über den Wassern der Trübsal aufrechterhalten. Aber freilich – manchmal auch ist mir Haupt und Herz in nächtliche Wolken gehüllt. Da möchte ich zagen und klagen. Erst heute hatte ich eine solche schwarze Stunde. Wenn ich dir sage, daß ich nächsten Mai vierzig Jahre alt werde und seit zwölf Jahren eine Braut habe, so wirst du dies wohl begreiflich finden.«

»Wie? Du hast eine Braut?« rief der Freund lebhaft. »Oh, das erregt meine höchste Teilnahme. Wer ist sie?«

»Ein liebes, sanftes und frommes Mädchen; die Tochter einer anständigen Bürgerfamilie in hiesiger Stadt. Für ihren Stand ist sie sehr gebildet; denn der Vater hat für die Erziehung seiner einzigen Tochter fast über seine Kräfte getan. Als ich sie kennenlernte, starb der Vater und hinterließ die Seinigen in ziemlich drückenden Verhältnissen. Der junge, hoffnungsvolle Kandidat war willkommen. Die Tochter liebte seine bescheidene, damals ziemlich hübsche Person, die Mutter die Pfarre, die doch unmöglich lange ausbleiben konnte. Später fiel ihnen von einem reichen Onkel ein ziemlich bedeutendes Erbe zu, so daß sie fast wohlhabend zu nennen sind.«

»Das freut mich!« fiel Sommerfeld ein. »Dies wird in der künftigen Pfarre prächtig zustatten kommen!«

»Oh, mein Freund, ich wünschte, sie wären arm geblieben wie früher. Seit meine zukünftige Frau Schwiegermutter Geld hat, ist ihr der arme Kandidat an allen Ecken und Enden nicht recht. Ich soll nun ein Amt schaffen und – großer Gott, wo soll ich's hernehmen. Du glaubst nicht, wie oft sie mir schon die Hölle heiß gemacht hat. Erst heute hatte ich wieder den bittersten Verdruß. Es hat ein Freier um Magdalenes Hand angehalten, ein wohlhabender, hiesiger Kaufmann – und eben heute, als ich meiner lieben Frau Schwiegermutter meine Neujahrsgratulation abstattete, mutete sie mir zu, daß ich auf Magdalene verzichten und abtrollen sollte.«

»Was sagt Magdalene dazu? Will sie auch den armen Kandidaten dem wohlhabenden Kaufmann opfern?«

»Nein, nein! Magdalene ist mit diamantenen Ketten an mich gefesselt. Sie läßt nicht von mir, wenn ich sie nicht lasse.«

»Nun, das wirst du doch nicht tun?« fragte Sommerfeld, welcher mit großem Anteil dem Freund zuhörte.

»Für den Augenblick nicht. Aber ich bin in einer schrecklichen Lage. Denke nur: Keine Hoffnung, keine, wohin ich auch die spähenden Blicke sende. Die letzte hat dieser Brief vernichtet, welcher mir heute als ein angenehmes Neujahrsgeschenk zugekommen ist. Soll ich Magdalene, welche natürlich über die erste Jugend längst hinaus ist, um das ganze Glück ihres Lebens betrügen, während es jetzt noch für sie Zeit ist, in einer andern Verbindung ein gesichertes Los zu finden und ihre Bestimmung zu erfüllen? Ich habe ihre Mutter noch um die Frist eines Jahres gebeten, und sie hat eingewilligt. Wenn ich in diesem Jahre kein Amt bekomme, dann muß ich als ehrlicher Mann zurücktreten. Geschieht aber dieses, dann möchte ich am liebsten mein Haupt zur Ruhe legen und allen Jammer verschlafen.«

Sommerfeld versank nach diesen Worten des Freundes in ein langes Sinnen, während dieser ebenfalls schweigend im Zimmer auf und nieder ging. Jener sprang endlich auf, und Siebolds beide Hände ergreifend, rief er: »Du dauerst mich unsäglich, du treue, redliche Seele! Kein Mensch ist des reinsten und besten Glückes so fähig und würdig wie du, und du bist, wie ein zweiter Tantalus, dazu verurteilt, die lockenden Äpfel vor Augen schweben und, wenn du die Hand ausstreckst, sie verschwinden zu sehen. Aber Mut, Mut gefaßt. Du wirst nicht immer umsonst schmachten dürfen. Eine Ahnung sagt mir, das Jahr werde nicht vorübergehen, ohne daß dir gegeben wird, was du suchst und erbittest.« Was die beiden Freunde noch weiter miteinander plauderten, können wir übergehen, da es zu den kleinen Ereignissen unserer Geschichte in keiner näheren Beziehung stand. Nur so viel sei erwähnt, daß sie sich erst spät trennten und daß Sommerfeld in seiner frischen, lebensfrohen Weise den armen Freund gestärkt und getröstet zurückließ.

Seitdem sind nun schon vier Monate ins Land gegangen. Der Winter ist vorüber und der Frühling herbeigekommen. Siebolds Tage sind schneckenlangsam in gewohnter Einförmigkeit dahingeschlichen. Er hat geschulmeistert wie immer; eine neue Hoffnung ist nirgends aufgetaucht. Bisweilen hat er seine Magdalene besucht, ja, nur bisweilen. Denn die Mama zürnte noch immer, und er merkte aus allem, daß er unbequem und unwillkommen war. Es wurde ihm immer mehr zur Gewißheit, daß auch dieses Jahr keine Erlösung bringen würde.

Doch eines Tages, es war Anfang Mai, wurde ihm ein Brief gebracht, der ihn in keine geringe Aufregung versetzte. Wir teilen seinen Inhalt wörtlich mit:

»Wohlehrwürdiger, Hochgeehrter Herr Kandidat!

Da der hiesige Herr Pastor wegen Alters und Kränklichkeit sich hat pensionieren lassen, auch bereits unsern Ort verlassen hat, so ersuche ich Sie im Namen des hiesigen Kirchenpatroziniums, dessen Vertretung ich dermalen zu führen die Ehre habe, ganz ergebenst, am nächsten heil. Himmelfahrtstag als den 17. h. in unserem Gotteshaus eine Gastpredigt halten zu wollen. In der frohen Voraussetzung, keine Fehlbittung getan zu haben, zeige gehorsamst an, daß am Mittwoch vor Himmelfahrt früh 8 Uhr eine Fuhre zu Ihrer Abholung vor Ihrer Behausung bereitstehen wird. Werde die Ehre haben, Ew. Wohlehrwürden auf hiesigem herrschaftlichem Schlosse zu empfangen und nach Kräften für Dero Bewirtung Sorge zu tragen. Bitte um gefällige Anzeige, daß Sie die Gastpredigt zur Freude und Erbauung hiesiger Gemeinde zu halten geneigt sein wollen, und würden uns Hochdieselben durch eine abschlägliche Antwort gar sehr in Verlegenheit setzen, da die Geistlichen und Kandidaten in unserer Gegend rar sind.

Mit vorzüglichster Hochachtung verharre Ew. Wohlehrwürden Buchelsdorf .d. 1. Mai 18 ..

ganz ergebenster Walter, Wirtschaftsinspektor.«

Wie gesagt, dieser Brief versetzte unseren Freund in eine mächtige Aufregung. Es war das erste Mal, daß er in dieser überaus höflichen Weise gesucht wurde. Und von wem? Er kannte weder den Herrn Walter, noch hatte er von einem Büchelsdorf jemals gehört. Nach Angabe der Poststation mußte es wenigstens sechs Meilen von seinem Wohnort entfernt liegen in einer Gegend, welche er niemals besucht hatte. Wer kannte ihn dort? Und wie kam man darauf, gerade ihn aus so weiter Entfernung zu einer Gastpredigt herbeizurufen? – Er schlug im Ortschaftsverzeichnis nach und fand, daß es ein ansehnliches Dorf sein mußte; der Name der Gutsherrschaft war ihm gänzlich fremd. Er las den Brief wohl zehnmal, aber er las doch nichts heraus, als daß er an Himmelfahrt eine Gastpredigt halten sollte. Und siehe, da war noch ein Umstand, den er in der ersten Eile ganz übersehen hatte. War nicht der 17. sein Geburtstag? Richtig. Welch wunderbares Zusammentreffen, daß er gerade an seinem Geburtstag etwas so Ungewöhnliches erleben sollte!

Siebold sagte natürlich nicht nein, und noch am selben Tag ging der Zusagebrief ab. Die nächsten vierzehn Tage vergingen in großer Spannung, und nur mühsam errang er die notwendige Ruhe, um seine Himmelfahrtspredigt – man kann denken, mit welch hingebendem Fleiß – auszuarbeiten.

Am Abend vor der schicksalhaften Reise machte er noch einen Abschiedsbesuch bei seiner Magdalene. Er konnte gar nicht begreifen, warum diese so ungewöhnlich heiter war und warum sie ihn beim Abschied mit einer Rührung und Zärtlichkeit entließ, welche er seit langem an ihr nicht wahrgenommen hatte. Noch mehr erstaunte er über die ausnehmende Güte und Herablassung der Frau Mama. Es schien in dem allen ein Geheimnis verborgen, welches er vergeblich zu ergründen suchte.

Mittwoch früh 8 Uhr hielt ein bequemer Reisewagen, mit zwei prächtigen Rappen bespannt, vor seiner Tür. Er brauchte nicht zu warten, denn Siebold war schon seit einer Stunde fertig. Und nun ging's rasch und fröhlich in den herrlichen Maitag hinein. Der wundervoll blaue Himmel über ihm; überall blühende Bäume, üppige Getreidefelder, grüne Wiesen! Und die Gegend wurde immer lieblicher, in den mannigfaltigsten Reizen abwechselnd. Denn es ging dem Gebirge zu. Buchelsdorf lag in den ersten Vorbergen.

Am Spätnachmittag war er dort. Der Wagen rollte in einen großen Wirtschaftshof, an dessen einer Seite sich ein stattliches Schloß erhob. Am Portal empfing ihn mit großer Höflichkeit Inspektor Walter. Er müsse, sagte er, die Gäste des Hauses willkommen heißen, da die Gutsherrschaft schon seit längerer Zeit abwesend sei. Und zugleich führte er ihn eine breite Treppe hinauf in den oberen Stock, wo ein schönes, mit allen Bequemlichkeiten reichlich ausgestattetes Zimmer zur Aufnahme unseres Freundes bereit war. Dieser richtete an seinen gefälligen Wirt allerlei Fragen, durch welche er sich über den rätselhaften Ruf zur Gastpredigt einige Aufklärung zu verschaffen hoffte. Aber war es Zurückhaltung, oder war ein Geheimnis überhaupt nicht vorhanden – Herr Walter sagte nur, es sei unmöglich gewesen, für den morgigen Tag in der Nachbarschaft einen Prediger zu gewinnen. Da sei ihm denn nichts übriggeblieben, als sich in die Ferne an Herrn Siebold zu wenden, der ihm als ein eben so gefälliger wie ausgezeichneter Kandidat genannt worden sei.«

Siebolds Herz, da er sich allein befand, war zu übervoll, als daß er es im Zimmer ausgehalten hätte. Er eilte durch den herrlichen Schloßgarten ins Freie, wo sich eine liebliche Gegend, im Glänze der bald untergehenden Sonne in den prachtvollsten Farben strahlend, vor seinen Blicken ausbreitete. Er erstieg einen nahen, hohen Hügel. Da lag zu seinen Füßen das friedliche Dorf, in einem grünen Tal malerisch sich hinwindend. Wie traulich blinkten hier niedere Strohhütten, dort rote, frische Ziegeldächer aus der Umkränzung blühender Obstbäume oder vollbelaubter Linden; wie reizend die Wiesenteppiche längs dem Dorfe hm mit ihren vielen tausend roten, blauen und gelben Blumen in der Umfassung grüner Weiden! Und dort die Kirche, auf einem Hügel über das Dorf sich erhebend – fast so, wie er sie im Traum der Silvesternacht gesehen. Kaum war sie in der Umarmung der hohen, uralten Linden zu sehen, und nur der Turm ragte höher empor, von welchem eben die Abendglocke ihre feierlichen, unbeschreiblich rührenden Klänge in das ruhende, duftende und dämmernde Tal hinabsandte.

»Oh«, rief Siebold, seine Arme ausbreitend, »hier könnte ich leben! Hier möchte ich Hütten bauen! Hier in deinem Dienste, o Gott, wirken zu können – das wäre eine Seligkeit, viel zu groß, als daß ich sie für mich hoffen könnte!«

Wir begleiten unseren Freund am Himmelfahrtsmorgen in die Kirche. Wie ehrwürdig sieht er aus in seinem langen, feierlichen Talar und schwarzen Samtbarett! Sein Gesicht ist zwar etwas blaß und entbehrt der jugendlichen Frische; aber es hat dafür etwas Ernstes, Männliches und Würdevolles, womit der sanfte und liebevolle Ausdruck seiner Augen harmoniert. Die in Scharen zur Kirche strömenden, festlich geputzten Landleute bleiben stehen, wo er vorübergeht, und blicken ihn an. Sie grüßen ihn freundlich, und einige nennen ihn dabei »Herr Pastor«. Unter dem Dreiklang der Glocken treten wir in das einfache, doch helle und freundlich geschmückte Gotteshaus; die Orgel tönt uns entgegen, und es umfängt uns ein süßer, heiliger Friede, wie er eben nur in einem Landkirchlein, zumal in der Frühe eines sonnigen, blauen Frühlingsmorgens, zu finden ist. Der Raum ist heute fast zu eng für die dicht herandrängende Versammlung, und auf allen Gesichtern scheint sich eine gewisse Erwartung und Spannung auszusprechen. Als nach den üblichen Gesängen und Altargebeten Siebold die Kanzel betritt, ist die Stille so tief und lautlos, daß man das Fallen des Sandkorns hätte hören können. Seine Stimme, anfangs ein wenig befangen und schüchtern, wird mutiger und freier im Verlauf der Rede. Was er spricht, ist aus der Tiefe des Schriftwortes und seines Herzens geschöpft und zugleich so klar und faßlich, daß es mit unwiderstehlicher Gewalt die Herzen seiner einfachen Hörer ergreift. Er selbst feiert eine wahre Himmelfahrt: denn sein Gemüt, über allen Tand und alles Leid der Erde erhaben, ist voll himmlischen Friedens und Glücks, und man sieht an den andächtigen Gesichtern und glänzenden, hier und da in Tränen überquellenden Augen, daß es wie ein Wehen des Geistes durch die große Versammlung geht. Unser Freund hat heute in der Tat seinen besten Tag gehabt. So frei und kräftig, mit solcher Gewalt über Gedanken und Sprache hat er noch nie gepredigt, und das heitere Gefühl der Befriedigung, welches ihn am Schluß beseelt, ist die sicherste Bürgschaft, daß er im richtigen Geist und Ton des Festes hohe Botschaft verkündigt hat.

Der Gottesdienst ist zu Ende. Die Menge strömt hinaus. Siebold, der zuletzt das Gotteshaus verläßt, findet noch zahlreiche, auf dem Kirchhof zusammenstehende Gruppen. Manch freundliches Wort über seine schöne Predigt, das bei seinem Herannahen sogleich verstummt, dringt zu seinen Ohren. Die Mützen werden ehrerbietig gezogen; hier und da schüttelt man ihm die Hände; die Blicke sind nun viel aufmerksamer, die Grüße zutraulicher, und man redet ihn häufig mit »Herr Pastor« an.

Am Kirchhoftor empfängt ihn der Inspektor Walter und spricht: »Wäre es dem Herrn Pastor nicht gefällig, sein Pfarrhaus in Augenschein zu nehmen?«

»Wie? Mein Pfarrhaus?« rief der Kandidat und blickte den Sprechenden mit maßlosem Erstaunen an.

»O, bitte tausendmal um Entschuldigung!« entgegnete der andere, sich schalkhaft auf den Mund schlagend. »Dachte wirklich, Sie wären unser Herr Pastor! Frage also den Herrn Kandidaten, ob er das hiesige Pfarrhaus beaugenscheinigen wolle?«

Sie brauchen nicht weit zu gehen. Drunten, am Fuße des Kirchhügels, liegt es. Vorn ein etwas vernachlässigstes Blumengärtchen; etwas weiter hinten das Pfarrhaus, niedrig und unscheinbar, doch höchst einladend mit den an der Vorderseite sich hinziehenden Weingeländen und zwei hohen, prachtvoll blühenden Apfelbäumen, welche das Strohdach zum Teil überschatteten. Hof und Obstgarten liegen hinter dem Haus, und der Inspektor versichert, daß alles in bestem Zustande sei.

Sie treten ins Haus. Ein wohleingerichtetes, freundliches Zimmer nimmt sie auf. Einige Damenbekleidungsstücke, Tücher und Hüte liegen über einem Stuhl. Siebold stutzte. »Sie sagten mir«, spricht er zu seinem Begleiter, »das Haus sei unbewohnt. Hier aber müssen Damen sein.«

»Ich weiß nicht«, erwidert dieser, »es scheint Besuch eingetroffen zu sein. Bitte, nur weiterzuspazieren.«

Er öffnet eine Seitentür und – Siebold steht da in sprachlosem Erstaunen. Darf er seinen Augen trauen? Ist es ein Traum, oder Wirklichkeit? Magdalene – seine Magdalene fliegt ihm entgegen und umschlingt ihn jubelnd mit ihren Armen. Die Freude überwältigt sie so sehr, daß sie in Tränen ausbricht und nur schluchzend einige unzusammenhängende Liebesworte stammeln kann. Hinter ihr läßt sich die breite, in Seide rauschende Gestalt ihrer Mutter sehen, welche mit freudestrahlendem Gesicht ihm ihre Hand entgegenreicht und ein frohes Willkommen zuruft.

»Aber um Gottes willen«, sagt er, wieder zu sich kommend, »wie seid Ihr denn hierher gekommen?«

»Oh, der Herr Schwiegersohn«, entgegnet Mama lachend, »soll nicht allein seine Frühlingspartie haben. Wir wollen auch dabeisein und seinen Geburtstag in Buchelsdorf feiern.«

Unser Freund sollte aus einem Erstaunen ins andere fallen. Eine Tür öffnet sich und – Sommerfeld tritt heiteren Antlitzes herein. »Nun«, ruft er fröhlich, »damit die häusliche Szene vollständig ist, darf auch der Freund nicht fehlen. Da bin ich!«

Da ergreift Siebold sein Haupt mit beiden Händen. »Kinder«, sagt er, »wenn ihr wollt, daß ich den Verstand nicht verlieren soll, so sagt mir, wer und wo ich bin?«

»Wer du bist?« erwidert Sommerfeld. »Pfarrer von Buchelsdorf. Wo du bist? In deinem Pfarrhaus.«

Da sinkt der Kandidat überwältigt auf einen Stuhl und vergräbt sein Angesicht in seine gefalteten Hände. Er ist erschüttert, daß ihm Herz und Hals wie zusammengeschnürt sind.

»Nun, fasse dich, alter lieber Freund!« fährt Sommerfeld fort. »Du bist natürlich erstaunt und denkst, es sei ein Wunder geschehen. Aber es geht alles mit natürlichen Dingen zu. Ich, der Gutsherr und Kirchenpatron von Buchelsdorf, berufe dich zum Pfarrer hierselbst.«

»Wie? Du bist Gutsherr von Buchelsdorf?«

»Ja, seit einigen Wochen. Ich habe das schöne Gut gekauft. Es ist mir doppelt lieb, da es mir Gelegenheit gegeben hat, dich, brave, treue Seele aus der babylonischen Gefangenschaft deiner uralten Kandidatur zu erlösen.«

»Aber die Gemeinde! Die Gemeinde!« ruft Siebold, der an sein Glück noch gar nicht glauben kann. »Die muß doch erst gehört werden.«

»O, das ist alles in bester Ordnung. Es ist schon eine Abordnung der Gemeinde da, die dich als ihren Pfarrer zu begrüßen kommt. Nur herein, ihr lieben Leute!«

Sommerfeld ruft diese Worte zur Tür hinaus, und alsbald erscheinen zehn bis zwölf ehrsame Bauersmänner mit etwas linkischen, doch herzlichen Verbeugungen. Der Sprecher drückt in schlichter Rede die Freude und Zufriedenheit der Gemeinde über die gehörte Predigt aus und bittet unsereren Freund, ihnen ein treuer und lieber Seelsorger sein zu wollen.

»Da hast du's. Wenn ich dich ihnen auch nicht geben wollte, sie würden mich dazu zwingen. Du hast's ihnen angetan.«

Siebold hätte im Sturm seiner Freude die Männer nach der Reihe umarmen mögen. Er begnügt sich jedoch mit wenigen frommen und liebevollen Dankesworten, in welche er sein glückliches Herz ausströmt.

»Sieh«, spricht Sommerfeld, als sie wieder allein sind, »wie so schön sich das alles gefügt hat, und wie herrlich dein frommes Hoffen und Harren belohnt worden ist. Ich muß dir sagen, Freund, daß mein Besuch bei dir am Neujahrstag nicht so ganz zufällig war. Ich hörte von dir zu meinem großen Erstaunen, daß du immer noch Kandidat seiest. Ich hatte ordentlich Sehnsucht, dich wieder einmal zu sehen, und da ich eben Geschäfte in der Hauptstadt zu erledigen hatte, machte ich gern den kleinen Abstecher zu dir. Ich fand dich zu meinem innigsten Bedauern in einer sehr betrübten Lage, und leider konnte ich dir damals nicht helfen. Da kaufte ich im Frühjahr mein schönes Buchelsdorf. Wie freute ich mich, daß ich damit zugleich in der Lage war, für dich zu sorgen. Der alte Herr wünschte pensioniert zu sein, und ich bot natürlich gern meine Hand dazu. Du wirst ihm eine mäßige Pension abgeben und dabei noch genug für dich haben, denn ich darf dir sagen: Du bekommst keine schlechte Stelle. Eine Gastpredigt war notwendig. Aber ich konnte dir und mir die Freude der Überraschung nicht versagen. Du bekamst den Einladungsbrief, der dir wohl etwas rätselhaft vorkommen mochte. Ich wählte Himmelfahrt, denn ich dachte mir wohl, daß dir der Eintritt ins Amt eine Fahrt in den Himmel sein würde. Ich wählte deinen Geburtstag: denn du solltest mir nicht über die Vierzig hinauskommen, ohne dein lang und heiß ersehntes Ziel endlich erreicht zu haben. Ich lud deine liebe Braut und Schwiegermutter ein: denn sie mußten ja Zeugen und Teilnehmer deines und ihres Glückes sein. Nicht wahr, Verehrteste«, so wendet er sich an die alte Dame, »Sie machen doch meinem Freund keine Schwierigkeiten mehr?«

»Oh, nicht doch, gnädiger Herr«, erwidert diese knicksend und überglücklich lächelnd, »meine Tochter als Frau Pfarrerin zu sehen, war ja von jeher das höchste Ziel meiner Wünsche.«

»Und Sie, Magdalene, Sie lassen doch Ihren armen Freund nicht zu lange schmachten? Ich lade mich im voraus zur Hochzeit ein.« Das Mädchen verbarg errötend ihr Antlitz an der Schulter des Geliebten.

»Dank, tausend Dank, du edler, vortrefflicher Freund!« ruft Siebold in tiefer Rührung, Sommerfeld die Hand reichend. »Du hast uns unendlich reich und glücklich gemacht.«

»Warum dankst du mir?« erwidert dieser ernst. »Ich bin in deiner Schuld. Deine Freundschaft war die reinste und edelste Blume meiner Jugend. Deinem reichen Geist, deinem treuen, guten Herzen verdanke ich mehr, als du denken magst. Wie bildend und veredelnd hast du auf mich eingewirkt! Noch mehr! Du warst mir ein Ratgeber in dem Sturm und Drang der Jugend. Vor wie vielen Torheiten hast du mich bewahrt, in wie vielen Versuchungen mich emporgehalten. Wenn ich heute ohne Vorwurf, ja mit wahrem Entzücken an die Zeit unseres Universitätslebens zurückdenke, so ist das zum großen Teil dein Werk. Daher nicht mein Verdienst, sondern ein Zuwachs meines Glückes ist es, wenn ich zu deinem Glück etwas habe beitragen können.«

Wir brauchen nicht mehr zu erzählen. Wer den braven Kandidaten und sein Bräutchen liebgewonnen hat, kann sich alles übrige leicht denken. Daher sei nur noch erwähnt, daß Sommerfeld für seine Gäste im Pfarrhaus ein köstliches Mittagsmahl veranstaltet hatte. Dabei herrschte natürlich eine herzliche, glückselige Fröhlichkeit. Besonderen Jubel erregte der scherzhafte Toast, den Sommerfeld auf das Wohl des jungen Pfarrherrn ausbrachte und in welchem sich das melancholische Moll des »Immer noch Kandidat!« in dem vollen, freudigen Dur-Akkord des »Nicht mehr Kandidat!« auflöste.


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