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Es ist eine schöne Sache, daß Menschen, die sich begegnen, einander begrüßen. Wenn sie einander kennen, soll mit dem Grüßen wohl gesagt sein: Freut mich, daß du auch noch da und wohlauf bist. Wenn sie einander nicht kennen und vielleicht auf einsamem Wege zusammentreffen, so sagt der Gruß: Freut mich überhaupt, daß du da bist; wir sind Lebensgenossen.
Fragt dich aber ein Bekannter: »Wie geht's?« – so sieh zu, ob er denn wirklich wissen will, wie's dir geht. Hast du ein Leid erfahren oder einen Kummer in der Seele und du sagst ehrlich, wie dir zumute ist, so kann es leicht kommen, daß der Grüßende dich verwundert oder gar verdrossen ansieht; denn er wollte ja eigentlich nicht wissen, wie's dir geht, das ist nur so eine Redensart. Darum ist das Beste, wenn du auf die Frage wie geht's, die Antwort gibst: »Ich danke.« Damit bist du fertig und hast nicht nötig zu lügen, indem du gut antwortest, wenn es dir in der Tat nicht gutgeht. Kannst dich darauf verlassen, der Fragende ist mit der Antwort, »ich danke«, in der Regel vollkommen zufrieden.
Es gibt aber auch wohlgemeinte Grüße.
Wenn du am Hause des Hagenmaier vorübergehst und er steht unter der Halbtür und grüßt dich heraus, so darfst du annehmen, er meint's im Ernst; dagegen kannst du dich darauf verlassen, daß der Oberbauer von Windenreuten, wenn du ihm begegnest – zumal wenn er die Stufen vom Wirtshaus heruntersteigt – und du grüßt ihn, stets die Pfeife im Mund hält und denkt: Was will denn der? Der will gewiß was von mir, weil er mich grüßt.
Der schönste von allen Grüßen ist und bleibt immer, wie die Mutter ihr Kindchen grüßt, wenn sie es mit schlaf geröteten Wangen aus dem Bettchen hebt und sich eben freut, daß es frisch gestärkt wieder auflebt und lacht und gedeiht.
Es gibt eben verschiedene Grüße. Es gibt einen Gruß im Flug, der sehr höflich scheint; der Grüßende macht ein gar freundliches Gesicht, grinst und zeigt seine Zähne; wer weiß, was er wirklich denkt. Aber was tut's? Man kommt nicht weit in der Welt und trägt schwer am Leben, wenn man sich immer vergegenwärtigen will: was geht in dem anderen vor.
Wie vielerlei Lug und Trug wird in der Welt verbraucht, und das Leben ist doch so kurz; die Station, die zum Aufenthalt gegeben, ist so knapp bemessen.
Da begegnen sich zwei Männer. »Empfehle mich höflichst« – »Gehorsamer Diener« heißt es hin und her, und innerlich lachen sie übereinander, verwünschen vielleicht einander und wünschen sich gegenseitig zum Teufel. Die einfältigste Redensart ist doch »gehorsamer Diener«, denn will der, der »gehorsamer Diener« sagt, wirklich das sein? Sage nicht, das sind bloße Redensarten; es kann dich niemand zu einer hohlen Redensart zwingen, wenn du nicht willst.
Nun sieh dir einmal den Hochmutsnarren an, der daherstolziert, als ob er eigentlich ganz allein auf der Welt wäre und die anderen gar kein Recht hätten, auch dazusein; er grüßt nur, indem er mit seinem Augenglas winkt, das ist ihm schon vollständig genug für die Aufdringlichen, die sich anmaßen, auch zu leben. –
Da kommt ein anderer. Ihn hat ein gutmütiger Alter freundlich begrüßt und geht an seinem Stock weiter, der Begrüßte aber macht ein schiefes Maul, wendet sich noch einmal verächtlich zurück: Was tut denn der alte Mann noch auf der Welt, der hätte auch schon lange adje sagen können, und wie kommt der dazu, dich zu grüßen? –
Und wieder ein anderer wird vor einem Bittsteller begrüßt, gar untertänig, und er fühlt sich um so erhabener und läßt sich's gefallen, daß ihm der Bittende seinen dringenden Wunsch vorträgt.
Auf Weg und Steg wird man gewahr, in welch närrischer Welt wir leben, wo die Menschen statt einander die kurze Zeit je nach Kräften, und sei es nur mit guten Worten und freundlichen Mienen, das Dasein zu verschönern, aus allerlei Hochmut und Herzenskälte sich dasselbe verderben. Das beste ist, man kümmert sich nicht drum, man geht nach Herzenslust seines Weges und tut seine Pflicht.
Es war am Sonntag nach Pfingsten. Auf den weiten Feldern wogte die Saat, und am Hag blühte die wilde Rose.
Auf dem schmalen Fußweg, der durch das Roggenfeld getreten war, begegneten sich ein junger Mann und ein Mädchen. Sie hielten an. Beide ragten fast um Haupteslänge über die hohen Halme hinaus, und beide waren schön. Der Jüngling von mächtiger Gestalt, die Jungfrau, die den breitgeränderten groben Strohhut am Arm trug, war hellfarbigen, rosigen Antlitzes, die Stirn von mächtigen blonden Haarflechten umrankt, die hellblauen schelmischen Augen, Form und Farbe des Antlitzes, alles so lieblich, daß es eine Freude war, darauf zu schauen.
Das Mädchen nickte lächelnd, der junge Mann reichte zögernd die Hand.
»Guten Morgen, Jörg! Was hast du?« sagte das Mädchen. »Heut ist mein Namenstag, und du gibst mir nicht einmal ein gutes Wort?«
»Dein Namenstag? Ja, ja, bist zur schönsten Zeit auf die Welt gekommen, aber die Rosen stechen auch.«
»Wem ist denn was geschehen?«
»Meine Mutter hast du gekränkt!«
»Ah, bah!« lachte das Mädchen, und ihr Lachen war voll Übermut. Ihre schönen Zähne glänzten und ihre Augen leuchteten.
»Nimm die Sache nicht so leicht«, sagte der Jüngling. »Du weißt vielleicht gar nicht mehr, was du getan hast?«
Das Mädchen zuckte die Achseln.
»So will ich dir's noch einmal erzählen«, fuhr der junge Mann fort. »Du bist gestern drunten in unserer Hammerschmiede gewesen und hast deine Arbeit abgeliefert, und da hat der Sammler zu dir gesagt: ›Schau einmal die alte Frau‹, und da hast du gesagt: ›Pfui Teufel, so eine müßte mir drei Schritt vom Leibe bleiben‹, und noch viel böse schlimme Worte hast du gesagt, spöttische, giftige. Du hattest nicht gesehen, daß es meine Mutter war. Sag doch nein!«
»Nein!«
»Aber als sie dir dann zugerufen hat: ›Ich wünsch' dir, daß du in deinem Alter auch einmal so verspottest wirst!‹ – da hast du doch gemerkt, daß es meine Mutter ist? Sie ist leider Gottes verwachsen, und beim Kohlentragen kann sie eben auch nicht aussehen, wie wenn es zum Tanz ginge. Aber als du sie erkannt hast, warum bist du dann nicht auf sie zugegangen und hast gesagt: »Verzeiht mir, ich hab' Euch nicht gemeint?‹«
»Ich hab' eben keine Lust dazu gehabt.«
»Und der Zorn hat ihr natürlich böse Worte eingegeben. Aber was hast du darauf getan? Du hast dem Inspektor gesagt, er solle ihr eine Prise geben, du wolltest doch auch einmal sehen, wie so eine Vogelscheuche niest, und hast noch gelacht dazu.«
»Jetzt hab' ich genug!« erwiderte das Mädchen. »Ich lache, wo ich will und wann ich will und über wen ich will. Geh mir aus dem Weg, sonst muß ich da die Ähren niedertreten.«
Jörg stellte sich an die Seite, und Benigna ging an ihm vorüber.
Er schaute zu Boden; plötzlich, als ob er gerufen worden wäre, blickte er auf. Benigna ging ihres Weges fort durch das Kornfeld. Er ging ihr nach, bis er aus den hohen Ähren heraustrat, wo der Weg abbiegt. Am Feldrain bei der hohen Haselstaude blieb er stehen; hier hatten sie sich zum erstenmal ihre Liebe bekannt. Er glaubte, sie müsse sich noch einmal umwenden und ihm zurufen: »Sei mir nicht bös!«
Aber sie ging davon und schaute sich nicht um, und er meinte ihr Antlitz zu sehen, wie sie lächelte und dabei dachte: Ich weiß, daß du mir nachschaust und mir nachrennen möchtest, denn ich bin die schöne Benigna. Und schön war sie. Es kann nicht genug gesagt werden, wie schön sie war; und sie wußte es auch, denn die Menschen konnten sich nicht enthalten, es ihr immer zu sagen; wenn sie es nicht mit Worten taten, so sprachen es ihre Blicke. Die ganze Welt lachte Benigna an, und sie – sie lachte die ganze Welt aus.
Wo sie hinkam, zu jung und alt, zu reich und arm, ging eine Freude auf, sie hatte nichts zu tun, als zu erscheinen, um jedem was Gutes zu geben; denn was gibt es Erquicklicheres, als den Anblick eines schönen Menschenbildes?
»Es ist, als wenn man an ihrem Gesicht riechen könnte wie an einer Rose.«, hatte der alte Lammwirt, der zu Ostern gestorben war, noch gesagt.
Benigna zeigte sich aber wenig; sie war fleißig bei ihrer Arbeit. Sie war eine Weißstickerin. Die in der angrenzenden Schweiz und auch schon im Land befindlichen Fabriken geben die vorgezeichneten Muster von Vorhängen, Taschentüchern und dergleichen in die Dörfer, und die Arbeit, welche Benigna ausführte, hatte noch immer etwas, das mehr war, als die vorgezeichneten Muster angaben; etwas von ihrer eigenen Schönheit schien auf die Arbeiten überzugehen.
Benigna, die die Eltern schon längst verloren hatte, lebte bei einer älteren Base und hatte ein selbständiges Wesen. Widerspruch erfuhr sie nie. Man hatte ihr oft zugeredet, in die Stadt zu gehen, sie werde dort ihr Glück machen, aber sie hatte keine Lust dazu; die Schönste in dem kleinen Dorf zu sein, bei einem Tanz, bei einer Schlittenfahrt unbestritten als Königin zu erscheinen, war ihr vollauf genug. Dazu hatte sich seit der letzten Kirchweih im Herbst ein entschiedenes Liebesverhältnis zwischen ihr und dem Hammerschmied Jörg entwickelt, der auch der einzige war, welcher eigentlich zu ihr paßte, im Hinblick auf Gestalt und männliche Schönheit wenigstens.
Jörg war der einzige Sohn einer alten Witwe, die verwachsen und gebrechlich war, aber dennoch keine Arbeit scheute; sie tat Handlangerdienste in der Hammerschmiede, und die ohnedies nicht ansehnliche Gestalt, dazu noch mit Lumpen bedeckt und von Kohlenstaub geschwärzt, hatte Benigna zu jener Spötterei gereizt, die wir eben vernommen haben.
Sie dachte keinen Augenblick daran, daß man eine Kränkung nachtragen könne. Die Mutter Jörgs war aber schon bei Beginn dem Verhältnis abhold gewesen. Stundenlang konnte sie ihrem Sohne vorjammern, daß er sich das größte Elend auflade, wenn er sich eine so überaus schöne Frau nähme, noch dazu eine, der man täglich siebzigmal sagen solle, wie schön sie sei, er werde es erfahren: wenn er mit seiner Frau einst irgendwohin komme, werde es nur Ärger und Mißtrauen geben, denn es werde ihn immer verdrießen, wie alles mit ihr schöntue; jetzt sei sie freilich noch brav, man könne ihr nichts weiter nachsagen, als sie halte die ganze Welt zum Narren; wer könne aber wissen, was noch Böses daraus würde?
Natürlich achtete Jörg nicht auf diese Griesgrämlichkeiten, obwohl er seine Mutter sonst immer hoch in Ehren hielt.
Nun aber war die Mutter gekränkt worden, und sie beschwor ihm mit aufgehobenen Händen, nicht um ihretwillen – obgleich sie auch ein Recht habe –, sondern um seinetweillen, Benigna aufzugeben.
»Ein Wesen, welches das Alter nicht achtet, wird auch den Mann nicht achten«, schärfte sie ihm wiederholt ein, »denk nur, du tust einmal was, das ihr nicht paßt, oder du wirst einmal krank, dann läßt sie gleich ganz von dir und kümmert sich nicht um dich.«
Jörg suchte seine Mutter zu beruhigen; es gelang ihm nicht. Am Abend blieb er länger als sonst zu Hause; er dachte immer, Benigna wird kommen und seiner Mutter ein gutes Wort sagen. Er nahm sich fest vor, nicht zu ihr zu gehen, sie nicht eher anzusehen, als bis sie von selbst um Verzeihung gebeten hatte; es ist ihre Schuldigkeit.
Als er aber immer länger vergebens wartete, dachte er, daß sie wohl nicht allein kommen wolle, sie wartet, daß er sie zur Mutter her begleite.
Brigitta merkte wohl, was mit ihrem Sohn vorging, und suchte ihn dazu zu bringen, daß er sich nur einmal ein paar Tage zurückhalte, dann werde er die Sache los sein.
Jörg stand am Gartenzaun, und leise summte er das Lied vor sich hin:
Im Sommer, im Sommer, im Sommer,
Das ist die schönste Zeit,
Da blühen die Rosen im Garten,
Soldaten marschieren zum Streit!
Als jetzt die Mutter zum Haus ging, rannte er davon, als hätte er etwas versäumt und müßte es schnell einholen. Er kam zu Benigna; sie lächelte ihn an. Sie hatte gewußt, daß er keinen Tag von ihr lassen konnte, und als er nun von der Kränkung der Mutter anfing, bat sie, die altbackene dumme Geschichte zu vergessen. Sie wußte ihn so zu bezaubern, daß er wieder ganz glückselig war.
Die Mutter ging viele Tage traurig umher und sprach kein Wort. Jörg drang mit aller Kraft in Benigna, nur ein einziges Mal zu seiner Mutter zu gehen und sie mit ein paar Worten um Verzeihung zu bitten; aber Benigna beteuerte, das tue sie nie.
»Aber wenn ich nun von dir lasse?«
»Das tust du ebensowenig, wie ich um Verzeihung bitte.«
Und sie hatte recht.
Jörg konnte aber den verborgenen Groll seiner Mutter nicht ertragen und zwang sich zu einer Lüge, die er für erlaubt hielt. Eines Tages berichtete er seiner Mutter, Benigna bitte sie tausendmal um Verzeihung, sie könne nur nichts zugeben, sie habe einmal eine absonderliche Art; die Mutter solle doch einmal zu ihr gehen, und sie werde sehen, wie gut die Benigna sei. Zu Benigna sagte er, wie gut die Mutter über sie dächte.
Benigna nickte.
Die alte Brigitta kam und sagte zu Benigna, die am Stickrahmen saß:
»Ich verzeih' dir, und verzeih' du mir auch, daß ich dir gewünscht habe, du solltest auch einmal so verspottet werden, wie du mich verspottest hast! Es soll nicht gesagt sein.«
»Ja, ja, es soll gut sein«, erwiderte Benigna und biß auf einen Faden, um ihn einzufädeln; als Brigitta ihr die Hand darbot, stickte sie schnell weiter.
»Du bist schön, daß muß jeder bekennen,« sagte Brigitta. »Darf ich dir was sagen?«
»Warum nicht?«
»Schau, ich bin nie schön gewesen, ich kann mir aber doch denken, wie das ist.«
»So? Und wie ist's denn?«
»Eine Freude muß es sein, eine große. Aber wenn du immer dran denkst, meine ich, kann dir's nicht gutgehen; du meinst dann immer, man muß dir was Besonderes dafür tun, weil du schön bist.«
Noch viel Herzbewegendes sprach die Alte zu Benigna, und diese schloß endlich:
»Ja, ja, werd' mir's merken.«
Als aber Brigitta fort war, stellte sie sich vor ihren Spiegel – sie hatte sich einen ziemlich großen angeschafft – und schaute lächelnd hinein, grüßte sich und war überaus glücklich mit sich selber.
Der Herbst kam heran, Jörg und Benigna wurden in der Kirche aufgeboten. Als man beim Ausgang aus der Kirche der alten Brigitta Glück wünschte, dankte sie stumm, und doch hatte sie nur eine Ahnung davon, konnte es aber nicht wissen, daß Benigna darauf bestanden hatte, Jörg müsse seine Mutter zu ihrer Schwester geben, die einige Stunden entfernt in einem kleinen Weiler wohnte; aber Jörg hatte ihr mit bewegten Worten auseinandergesetzt, daß er das nie tue, er verlasse seine Mutter nicht, bis sie der Tod von ihm nehme, und zur Base könne er sie nicht geben, denn dort sei ein unordentliches Haus, daß die Mutter verkomme. Benigna willigte endlich ein, aber mit schelmischem Tone sagt sie:
»Weißt du, warum ich einwillige?«
»Weil du mich gern und auch ein gutes Herz hast.«
»Ich hab' dich gern, aber ich kann's nicht leiden, wenn die Menschen immer von ihren guten Herzen reden. Ich willige ein, weil du zum erstenmal so gescheit bist, nicht zu drohen, daß du mich verläßt; denn das kannst du doch nicht.«
Die Hochzeit wurde gehalten, und ein schöneres Paar stand noch nicht vor dem Altar der Dorfkirche als Jörg und Benigna. Alles war voll Freude, nur Mutter Brigitta überwand ihre traurige Stimmung nicht; beim Hochzeitsmahl genoß sie keinen Bissen; später, als getanzt wurde, saß sie in einer Ecke und aß ein Stück Brot, das sie aus der Tasche holte.
Jörg hatte nun die schönste Frau um Umkreis, und war er früher einer der besten und fröhlichsten Arbeiter in der Hammerschmiede, so schien jetzt noch mehr Kraft in ihm zu sein. Wenn er dastand mit nacktem Arm, den schweren Hammer schwingend und hinter ihm, vom Blasebalg entfacht, das große Feuer aufloderte, er das glühende Eisen herausnahm und es wieder und wieder auf dem Amboß hämmerte und mit den Genossen zum Takt sang, während sie die mächtigen Hämmer schwangen, da war es eine Freude, vor allem den Jörg zu sehen.
Im Hause herrschte aber ein unwirscher Ton.
Die Mutter klagte dem Sohn, daß Benigna sich gar nie für etwas, was sie tue, bedanke, und sie arbeite doch wie eine Magd, ja wie zwei Mägde; Benigna aber ließe sich bedienen, als müsse das so sein. Jörg tröstete seine Mutter: Benigna sei eine Stickerin, die sich nicht im Hausgeschäft umtun könne, sonst sei sie ja ungeschickt zur feineren Arbeit; aber die Mutter behauptete, Benigna könne doch einmal sagen: ›Es ist recht so, Mutter!‹ oder: ›Das habt Ihr gut gemacht!‹ Ja, sie beteuerte, daß Benigna noch immer einen Abscheu vor ihr habe.
»Ich fürcht', ich fürcht'«, klagte die Mutter, »deine Frau wird nicht gut und mildherzig, bis einmal ein großes Unglück über sie kommt, und ein Unglück, das über sie kommt, kommt doch auch über dich.« Benigna dagegen hatte stets über die Mutter zu klagen, und Jörg hatte vielen schweren Kummer. Er ehrte seine Mutter und liebte seine Frau über alle Maßen. Eine Herbheit in Benigna trat aber jetzt immer schärfer hervor, und vor allem kränkte es Jörg, wenn man über Land ging zu einem Besuch, zu einer Lustbarkeit, zu einem Fest der Liedertafel, die die Hammerschmiede unter sich errichtet hatten, daß da Benigna durchaus nicht duldete, daß die Mutter mitginge, und wo sie sich vor einem Menschen zeigte, ließ sie sich Huldigungen nicht nur gefallen, sondern sie legte es sogar darauf an, daß man sie ihr darbringen mußte.
Wenn Jörg sie deshalb zur Rede stellte, sagte sie, das sei seine Mutter, die ihn dazu aufreize, und wenn sie dann über seine Hartherzigkeit weinte, war er untröstlich und bat sie um Verzeihung, damit sie nur wieder gut und heiter sei.
So verging ein Jahr. Die Mutter klagte und Benigna klagte, und Jörg tröstete sich und sie, daß alles besser werde, wenn einmal ein Kind im Hause sei. Zum erstenmal erschrak Jörg vor seiner Frau, als sie sagte, sie wünsche sich gar kein Kind; man bleibe schöner, wenn man kein Kind habe. Tagelang ging Jörg wie verloren umher, und in der Hammerschmiede kam sein Schlag immer zu spät oder zu früh beim Taktschlag der Genossen.
Die Mutter, die seine Verdrossenheit sah – Benigna kümmerte sich nicht darum –, sagte ihm, daß sie versuchen wolle, zu ihrer Schwester zu ziehen, aber er solle seiner Frau nicht sagen, daß sie fort wolle, denn wenn sie dann wiederkäme, müsse sie erneut untertänig sein und habe es um so schlimmer. Jörg versprach's, und in den Tagen, da die Mutter abwesend war, herrschte Lachen und Heiterkeit in dem Häuschen Jörgs; die ganze Fülle ihrer Zaubermacht erprobte Benigna an ihrem Mann, und er erschrak nur einmal, als sie sagte:
»So könnten wir immer leben, wenn deine Mutter nicht mehr da wäre.«
»Du meinst, nicht mehr im Haus, aber bei ihrer Schwester?«
»Freilich, freilich«, sagte Benigna schnell und machte eine erzwungen freundliche Miene.
Zum erstenmal erschien Jörg das schöne Antlitz seiner Frau verzerrt, dennoch – er wußte nicht, warum, aber er tat's – verriet er seiner Frau die Absicht seiner Mutter, nicht mehr wiederzukehren, und jetzt trat ein Frohlocken in ihr Antlitz, daß er die Tasse Kaffee, die sie ihm eingeschenkt hatte, nicht an den Mund führen konnte, als hätte ihr böser Blick das Getränk vergiftet. Er bezwang sich aber, und während sie noch beim Frühstück saßen, kam die Mutter.
Jörg empfing sie herzlich, und er war doppelt innig, da er sich der Schuld bewußt war, sie verraten zu haben. Er winkte seiner Frau, sich nichts merken zu lassen, und ging zur Hammerschmiede.
Als Benigna mit der Mutter allein war und diese eben den Kaffee trinken wollte, sagte Benigna: »Schwiegermutter, Eure Ziege nehmt Ihr aber auch gleich mit.«
»Meine Ziege? Warum?«
›Ihr tut ganz gescheit, daß Ihr Eure zurückgelassenen Sachen holt und künftig bei Eurer Schwester wohnt.«
Mutter Brigitta sah sie groß an und setzte die Tasse wieder ab, verließ die Stube und ging in ihre Kammer; erst am Mittag sah Benigna nach ihr. Sie fand sie auf ihrem Bett, weinend und händeringend. Benigna gab ihr nicht viele gute Worte und sagte nur, sie müsse zum Essen in die Stube, sie schicke ihr nichts herauf. Als Benigna mit dem kleinen Mädchen, das sie zu Handlangerdiensten ins Haus genommen hatte, am Tisch saß, sah sie die Mutter mit der Ziege am Seil schwankenden Schrittes das Haus verlassen.
»Soll ich sie nicht rufen?« fragte das kleine Mädchen.
»Nein, sie kommt schon von selber wieder.« Die Mutter wollte hinab zur Hammerschmiede, ihrem Sohne zu klagen, was er ihr angetan hatte, indem er sie bei seiner Frau verriet; aber am Berg setzte sie sich nieder und sprach mit der Ziege, wie sehr sie zu beneiden sei, weil sie keine Schwiegertochter habe; dann aber bat sie Gott, daß er sie hier mögen sterben lassen, ehe sie ihrem Sohne eine böse Ehe mache.
Sie wartete, bis Jörg kam, und von ihm geführt, ging sie wieder ins Haus zurück, aß mit am Tisch und tat, als ob nichts geschehen wäre.
Wochen und Monate vergingen. Im Hause Jörgs war es still, nur manchmal sagte er zu seiner Frau, es scheine ihm, daß die Mutter immer mehr von Kräften käme; Benigna zuckte die Achseln.
»Ich fürchte, daß sie bald stirbt«, sagte Jörg.
»Es ist in der Regel so, daß alte Leute sterben«, erwiderte Benigna trocken.
»Weib!« fuhr Jörg auf, »sei doch nicht so gottlos!«
»Ich bin gar nicht gottlos, ich wünsche mir nur, daß ich sterbe, bevor ich alt und verhutzelt bin; so in der Welt herumzulaufen, und man hat selbst keine Freude mehr, und die Menschen haben auch keine Freude, wenn sie einen sehen, da ist's besser, man ist gar nicht da!«
»Ich nehme dir solche Reden nicht übel, du hast deine Mutter nicht gekannt«, erwiderte Jörg.
»Du solltest dich an meinen Stickrahmen setzen und ich sollt' ein Hammerschmied sein; ich glaub', du bist ein Schneider und nicht ein Hammerschmied«, so schloß Benigna.
Mutter Brigitta konnte sich bald nicht mehr aufrecht halten und sank aufs Krankenlager. Eines Tages rief sie Jörg zu sich und sagte, er solle ihr ehrlich sagen, ob Benigna ihn damals wirklich beauftragt habe, sie um Verzeihung zu bitten; er gestand, daß es nicht geschehen sei. »Dann ist's gut«, sagte die Mutter, »dann ist alles gerecht.« Weiter sagte sie nichts mehr.
Jörg sagte seiner Frau, daß die Kränkung von damals noch seiner Mutter auf dem Herzen laste. Sie solle das damals Versäumte jetzt nachholen. Aber Benigna lachte ihn aus, daß er jetzt noch mit solchen alten Geschichten käme; mit ihrem ganzen Übermut suchte sie ihn dahinzubringen, daß er sich den Lauf der Natur nicht so zu Herzen nehmen solle; für alte Leute sei es das beste, wenn sie sterben.
Jörg sagte ihr, daß, wenn sie so bliebe, sie ihn dahinbringe, daß er von ihr weg und in die weite Welt ginge. Benigna lachte ihn aus und sagte:
»Und wenn du bis an den Haselberg gekommen bist, kehrst du wieder um. Du kannst nie von mir fort.«
Jörg ließ die Schwester seiner Mutter kommen, und der Sohn und die Schwester waren dabei, als sie starb; sie sprach kaum mehr ein Wort in den letzten Tagen, und Jörg drückte ihr die Augen zu. Er kam in die Stube zu seiner Frau und sagte ihr, daß das Letzte eingetreten sei. Sie wandte sich ab und schaute aus dem Fenster. Dann wandte sie sich zu ihm, fuhr ihm mit der zarten Hand über das Gesicht und sagte:
»Du bist in den letzten Tagen um zehn Jahre gealtert. Halt dich doch aufrecht. Ich hab' keinen so alten Mann.«
In der Erinnerung Jörgs tauchte ein Wort auf, das ihm einst die Mutter gesagt hatte: Würde diese Frau, die jetzt in dieser Stunde an so etwas denkt, ihn lieben und pflegen, wenn er alt und gebrechlich würde? Er unterdrückte den bösen Gedanken und sagte:
»Jetzt tue mir nur eines: Du hast ihr das, was du im Übermut tatest, nicht von der Seele nehmen können, solange sie gelebt hat, jetzt tu mir die Liebe, geh hinauf, bitte es der Toten ab und sieh ihr ins Gesicht, das ist so engelsmild.«
»Ich geh' nicht hinauf, ich will keinen Toten sehen, ich kann keinen Toten sehen; es soll mich auch kein Mensch mehr ansehen, wenn ich tot bin.«
Jörg mochte drängen und beschwören, soviel er wollte, Benigna betrat die Totenkammer nicht. Die ganze Nacht saß Jörg bei der Leiche seiner Mutter, und bis zum Wahnsinn verfolgte ihn der Gedanke, daß er nur noch warten wolle, bis die Mutter begraben sei, dann wolle er seine Frau verlassen, und bei dem Gedanken, daß er sie verließ, trat immer wieder ihre ganze Schönheit vor die Seele und wie sie ihn so glückselig gemacht hatte und immer wieder machen konnte.
Die Glocken läuteten, Mutter Brigitta wurde zu Grabe getragen. Jörg stand mit den Verwandten in der Stube, Benigna hatte die schwarze Florhaube aufgesetzt, und jetzt – er wußte selbst nicht, warum sich sein Blick wendete – sah er, wie Benigna in den Spiegel schaute, und es schien, daß sie mit zufriedener Miene sich zunickte, denn die Trauerkleidung stand ihr gut. Seine Fäuste ballten sich, und es war ihm, als müßte er zwei Menschen zertrümmern, dort das Spiegelbild und hier das lebendige Bild, und dann krampfte es ihm wieder das Herz zusammen, daß er in solcher Minute solche Gedanken habe, und er hat gewiß falsch gesehen, denn wie kann ein Mensch in solcher Stunde an seine Schönheit denken? Da hörte er, wie Benigna zu ihrer Base sagte: »Steck mir da oben noch eine Nadel hin, daß mir der Flor nicht so ganz die Stirn zudeckt.« Alles krampfte sich in Jörg zusammen, und er fiel stöhnend zu Boden. Man richtete ihn auf, und zwei Männer mußten ihn führen, daß er dem Sarg seiner Mutter folgen konnte.
Als Benigna zu ihm sagte: »Jörg, wie siehst du aus? Sei ein Mann, fasse dich!«, da war's ihm, als schlügen plötzlich alle Hämmer aus der Schmiede ihm auf den Kopf, so gellend und hart klang ihm jetzt diese Stimme. Er ging hinter der Leiche seiner Mutter, und vor ihm tanzte in der Luft das schöne Antlitz seiner Frau; das ist ihm ein ewiges Gespenst, ihre Schönheit ist ihm verhaßt, und er wird sich nie mehr ihrer erfreuen. – Er nahm sich vor, seine Gedanken nur auf den Tod seiner Mutter zu lenken, aber hinein in die Gedanken sprang immer wieder das schöne Luftgebilde, und er sah es doppelt, er sah es im Spiegel, er sah es lebendig.
Man kehrte vom Begräbnis heim. Jörg saß mit seiner Frau, der Schwester und anderen Verwandten am Tisch und aß, aber seine Frau sah er nicht mehr an, und er erzitterte im Herzen, sooft er ihre Stimme hörte.
Die Nacht brach herein, er ging in die Kammer seiner Mutter, und dort saß er auf ihrem Bett und hielt das Gesicht in beiden Händen. Benigna kam mit einem Licht zu ihm.
»Mach das Licht aus!« schrie er ihr entgegen.
»Warum?«
»Ich will dich nicht sehen! Ich kann dich nicht sehen! Mach das Licht aus!«
»Sei doch nicht so närrisch«, suchte Benigna ihn zu trösten. »Du wirst sehen, wie frei und heiter wir jetzt wieder leben, wir zwei allein.«
»Wir zwei allein? Mit dir allein? Die Tote steht zwischen uns«, schrie Jörg, ging auf sie zu, riß ihr das Licht aus der Hand und warf es auf den Boden, daß es erlosch.
»Ich glaub', du bist verrückt«, entgegnete Benigna.
»Ich könnt' es werden; also auch der Tod meiner Mutter hat dich nicht geändert? Ich habe mir freilich auch viel vorzuwerfen, ich hab' ihr oftmals nicht geglaubt. Also dich ändert nichts?«
»Ich wüßte nicht, was ich an mir ändern sollte; ich gefalle mir so, wie ich bin, und habe dir auch so gefallen und allen Leuten.«
»Gut, bleib dabei, aber so viel Verstand hab' ich noch, daß ich weiß, mit dir kann ich nicht mehr leben, fort von dir muß ich, und du kannst dir allein deine Schönheit im Spiegel angucken und kannst dir von anderen Leuten sagen lassen, wie schön du bist; vor meinen Augen bist du ein Drache. Ich gehe fort von dir.«
»Du fort von mir? Du weißt wohl eine Schönere in der Welt draußen?«
»Schön! Schön! Ist denn schön sein alles?«
»Reich sein ist auch schön, aber das bin ich leider nicht. Geh, komm, sei gescheit, komm mit in die Stube.«
»Nie mehr mit dir. In die weite Welt geh' ich.«
»So sag' ich dir ade und wünsch' dir glückliche Reise!«
Mit diesen Worten verließ Benigna die Kammer und ging in die Stube. Nach einer Weile sah sie ihren Mann mit einem Stock in der Hand das Haus verlassen. Er stand, wo der Fußweg in die Straße einmündete, eine Weile still. Sie wollte ihm noch einmal zurufen, aber sie sagte sich, daß sie genug getan habe und sich eine Blöße gebe, wenn sie noch nachgiebiger sei. Der Zaudernde hörte, wie das Fenster aufgemacht wurde, er sah einen breiten Lichtstrahl aus dem Fenster vor sich auf die Straße fallen, er schritt über den Lichtstrahl weg, hinein in die schwarze Nacht.
Benigna saß allein und sprach: »Er kommt bald wieder, wenn er sich in der freien Luft ein bißchen die Flausen ausgelaufen hat.«
Stunde um Stunde verging; Jörg kam nicht zurück. Plötzlich war ihr bange in dem Haus, aus dem man heute die Leiche hinausgetragen und das nun der Mann verlassen hatte. Sie ging zu ihrer Base, bei der sie ehedem gewohnt hatte, aber als sie dahin kam, sah sie, daß kein Licht mehr brannte; sie kehrte um und dachte: Es ist besser, ich verrate es nicht, und niemand weiß, daß die schöne Benigna auch nur für eine Stunde von ihrem Mann verlassen wurde. Mitten auf ihrem Weg ging es ihr auf, wie sehr er sie geliebt hatte und noch liebe. Wie kann er je von ihr lassen?
Sie eilte ins Haus zurück und dachte: Er ist gewiß schon zurück und ist in Sorge wegen meiner Abwesenheit. Sie kam heim, es war niemand da. Sie wollte nicht zu Bett gehen. Sie wollte warten, bis er kam. Benigna saß in der dunklen Nacht, bis der Tag erwachte. Der Tag kam, aber Jörg nicht.
Sie sah in den Spiegel und wunderte sich über das fremde, verwahrloste Gesicht, das sich ihr zeigte; mit frischem Mut wusch und putzte sie sich und setzte sich an die Arbeit. Aber über dem Stickrahmen schlief sie ein, erst von dem Besuch ihrer Base wurde sie geweckt. Auch ein Nebengeselle Jörgs kam und fragte, ob dieser noch länger feiern wolle, es gäbe jetzt dringende Arbeit. Benigna antwortete, ihr Mann sei in Familienangelegenheiten verreist; er käme heut abend oder morgen früh wieder.
Der Abend kam, der Morgen kam, von Jörg zeigte sich keine Spur. Es vergingen Wochen, es vergingen Monate. Benigna zeigte sich nicht im Dorf. Sie arbeitete am Tag, und in der Nacht weinte sie, weinte unaufhörlich.
Im Dorf ging allerlei Gerede, warum Jörg verschollen sei. Als aber Jahr um Jahr verfloß, dachte man kaum noch an ihn, und Benigna war fast nicht mehr zu erkennen, so verfallen sah sie aus. Sie, die Schöne, einst viel Bewunderte, wurde jetzt kaum mehr angesehen. Es wurde viel gesprochen von all dem Bösen, das sie der Mutter Jörgs angetan hatte, und erst als es hieß, Benigna werde erblinden, wandte sich ihr wieder Mitleid zu.
Benigna erblindete, und die Base nahm die einstmals so schöne Frau, die nun gebeugt und abgehärmt war, mit auf einen ausgiebigen Bettelgang. Sie führte sie weit in der Gegend in den Dörfern umher und stellte sie als eine bemitleidenswerte, vom Mann verlassene Frau dar, die einst so schön gewesen und nun so unglücklich und hilflos sei.
Benigna hörte dies immer geduldig an und sprach kein Wort.
So war ein Jahrzehnt und mehr vergangen. Die Base starb, und Benigna war nun doppelt verlassen.
Es war im tiefen Winter. Der Schnee knarrte unter den Füßen der Männer, die zum Rathaus des Dorfes gingen. Die Gruppe, die auf der Straße dahinwandelte, vergrößerte sich immer mehr und mehr, und man hörte die Leute untereinander reden:
»Ein schöner Spaß ist's!«
»Mag schon sein, aber mir gefällt er nicht.«
»Eine verlassene blinde Frau öffentlich zu versteigern.«
»Sie wird für die Gemeinde zur Last.«
»Und wir haben noch genug zu schleppen.«
So ging es hin und her.
Das Dorf gehörte zu den ärmeren, es hatte nur wenig Ackerland, und dies befand sich zum größten Teil im Besitz dreier Großbauern. Die Einwohner bestanden in der Mehrzahl aus Steinmetzen, Kohlenbrennern und Hämmerschmieden. Man hörte vom Tal herauf das große Werk pochen und hämmern, und eine breite Rauchsäule stieg an den beschneiten Felsenbergen hinan zum klaren Himmel auf. Ein Mann in verwahrlostem Anzug, hinter welchem drein man die keifende Stimme einer Frau hörte, kam von einem einsam unweit der Straße an der Berglehne stehenden Häuschen zu der Gruppe der Wandelnden.
»Korbhans, willst du die Benigna ins Haus nehmen?« wurde gefragt.
»Ich möchte schon, aber meine Frau will nicht.«
Während er noch sprach, kam ihm ein Mädchen von etwa sieben Jahren nachgerannt und rief:
»Vetter, die Base zündet das Haus an, wenn Ihr die Benigna heimbringt!«
»Jetzt mußt du's gerade tun«, hetzten die anderen Männer, »du mußt ihr den Meister zeigen.«
Korbhans ging etwas zaghaft mit den anderen. Sie kamen zum Rathaus. Hier waren schon viele Männer, die noch, bis die Verhandlung anfing, ihre Pfeifen auf dem Flur ausrauchten. Endlich kam der Gemeindediener und berief die Versammelten in die große Ratstube. Der Gemeinderat saß am Tisch, und nicht weit davon in einer Ecke, in sich zusammengekauert, saß eine Frauengestalt, mit allerlei Tüchern umhüllt, die da und dort in Fetzen herabhingen; sie stützte das Kinn auf beide Fäuste, die einen Krückstock umklammerten.
»So fangen wir in Gottes Namen an«, begann der Bürgermeister. »Da sitzt die Benigna. Die Gemeinde ist arm, und wer zu dem, was die Gemeinde für ihren Unterhalt bezahlt, nicht das Beste dazutun kann, daß er sich einen Gotteslohn daraus macht, eine verlassene Witwe« – die zusammmengekauerte Gestalt stöhnte auf – »in Güte zu pflegen, der soll sie nicht zu sich nehmen; und besonders war's gut gewesen, wenn eure Frauen mitgekommen wären, denn darauf kommt's hauptsächlich an, wie die Frau zu Benigna ist.«
Es wurde nun eine Summe genannt, welche die Gemeinde für den jährlichen Unterhalt der Blinden bezahlen wollte, aber niemand redete ein Wort, als die Frage gestellt wurde, wer sie um ein geringeres nähme; denn jeder, der auf die Sache eingehen wollte, zog natürlich den höheren Lohn vor.
»Um das, was angesetzt ist, nehm' ich sie«, rief der Korbhans.
»Ich auch«, hieß es von anderen Seiten.
»Wer hat da zuerst gesprochen?« fragte die Blinde ein nahe bei ihr stehendes Mädchen. Es war die Tochter des Schulmeisters.
»Der Korbhans«, erwiderte das Mädchen. »Um Gottes willen, wenn Ihr nur nicht zu dem kommt; seine Frau ist ja ärger als ein feuriger Drache.«
Der Blinden entfiel der Krückstock, das Mädchen hob ihn auf und gab ihn ihr wieder. Nun war schnelles Hin- und Herbieten, die Schulmeisterstochter hatte nicht Zeit, der Blinden jedesmal zu sagen, wer jetzt geboten hatte. Endlich blieb es nur noch bei einer Stimme, und der Gemeindediener rief:
»Zum ersten-, zum zweiten-«, er machte eine Pause – »zum drittenmal!« rief er und schlug mit dem Hammer auf den Tisch.
»Wer hat mich?« fragte die Alte.
»Der Korbhans«, erhielt sie zur Antwort.
»Komm her, Hans, gib mir deine Hand; ich habe deine Mutter gut gekannt und auch die Mutter von deiner Frau.«
Die Gemeinderäte waren alle erstaunt, daß die Benigna plötzlich sprach. Ein Großbauer, mit einer mächtigen Nase glaubte auch etwas sagen zu müssen und mahnte:
»Ja, Benigna, komm uns nur nicht mit Klagen! Jetzt bist du einmal versorgt und jetzt hab Geduld. Die Gemeinde tut mehr, als sie kann. Und sei dankbar!« schloß er und wandte seine Nase den anderen Gemeinderäten zu, die sollten bezeugen, wie er zu reden verstehe.
»Jetzt kommt mit«, sagte Hans. »Wo habt Ihr Euer Bett?«
»Beim Schulmeister«, antwortete Benigna, »und auch eine kleine Truhe.«
Das Mädchen geleitete die Alte noch eine Strecke Wegs, aber als man an die Berglehne kam, wo die Dorfkinder mit den Schlitten den Berg herabfuhren, konnte Benigna auf dem Glatteis nicht weitergehen.
»Nehmt mich um den Hals«, sagte Hans und bückte sich nieder, »so trag' ich Euch auf dem Rücken den Berg hinauf.«
Er trug Benigna auf dem Rücken hinauf in sein Haus. Die Kinder jubelten über den lächerlichen Aufzug, aber die Schulmeisterstochter sagte ihnen, daß da nichts zu lachen sei. »Es ist brav vom Korbhans«, hieß es.
Unterwegs sagte er zu Benigna:
»Meine Frau zankt ein bißchen gern, kümmert Euch nicht drum; wenn sie genug gezankt hat, hört sie schon von selber auf. Und was Ihr habt, sagt Ihr nur mir; ich will schon für Euch sorgen bis an Euer Ende.«
Korbhans war der Überzeugung, die viele im Dorfe teilten, daß Benigna irgendwo einen geheimen Schatz verborgen habe; es war nicht nur lauter Güte, die ihn zu Benigna ja wohlwollend heimließ, er hoffte durch Zutraulichkeit ihr das Geheimnis zu entlocken.
»Ja, ja«, sagte die Alte auf seinem Rücken, »ich werde dir schon alles mit Gutem vergelten.«
Hans lächelte vor sich hin und dachte: Das heißt doch wohl, daß sie einen verborgenen Schatz hat.
Er trug Benigna in seine Stube. Niemand war da als das kleine Kind, das ausrief: »Pfui Teufel! Jetzt kriegen wir auch hoch die alte Hexe.«
Hans setzte Benigna auf die Bank, die Krücke entfiel ihr, das kleine Kind nahm sie schnell und rief:
»Die leg' ich ins Feuer, dann kannst du nicht vom Platz und kannst mir auch nichts antun, du wüste Hexe.«
Das Kind lief in die Küche und warf die Krücke ins offene Herdfeuer, aber Hans rettete sie schnell.
Die Frau stand am Herd und sagte:
»Du kannst für sie sorgen, ich hab' sie nicht gewollt.«
»Du wirst schon gut zu ihr sein. Geh wenigstens hinein und rede mit ihr.«
»Du meinst, das kann ich nicht?«
Sie ging in die Stube und sagte, man wisse von alten Zeiten her, was Benigna verstehe; sie hätte gewiß Hans durch allerlei verleitet, aber sie sei nicht der Narr, noch eine verdorbene alte Blinde zu pflegen. Zuletzt fragte sie Benigna, warum sie sich noch nicht umgebracht habe.
»Weil ich noch leben muß, um besser zu werden, wie du auch!«
Die Frau verließ die Stube, und Benigna saß allein. Sie hörte nichts als ein Poltern mit der Ofengabel im großen Kachelofen; die Frau schien an dem Ofen ihren Unmut auslassen zu wollen, und draußen in der Küche rief es: »Alle Kinder verspotten mich, weil ich jetzt die blinde Hex' werde führen müssen. Aber ich tu's nicht, keinen Schritt.«
Das Kind kam in die Stube und klagte vor sich hin, daß es sich die Hände beim Schlittenfahren erfroren habe.
»Dann geh nicht gleich an den Ofen«, rief Benigna.
»So, du bist auch da?« rief das Kind. »Du hast's gut, du weißt nicht, wann Nacht ist.«
»Ist schon Nacht?« fragte Benigna.
»Ja freilich.«
Benigna ließ der Frau durch das Kind sagen, sie könne ihr vielleicht beim Zurichten des Abendbrotes helfen; sie könne Kartoffeln schälen und auch Brot schneiden. Das Kind ging hinaus, und draußen hörte man lachen. Als das Kind wieder hereinkam, bat Benigna, es möge ihr sagen, wie der Hausrat in der Stube stehe, damit sie nirgends anstoße. Das Kind erklärte alles; als aber Benigna jetzt hinausgehen wollte, stellte es ihr einen umgelegten Stuhl in den Weg, daß sie darüber stolperte und niederfiel; es verließ lachend das Zimmer, und Benigna tastete sich wieder zur Bank zurück.
Der Korbhans hatte Benigna seiner Frau überlassen und war ins Wirtshaus gegangen mit dem tröstlichen Gedanken, daß die Frau schon gut werden müsse, wenn sie sähe, daß die Sache nun einmal nicht zu andern sei. Erst nach mehreren Stunden kam er wieder und brachte das Bett der Benigna. Es wurde in der Dachkammer aufgestellt, wo auch das Kind schlief. Benigna fragte das Kind, ob es auch ein gutes Bett habe. Das Kind war widerspenstig und erklärte, daß sie das nichts angehe; aber Benigna tastete an dem dürftigen Bettchen herum und merkte, wie armselig es bestellt war. Sie nahm von ihrem eigenen Kissen und deckte das Kind damit zu; das Kind ballte die Faust im Zorn gegen die Hexe, ließ sich aber ihre Mildtätigkeit doch gefallen und schlief bald ein.
Das Kind rief einmal im Schlaf: »Mutter!« Benigna zuckte zusammen. Sie hatte nie nach der Mutter gerufen und hatte nie gewollt, daß sie so gerufen werde. Sie seufzte in der stillen Nacht und sagte in die winterkalte Luft hinein, wie lange sie noch in Nacht und Elend leben müsse, bis der Tod sie erlöse.
Während Benigna in der Dachkammer wachte, sprach der Korbhans mit seiner Frau und redete ihr zu, Benigna ja recht gut zu behandeln; es sei so viel als sicher, daß sie draußen bei der hohen Haselstaude einen Schatz vergraben habe, sie habe sich von der verstorbenen alten Margarete oft dahin führen lassen, und wenn man sie nun gut behandle, werde sie ihren Wohltätern den Schatz bezeichnen und sie reich machen. Die Frau erwiderte, daß Benigna, wenn sie einen Schatz hätte, sich wohl nicht hätte versteigern lassen; aber Hans behauptete, das hätte sie absichtlich getan, sie sei ja immer eine absonderliche Frau gewesen, und er habe es ganz sicher von seiner Schwester, der es die verstorbene Base mitgeteilt habe, daß Benigna da draußen noch etwas Geheimes habe. Die Frau ließ sich zuletzt bekehren, denn auch ihr leuchtete ein, daß Benigna einen Schatz habe, sie hatte sich ja früher viel verdient und später viel erbettelt.
Der Tag erwachte. Die Frau kam und führte Benigna die Treppe hinab in die Stube. Benigna dachte: Es wird schon besser gehen, die Bosheit hat nicht über Nacht standgehalten.
Das Kind aber wollte nicht mit Benigna aus einer Schüssel essen; Hans wollte es dafür strafen, aber Benigna bat, das nicht zu tun, und sagte, sie sei schon satt.
»Iß du nur allein«, sagte sie zu dem Kind. »Nicht wahr, Babi heißt du? Ich habe auch ein Schwesterchen gehabt, das so geheißen hat, es ist jung gestorben.«
Das Kind erschrak über diese Güte und sah Benigna grimmig an.
Benigna wußte, daß dies ein verlassenes Kind war, das von jedermann als Last angesehen wurde; seine Mutter, eine Schwester der Frau des Korbhans, diente in der Hauptstadt.
Benigna verstand es, gut zu spinnen, und sie spann vom Aufwachen bis zum Schlafengehen. Korbhans und seine Frau nickten zufrieden. Benigna war keine Bürde mehr, sie verdiente mit dem Spinnen ihre Nahrung, und die Beisteuer der Gemeinde war fast reiner Gewinn.
Diese Übereinstimmung war seit langer Zeit die erste und einzige zwischen den beiden Eheleuten, denn sonst gab es immer nur Zank und Hader. Es herrschte Not im Haus, und über der leeren Krippe schlagen sich die Pferde, heißt es im Sprichwort.
Der Korbhans, der zumal im Winter wenig zu tun hatte, lag gern plaudernd da und dort umher, und die Frau glaubte, ihn durch Schelten im Haus zur Arbeit anhalten zu können; aber das bewirkte das gerade Gegenteil. Anfangs scheute man sich nicht vor Benigna des heftigen Streites, als sie aber einmal sagte: »Mein Mann ist in der weiten Welt, vielleicht schon tot. Oh, wie versündigt Ihr Euch, daß Ihr, solang Ihr noch am Leben und beieinander seid, Euch nicht in Güte beisteht!« Als sie das und noch mehr sagte, trat eine gewisse Scheu vor ihr ein.
Der Korbhans hatte noch eine Werkbank im Haus, an der er ehedem allerlei hölzernes Geschirr, Rechen, Kochlöffel und Spindeln geschnitzt hatte. Jetzt wurde die Werkbank wieder hergerichtet, und er saß daran arbeitend und unterhielt sich dabei oft mit der spinnenden Benigna. Auch die Frau ging jetzt zufriedener aus und ein und brachte sogar Benigna manchmal außer der Zeit eine Tasse Kaffee, der war freilich nur aus gebrannten gelben Rüben bereitet, aber doch ganz angenehm. Die größte Verwandlung war aber mit dem Kind vor sich gegangen. Benigna bat es oft, ihr diesen oder jenen Dienst zu erweisen; Babi folgte zuerst widerwillig, dann aber erwachte der Seele des Kindes das Vergnügen, für einen anderen etwas tun zu können. Babi kam von selbst und bot Benigna an, ihr dies und jenes zu besorgen, sie da- und dorthin zu führen, und ein Gefühl keimte in dem Kind auf, daß da zum erstenmal ein Mensch war, der ihm Güte entgegenbrachte. Benigna hörte dem Kind seine Schulaufgaben ab, sie verstand gut zu rechnen und hatte auch noch schöne alte Sprüche im Kopf und Lieder in Menge.
Der Schulmeister kam und berichtete, daß die kleine Babi allmählich zu den besten Schülerinnen aufsteige.
So ging der Winter vorbei, so schnell und so gut wie lange keiner. Im Frühling, als die Weiden von Saft durchflossen waren, lernte Benigna das Handwerk des Korbflechtens; sie begriff es schnell, und mit ihren gewandten Fingern verstand sie bald zierliche Körbchen zu flechten, ja die Stickmuster, die sie noch im Kopf hatte, halfen ihr bei der Verschönerung, die der Ware sehr guten Absatz verschaffte. Die Frau des Korbhans wollte jetzt immer nur das Glück preisen, daß man Benigna im Haus hatte; aber Hans wehrte ab, man müsse das nicht kundtun, sonst werde sie den vergrabenen Schatz nicht anzeigen, und je eher man den habe, um so besser. Er und seine Frau spielten oft auf den geheimen Schatz an; Benigna lächelte darüber, und beim Lächeln nahm ihr Gesicht einen seltsamen Ausdruck an. Benigna war aber klug genug, den geheimen Schatz nicht abzuleugnen, denn sie wußte, daß das ihre Herbergsleute noch viel freundlicher machte.
Sie hielt das Kind dazu an, in der Ernte fleißig Ähren zu lesen, auch zum Holzsammeln ging sie mit in den Wald. Hans führte sie oft zum Haselberg. Er hoffte immer und immer, daß sie ihm die Stelle bezeichne, wo sie den Schatz vergraben habe, aber sie ging nie darauf ein; er konnte indes die schwerste Fuhre auf den Karren laden, sie stellte sich hinten an und schob so mächtig, daß der vorn eingespannte Hans kaum zu ziehen hatte.
So wurden im Sommer Ähren und Holz gesammelt, und es war von allem jetzt eine Fülle im Haus wie sonst nie. Aber das Beste war doch, daß ein Friede herrschte, den man früher gar nicht gekannt hatte; der nährte und wärmte noch mehr als das Brot und das Feuer. Die Ähren, die Babi gesammelt hatte, drosch Benigna in der Scheune immer allein aus, und das Kind wurde immer größer und emsiger. Als die Nachricht kam, daß seine Mutter gestorben sei, tröstete es Benigna tagelang. Endlich sagte sie: »Du könntest mir einen Gefallen tun.« »Was? Soll ich für dich wohin gehen?« »Nein, nenn' mich von heute an Mutter. Willst du?« »Ja, ja, Mutter!«
Zum ersten Male küßte Benigna die kleine Babi, und von nun an hieß sie Mutter.
So lebte nun Benigna im Hause des Korbhans schon im siebenten Jahr.
Es war im Hochsommer.
Da kam die Straße herauf ein Mann, groß und stattlich, mit schneeweißem Haar. Er trug auf einem Traggestell eine schwere Last auf dem Rücken; es waren Sensen. Nicht weit von dem Haus des Korbhans an einer niederen Gartenmauer stellte er die Last ab, legte die Sensen aus und ließ sie erklingen. Sie tönten gut, und der Mann sagte in fremdländischen Dialekt zu einigen, die in der Mittagshitze vom Feld heimkehrten, das seien echte steirische Sensen; er zeigte das eingegossene Zeichen einer Fabrik in Leoben. Er erhielt zur Antwort, daß, wenn er hier über Nacht bleibe, er heut am Abend oder morgen am Sonntag früh wohl von seiner Ware absetzen könne. Die Leute gingen vorüber, der Mann stand an das Mäuerchen gelehnt und starrte mit dem einen Auge gar seltsam drein; das andere Auge war mit einem schwarzen Lappen verbunden. Da hörte er den einsamen Schlag eines Dreschflegels droben im Haus des Korbhans.
Nichts trauriger, als einen einsamen Drescher zu hören, oder doch noch trauriger ist es, einsam zu dreschen; denn der Gleichschlag der Mitarbeitenden bewegt und erleichtert die Arbeit.
Ein barfüßiges Mädchen von etwa dreizehn Jahren mit braunem Antlitz und hellen Augen kam mit einem Bündel gelesener Ähren die Straße herauf und wollte den Fußsteig zum Haus des Korbhans hinaufgehen. Da rief es der Fremde an und sagte:
»Wer drischt da so einsam?«
»Eine verlassene blinde Frau«, erwiderte das Mädchen.
»Wie heißt sie?«
»Benigna.«
Das Kind ging mit seinem Ährenbündel den Berg hinan, der Fremde legte seine Sensen zusammen, sie erklangen von selbst, denn seine Hand zitterte. Nachdem er alle Sensen zusammengepackt hatte, machte er sich auf den Weg zum Häuschen. Jetzt trat Benigna aus der Scheune und fragte:
»Wer hat mich gerufen?«
Der Fremde stand starr und hielt den Atem an. Da Benigna keine Antwort erhielt, ging sie wieder zurück in die Scheune und drosch weiter. Der Fremde kehrte um, nahm seine Last auf den Rücken und ging hinein ins Dorf; im Wirtshaus zum Lamm kehrte er ein und sagte, ob er ein Nachtquartier bekommen könne, packte aber seine Sensen nicht mehr aus. Er saß hinter einem Schoppen Bier, aber die Mücken tranken mehr davon als er.
Als es Abend geworden, ging er zum Dorf hinaus durch die Felder bis zur Haselhöhe. Dort saß er, bis es Nacht geworden war. Er kam ins Dorf zurück und verkaufte dem Lammwirt zwei Sensen und hörte, daß er viel abgesetzt hätte, wenn er zum Feierabend dagewesen wäre.
Als es schon Zeit zum Schlafengehen war, wanderte der Mann noch einmal hinaus, und draußen beim Häuschen des Korbhans saß er hinter der Hecke an der Wiese und hörte, wie Benigna zu Babi sagte:
»Morgen geh' ich nicht mit in die Kirche, ihr müßt aber alle gehen und mich daheim lassen; morgen muß ich allein sein und allein denken.«
Der Fremde zuckte zusammen, als er das hörte. »Stehen viele Sterne am Himmel?« fragte Benigna nach geraumer Weile.
»Ja gewiß, Millionen viel! Oh, Mutter, wenn ich nur machen könnte, daß du sie auch sähest!«
Hans rief aus dem Fenster, daß Benigna und Babi schlafen gehen sollten, es sei schon sehr spät.
Die Haustür öffnete und schloß sich, der Fremde saß noch lange an der Berglehne, erst als es Mitternacht vom Kirchturm schlug, ging er hinein ins Dorf und suchte seine Schlaf statte auf.
Ein heller Morgen brach an. Der Fremde machte vor der Kirche noch ein gutes Geschäft, denn es war bekanntgeworden, daß er die besten Sensen zu verkaufen habe und sie billig ablasse.
Er warf oft auf die Männer, die bei ihm kauften, einen seltsamen Blick aus seinem einen Auge und stutzte, wenn er bald diesen, bald jenen Namen hörte.
Es wurde geläutet, die Dorfbewohner gingen zur Kirche, auch der Fremde ging dahin. Er wartete an der Tür, bis das ganze Dorf an ihm vorübergegangen war.
Als droben die Glocken verklangen, in der Kirche die Orgel ertönte und der Gesang begann, ging er leise zum Kirchhof und stand eine geraume Weile bei einem Grab, dessen Kreuz eingesunken war. Der Fremde wandte sich und ging mit raschen Schritten zum Haus des Korbhans. Er sah Benigna auf der Bank vor dem Haus sitzen. Sie hielt die Hände gefaltet und murmelte leise Gebete vor sich hin. Jetzt faltete sie die Hände auseinander, streckte die Arme weit aus und rief:
»O Jörg, wenn ich nur wüßte, ob du noch lebst oder ob du tot bist. Und ist's denn möglich, daß du mir kein Zeichen gibst? Denkst du denn gar nicht mehr an mich? Ich hab' gebüßt mehr als je ein Mensch auf der Welt, und ich hab's verdient mehr als je ein Mensch. Oh, wenn ich dir nur noch einmal sagen könnte: Verzeih mir. Wenn ich im Himmel zu dir komme und dir's sage, stoß mich nicht von dir; ich hab' die Hölle schon hier, und ich will Gott nur bitten, daß er dich nicht auch in die Hölle stößt, denn du hast gewiß auch genug gelitten, und du hast recht getan, aber doch hart – nein, nicht hart, du hast recht getan – Jörg, verzeih mir, verzeih mir, im Himmel und auf der Erde!«.
Der Fremde konnte sich nicht mehr halten, er stürzte vor und rief:
»Benigna, da bin ich, da lieg' ich und halte deine Füße umklammert; vergib du mir auch, wie ich dir vergebe. Benigna, kennst du mich nicht mehr, meine Stimme nicht mehr?«
Die Alte war erstarrt, jetzt richtete sie sich auf und tastete Jörg über das Gesicht; als sie die schwarze Binde berührte, fuhr sie zurück und schrie:
»O Jörg, du bist's – deine Stimme, was ist denn das?«
»Mir hat ein Feuerfunken das Auge verbrannt, du bist blind, aber ich kann doch noch sehen. Komm mit mir, komm, ehe sie aus der Kirche heimkehren. Ich hab' dich einmal verlassen, jetzt verlaß du alles! Komm, hier können wir nicht reden, und ich hab' dir so viel zu sagen.«
»Wenn ich nur noch weinen könnte«, jammerte Benigna.
Jörg drängte immer mehr, daß sie das Haus verlasse. Sie stand auf und sagte mit großer Kraft:
»Ja, ich gehe mit dir. Ich will deine Hand fassen, ich bin erhört. Tu mit mir, was du willst; stürze mich vom Felsen, stoß mich ins Wasser, mach was du willst, ich geh' mit dir, wohin du mich bringst.«
Die beiden saßen beisammen und konnten weiter kein Wort reden.
Benigna hielt die rauhe Hand des Mannes an ihren Mund.
Jetzt hörten sie das Zeichen, daß die Kirche zu Ende sei.
»Komm, wir wollen fort, ehe die anderen Menschen kommen«, drängte Jörg.
Unter dem Geläut der Glocken gingen sie die Straße dahin, in einen Feldweg hinein und dann zur Anhöhe mit den Haselstauden.
»Ich hab' dich hierher geführt an den Ort, den ich seit dreißig Jahren immer vor mir gesehen habe im Wachen und im Schlafen, immer. Jetzt sprich du nicht, jetzt laß mich erzählen«, begann Jörg. »Du hast getan, was schrecklich ist, und ich hab' getan, was das Schrecklichste ist auf der Welt. Du hast das Alter verhöhnt und hast selber ein verhöhntes Alter haben müssen, millionenmal ärger.« Benigna stöhnte. »Nein, das hab' ich dir ja nicht sagen wollen«, tröstete Jörg, ihr mit der linken Hand über das Gesicht tastend. »Ich hab' Rache genommen, aber die Rache ist das Schwerste auf der Welt; da gibt's keine Waage, darauf man's wiegen kann. Ich hab's mit mir geschleppt durch die weite Welt, ich bin gewandert und gewandert bis in die Türkei hinein, und dann bin ich zurückgekommen und bin gewandert bis nach Polen und Rußland, und dann bis übers Meer und wiedergekehrt. Ich hab' gearbeitet, daß mir die Glieder fast lahm geworden sind, und hab' doch keine Ruhe gefunden. Jetzt bin ich seit zehn Jahren in der Steiermark, und jetzt sind's vier Monate, da ist mir ein Feuerfunke ins Auge gesprungen, und da bin ich gelegen und hab' mich besonnen, daß ich gemeint hab', ich muß verrückt werden; es hat mir im Kopf gebrannt und im Herzen, und ich hab' gemeint, ich muß vergehen, und das eine habe ich immer vor mir gesehen, wie ich dir das Licht aus der Hand geschlagen habe und wie ich über die Straße weggeschritten bin, wo das Licht aus dem Fenster darauf geschienen hat. Genug! Da hab' ich geschworen, wenn ich gesund werde, geh' ich und such' dich und will dir verzeihen und will dir Gutes tun mein Leben lang, was ich kann. Den Lappen über dem Auge muß ich noch tragen, aber mein Auge ist heil, und er war gut dazu, daß mich die Leute nicht erkannten. Wenn ich dich nur wieder sehend machen könnte! So, jetzt bin ich da, und die paar Jahre, die wir noch zu leben haben, wollen wir einander erleichtern; es muß alles vergessen sein. Es muß sein, daß auch auf Erden wieder alles gut werden kann. Nicht wahr, du gehst jetzt mit mir und bleibst bei mir?«
Benigna warf sich an seinen Hals und umschlang ihn heftig.
»Wir kehren nicht mehr ins Dorf zurück, wir brauchen von niemand Abschied zu nehmen und uns zu bedanken, es braucht niemand zu wissen, was aus uns geworden ist, im Ärgsten kann uns doch kein anderer helfen. Ich laß ihnen meine Sensen, und laß du ihnen, was du hast, ich hab' Geld genug bei mir, ich hab' mir einiges erspart und hab' Arbeit und einen guten Herrn in der Steiermark; da wollen wir beisammen sein, bis der Tod uns trennt.«
Benigna stimmte zu, daß sie mit Jörg wandre, wohin er sie führe. Sie klagte nur, daß sie die Leute, die ihr so viel Gutes getan hatten, so heimlich und undankbar verlassen solle, und besonders bejammerte sie, daß Babi, die sich an sie gewöhnt hatte wie ihr eigen Kind, nun wieder verlassen und verstoßen in der Welt herumlaufen sollte.
Endlich willigte Jörg ein, daß man wenigsten noch in das Haus des Korbhans gehe. Kaum hatten sie sich darüber geeinigt, als man Stimmen hörte und die Worte ertönten:
»Dort ist sie, dort. Der Sensenhändler ist bei ihr!«
Der Korbhans, seine Frau und Babi, die Benigna gesucht hatten, kamen zur Haselhöhe und konnten sich lange nicht vor Staunen fassen, als sie hörten, wer der Sensenhändler war. Sie willigten dann gern in die Bitten der Babi ein, mit Benigna ziehen zu dürfen.
Nachdem man sich vom Staunen erholt hatte und Ruhe eingetreten war, fragte Hans:
»Jetzt sag mir ehrlich, Benigna, hast du den Schatz, den du da vergraben hast, bereits gehoben?«
»Ich hab' nie einen gehabt«, erwiderte Benigna.
»Aber du hast uns doch einen gegeben«, erklärte die Frau. »Wir leben jetzt Gottlob in Frieden und Wohlstand.«
Alle zusammen kehrten wieder ins Dorf zurück oder eigentlich nur ins Haus des Korbhans, das das letzte im Dorf war, so daß man sich vor niemand zu zeigen brauchte; denn darauf bestand Jörg. Aber er besann sich doch noch eines Besseren. Babi mußte den Bürgermeister holen, und unter dem Gelöbnis, daß er schweige, bis sie fort seien, übergab ihm Jörg eine namhafte Summe, die er der Gemeinde zurückerstatten solle für den Unterhalt seiner Frau.
»Recht so«, rief Benigna, »recht so! Bist ein Lebtag ein stolzer Mensch gewesen, ein ehrenhafter! Recht so!«
»Das auch«, sagte Jörg, »aber alles, was Schuld heißt, ist jetzt glatt und eben und gelöscht.«
»Das ist noch besser«, sagte Benigna. Als es Nacht war, holte Jörg seine Sensen, und während wieder Millionen Sterne am Himmel standen, wanderte er mit Benigna und Babi das Tal hinab an der Hammerschmiede vorbei, und weiter ging's bis zum schönen Land Steiermark.
Nicht weit von dem Städtchen Leoben, über der Bergwiese am Waldesrand, steht ein kleines Häuschen. Dort sitzt eine blinde Alte bei einem schönen Mädchen auf der Bank vor dem Haus; wenn es Abend wird, kommt Jörg von der Schmiede herauf und gibt Benigna und der Tochter die Hand.
Nach vieler und entsetzlicher Mühsal hat noch einmal ein Leben begonnen für Jörg und Benigna, und sie freuen sich dessen bis auf den heutigen Tag.
Ist auch zu dir ist mein Glücksruf gedrungen?« fragte der Pfarrer lächelnd. »Gut denn, ich will dir die Geschichte erzählen. Es ist auch das Lustigste, was ich in den sechsunddreißig Jahren erlebt habe, seit wir miteinander zu Tübingen am Neckarstrand auf der Schulbank saßen und zu begreifen suchten:
Was die Welt
Im Innersten zusammenhält.
Ihr Herren vom öffentlichen Wort, ihr glaubt, wir katholischen Geistlichen tun, vom Morgen bis zum Abend nichts als Mäusefallen stellen, um Seelen zu fangen. Ihr habt keine Ahnung davon, daß wir, auch lustige Kameraden sind und doch solltet ihr denken, daß wir nicht so obenauf wären, wenn wir nicht auch die Lustigkeit hegten.
Doch genug. Meine Geschichte ist so: Es war um Martini, bis zum nächsten sind es gerade fünfundzwanzig Jahre. Ich habe mein Leben lang hier auf. Posten gestanden, und da drüben an der Kirchmauer, wo der Holunder gedeiht und die Rotkehlchen nisten, da werde ich meine sechs Schuh Erde bekommen. Das werden mir meine Bauern nachsagen müssen: Unser Pfarrer hat die besten Predigten gehalten, denn es waren die kürzesten, und er hat Spaß verstanden.
Also wir saßen hier in der Stube am Samstagmorgen. Wir waren aus der Kirche gekommen, wo wir Messe gelesen haben, und setzten uns zum Frühstück. Neubackenes Brot haben wir damals nicht gehabt, so wie heute nicht. Meine Schwester war schon damals meine Haushälterin. Ich hatte einen Vikar, mehr zur Kameradschaft als zum Amtsgebrauch. Du erinnerst dich nicht an ihn, er kam nach uns zur Universität, hieß Mager und war's auch. Seine Lieblingsnahrung war Kandiszucker. Er hatte eine langgestreckte Figur und demgemäß eine gute Violinhand, und war auch in der Tat ein Meister im Violinspielen.
Von Hause aus wohlhabend, hatte er keine Ruhe, bis die sieben- oder achttausend Gulden, die er besaß, aufgebraucht waren. Aber er selbst genoß das wenigste davon; seine Hauptlust war, andere zu bewirten, und am vergnügtesten war sein Gesicht, wenn er mit dem Korkzieher, den er beständig bei sich trug, eine Flasche entkorken konnte. ›Hopsa! Da bin ich!‹ sagte er in der Regel beim Knall des ausgezogenen Korkens.
Mit der Zeit fing es an, in der Bewirtung anderer etwas knapp herzugehen; da er aber als vermögend bekannt war, bestanden die Wirte nicht auf einer Bezahlung in bar. Sie drängten ihm regelrecht ihren Kredit auf.
Ich will nur gleich hinzusetzen, daß er mit dreiunddreißig Jahren gestorben ist, und sein Haupttrost war, daß er niemand auf der Welt einen Kreuzer schuldig sei und manchem einen guten Tag gemacht habe. In seinem Nachlaß hat man eine ganze Kiste voller Flaschenstöpsel gefunden.
Ein zweiter Genösse, den ich damals zu Besuch hatte, war mein Vetter, der Postexpedient Nieseler. Du mußt dich an ihn noch erinnern; er war ein untersetzter, breitschultriger Bursche, der manchmal nach Lustnau mit uns ging. Er trug damals eine rote Mütze und schlug mit seinem Stock immer Quarten und Terzen in die Luft.
Der gute Kerl war ein persönlicher Feind des Staatsexamens, und um diesem grausamen Unhold aus dem Weg zu gehen, ging er zur Post.
Der dritte, der bei mir war, das ist ein Mann, dem man's schon zur Studentenzeit anmerkte, daß er's weit in der Welt bringen würde. Er ist jetzt Koadjutor des Bischofs, und schon im Konvikt hatte er bei uns den Namen Kirchenlicht oder abgekürzt: der Lichtle. Daneben war er aber gar kein Griesgram, vielmehr ein Lebemann, kein Spaßverderber und ein Redner, bei dem alle Tage Pfingsten war. Vielleicht erinnerst du dich noch an ihn. Als du mich damals auf der Krankenstube besuchtest, saß er bei mir; er wachte gern bei den Kranken, teils aus Gutherzigkeit, teils auch, um entgegen der Hausordnung Nächte hindurch studieren zu dürfen.
So saßen wir also beim Frühstück. Der Vikar und ich, wir rauchten nicht, aber der Lichtle – laß mich ihn kurzweg so nennen – rauchte regelmäßig nach dem Kaffee seine Zigarre, täglich nur eine; bei ihm hatte alles seine strenge Ordnung. Der Vetter Postexpedient konnte ihm dabei mit einem guten Haufen Unordnung aushelfen, und wenn er nicht im Büro war, zündete er immer eine frische Zigarre an der ausgerauchten an.
Kannst du dir etwas Trübseligeres denken als einen naßkalten Samstagmorgen im Herbst auf dem Dorf? Es ist nicht wegen der Sonntagspredigt allein, obgleich das auch etwas ist, aber da sind draußen die Wege so aufgeweicht, daß man mit den schön geputzten Stiefeln nicht hinausgehen mag. Und wohin sollte man eigentlich? Zu einem Amtsbruder in der Nachbarschaft? Da trifft man das gleiche. An solchem Tage lernt man's recht schätzen, was ein gutes Buch ist, noch besser aber ist – ich bin kein Gelehrter – eine gute Kameradschaft daheim.
Ich nahm nach dem Frühstück meine Gitarre herunter – du siehst, sie hängt noch dort, freilich ohne Saiten, und das grüne Band wird gelb. Damals aber klimperte ich noch gern und pfiff dazu, und jetzt hatte ich einen Vikar, der geigte. Wir musizierten uns eins vor, und gefiel's anderen nicht, so gefiel's doch uns.
Während wir noch musizierten, brachte der Dorfschütz – hier noch Bettelvogt genannt –, der auch zugleich das wohllöbliche Postamt des Dorfes in sich darstellt, die Zeitung, unseren uralten getreuen »Schwäbischen Merkur«. Ihr draußen in der Welt, die ihr den Küchenherd der Zeitgeschichte heizt, in jeden Topf schaut, selbst kocht und einrührt, ihr könnt nicht wissen, was die Zeitung einem Pfarrer ist im verregneten Dorf.
Da kommen die Fürsten und ihre Exzellenzen und vertrauen uns, um unsere Gunst zu gewinnen, ihre weisen Maßregeln an; da singen die Tenöre ihre Stücklein, die da verkünden, wie weit sie's gebracht und noch zu bringen hoffen. Und dann bietet sich die ganze Welt feil: Theater und Pferde, Bücher und Schafweiden, Schlitten und Kammerzofen, heiratslustige Witwen und Hausdiener; ja, solch eine Zeitung ist eine wahre Arche Noah, da ist alles drin, was kriecht und fliegt, und ich hab' mir einmal ausgedacht, wenn unsere ganze Kultur unterginge und ein Gelehrter des vierten künftigen Jahrtausends findet eine solche Zeitung und versteht sie zu lesen, er könnte aus einem einzigen Blatt das ganze Fastnachtsspiel der großen Welt wiederaufbauen.
Ich wollte nun meine Zeitung lesen, und natürlich zuerst die Dienstnachrichten, da rief der Vikar Mager:
»Ja, Herr Pfarrer, wie ist's denn? Wer predigt denn morgen? Ich meine, es wäre an Hochwürden?«
»Nein, es ist an Ihnen.«
Der Streit ging hin und her. »Hopsa! Da bin ich!« rief mein Vikar plötzlich, wie wenn er eine Flasche entkorkt hätte; er schlug nun ein treffliches Auskunftsmittel vor. Es wird abgestimmt. Wir schlossen natürlich den Lichtle aus, der Postexpedient, der Vikar und ich, wir bildeten die Ratskammer, und einstimmig nach geheimer direkter Wahl wurde beschlossen: Der Lichtle hat morgen das Wort. Er war, wie gesagt, ein trefflicher Kamerad und ließ sich's gefallen. Er ging sofort ins Gasthaus auf sein Zimmer, um sich einen Text zu suchen und auszulegen.
Wir drei verteilten nun die Blätter der Zeitung, denn das ist brav von unserem alten Merkur, daß er nicht auf einer einzigen großen Windel erscheint, in die sich ein langer Engländer einwickeln kann. Jeder hatte sein Stück, und da las ich, daß heute die letzte Ziehung der Frankfurter Lotterie ist. Die beiden Haupttreffer steckten noch im Glücksrad.
Nun haben wir vier ein halbes Los gespielt. Ich weiß wohl, das Lotteriespielen soll nicht so ganz in Ordnung sein, aber wenn man so am Rande der Welt sitzt, dann möchte man doch auch etwas haben, was plötzlich kommen und sagen kann: Da bin ich und bringe dir etwas Absonderliches mit. Und unterhaltsam war's auch, wenn wir uns so ausgedacht haben, was wir mit dem vielen Geld anfangen.
Die vier Teilhaber aber waren: der Vikar, meine Schwester Haushälterin, ich, und der vierte war der Tischler Schick, auch des faulen Wendels Schick genannt. Den Namen hat er, wie du schon merkst, sich nicht selbst gegeben, sondern geschichtlich ererbt, und zwar vom allerhöchsten Ursprung. Das war nämlich so: Der vorletzte regierende Fürst von Hechingen – du weißt doch noch, daß Hechingen auch einmal ein selbständiges Reich war? – hielt im Herbst seine Treibjagd, bei welcher die Bauern mit Rasseln und mit Hollaho das Wild zusammenjagen mußten. Als die Jagd vorüber war, wurde den Bauern ein guter Trunk Bier gespendet und Brot und Käse dazu, droben auf dem Schloß Lindig. Die Bauern lagerten sich auf der Wiese und streckten alle viere von sich. Da kam der Fürst herab und sagte: ›Bleibt nur liegen! Ich weiß, ihr seid faule Kerle. Ich möchte nur wissen, wer von euch der Faulste ist? Wenn ich ihn wüßte, er bekäme als Preis einen Kronentaler von mir.‹
Niemand wußte recht zu sagen, wie er sich als den Preiswürdigsten erweisen könnte. Da sagte der Nachbar, der neben Wendel auf der Wiese lag, zu diesem: ›Du, wenn ich den Preis bekomme, steck mir ihn in die Tasche. Ich bin zu faul, daß ich's selber tu.‹ – ›O du!‹ entgegnete der Wendel und machte dabei kaum den Mund auf. ›O du! Wie du nur noch so viel sprechen magst?‹ Und richtig, der Wendel Schick hat den Kronentaler bekommen.
Wendel Schick war aber weit mehr Schalk als faul, er hat sein Hauswesen in gutem Stand hinterlassen. Die drei Kinder, zwei Töchter und ein Sohn, erbten ein schuldenfreies Häuschen und einige Äcker. Der Sohn, der das Tischlerhandwerk erlernt hat, ist weit in der Welt herumgewandert, auf der einen Seite bis Konstantinopel und auf der anderen Seite bis Kopenhagen. Als er heimkam, fand er seine beiden Schwestern noch ledig; und nun lebte er fröhlich mit ihnen, richtete einen kleinen Kramladen ein und hatte für Freunde auch ein gutes Flaschenbier eingelegt. Sein Hauptvergnügen war das Kartenspiel. Du kennst wohl das Spiel zu viert? Leider fehlt uns sehr oft der vierte Mann, und wer am Sonntag predigte, konnte den Abend vorher nicht spielen. Schon am Freitagabend, als der Lichtle angekommen war, hatte ihm darum der Tischler Schick bereits auf der Straße gesagt: ›Sie sind doch morgen abend der vierte?‹ Der Lichtle bejahte, er war der vierte. Da hast du's ganz wörtlich, er war kein Spielverderber.
›Heute ist die Ziehung in Frankfurt‹, sagte ich jetzt zum Vikar.
›O weh! Da treibt eben der Hirt die Schweine vorbei, wir sind wieder durchgefallen‹, lachte der Vikar. ›Aber halt! Wir sollten uns einen Spaß machen. Wenn wir heute abend – ich meine, es wird heute gar nicht Tag, der Abend fängt schon am Morgen an –, wenn wir heute abend zum Karten beim Tischler Schick sind, muß ein Brief ankommen mit der Nachricht, daß wir gewonnen haben. Da sollt ihr einmal sehen, des faulen Wendels Sohn macht Sprünge von Konstantinopel bis Kopenhagen.‹
Der Postexpedient war sehr gern bei der Hand. Der Vikar gab ihm einen der letzten Briefe des Lotterieeinnehmers, und der Vetter schrieb mit geschickt nachahmender Handschrift:
›Hochgeehrter Herr!
Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, daß Ihr Los Nr. 17377 in der heutigen Schlußziehung den Gewinn von einhunderttausend Gulden erhalten hat. Wir bitten um Ihre Anweisung, ob Sie unter Vorlesung des Original-Loses den Betrag nach Abzug der üblichen Prozente hierselbst in Empfang nehmen oder ob wir Ihnen solchen in bar nach dort schicken sollen. Ferneren Aufträgen uns geneigtest empfehlend usw.‹
Der Vetter hatte in der Tat eine sehr verführerische Geschicklichkeit. Er schrieb die Adresse und ahmte den Poststempel mit Bleistift sehr gut nach. Dann übernahm er es, beim Bettelvogt-Postmeister nachzusehen, ob kein Brief für ihn da sei, um bei dieser Gelegenheit den nachgeahmten unter die anderen zu schieben.
Wohlgemut saßen wir am Abend beim Kartenspiel, da kam der Bettelvogt und sagte: ›Herr Vikar, ich bin im Pfarrhaus gewesen, da sagt man mir, Sie seien da; hier ist ein Brief für Sie.‹
Der Vikar nahm den Brief mit gleichgültiger Miene. ›Pah! Wieder so ein elendes Schreiben von dem Lotterieeinnehmer. Weiß schon: Bedauern sehr, Frau Fortuna hat sich unhold erwiesen, hoffen bei nächster Gelegenheit. Hier ein neues Los ... Genug.‹
Er steckte den Brief in die Tasche, ohne ihn zu öffnen, und rief: »Wer ist am Stich? Weiter im Spiel!«
Das Spiel war zu Ende, die Karten wurden neu gemischt, da sagte der Tischler: ›Herr Vikar, ich meine doch, wenn's erlaubt wäre, ich hab' doch auch Anteil, ich möchte drum bitten, wollen Sie nicht den Brief öffnen? Man kann ja doch nicht wissen.‹
›Pah!‹ erwiderte der Vikar. ›Es ist nichts, und ich habe den Grundsatz, ich öffne am Abend keinen Brief; man schläft schlecht drauf. Weiter im Spiel!‹
Der Tischler bat dringender, und der Postexpedient unterstützte ihn.
»Nun denn, wenn ihr wollt‹, rief der Vikar, riß den Brief auf und verletzte das Siegel sehr geflissentlich. Dann hielt er das Papier in der Hand, das zitterte und knitterte. ›Aufgepaßt! Da ist was!‹ rief der Expedient. ›Lesen Sie vor! Nein, lassen Sie mich lesen.‹
Der Expedient erhielt den Brief, der Tischler stemmte beide Arme auf den Tisch, schaute mit großen Augen drein, und der Vetter las. Er stellte sich mit großem Geschick, als ob ihm die Schrift nicht geläufig wäre, und beim Nennen der Nummer hielt er das Papier so nah ans Licht, daß es fast anbrannte. Aber der Tischler hatte alles gesehen, und jetzt sprang er auf und warf das Kartenspiel, das er in der Hand hatte, an die Wand und rannte in der Stube umher und jauchzte: ›Konstantinopel! Kopenhagen! 'naus mit dir, du Hobel! Die ganze Welt ist abgehobelt! Schwester Lisbeth! Margarete! Kommt herein!‹
Die beiden alten Mädchen kamen herein, und er rief wieder, indem er den Hobel faßte und hineinblies: ›Huidä! Nichts mehr gehobelt! Lisbeth! Konstantinopel! Margarete! Kopenhagen! Fünfzigtausend Konstantinopel! Ein halbes Los macht fünfzigtausend. In vier Teile geteilt, macht das für jeden zwölftausendfünfhundert Kopenhagen! Fünfhundert rechne ich ab für Schmierale, für den Schleifstein; bleibt einem jeden zwölftausend Konstantinopel! Tausend Dutzend Kopenhagen! Seid nur ruhig, ich mache keine Verschwendung, bin nicht umsonst durch die halbe Welt gereist. Da, Lisbeth! Da, Margarete! Da habt Ihr meine Hand. Jetzt will ich euch sagen, was ich vorhab', und da die Herren sind Zeugen. Ich führe aus, was ich mir vorgesetzt habe. Ich habe mir gelobt, wenn ich gewinne, bleibe ich drei Tage im Bett liegen, damit ich keinen dummen Streich mache. Sollt sehen, ich weiß mich im Zaum zu halten. Und auf sichere Hypothek legen wir unser Geld an, auf Gemeinde-Hypothek, das ist das beste; eine Gemeinde wird nicht bankrott. Herr Vikar! Herr Pfarrer! Wir lassen das runde bare Geld kommen, ein rundes Fäßchen mit runden Geldrollen drin, hartes Geld, lebendiges Geld. Und ich setz' mir ein Kegelspiel von Geldrollen auf. Juchhe! Konstantinopel! Kopenhagen!‹
Die ältere Schwester Lisbeth kam endlich zu Wort und konnte sagen: ›Ich hab's gewußt, die Margarete kann mir's bezeugen, wie heut morgen der Bettelvogt da vorübergegangen ist, hat gerade der Schafhirt seine Herde rechts gegen unser Haus getrieben, und da hab' ich gesagt, heut würden wir einen Glücksbrief kriegen.‹
›Red nicht davon!‹ warf der Tischler ein. ›Bringt mir nur keinen Aberglauben ins Haus, sonst hat man ja im Glück keine Ruhe, und Ruhe ist jetzt in der Welt, tausend und tausend Meilen weit, von Konstantinopel bis Kopenhagen!‹
›Er hat recht‹, entgegnete die Schwester Margarete, ›die Schweine sind ja auch zuerst vorbeigetrieben worden.‹
›Ja, nur keinen Aberglaubens bestätigte der Expedient. Er war der einzige, der die Keckheit hatte, dreinzureden, wir anderen hielten es vor Verlegenheit nicht mehr aus und gingen ins Wirtshaus, wo der Lichtle abgestiegen war.
Dort hörten wir bald, daß der Tischler im Pfarrhaus sei. Er hatte inzwischen den Sohn meiner Schwester, die mit dem Lindenwirt in Steinen verheiratet ist, mit einem großen Krug ins Wirtshaus geschickt, daß er Wein hole; er wollte im Pfarrhaus auf uns warten, bis wir wiederkämen. Nun war uns die Sache doch nicht geheuer, und der Lichtle, der uns wegen unseres ungehöriges Spaß abkanzelte, übernahm es als Unbeteiligter, dem Tischler reinen Wein einzuschenken. Ich versprach ihm die Einleitung zu machen.
Als wir dem Wirt gute Nacht sagten, beglückwünschte dieser den Vikar, indem er hinzufügte:
›Ihnen, Herr Vikar, wird's besonders lieb sein, daß Sie den Treffer ....‹
›Warum mir besonders?‹ ›Ha! Weil der Kredit doch auch manchmal ein Eisen verliert, und da ist's gut, wenn frisch beschlagen wird. Ich red' nicht von mir, ich rede nur von anderen, und nehmen Sie es nicht für ungut.‹
Der Vikar aber nahm es krumm, und auf dem ganzen Heimweg murrte er vor sich hin. Es verdroß ihn sehr, daß man schon lange nicht mehr an seinen Reichtum glaubte.
Wir kamen ins Pfarrhaus. Schon auf der Treppe klagte uns meine Schwester, daß wir uns da eine böse Geschichte eingebrockt hätten. Der Tischler sei wie närrisch und wolle nicht vom Fleck. Mein Neffe, der bei mir zu Besuch war und wohl etwas von unserem Streich gehört, hatte ihm gesagt: ›Euer Glücksvogel heißt nicht Habich, aber Hättich, den kriegt man auch nur, wenn man ihm Salz auf den Schwanz streut.‹
›O du‹, entgegnete der Tischler, ›du willst Pfarrer werden und bist so ungläubig?‹
Wir kamen in die Stube. ›Herr Pfarrers‹, sagte der Tischler, und sein ganzes Gesicht glänzte, ›ich habe eine Bitte: Lassen Sie mich unsern Glücksvogel, unser Los sehen.‹
Ich öffnete den Schreibtisch und übergab es ihm samt dem Brief, in dem es lag.
›Die Nummer ist richtig‹, sagte er und hielt den Brief zwischen beiden Händen, wie wenn er ihn liebkoste. ›Ich hab' gefürchtet, es fehlt ein Aug' daran, und ein Aug' gefehlt, wäre ganz gefehlt, wäre so gut, als wenn man um Tausende gefehlt hätte.‹
Ich nahm den Brief nochmals zur Hand und sagte: ›Seht einmal, mir kommt die Sache nicht geheuer vor. Es müßte schnell gegangen sein, wenn der Brief heute schon mit der gewöhnlichen Post da wäre. Da müßte ja ein blasender Postillion gekommen sein, und seht einmal, die Schrift ist nicht gleich bei dem früheren und dem jetzigen Brief. Vergleiche du einmal‹, sagte ich zum Lichtle, übergab ihm beide Briefe und ließ ihn nun machen.
›Ich bin verraten‹, rief der Expedient und verließ die Stube, und Lichtle erklärte nun dem Tischler, daß der übermütige Bursche einen tollen Streich gemacht habe. Er zeigte ganz genau, daß der Poststempel mit Bleistift gemacht sei.
Als ich die Miene des Tischlers sah, bereute ich's tief, daß ich den Spaß erlaubt hatte. Der Tischler ging ganz still davon und nahm beide Briefe samt dem Los mit.
Wir nahmen uns vor, den Spaß soweit als möglich wiedergutzumachen. Ja, wer hat aber so etwas in der Hand?
Der kleine Kramladen, den der Tischler hatte, erhielt jeden Sonntag früh seine Zufuhr aus dem großen Laden des Kaufmanns Kori in Hechingen. Kori war ein höchst ehrenhafter, zuverlässiger Mann, der das Vertrauen der ganzen Umgegend besaß. ›Das ist so sicher, wie wenn's der Kori gesagt hätte‹, war eine Beteuerung, die überall so viel galt, als wäre sie verbrieft und besiegelt.
Nun wanderte jeden Sonntagmorgen der Schneider Schnurren aus unserem Dorf nach Hechingen und holte für den Tischler Schick einige Pfund Zucker, Kaffee, Zichorie, Lichter, Seife, Schwefelhölzchen, Essig, kurz, was man eben im Kleinverkauf braucht.
An diesem Sonntag in aller Frühe kam der Schneider Schnurrer zu Kori und holt das Übliche.
›Guten Morgen, Schnurrer, was gibt's Neues in Burladingen?‹
›Nicht, daß ich wüßte, aber doch, ja, das ist prächtig! Unser Herr Pfarrer hat in der Frankfurter Lotterie gewonnen.‹
›Pst! Pst! Still um Gottes willen! Sagt das nicht so laut und sagt das nicht weiter, keinem Menschen. Daß ihr mir's gesagt habt, schadet nichts; aber wenn ihr heimkommt, geht zum Pfarrer und berichtet ihm meinen Glückwunsch, und er soll sich ja recht in acht nehmen, die Sache ganz geheimzuhalten. Es ist ja in unserm Ländchen verboten, in der Frankfurter Lotterie zu spielen, und wenn's herauskommt, nimmt der Staat alles, was sie gewonnen haben, und vielleicht gibt's noch eine Strafe dazu. Vergeßt ja nicht, dem Pfarrer zu sagen, daß er sich in acht nehmen soll.‹
Am Morgen hat der Lichtle meisterhaft gepredigt, und – was viel heißen will – seine Predigt hat fast eine halbe Stunde gedauert und war meinen Bauern nicht zu lang. Er weiß aber auch das Herz zu packen, daß man an gar keine Zeit mehr denkt.
Der Tischler war nicht in der Kirche gewesen und seine Schwestern auch nicht. Wir schickten meinen Neffen zu ihm und hörten, daß er im Bette liegengeblieben sei. Aber er war nicht krank.
Mir war das rätselhaft. Glaubte er doch noch an den Gewinn und wollte seine Klausur halten?
Als der Nachmittagsgottesdienst vorüber war, machten wir Männer uns allesamt auf dem Weg nach Steinen, um meinen Neffen, der am Montag wieder zur Schule sollte, zu seinen Eltern zu bringen.
Wir waren noch eine gute Strecke von Steinen entfernt, da sahen wir meinen Schwager und meine Schwester uns entgegenkommen. Meine Schwester, eine große, starke Frau, hob von ferne die Hände empor und schlug sie in freudiger Bewegung zusammen. Ich sagte zu meinem Neffen: ›Deine Mutter freut sich recht, daß du wieder heimkommst.‹
Wir erreichten sie, und mein Schwager und meine Schwester wünschten mir Glück. Ich hatte gar nicht Zeit, etwas zu erwidern.
›Jetzt, Hochwürden‹, sagte mein Schwager Lindenwirt, ›jetzt, Hochwürden, müssen Sie mir dazu helfen, das Rößle in Hechingen zu kaufen; dreitausend Gulden bekomm' ich für mein Anwesen und zweitausend geben Sie mir dazu, und dann können wir den Jungen gut in die lateinische Schule schicken, und er soll Geistlicher werden wie Sie.‹
Ich entgegnete, daß es ein Irrtum sei, ich hätte nichts gewonnen.
›Vor mir brauchen Sie nichts zu verbergen, ich werde kein Narr sein und es der Regierung verraten. Ich bin noch heute morgen beim Kaufmann Kori gewesen. Er hat mir eingeschärft, Sie sollen sich ja recht in acht nehmen; aber bei mir sind Sie sicher.‹
Was nützten alle meine Beteuerungen? Der Kaufmann Kori hat's gesagt, und der hat noch nie in seinem Leben eine Unwahrheit gesagt.
Als wir in der Linde ankamen, nahm mich meine Schwester in die Nebenstube und weinte vor Glückseligkeit, daß ich in der ganzen Familie nicht nur ein Glück für die Ewigkeit sei, sondern auch für die Zeitlichkeit. Sie ließ mich gar nicht zu Wort kommen und pries die Eltern im Himmel und beklagte, daß sie nicht mehr da seien. Sie gelobte für sie eine Wallfahrt nach Einsiedeln.
Und da fing's an, daß ich von der Geschichte einen Gewinn hatte, aber einen schlimmen; ich tat Blicke in die Menschenseele, die gar nicht erquicklich sind. Ich war der Stolz meiner Familie und vor allem meiner Schwester, der Lindenwirtin, die einen richtigen und guten Verstand hatte. Wie drehte sich aber das jetzt alles! Sie klagte zuerst, daß ich so mißtrauisch sei; sie wollte wissen, womit sie das verdiene, und als ich ihr beteuerte, daß ich ihr nichts Außergewöhnliches beisteuern könnte, da war sie nahe daran, mich hartherzig zu schelten.
Was sollte ich tun? Sollte ich meine Aussage mit einem Eid bekräftigen? Ich war unwillig, daß man mir nicht glaubte. Da sah ich's nun: Mein Leben lang habe ich mit Aufopferung alles geleistet für meine Angehörigen; jetzt, da ich einmal zu versagen schien, war alles vergessen und ausgelöscht.
Ich ließ den Wein stehen, der bereits eingeschenkt war, und machte mich wieder auf den Heimweg.
Es war kein guter Blick, mit dem Schwager und Schwester mir nachsahen, als ich mit dem Vikar, dem Expedienten und dem Lichtle wieder heimwärts ging.
Unterwegs begegnete uns der Schneider Schnurrer, der mich beiseite nahm und mir heimlich den Glückwunsch und die Warnung des Kaufmanns Kori mitteilte.
Sollte ich auch diesem Mann sagen, daß alles nur Täuschung war? Sollte ich von Haus zu Haus, von Mann zu Mann gehen und sagen: ›Liebe Leute, mein Vetter Expedient hat einen dummen Streich gemacht, und ich hab' ihn nicht verhindert?‹ Die Regierung strafte mich nicht, ich hatte aber schon mein Teil Strafe, und ich muß sagen, daß es mir jetzt, wo es offenkundig war, schwer aufs Herz fiel, eine Umgehung des Gesetzes auf mich geladen zu haben.
Ich dankte beschämt dem Gruß aller Begegnenden, denn ich wußte, jeder dachte: Unser Pfarrer spielt in der Lotterie. Freilich wünschten sie mir alle heimlich Glück, aber ich meinte, ich könnte nicht mehr predigen, daß man Not und Armut geduldig tragen und das Gesetz heilig halten solle.
Jener Sonntag war einer der widerwärtigsten meines Lebens.
Ich klagte dem Lichtle meine Not. Dieser sagte mir, daß ich gerechte Strafe erleide, ich solle es aber nicht so schwernehmen; dabei tröstete er mich auch, daß die Menschen nicht so viel denken wie der Betroffene selber. Der Vikar indes blieb dabei, daß die Geschichte einmal lustig angefangen habe und auch lustig durchgeführt werden müsse.
Am Montag früh kam wieder die Zeitung, aber kein Brief. Nun war an diesem Montag Dekanats-Konferenz im Löwen zu Hechingen, du kennst ja das Wirtshaus in der unteren Stadt am Kreuzweg. Ich kam mit dem Lichtle und dem Vikar dort an. Wir waren die ersten, die eintraten.
Im Löwen befand sich auch das Postamt, und da lag auf dem großen Tisch ein Sack mit tausend Gulden, adressiert an Joseph Mayer. So hieß ein Kaufmann in Hechingen. Ein Amtsbruder trat ein, er gratulierte dem Vikar, und dieser sagt: »Bitte, sprechen Sie nicht weiter davon. Sehen Sie, das sind die ersten tausend Gulden, die angekommen sind.« Er legte die Hand auf die untere Schrift, so daß nur der Name zu lesen war.
Nun kamen bald viele Amtsbrüder, und die Konferenz begann.
Als die Konferenz beendigt war und wir wohlgemut bei Tisch saßen, merkte ich, daß der erste Amtsbruder dermaßen verschwiegen gewesen war, daß sämtliche Diözesangenossen mich bestürmten, ich müsse einen ausgeben. Ich erkläre nun, allerdings ohne den Expedienten bloßzustellen, daß alles nur Scherz sei und ich nichts gewonnen hätte. Indes ließ ich doch vier Maß Wein aufsetzen. Man verlangte Champagner, aber das war mich doch zuviel.
Und solltest du es glauben? Ich habe durch den übermütigen Scherz eine sehr demütigende Erfahrung gemacht: Ich sehe, die Menschen halten viel mehr auf mich, weil ich reich bin. Mein persönlicher Wert, auf den ich mir manchmal im stillen etwas einbilden wollte, bekam ein neues Gewicht, ja wurde weit übertroffen von der Vorstellung der Menschen, daß ich reich sei.
Das habe ich an jenem Tag und später noch mehr erfahren. Daß ein Mann von Reichtum so eifrig in seinem Beruf war, das galt als besonders ehrenvoll, und alles, was ich sagte und tat, hatte noch ein besonderes Gewicht. Daneben mußte ich natürlich auch manchmal hören, daß ich sehr karg und knauserig sei. Das Elend, das rings um mich her war, bedrängte mich nun täglich und stündlich. Ich spendete größere Gaben, ich legte mir manche Entbehrungen auf, aber alle milden Gaben wurden sehr gering angesehen.
Bald kam eine neue Wendung. Ich hatte mit dem Schicksal gespielt, und nun hatte das Schicksal mit mir gespielt.
Am Dienstag früh erhielt der Vikar eine ganze Herde Briefe, wie das der Bettelvogt nannte. Von allen Seiten her kamen Zuschriften, die dem Vikar Glück wünschten, und darin lagen Rechnungen. Anfangs wollte er sich darüber lustig machen, daß er bei so vielen Menschen so gut angeschrieben sei, aber bald verdroß es ihn doch sehr, als er sah, daß er keinen Kredit mehr habe. Und das, was er noch besaß, reichte kaum aus, um die vielen Schulden zu bezahlen. Vom Tischler hörten wir gar nichts mehr. Mir war die Sache nicht recht geheuer; warum lag er denn jetzt noch im Bett, da er nicht in Gefahr ist, mit seinem Gewinn einen dummen Streich zu machen? Ich drang darauf, daß ich ihn sprechen müsse, und nun zeigte sich, daß er gar nicht im Bett gelegen hatte. Die Schwestern sagten mir, er sei verreist. Wohin? Sie behaupteten, es nicht zu wissen.
Es war am Donnerstag früh, das Lichtle kam eben und wollte Abschied nehmen, da kam der Tischler zu mir ins Haus und sagte mit fröhlicher Stimme: ›Tausendmal guten Morgen, Herr Pfarrer.‹
›Was ist? Wo seid Ihr gewesen?‹
›In Frankfurt. Ich hab' das Geld selber geholt.‹
›Das Geld? Was für ein Geld?‹
›Unser Geld.‹
›Unser Geld. Wieviel denn?‹
Der Tischler machte eine lange Pause, dann sagte er: ›Raten Sie einmal.‹
Jetzt war ich daran, von ihm geschraubt zu werden, und er stellte endlich drei Rollen vor mich auf den Tisch, jede zu tausend Gulden, und sagte:
›So, da sind Ihre drei Teile, meinen Anteil habe ich daheim.‹
Er berichtete nun, daß er auch mit dem Bettelvogt umzugehen wisse; er habe ihm den Brief an den Vikar, der am Montag angekommen war, weggenommen und sei damit geradewegs nach Frankfurt gewandert. Drei Gulden bekäme er noch von jedem Gewinn heraus, denn zwölf Gulden Unkosten habe er gehabt.
Solltest du es glauben? Aber es ist so. Mir erschien der Gewinn, der doch nicht unbedeutend war, viel zu gering, und solch eine teuflische Macht liegt im Geld, daß ich sofort dem Tischler mißtraute; es ist gewiß weit mehr, was wir gewonnen haben, aber wie soll ich jetzt die Wahrheit herausbekommen? Ich kann nun freilich die gedruckte amtliche Gewinnliste kommen lassen, aber mir schauderte schon vor dem Rechtsstreit, mit einem Gemeindeangehörigen, und er ließ sich eigentlich nicht verfolgen, denn die Sache durfte ja nicht ruchbar werden. O, es ist eine böse Geschichte, wenn sich der Geldsack an die Seele hängt!
Es hat sich tatsächlich erwiesen, daß der Tischler als grundehrlicher Mann gehandelt hatte. Als ich meiner Schwester in Steinen mehrere hundert Gulden gab, bedankte sie sich kaum, und als ich nach und nach meinen ganzen Gewinn und den meiner ledigen Schwester an Verwandte und Arme verzettelt hatte, wollte man immer Reichlicheres von mir haben, und ich verwünschte diese ganze Geschichte mehr als tausendmal.
Der Vikar war am übelsten dran; er konnte geraume Zeit den Ärger nicht verwinden, daß er eigentlich keinen Kredit hatte, und oftmals sagte er: ›Niemand als ich könnte besser darüber predigen, wie es in der Ewigkeit sein muß, wenn man für vergessene Genüsse die Rechnungen zu bezahlen hat. Das ist wie alte Wirtshausschulden.‹
Bald aber ward er wieder der lustige Kamerad von ehedem und ist lustig gestorben. Noch eine Stunde vor seinem Tod ahmte er das Ausziehen des Korkens nach. Ich habe seitdem keinen Vikar mehr bekommen, denn es findet sich keiner mehr, der noch eigenes Geld aufwenden kann.
Ich aber gelte bis auf den heutigen Tag für reich, und was ich tu' und sage, hat weit mehr Nachdruck. Das sind die Zinsen meines verflogenen Kapitals ...«
So erzählte der Pfarrer, und am Abend machten wir einen Besuch bei dem Tischler und spielten Karten mit ihm; der Schullehrer war der vierte Mann. In der Stube des Tischlers hängen schön eingerahmt drei Städtebilder: rechts Konstantinopel, links Kopenhagen und in der Mitte Frankfurt am Main.
Die Glocken klangen im Thüringer Land, sie verkündeten Trauer. Einer der edelsten und tapfersten deutschen Männer, Karl August von Sachsen-Weimar, war nach zweiundfünfzigjähriger Regierungszeit gestorben.
Es war am Sonntagmittag im Juni des Jahres 1828, die Glocken hatten ausgeklungen, und ein großer Teil der Bewohner des Dorfes Vogelsberg saß in der Schenke. Man plauderte allerlei: vom Tode des Herzogs, von der Heuernte, von einer Holzversteigerung im Domänenwald, von einem neuerbauten Hause im oberen Dorf und vom Krieg der Russen gegen die Türken.
»Da kommt der alte Luzner!« hieß es plötzlich. »Ja, dem muß es hart angehen, daß unser Herzog gestorben ist. Man sagt ja, sein Vermögen rührt vom Herzog her. Heute muß es ihm doch zu einsam auf seiner Mühle sein. Steh du auf da. Wenn er sich zu uns setzen will, soll er auf dem guten Stuhl sitzen.« So hieß es hin und her in der Schenke, während ein alter schlanker Mann, wohl siebzig Jahre alt, aber noch fest und aufrecht gehend, in die graue Müllertracht gekleidet, die Straße daherkam. Er trug eine weiße Rose im Mund.
Der alte Luzner kam in der Tat in die Schenke und nahm den ihm freigehaltenen Großvaterstuhl ein. Man saß damals noch nicht so viel im Freien wie heutigentags, und die Dorfbewohner sind auch heute noch beim Ausruhen immer unter Dach und Fach. Während draußen Rose und Holunder blühten, öffnete man in der Schenke kaum ein Fenster.
Der alte Luzner bestellte sich auch einen Krug Bier, und als er den Geldbeutel heraustat und bezahlte, nahm er auch ein Talerstück heraus und sagte: »Das ist von ihm, das hat er mir selber gegeben mit dem andern, und es hat mir viel Segen gebracht. Meine selige Frau hat das Geldstück vierzig Jahre lang an ihrer Granatschnur getragen. Schaut, so hat er damals ausgesehen.«
»Ja, wer denn?« fragte ein pfiffig aussehender Bauer und winkte den anderen.
Der alte Luzner sah ihn zuerst zornig und dann mit stiller Wehmut an und sagte: »Wer denn? Wer denn? Natürlich unser Herzog. So kommt keiner mehr auf die Welt. Er war nur ein Jahr älter als ich, und damals hättet ihr ihn sehen müssen. Ja, damals! Unser Herrgott im Himmel muß seine Freude an ihm gehabt haben, wenn er ihn hierunten gesehen hat. Tolle Streiche hat er genug gemacht, er und sein Freund da.« Der Müller deutete hierbei auf die in der Stube hängenden Bilder von Karl August und Goethe und fuhr fort: »Ja, damals war man viel lustiger gewesen als heutigentags, und wenn's darauf angekommen war, hat man sich doch wieder in gehörigen Respekt setzen können. Unser Herzog ist lustig gewesen, er hat aber auch geholfen, wo Not am Mann war, und Kraft hat er gehabt für drei in jungen Jahren, ehe er dick geworden ist. Er hätte jeden von euch im Ringen mit der linken Hand niedergeworfen, und wie wir miteinander gearbeitet haben, das war eine Kraft, die Mauern einreißt; ja, die Menschen werden immer schwächer. Solche gibt's keine mehr. Ich meine, es ist, wie unser Bezirksarzt mir schon oft gesagt hat: Die Kartoffeln sind dran schuld, die machen die Menschen auch nur knollig, aber nicht fest. Nicht umsonst hat man sich – ich kann mich noch ganz gut dran erinnern – so hartnäckig gegen den Anbau von Kartoffeln gewehrt. Ich will euch das ein andermal erzählen.
Jetzt also unser Karl August. Ja, er ist stehend gestorben, aufrecht, er war der Mann dazu; er hat sich nicht niedergelegt, der Tod hat ihn niederwerfen müssen. Hätte man ihn zum deutschen Kaiser gemacht, es sähe jetzt anders aus in Deutschland. Ich weiß wohl, es ist auch unter euch viel junger Nachwuchs, der uns fast auslacht wegen der schweren Kämpfe, die wir ausgestanden haben. Wir haben dem Bonaparte den Garaus gemacht, und niemand hätte geglaubt, daß dann wieder alles uneins sein wird, und die im Coburger Land, im Meininger Land und in Gera und in Schleiz und im Hessischen – jeder tut, als ob sein Land ein eigener Weltteil wäre. Das wird schon einmal wieder anders werden. Ich möchte es noch erleben, und dem Herzog war's wohl zu gönnen gewesen, daß er's auch erlebt hätte. Er hat seine Pflicht und Schuldigkeit getan, und ich und der Peter von der Wirtin da, wir waren drunten in Weimar, wie der Herzog die Verfassung gegeben und beschworen hat. – Aber, ich habe noch ganz anderes zu erzählen.«
»Ja, erzählt. Wie ist denn das gewesen? Man hört immer nur so davon munkeln. Ja, erzählt, daß man's auch einmal ordentlich weiß.« So drängten alle, und der Müller nickte und sagte: »Aber ihr müßt still sein und mir nicht so ins Gesicht hineinrauchen. Freilich, er hat auch gern geraucht, und seine Pfeife und seine Hunde hat er immer bei sich gehabt.«
»Fangt von vorn an.«
»Gut. Ich vergesse natürlich den Tag nicht. Es war am 3. März Anno 1779. Wir haben das vergangene Jahr einen prächtigen Sommer gehabt, eine gute Ernte, zu mahlen gibt es genug, und unser Bach, die Scherkonde, ist dazumal doppelt so groß wie heutigentags und das ganze Jahr, denn damals hat es bis weit hinein auf der Finne und Hageleite noch nichts als Wald gegeben, da trocknen die kleinen Wässerlein nicht so aus, und viele Wässerlein geben einen Bach.
Ich bin also selbige Nacht allein in unserer Mühle. Ich bin damals bei dem Müller Heyde gewesen, von dem nur noch eine Tochter lebt in Köln. Ich gehe also auf und ab, schütte aus und ein. Damals hat man sich die Arbeit noch nicht so leicht gemacht wie heutigentags, und wir sind gesünder gewesen. Ich weiß nicht, wie mir selbige Nacht ist, es ist mir immer, als wenn mich jemand draußen auf dem Weg oder im Dorf riefe, wie wenn es etwas Besonderes gäbe; und auf einmal ist mir's doch wieder so bang, daß ich nicht übel Lust hätte, den Meister zu wecken. Es rast ein Wind, daß man meint, er nimmt die ganze Mühle mit fort. Ja, ich glaube nicht an Ahnungen; ich habe hundertmal in meinem Leben erfahren, daß man sich da allerlei einbilden und sich unnötig plagen kann; und doch ist es auch wieder manchmal, als wenn etwas, was da kommt, an einem zupfen und zerren möchte.
Ich sehe zum obern Fenster hinaus – ich weiß nicht, warum. Herrgott! Was ist das? Es brennt im Dorf! Ich springe schnell hinunter, stelle das Mühlrad und wecke den Meister, die Frau und die Kinder und eile ins Dorf.
Damals waren hier noch alle Dächer mit Stroh gedeckt, und von einer Feuerversicherung hat man noch nichts gewußt. Ich weiß nicht, ob es jetzt gut ist. Man sollte es fast wieder machen, wie's der Herzog mit einem überführten Brandstifter gemacht hat; er hat ihn – wie es noch von Kaiser Karls Zeiten her Rechtens ist – drüben in Jena hängen lassen. So ist's recht. Man geht jetzt viel zu zimperlich mit den schlechten Menschen um. Freilich, es hat damals auch nicht viel genützt, und: heut nacht hat's da gebrannt, heut nacht hat's dort gebrannt, hat man jeden Morgen sagen hören. Hinter dem Ettersberg – da ist's am ärgsten; es ist, als wenn die Leute nicht ohne Brand leben könnten. Der Herzog hat jede Nacht mitgeholfen, ist nachts aus dem Bett und immer auf dem Fleck gewesen, denn von Strapazen hat er gar nichts gewußt. Da hat der Herzog endlich befohlen, daß man den Dörfern hinter dem Ettersberg gar nicht mehr zu Hilfe kommen darf, wenn's brennt. Das hat geholfen. Jetzt also, jenen Mittwoch brennt's in unserm Dorf. Ich bin einer der ersten auf dem Platz, ich wecke den Schultheiß und den Schmied, der Spritzenmeister ist, und den Küster, daß er Sturm läutet. Das Sturmläuten hat aber nicht viel genützt. Der Wind reißt den Glocken das Wort vom Mund weg, und man hört kaum im Dorf was davon, geschweige in den Nachbardörfern. Da sagt der Schultheiß: »Es müssen gleich Feuerreiter nach allen Dörfern im ganzen Umkreis. Du, Luzner, geh heim, nimm mein Pferd heraus und reite, was du reiten kannst, nach Großnenhausen.«
Ich sag': »Wir sollten doch zuerst noch unter uns Ordnung herstellen und uns jeder helfen, ehe wir nach andern rufen«. Da sagt der Schultheiß: »Still! Kein Wort mehr. Du weißt, was darauf steht, wenn du nicht augenblicklich folgst.«
Ich folge und kann fast nicht durch vor Menschen, die ihren Hausrat retten und wenn sie jetzt helfen möchten, den Brand niederlegen, statt zu retten, wäre es gewiß das beste. Aber was will ich machen? Ich muß fort. In der Mühle wollen sie mich nicht fortlassen, man weiß ja keine Minute, ob nicht ein Flugfeuer auch hierher kommt. Ich lasse mich aber nicht halten, und im gestreckten Galopp reite ich davon durch den Wald hinauf nach Großnenhausen. Ich bin ein einziges Mal in meinem Leben Feuerreiter gewesen und dann nie mehr. Ich weiß wohl, es gibt viele, die sich gern als Feuerreiter fortschicken lassen, weil es leichter und – Gott verzeih' mir's – auch lustiger ist, da im Galopp hinzufliegen, als sich daheim beim Brand herumstoßen und ausschimpfen zu lassen; aber mir ist's nicht so, mir ist es schrecklich, daß ich fort soll, und hinter mir ist Not und Jammer. Wie ich nun durch das Nachbardorf reite und durch die stillen Gassen rufe: »Feuerjo! Hilfe!«, stehen mir selber die Haare zu Berge, wie wenn ich selber all den Schreck spürte von den Menschen, die ich jetzt aufwecke. Ich muß ein ganzes Dorf in Aufruhr bringen, und ich hab' geschrien, ich bin acht Tage lang heiser gewesen; vielleicht aber auch von dem, was nachgekommen ist.
Die Großnenhauser sind rasch auf dem Fleck, die Spritze ist bald heraus; ich sorge dafür, daß von da aus ein Feuerreiter weitergeschickt wird in das nächste Dorf, und ich reite der Spritze voraus heimwärts. Wie wir aus dem Wald kommen da droben auf dem Berg – die Linden, die jetzt dort stehen, waren damals noch viel kleiner, und ihr wißt ja, da sollen die alten deutschen Kaiser begraben liegen –, da ist es jetzt so hell, man hätte eine Nadel auf dem Boden finden können. Das halbe Dorf steht in Flammen, und die Flamme frißt immer weiter hinein bis zur Kirche. Daheim hat alles den Kopf verloren, die Leute rennen einander um und helfen doch nicht; die Kinder schreien, die Weiber heulen, die Männer fluchen. Ich will Ordnung machen, aber was ist ein einziger Mensch in so einem Durcheinander? Man möchte hundertfach sein und überall. Und da stehen die Einfältigen und pochen auf ihren Glauben und sagen: »Man muß es gewähren lassen, Gott wird schon helfen.« Jawohl, Gott hilft, aber er hilft auch nur, wir müssen selber Hand anlegen, wenn er soll helfen können.
Da an einem Ort befehlen zehn auf einmal, und keiner folgt, und da drüben steht ein Trupp, und sie stecken die Köpfe zusammen, und keiner gibt an, was zu tun ist.
Ich gebe mir alle Mühe, Ordnung herzustellen, es gelingt mir auf eine kurze Weile, die Spritzen schnaufen, das Wasser zischt, und es ist alles still. Dann heißt es aber bald: »Du junger Bursch, was willst du? Stell' dich in die Reihe, du bist nicht mehr als ein anderere«. Ich hab' mir mein Lebtag nicht eingeredet, daß ich was Besonderes sei; aber wenn niemand da ist, der Ordnung machen kann oder mag, da muß es unternehmen, wer da sieht, wo es fehlt.
Es sind Spritzen genug da, aber sie werden nicht ordentlich bedient. Wir stellen Ketten bis an den Bach, und da heißt es plötzlich wieder: Hier braucht man keine Spritze, da und da ist sie nötiger; die Spritzen fahren hin und her, die Ketten werden zerrissen und sind nicht so schnell wieder beieinander. Manche wollen sich davonschleichen, ich halte fest, wen ich kriege, und muß manchen Puff unbezahlt lassen. Der böse, böse Wind geht immer schärfer und – »Es nützt doch nichts«, heißt es bald, und mein Nachbar nimmt mir den Eimer nicht mehr ab, den ich ihm gebe. Ich schreie, was ich kann, da gießt mir einer – ich sehe nicht, wer es ist – einen vollen Eimer über den Kopf, und alles lacht mitten im Elend. Aber das ist mir zugute gekommen, ihr werdet's schon hören. Ich trete zur Seite und denke: Du gehst heim, es sind andere auch auf und davon; du hast das Deinige getan, mehr als genug.
Da! Schaut auf! Dort vom Kaiser-Berg herunter kommen zwei Reiter im gestreckten Galopp; der auf dem Braunen mit den Hunden daneben, das ist der Herzog, und der auf dem Schimmel, das ist sein Freund, den er sich aus Frankfurt geholt hat. »Der Herzog kommt! Der Herzog ist da!« heißt's auf einmal, und war schon vorher keine rechte Tätigkeit, so hört jetzt vollends alles auf. Der Schmied auf der Spritze schreit sich heiser und flucht, daß kein Wasser mehr aus dem Schlauch dringt, aber das nutzt alles nichts. Sie schauen alle nach dem Herzog, wie wenn der allein helfen könnte; jetzt hat keiner mehr was zu tun. Ihr werdet schön gehört haben, daß man wirklich geglaubt hat, der Herzog kann allein mit dem Feuer fertig werden, er kann einen Feuersegen, er darf nur die Worte sprechen, und es ist wie: ›Feuer, lösch aus‹, vorbei ist's. Jawohl, was natürlich ist, wollen die meisten Menschen viel weniger sehen; lieber haben sie eine geheime Lust an einem Aberglauben. Wenn es einen Feuersegen gäbe und wenn ihn der Herzog gekannt hätte, da hätte er sich nicht der Lebensgefahr ausgesetzt und gearbeitet, daß der Schweiß an ihm heruntergelaufen ist, wie ihr gleich hören werdet. Jetzt also, da kommen der Herzog und sein Freund, sie haben fast wie Brüder einander ähnlich gesehen. Sie reiten ganz nahe heran, der andere steigt vom Schimmel, und der Herzog bleibt noch eine Weile oben sitzen und hält still eine Hand in die Höhe. Er ist gescheit, er merkt, wo der Wind herkommt, und dreht sein Pferd, da versteht man ihn, denn man hat vor dem Wind sein eigenes Wort kaum gehört, und jetzt ruft der Herzog – er hat eine mächtige Stimme –, daß man Fassung behalten und den Anordnungen unweigerlich Folge leisten soll. Jetzt steigt er ab, und der Geheime Rat macht Ordnung, und er hat eine Stimme und ein Wesen und ein Auge, daß jeder ihm gehorchen muß, und damals war er noch schön, bildschön, und er hat auch selber mitgeholfen und sich in die Kette gestellt. Aber das nutzt jetzt nichts mehr, es ist zu spät!
Ganz nahe bei der Kirche brennt schon eine Scheune, und die Glocke vom Turm klagt, wie wenn sie sagen wollte: ›Helft doch, bald brennt auch mein Haus, und ich muß stumm werden.‹ Da ruft der Herzog, er hat schnell und richtig gesehen, wie's hier steht: ›Ihr Männer, ihr werdet doch euer Gotteshaus nicht verbrennen lassen? Reißt die Scheune ein und rettet die Kirche.‹
›Man kann dem Feuer nicht zu nahe kommen, das ist lebensgefährlich ... Und vielleicht ist die Scheune noch zu retten ... Und sie fällt schon von selber ein.‹
So heißt es hin und her. Der Herzog stampft auf den Boden und ruft: ›Ja, warten, bis es von selber einfällt! Reißt ein, sonst ist verloren, was noch zu retten ist. Reißt ein!‹ Und der Herzog hat noch ein paar saftige Scheltworte drangehängt. Das ist recht.
Aber alles bleibt stumm und starr. Da ruft der Herzog wieder und faßt einen Feuerhaken und hebt ihn hoch: ›Wer folgt mir und legt mit Hand an?‹
›Ich‹, sag' ich. Und von dem Augenblick an hab' ich nichts mehr gespürt von der Kälte, die mir am Leib herunterrieselt; ich fasse mit an und ich sage: ›Lasset mich vorn stehen, Durchlaucht, Herr Herzog; sie haben mich mit Wasser übergossen, ich brenne nicht so leicht.‹
Wir legen also den Feuerhaken an und ziehen mit aller Macht, und wie ich nach der Vorderwand sehe, da schwindelt mir's; das Haus schwankt vor und zurück, mir ist's, wie wenn sich die ganze Welt dreht, mir wird ganz taumelig. Ich sehe gar nicht mehr hin und reiße aus aller Kraft, und, krach! da fallen die brennenden Balken herunter, und ich meine, ich läge im Feuer; ich fasse zurück nach dem Herzog, ob er auch mit mir im Feuer liegt. Sehen kann ich nichts vor Rauch und Feuer, und es brennt mir die Augenbrauen ab und meinen ersten Bart, über den man sich in jungen Jahren so sehr freut. Ich bin nicht verbrannt und der Herzog auch nicht, aber trocken bin ich gewesen, plötzlich wie aus dem Backofen heraus. Und der Herzog sagt: ›Nun besser! Kamerad! Wir haben's ungeschickt gemacht, wir müssen das brennende Sparrwerk ins Feuer werfen, nicht zu uns her.‹ Wir legen nochmals an, und richtig, es gelingt uns. Und jetzt – ja, so ist's, wenn einer vorangegangen ist, da kommen sie nach – jetzt kommen auch die anderen und helfen uns; sie schämen sich doch, daß sie den Herzog so für sich arbeiten lassen, aber der geht nicht vom Fleck, bis die Scheune nieder ist. Das Feuer bekommt einen anderen Weg und wird niedergehalten, die Kirche ist gerettet.
Der Herzog wäscht sich in einem Feuereimer die Hände, ich steh' daneben und tu mir auch etwas Wasser ins Gesicht, meine Augen brennen und mein Kinn, wo mir der Bart abgebrannt ist. Da fragt mich der Herzog:
›Wie heißt du?‹
›Luzner.‹
›Und du bist?‹
›Mühlknappe.‹
›Komm mit in die Kirche.‹
Ich gehe mit dem Herzog. Der Hund, der uns gefolgt ist, legt sich auf ein Wort des Herzogs an der Tür nieder.
Wir treten ein.
Der Herzog geht voran bis an den Altar. Ich folge ihm. Dort steht er eine Weile still, dann, ohne ein Wort zu reden, greift er in die Tasche, holt eine Börse heraus, leert sie auf den Altar und sagt: ›Luzner, nimm das, nimm's nur.‹ Ich lasse mir das natürlich nicht zweimal sagen. Ich nehme das Geld, stecke es ein, der Herzog nickt. Das Geld ist doppelt gesegnet, durch die Hand und durch den Altar ... Das ist mir nachher tausendmal durch den Kopf gegangen; damals aber habe ich kein Wort reden können, ich glaube, ich habe nicht einmal Dank gesagt. Ich habe dem Herzog nur die Hand dargereicht, und er hat mir die Hand gedrückt. Und diese starke Hand ist jetzt auch starr und tot...« Der alte Luzner hielt inne, drückte die weiße Rose mehrmals an die Nase, dann fuhr er fort:
»Der Herzog mag auch müde gewesen sein von dem Ritt und von der Arbeit. Er setzt sich still auf eine Kirchenbank und legt die Hände übereinander. Draußen beginnt's zu tagen, und ich sehe, wie der Herzog die Augen schließt.
Damals war's der Brauch und er sollte auch heute noch sein, daß man nach einem Brand die Abdankung hält. Die Kirche wird voll von Weibern und Kindern, und von der Empore herunter braust es plötzlich mit mächtigem Orgelklang: »Nun danket alle Gott!« Die ganze Gemeinde singt mit, und der Herzog schlägt die Augen auf. Wie muß es ihm gewesen sein, wie er so erwacht! Wenn er jetzt drüben in der Ewigkeit aufwacht und hört die himmlischen Heerscharen, es kann ihm nicht wohler sein .... Er greift an den Kopf und merkt, daß er noch den Hut mit der Goldborte auf hat; er zieht ihn ab, und so steht er da, bis der Gesang vorüber ist.
Solange ich lebe, habe ich keinem Gottesdienst beigewohnt, der heiliger gewesen wäre als der, und alles war himmlisch froh, und der Jammer der Abgebrannten ist zur Ruhe gekommen. Wie ich jetzt den Herzog so ansehe, ist er mir gar kein Herzog mehr gewesen; wir sind alle eins vor dem da, zu dem wir jetzt reden; auf dem Platz, wo wir jetzt stehen, da ist es einerlei, ob man in einem Schloß oder in einer Strohhütte daheim ist. Ich hätte zu ihm hingehen und ihm sagen können: ›Bruder! Vor Gott sind wir alle gleich, aber du hast es gut, du kannst mehr Gutes tun als andere, und du tust es. Sei froh und danke Gott für all die tausend Danksagungen, die du dir einernten kannst.‹
Jetzt ist dem Herzog der Hut auf den Boden gefallen, und ich bin froh, daß ich ihn aufheben und doch auch etwas tun kann, und ich hab' in den Hut hinein gesagt: ›Ich danke dir, und du sollst nicht an den Unrechten gekommen sein, verlaß dich drauf.‹ Ich hab's in mir gespürt, daß ich von der Stunde an ein braver Kerl sein muß. Ich bin's schuldig.
Wir gehen jetzt alle aus der Kirche, die Sonne steht hoch am Berg, der ganze Himmel ist eine rote Pracht, und ich habe dem Herzog ins Gesicht gesehen, das im Morgenrot glänzt, und neben ihm steht sein Freund, und der Herzog sagt: ›Wo warst du?‹
›Ich will's dir auf dem Heimweg erzählen‹, sagt der Freund. Sie haben einander geduzt wie Brüder.
Da ist der Schmied vorgetreten und sagt:
›Durchlaucht, der Herr – er hat nicht gewußt, daß er Goethe heißt – hat die Kette bis zum Bach geordnet und selber mitgeschöpft, und alles so gut und streng gemacht, daß wir ihm tausendmal Dank sagen müssen.‹
Die Pferde werden herbeigeführt, und die zwei Feuerreiter steigen auf – das sind andere Feuerreiter als unsereins! Der Herzog sagt noch zu den Umstehenden: ›Ich will für euch sorgen, so gut als ich kann.‹
Und die beiden reiten davon in den jungen Tag hinein, in das Morgenrot.
Jetzt ist der Herzog tot. Ja, ja, die Sonne geht auf und geht unter, Brandstätten werden wieder neu bebaut, und es sterben Menschen, von denen man hätte glauben mögen, der Tod könne gar keine Gewalt über sie haben, und es kommen neue Menschen, und die Welt fängt immer wieder von vorn an.
An jenem Morgen, mitten unter dem Elend, habe ich zum erstenmal gefühlt, was es heißt, auf der Welt zu sein und darin einen zu finden, der ein echter, rechter Mensch ist, und dem man alles Gute, was auf der Welt ist, zusammensuchen und bringen möchte.
Ich wünsche nur, daß jedem einmal die Sonne so aufgehe, wie mir damals.«
Der alte Luzner, der die letzten Worte fast nur vor sich hinmurmelnd gesprochen hatte, schwieg jetzt, und auch im Zuhörerkreis war eine Weile Stille. Endlich fragte der pfiffig aussehende Zuhörer wieder:
»Nun habt Ihr aber doch nachgezählt. Wieviel es gewesen ist, was Euch der Herzog geschenkt hat? Sagt ehrlich, wieviel war's?«
»Braucht mich nicht zu ermahnen, es ehrlich zu sagen. In Geld waren es 75 Taler, und das war zur damaligen Zeit soviel wie heutigentags das Dreifache; aber es hat noch etwas darin gesteckt, was man nicht zählen kann. Das doppelt gesegnete Geld hat mir doppelten Segen gebracht. Ich habe alles ausgegeben bis auf das eine Stück, das meine selige Frau vierzig Jahre lang an einer Granatschnur getragen hat. Schaut, so hat unser Herzog damals ausgesehen.«
Es war während der Erzählung Abend geworden. Wiederum ertönten die Trauerglocken, und unter ihrem Klang ging der alte Luzner heim zu seiner Mühle.
Der alte Tuchfabrikant Keller pflegte gern folgende Geschichte zu erzählen: Ich hatte mein eigenes kleines Geschäft angefangen und reiste zur Leipziger Ostermesse. Ein Kreditbrief von tausend Talern war mein ganzes Vermögen; ich war aber jung und gesund, und was glaubt man da nicht, mit tausend Talern machen zu können.
Ich reis' also nach Leipzig und geb' meinen Kreditbrief im Hause Frege & Comp. ab. Der alte Frege läßt meinen Namen in sein Buch einschreiben und wünscht mir gute Geschäfte. Bald aber sehe ich es, daß sich mit tausend Talern nicht viel machen läßt. Was tut's? Geht nicht viel, so geht wenig. Ich suche mir also eine Partie Wolle aus und gehe hin, um mein Geld zu holen. »Essen Sie morgen mittag bei mir«, lädt der alte Frege mich ein. »Sie werden da noch große Gesellschaft finden.«
Ganz recht ist mir das gar nicht; ich erkundige mich nun, was man bei einer solchen Einladung zu tun hat und was dabei herauskommt. Man sagt mir, daß es Sitte sei, daß jedes große Handlungshaus seine Empfohlenen durch eine Einladung wie man sagt, abfüttert; daß nicht viel dabei herauskommt, als daß man das Essen teuer bezahlen muß, da es mindestens eineinhalb Taler Trinkgeld an die Bedienten kostet. Das ist mir nun gar nicht lieb. Ich rechne aus, daß mir von 1000 Talern dann nur noch 9981/2 Taler bleiben, und für ein Mittagessen kann ich nicht so viel aufwenden.
Am andern Mittag bin ich kurz entschlossen. Ich kaufe mir für zwei Groschen Gelbwurst, für sechs Pfennig Brot, stecke es zu mir und gehe hinaus vor das Tor. Mein Tisch ist schnell gedeckt. Ich setze mich auf eine Bank und wickele meine Sachen heraus; ich zerschneide die Gelbwurst in sechs Teile und lege sie neben mich hin. »Das«, sage ich, »ist meine Suppe, das mein Fleisch, das mein Gemüse mit Beilage, das meine Fische und das mein Braten und Salat. Ich glaube nicht, daß sie drinnen in der Stadt bei Frege mehr haben und daß es ihnen besser schmeckt.«
Ich bin eben an der »süßen Schüssel«, da sehe ich einen Mann auf einem schönen Braunen daherreiten: »Der«, denke ich, »macht sich noch ein wenig Bewegung vor dem Essen, daß es ihm besser schmeckt.« Ich wünsche ihm meinen gesunden Magen, denn ich brauche kein Pferd müde zu reiten, um tüchtig einbauen zu können. Schneller, als ich dies sage und denke, ist der Reiter bei mir, und zu meinem Schrecken sehe ich, es ist der Herr Frege selber. In meiner Angst fällt mir der letzte Bissen von meiner »süßen Speise« aus der Hand, und der vorausspringende Hund schnuppert's gleich auf; ich wickle schnell mein Papier zusammen und weiß mir vor Verlegenheit gar nicht zu helfen. »Nanu, Herr Keller!« sagt Herr Frege. »Was machen Sie denn da? Glauben Sie, Sie bekommen bei mir nicht genug zu essen?«
Was sollt' ich darauf sagen? Ich denk': »Du bleibst bei der Wahrheit.«
So sag' ich ihm also, daß ich nicht in der Lage sei, zwei Taler Trinkgeld für ein einziges Mittagessen zu geben, und so und so, und daß ich mir vorgenommen hätte, mich heute abend oder morgen früh wegen meines Ausbleibens zu entschuldigen. Da lacht er ganz laut auf sagt: »Ja, das müssen Sie tun, sonst werde ich böse; ich erwarte Sie um fünf Uhr, fehlen Sie ja nicht, wünsche gesegnete Mahlzeit!« Und fort ist er mit seinem Braunen. Ich weiß nun gar nicht, was ich machen soll; ich denke aber: »Nun, fressen wird er dich nicht, er wird um fünf Uhr wohl noch genug haben vom Mittag her.«
Wie's also fünf Uhr geschlagen hat, gehe ich hin, man weist mich in sein Kontor; und da kommt er mir entgegen und nimmt mich bei der Hand: »Lieber Herr Keller«, sagte er, »Sie haben für 10000 Taler Kredit bei mir; wenn Sie aber doppelt so viel brauchen oder auch noch mehr, sagen Sie mir's nur offen.«
Ich sag': »Sie irren sich, ich habe nur für 1000 Taler.«
Da sagt er mir: »Es bleibt dabei, wie ich schon gesagt habe; Sie sind ein Mann, der zu sparen weiß, und heute abend essen Sie ganz allein bei mir in meiner Familie.«
Und so habe ich's auch gemacht, und besonders hat mir noch gefallen, daß er die Geschichte seiner Frau und seinen Kindern nicht erzählt hat, bis ich von Leipzig fort gewesen bin. So ist's mir durch die Gelbwurst möglich geworden, eine der größten Tuchfabriken anzulegen, und solange der alte Frege gelebt hat, habe ich jede Messe bei ihm allein zu Nacht gegessen, und da ist immer zuletzt noch Gelbwurst aufgetragen worden.
Es ist eine böse Geschichte, die viel schöner wäre, wenn sie nicht wahr oder doch wenigstens in alter grauer Zeit geschehen wäre; leider aber ist sie wahr und noch gar nicht alt. Kommst du einmal nach dem schönen Bergstädtchen, wo durch alle Straßen wohleingefaßte Wässerlein rinnen, so daß es unablässig plaudert und quillt, da frage nur näher nach. Das Bergstädtchen gehört zu einem kleinen Fürstentum, und das kleine Fürstentum gehört zu Deutschland, aber das Fürstentum ist immerhin noch so groß, daß man im ruhigen Trab einen vollen Tag braucht von einem Ende zum andern. Die Straße führt aber nicht geradenwegs, man muß dreimal ins deutsche Ausland und dreimals ins deutsche Inland von einem Ende des Fürstentums bis zum andern. –
Es war an einem schönen Frühherbstmorgen, da herrschte in dem Bergstädtchen munteres Treiben; nichts als die hellen Wässerlein in den Straßen hatten ihren gewöhnlichen Lauf, sonst rannte alles hin und her, und vom Kirchturm flatterte eine Fahne mit den Landesfarben.
Wir können aber noch ruhig sein, denn es schlägt eben erst acht Uhr, und drunten im Tal können wir ganz bequem sehen, was da kommt.
Da trabt ein Vorreiter in goldgestickten Kleidern, hinter ihm drein ein sechsspänniger Wagen, und auf je einem Sattelpferd sitzt ein bordierter Reiter; die Morgensonne glitzert von den silbernen Knöpfen und spielt mit den goldschaumbelegten Speichen der Räder des Wagens. Im offenen Wagen sitzt der Fürst, einfach gekleidet, neben ihm ein Mann in schöner Uniform, man nennt ihn den Hofmarschall. Auf dem Rücksitz ruht ganz allein ein wohlgenährter Mops. Er scheint nicht sehr auf die Beschaffenheit des Landes zu achten, denn er schließt oft die Augen, ist aber dabei höflich und manierlich genug, sich nie ausgestreckt hinzulegen, er versteht es, in guter Haltung im Sitzen zu schlafen; und wie er bisweilen die Augen zudrückt und blinzelt – man könnte das für stilles Nachdenken halten, mit dem er dem Gespräch folgt.
Betrachte dir aber doch das Tier näher, denn du siehst dergleichen jetzt selten mehr; gehört hast du gewiß viel davon. Er sieht sehr verdrießlich aus, ja, nicht einmal dem gnädigen Herrn macht er ein anderes Gesicht. Es ist und bleibt einer der unbestreitbarsten Vorzüge des Menschen vor dem Tier, daß der Mensch lügen kann; er kann eine sehr freundliche Fratze machen, sehr schöne Worte von sich geben, während er dich zum Teufel wünscht. Der Mops ist eine ehrliche Haut, er verändert seine Miene nicht. Sein Kopf ist kugelrund, und die Kunst hat auch das ihrige dazu getan, denn man stutzte ihm die Ohren kurzweg am Kopfe – und das ist wiederum ein Vorzug des Mopses vor dem Menschen; dem Menschen kann man doch nicht so mir nichts dir nichts die Ohren stutzen. Der Mensch aber kann dafür manchmal tun, als ob er nichts höre, und das kann wieder der Mops nicht.
Der Mops ist offenbar nicht sehr erbaut von dem Gespräch der beiden Männer, er rümpft seine breite Schnauze und dankt nicht einmal dem Marschall, der ihm, sooft er eine Prise aus seiner goldenen Dose genommen hat, etwas Zuckerwerk gibt.
Bei einer Biegung des Weges, wo die Sonne dem Mops gerade auf den Pelz scheint, richtet sich die Uniform auf; auch der Mops steht auf allen vieren und reckt sich, schaut rechts und links und wieder hinauf zum Himmel, wo es gar sonderbar klingt, denn mit allen Glocken wird geläutet; man nähert sich der schönen Bergstadt mit den lustigen Wässerlein. Man gewöhnt sich aber auch an solches Geläut mit allen Glocken. Der Mops hat solche Huldigungen schon oft miterlebt und kennt den Küchenzettel: Triumphbogen, weiße Jungfrauen, Blumengedichte, Amtsmannsrede und Hoch und Hurra. Der Mops setzt sich wieder gemächlich nieder. Er wartet mit Ruhe der Dinge, die da kommen sollen. Was kann ihm die Welt noch bringen? Süßeres als Zuckerwerk gibt's nicht.
Er sieht den künftigen Ereignissen mit gemessener Haltung und stiller Gelassenheit entgegen.
Man fährt den steilen Bergweg hinan. Droben, Kopf an Kopf, in allen Gärten, auf allen Bäumen, auf allen Mauern, ja sogar auf den Dächern sitzen, stehen und liegen die Menschen, alle geladen mit Begeisterung, gerade so wie die Böller, die jetzt losdonnern, so daß die Pferde scharf in die Zügel genommen werden müssen. Vor dem Tor der Stadt, wo ein Triumphbogen erbaut war, sind die geistlichen und weltlichen Behörden versammelt, umgeben von den rotbeschleiften, weißgekleideten Jungfrauen – alles, wie es der Mops vorausgesehen hat. Aber es kommt doch auch noch anderes, was selbst ein gewiegter und vielerfahrener Mops sich nicht träumen lassen kann.
Der Amtmann hatte bisher einen grauen Mantel über, nur der dreieckige Hut zeigt an, daß man noch ganz Ungewöhnliches erwarten darf, und manchmal bei einer Bewegung läßt sich ahnen, welch ein Glanz unter dem Mantel verborgen ist. Jetzt läßt der Amtmann den Mantel fallen, der Amtsdiener hebt ihn schnell auf, und der Amtmann steht da in voller Pracht; selbst die Sonne am Himmel schaut mit Wohlgefallen auf den Mann nieder und blinkt von seinen metallenen Wappenknöpfen und seiner strahlenden Stirn, darauf die Lichter der drin im Hirn arbeitenden Rede spielen.
Der Wagen kommt näher, hält still, durch solch ein tausendstimmiges Hoch, wie es sich nun erhob, mochten auch sechs Pferde nur schwer durchdringen können. Der Amtmann tritt vor, den Hut unterm Arm, die eng zugeknöpfte Uniform ist ganz aufgequollen. Der Mops sieht ihn staunend an: »Ist's möglich«, sagt seine Meine, »diese Familienverwandtschaft hier in unserem eigenen Land? Und du weißt nichts davon?«
Der Amtmann beginnt zu sprechen, er hat eine dickleibige Stimme! Der Mops hätte gern die Ohren gespitzt, aber die Ohren waren ihm ja leider gestutzt; und doch, auch die Stimme klingt bekannt! Auch die Stimme hat Ähnlichkeit ... Der Mops kann nicht mehr an sich halten, sein verwandtschaftliches Herz schlägt, es treibt ihn an die Brust des Edeln, der zwar kein so schönes Halsband hat wie er, aber doch eine schöne Uniform. Der Mops bellt, springt den Amtmann an, und dieser, der sich so angefallen sieht, taumelt, stürzt zurück. Der Mops sieht, was er angerichtet, schämt sich seines Ungeschicks und will sich verkriechen. Die Leute, die dem Amtmann zu Hilfe eilen, treten auf den Mops; dieser heult und jammert und rennt zur Anhöhe. Dort steht eine Gruppe von Bauernmädchen Arm in Arm; sie schreien auf, als der Hund ihnen nahe kommt, und jagen ihn fort. Nun weiß sich der Mops nicht mehr zu helfen, immer fort und fort rennt er über die Wiese hinab, dem Wald zu und wird nicht mehr gesehen. –
Da war nun große Verwirrung im Wagen, noch mehr aber ein Gedränge rings um ihn; alle Rangordnung war aufgelöst. »Wo ist mein Hund?« fragte der Fürst. Alles war verblüfft. »Wo ist mein Hund?« wiederholte der Fürst. »Augenblicklich muß er wieder herbei. Ich steige hier aus.« Der gefallene Amtmann war zerschmettert, denn ehe er herzueilen konnte, war der Bürgermeister flink genug, an den Wagen zu springen, den Schlag zu öffnen und den Tritt herunterzulassen. Das gebührte ja ihm! Aber der Hund hatte ihn ganz in Verwirrung zurückgelassen, seine wohlgesetzte schöne Rede war dahin, jetzt gab's keine andere Rede mehr als vom Hund. Der Hofmarschall erklärte dem Bürgermeister und dem Geistlichen – der Amtmann war eine gefallene Größe, für den Hofmann nicht mehr da, nichts als leere Luft –, daß das eines der letzten Mops-Exemplare in Europa sei und daß viele Großmächte den Fürsten um dessen Besitz beneideten. Die Lakaien, die auf dem hintern Wagensitz gesessen hatten, gingen hin und her, pfiffen und lockten den Mops, aber vergebens. Der Fürst ging nun zu Fuß im Geleit des Hofmarschalls, der Geistlichen und des Bürgermeisters und der anderen Beamten nach der Stadt. Nur der Amtmann mußte zurückbleiben, seine schöne Uniform war unsauber und just an den Knien, da, wo er niedergefallen war, da stand's in häßlicher Schrift, daß ihm die Knie den Dienst versagten. Glücklicherweise brachte der Amtsdiener den Mantel, aber der einfältige Mensch kam erst jetzt damit, und während er dem Amtmann die Knie putzte, erhielt auch er seinen Wischer. Der Amtmann hatte nun doch Gelegenheit, nachzukeuchen. Er wollte fast ersticken vor Zorn und enger Uniform.
Die Stadt, das heißt die Straße, durch die der Fürst fahren sollte, war schön aufgeputzt, aber bald sagte der Fürst, er wolle im Amtshaus ausruhen und warten, bis man den Hund wieder eingefangen habe. Nun lag unglücklicherweise das Amtshaus in einer Nebenstraße und sah gar nicht festtäglich aus. Vor dem Haus war eben heute früh Holz abgeladen worden und im Garten hing die Wäsche. Der Amtmann, der von fern das Linnenzeug sah, schämte sich seiner Hemden, schämte sich seiner Hosen und Strümpfe, und vor allem schämte er sich der Unterröcke. Er wollte bleich und weiß werden wie das Linnenzeug, aber die Uniform hielt ihm das Blut im Kopf, und da rumorte es über die Unverständigkeit der Frauen, die stets zu waschen und zu scheuern haben und nie damit fertig werden.
Die Frau Amtmännin war noch draußen bei der Pulvermüllerin auf dem Balkon, die Tochter in weißem Kleid und roter Schleife war auch noch nicht da. In der Putzstube waren die grauen Überzüge noch über den roten Samtmöbeln, und da trat jetzt der Fürst ein, setzte sich nieder und verlangte weiter nichts als ein Glas Wasser. Der Amtmann kam noch zeitig genug, um dem Fürsten das Glas darzubieten, und der Fürst war so herablassend, den Mops bei dem Amtmann zu entschuldigen: das Tier sei sonst wohlerzogen, habe die feinsten Manieren; unbegreiflich sei, was auf einmal über den Hund gekommen sein müsse.
Der Amtmann verteidigte den Hund und sprach so eifrig, daß er fast aus seiner unterdrückten Rede hier und da etwas hineingebracht hätte. Glücklicherweise kam nun die Amtmännin, und der Fürst stand höflich grüßend auf. Aber jetzt – das Umfallen schien heute im Amtshause allgemein – fiel die Amtmännin halb in Ohnmacht. Da ist ja der einfältige graue Überzug über dem Sofa, auf dem der gnädige Herr sitzt, und hinter ihm, o Jammer und Graus, hängt eine Krinoline über dem Stuhl. Der Fürst – Preis und Lob den feinen Manieren, sie helfen aus allem heraus –, der Fürst aber tat, als ob er das nicht sehe. Die Amtmännin faßte rückwärts krampfhaft die Krinoline, und von Hand zu Hand wurde sie zur Türe hinausbefördert. Der Fürst stand mit dem Amtmann am Erkerfenster und gab ihm den Auftrag, sofort alles aufzubieten, um den Hund wieder einzufangen. Während er nun abwärts gewandt sprach, war die Amtmännin in der Lage, drei Stühle und das ganze Sofa von dem grauen Überzug zu entkleiden.
Der Amtmann entsandte schnell den anwesenden Landjäger und zwanzig Mann, um in der ganzen Gegend zu fahnden, um den – »Ja«, fragte er, plötzlich sich unterbrechend, »erlauben Fürstliche Durchlaucht, wie heißt denn der, die – das, das – der Hund?« Der Fürst war offenbar in Verlegenheit wegen dieser Frage; er sah den Hofmarschall an, und dieser erwiderte, behaglich mit dem Zeigefinger der Rechten auf seine goldene Dose klopfend: »Das gehört nicht zur Sache, sehr ... sehr geehrter Herr Amtmann. Der Hund hört nicht auf einen Ruf, er folgt nur der bekannten Stimme.« Durchlaucht nickte dankend zum Hofmarschall, der so klug die heikle Geschichte aus der Welt geschafft hatte. Denn wisse, wohlgeneigter Leser, der Hund hieß Michel – in allem Ernst, ganz simpel, Michel kurzweg; ohne weitern Titel und ohne Familiennamen. Und du wirst doch einsehen, daß man solch ein Hofgeheimnis nicht in die Welt dringen lassen darf; das gemeine Volk versteht ja den Spaß nicht.
»Es ist doch eine Druckerei hier in der Stadt«, sagte der Hofmarschall. »So lassen Sie augenblicklich Plakate drucken und überall anschlagen; etwa folgenden Inhalts« – er nahm eine Prise, hielt sie zwischen Zeigefinger und Daumen und fuhr mit der Prise gestikulierend fort: »Ein Mops von fahler Farbe mit schwarzem Rückenstreif, kurzgestutzten Ohren, einem vergoldeten Halsband mit dem Wappen Sr. Durchlaucht ist verlorengegangen; der Finder erhält eine angemessene Belohnung.« – Er schnupfte schnell die bereitgehaltene Prise und sagte während des Schnupfens: »Und jetzt eilen Sie« ...
»Bitte um Entschuldigung«, sagte der Bürgermeister und trat vor, »wir haben hier keine Druckerei. Ich habe für meinen Sohn um die Genehmigung dafür nachgesucht, bin aber abschlägig beschieden worden.«
»Sie sollen die Druckerei haben«, sagte der Fürst und hielt sich nun nicht länger auf. Er würdigte die schönen entblößten Möbel kaum eines Blickes, befahl, den Mops zur benachbarten Stadt zu bringen, wo man bis zum nächsten Abend verweile, und wenn er erst später gefunden werde, nach der Residenz. Er grüßte die Amtmännin noch huldreich und fuhr ab.
Jetzt atmete der Amtmann zum erstenmal erleichtert auf, und damit er es unbehindert tun konnte, riß er schnell die Uniform auf, so daß drei Knöpfe absprangen. Er gab nochmals den Befehl, im ganzen Bezirk nach dem Hund zu fahnden, und pflichtete dem Schulinspektor bei, der in allen Schulen verkünden lassen wollte, daß man den Hund einfange. »Wenn er nur nicht ins Preußische hinüber ist«, sagte der Amtsdiener. »Das wäre die Sündenschuld dafür, daß wir voriges Jahr den tollwütigen Hund ins Preußische hinübergejagt haben, damit die Preußen drüben ihn fangen oder totschlagen, oder gebissen werden.«
»Schweig Er!« befahl der Amtmann und sagte zu seiner Frau: »Ich gehe schnell selbst; der Hund kann nicht weit sein, er ist nicht ans Gehen gewöhnt und ist sehr fett; er muß in der Nähe irgendwo untergekrochen sein, und da bringe ich ihn bald. Ich kleide mich nur schnell um. Laß mir derweil die Knöpfe wieder an die Uniform nähen, aber womöglich etwas weiter.«
Der Amtmann ging bald davon und fragte da und dort. Jeder hatte den Hund gesehen, bald oben am Berg, bald unten im Tal, bald durch die Stadt rennen, bald auf einer ganz andern Seite. Der Hund schien siebenfach auf der Welt zu sein. Er war aber nur ganz einfach seinem Schicksal entgegengerannt. – Einmal aus seiner schönen Position durch einen albernen Familiendrang herausgerissen, war er unstet und flüchtig. Die einfältigen Bauernmädchen hatten ihn mit ihrem Geschrei entsetzlich erschreckt, denn er hatte feine Nerven und war solch ungehobeltes Gröhlen nicht gewöhnt. Er rannte hinab ins Tal und wollte wieder zurück. Aber da war ein großer Metzgerhund, der stürzte auf ihn los, und glücklicherweise purzelte der Mops und kugelte hinab bis zum Bach. Er war rund genug, daß er kugeln konnte. Drunten taten ihm zwar die Rippen weh, aber er hatte sich doch keinen Schaden getan. Er erhob sich, schüttelte sich und putzte sich. Man mußte sich zu helfen wissen, es war jetzt kein Kammerdiener da, der ihn putzt. Aber kaum hatte er sich erholt, da rannte er mit Hallo den Berg herunter und jagte auf ihn los. Glücklicherweise lag im Bach ein Holzfloß, der Mops rettete sich darauf, er wollte ans jenseitige Ufer springen. Aber er war zu schwerfällig, er fiel ins Wasser. Er patschte, so gut er konnte, aber es trieb ihn doch eine gute Strecke hinab, und endlich gelangte er glücklich ans Ufer. Ein Rabe, der da auf der Weide saß, flog auf und schrie: Kräh! Kräh! – Das bedeutete Unglück. Du warst so erhitzt und jetzt das kalte Bad, das kann dir den Tod bringen. Aber jetzt nur schnell heißgelaufen, dreimal schütteln und den Berg hinauf, unaufhaltsam. So, hier oben regte sich nichts, es war so still hier, nur aus der Ferne hörte man das Geläute der Kühe auf der Weide, und ein Knabe, der beim Hirtenfeuer stand, sang lustig. So, hier ein wenig Rast halten, das tut gut. Ja, aber so ist's in der bösen Welt! Sei nur in Angst und Verzagtheit, da läßt dir die Welt keine Ruhe. Es knallte ein Schuß im Wald, der Mops rannte davon, er hatte es selber nicht gewußt, daß er noch so gut rennen konnte.
Was stand da plötzlich im Wald für ein bunter Pfahl? Haben die Bäume auch Uniformen? Es ist doch gut, einmal in die Welt hinauszukommen; das ganze Jahr im Schloß und nur manchmal ein wenig in den Marstall bei den ruppigen Pinschern oder bei dem ungeschlachten Volk der Koppelhunde – man lebt so lang und hat nichts von der Welt gesehen.
Da sind viele Häuser, wohl ein Dorf, da müssen aber nur Hunde und Gänse wohnen, denn man hörte nur Hundegebell und Gänsegeschnatter. da werde ich Aufsehen erregen, wenn ich eintrete, meinesgleichen ist selten auf der Welt, und mein Halsband zeigt an, wer ich bin.
Am Weg unter einem Apfelbaum lag ein Mann und schlief, neben ihm war ein kleiner Hundekarren mit Besen beladen, daran ein Hund angespannt war, mit Kummet und Geschirr, wie ein Pferd. Der Mops gesellte sich sehr herablassend zu dem Hund, der von zweifelhafter Geburt schien, offenbar ein Bastard von Schweißhund und Hühnerhund, wenn nicht gar noch niedriger. Der Mops gab ihm zu verstehen: »Du hast's gut, du hast ein stolzes Geschick, du darfst Pferd spielen; das muß lustig sein.«
»Spotte nicht über mich, du Mißgeburt.«
»Ich bin keine Mißgeburt, mein Geschlecht ist nur selten auf der Welt. Ich bin der Liebling des Fürsten, aber ich möchte doch mit dir tauschen, ich möchte auch so stolz am Wagen ziehen wie ein Pferd.«
»O du einfältiger Knirps, du bist doch dümmer als ein Windhund. Mich beneiden? Ich hab's so schwer und hart, wie du dir gar nicht vorstellen kannst; ich bin nicht zum Wagenziehen geschaffen und muß es doch tun. Aber mich tröstet, daß mein Herr es auch nicht besser hat.«
»Du hast es gewiß gut, du hast einen guten Wagen, ich sehe dir's an, und du hast noch das Maul voll gesunder Zähne, aber ich? Mir schmeckt das Zuckerwerk nicht mehr, ich verdaue schlecht, und meine Lieblingsspeisen, Rebhühner- und Fasanenknochen, kann ich kaum mehr beißen, und unser Leibmedikus sagt, ich darf sie gar nicht mehr genießen, weil ich sonst Triefaugen bekomme. Du hast wohl noch gar nie Zahnweh gehabt?«
»Nein.«
»Dann weißt du auch nicht, was Schmerzen auf der Welt sind.«
Der einfältige Karrenhund machte sich so wenig daraus, was ihm der Hofmops erzählte, daß er sich niederlegte und schlief oder wenigstens so tat; darüber war der Mops natürlich sehr ungehalten und rümpfte die Nase. Dieser Karrenhund hatte gar keine Lebensart! Er wollte sich eben davonmachen, da packte ihn der Besenbinder, der sich nur schlafend gestellt hatte. Michel Mops wehrte sich, so gut er konnte, aber er war eben nicht sehr beweglich, und seine Waffen waren sehr stumpf. Er fühlte gerade jetzt wieder Zahnschmerzen, er hatte sich doch im Bad erkältet; und nachdem er um sich gebissen und einen tüchtigen Schlag auf die Schnauze bekommen hatte, ließ er sich alles gefallen und sah mit Würde dem Tod entgegen. Er wollte mit Würde sterben, das erforderte sein Rang! Aber der grobe Besenbinder hatte gar nicht Lust, ihn zu töten, er nestelte nur das goldene Halsband ab und erwürgte den Hund fast dabei. Als er es aber endlich losgelöst hatte, jagte er den Mops fort und schickte ihm sogar Steinwürfe nach.
Entsetzlich! Ausgeraubt und sogar noch mit Steinen beworfen! Hätte Michel Mops gewußt, daß er bereits im Land eines andern Herrschers war, er hätte gewiß gesagt: »So etwas könnte in dem unserer Hoheit unterworfenen Gebiet nicht geschehen!«
Wie das erste Menschenpaar, nackt und verstoßen, kam er sich vor, ja, noch ärger, er war auch seiner Würde beraubt: Wer sieht dir's jetzt an, wenn du dein Halsband nicht hast, wer du bist, welchen Rang du einnimmst? Entsetzlich! Ich muß mir's gefallen lassen, wie ein Landläufer behandelt zu werden, und kann mich nicht ausweisen. – Mit tiefem Schmerz rannte der Mops dahin, und im Rennen spürte er's: Oh, das ist ja etwas ganz Neues, das habe ich ja lange nicht gehabt – Hunger! wirklichen Hunger! Sonst war mir's immer zuwider, wenn Essenszeit da war, von den Leckerbissen gar nicht zu reden; ich speiste nur, um nicht als unhöflich zu erscheinen, weil man doch einmal auftischte. Ei, das ist schön, da kommt ein Metzgerhund und treibt ein Kalb, ich werde mich zu Gaste laden beim lieben Vetter. – Der Mops grüßte höflich, der Metzgerhund beschnüffelte ihn ein wenig, schüttelte dann verächtlich den Kopf und ging wieder seinem Geschäft nach.
»Ich will mich dir anschließen«, sagte gnädig der Mops. »Ich will dir die Vertraulichkeit nicht nehmen, und darum erlaube du mir, inkognito zu bleiben.«
Wieder keine Antwort.
»Ich mache gern inkognito die Reise, ich sehe da die Welt besser und unbefangener.«
»Laß mich in Ruhe, du Schwätzer.«
»Ich verzeihe dir, weil du mich nicht kennst. Erlaube mir indes eine Frage: Du bist doch gewiß der glücklichste unseres Stammes; schöne Bewegung im Freien, kannst dich ausschreien, soviel du willst, und wenn du heimkommst, immer frisches Fleisch. Welchen Teil von diesem Kalb hast du dir vorbehalten?«
»Spotte nicht, du ohrenlose Kugel. Nimm dich in acht. Du läufst ohne Steuermarke herum.«
»Was ist das? Steuermarke?«
»Du dauerst mich mit deiner Unwissenheit. Weißt du denn nicht, daß wir Hunde auch Steuern bezahlen müssen?«
»Kann sein, daß ihr bezahlen müßt, aber ich, ich bin eine Ausnahme, ich bin steuerfrei.«
»Prahle nicht, oder ich zause dich im Nacken, daß du daran denken sollst.«
»Ja, um meinen Nacken, da hatte ich bis vor einer Stunde ein prächtiges goldenes Halsband mit dem Wappen des Fürsten darauf. Da hättest du sehen können, wer ich bin; jetzt mußt du mir auf mein ehrlich' Gesicht glauben. Ich bin der Lieblingshund des Fürsten, ich schlafe neben seinem Bett, ich fahre mit ihm aus, sitze neben ihm und gar oft auf seinem Schoß. Zuckerbrot und Knackwurst habe ich bis zum Überdruß gegessen. Ich sehe, ihr draußen habt's besser. Ich spüre jetzt seit langer Zeit wieder einmal Hunger. Sei freundlich und gib mir etwas von dem guten frischen Fleisch, das du bei der Heimkehr bekommst.«
»O du Narr, ich bekomme kein frisches Fleisch; ich muß nur die Kälber heimtreiben, daß mir die Zunge heraushängt, und wenn ich nicht manchmal einen Knochen bekäme, von der magern Brotsuppe könnte ich schon lange nicht mehr leben. Ich habe noch einige Knochen im Vorrat. Komm mit, ich werde dir einen geben.«
»Ich kann ihn aber nicht beißen; ich muß alles kleingehackt und weichgekocht haben.«
»Scher dich zum Teufel!« schrie der Metzgerhund, schüttelte den Mops etwas an seinem entblößten Nacken, und der Mops war froh, als er wieder davonrennen konnte.
Angst und Hunger, Heimweh und Furcht, das war das Viergespann, das ihn nun über Berg und Tal, unwegsame Steige und durch Felder führte. An einem einsam stehenden Bauernhof hielt er an, er wurde mit Schelten und Schimpfen vom Kettenhund begrüßt.
Michel Mops merkte mit diplomatischem Schnellblick, wie weit das Land reichte, das der Hund an seiner Kette beherrschte; er setzte sich in sicherer Entfernung jenseits der Grenze nieder, und als der Kettenhund sich heiser gebellt hatte, begann er: »Der ganze Aufwand war unnötig. Aber ich lobe dich, du hast eine Kraftsprache, noch sehr viel kernhaften Volksausdruck; nur ist zuviel Einerlei darin. Ich erlaube mir, in Ermangelung entsprechender Einführung, mich selbst vorzustellen.« Er erzählte nun Herkunft und Stand und fragte zuletzt: »Welchen Beruf haben Sie?«
»Den Hof zu hüten und an der Kette zu liegen. Allerdings, wenn Gefahr ist, wenn ein Dieb kommt, da lassen sie mich los, da schenken sie mir die Freiheit.«
»Welche Künste verstehen Sie?« fragte Michel Mops, der politische Gespräche gern vermied. »Verstehen Sie eine Kunst?«
»Gar keine, ich habe nichts als die Naturgaben: bellen und beißen, freilich mehr bellen.«
Freund Mops fand die Manieren des bäuerischen Hofhundes sehr ungeschliffen, er warf sich in die Brust und wollte eine sehr eindringliche, sehr feine Rede halten, aber – es ist nicht der Mühe wert, besann er sich und nahm französischen Abschied, indem er nicht einmal Lebewohl sagte. – Endlich, da ist noch Rettung, da ist der Schäferhund just bei seinem Abendessen. Die Schäfer sind doch immer gutmütig, gewiß sind's auch die Hunde. Der Mops setzte sich nicht weit von dem Schäferhund aufrecht, das war die einzige Kunst, die er verstand, ausgenommen, eine Pfote zu geben. Er reichte die Pfote immer hin und winselte und knurrte dabei und machte ein gar freundliches und gutmütiges Gesicht. Der Schäferhund schaute auf, und wenn er hätte lachen können, er hätte gelacht, so drollig kam ihm der närrische Kauz vor. Aber – es gibt noch Unschuld auf der Welt. Der Schäferhund winkte dem Mops zu: »Komm, friß mit.« Das ließ sich Freund Mops nicht zweimal sagen, er erwiderte nur: »Ich fresse nicht, ich speise« und begann mit Gier zu fressen oder zu speisen, wie man's nennen will. Der Schäferhund war sogar so liebreich, da er die hastige Gier des Fremdlings sah, selbst mit dem Essen aufzuhören. Unserm Freund Mops kam das Essen zwar etwas unschmackhaft vor, aber Hunger ist der beste Koch auch für Hunde. Er tat äußerst herablassend gegen den Schäferhund und nahm sich vor, sich hier gar nicht zu erkennen zu geben. Die arme Unschuld brauchte nicht zu wissen, wie's in der großen Welt zugehe. Hier ist noch das reine Paradies. Aber es ist die alte Erbsünde der Unschuld, daß sie sehr neugierig ist, und der Schäferhund drang in seinen Gastfreund, nachdem er ihn, ohne zu fragen, gespeist und getränkt hatte, nunmehr nach alter Väter Weise über Stand und Reisezweck zu berichten. – »Ich möchte dich nicht gern mit deinem Stande unzufrieden machen«, beteuerte der Mops, »und glaub mir, du hast das schönste Los auf der Welt; du bist zu beneiden, so Tag und Nacht im freien Feld zu liegen, mit den lieben frommen Schäfchen zu verkehren, und überall nichts als Liebe und Güte, das muß ein großes Glück sein.«
»Ich bin nicht unzufrieden, vor allem, weil ich meinen Herrn liebhabe. Er spricht mit mir, alles, was ihm auf dem Herzen liegt. Er ist jetzt leider verliebt und möchte gern heiraten. Wenn er nur hundert Gulden hätte, da wären wir alle glücklich, aber er kann sie nicht ersparen.«
»Wenn er mich meinem Herrn zurückbrächte, bekäme er hundert Gulden.«
»So? Bist du so viel wert?«
»Ich bin gar nicht zu bezahlen; ich bin einer der letzten meines Geschlechts und habe meine Ahnen bis zu Karl dem Großen hinauf.« – Nun mußte der Mops doch erzählen, wer er war, und der Schäferhund glaubte ihm alles. Er glaubte ihm, obgleich sein Halsband fehlte und er ganz ohne Dokumente war. Diese treuherzige Güte und Unschuld tat der Seele des Hofmopses gar wohl, und er beteuerte: »Ich freue mich sehr, auf dieser Reise dich gefunden zu haben. Wahrlich! Es gibt noch Unschuld und Tugend auf Erden. In der großen Welt sieht man sie nicht mehr. Ich könnte dir Erfahrungen mitteilen, Erfahrungen – aber ich will dein harmloses Gemüt nicht stören. Gott bewahre!«
Nun wollte der Schäferhund fast vergehen, daß er seinem Herrn nicht mitteilen könnte, wie nahe sein Glück sei. Er winselte und jammerte zu seinem Herrn auf und leckte ihm hundertmal die Hand, um anzuzeigen, daß die hundert Gulden leicht bei der Hand seien; aber der Schäfer nahm das nur als Zeichen, daß er bitte, er möge den Mops auch dalassen, und sagte: »Ja, ja, ich hab' nichts dagegen; freut mich, daß du einen Kameraden hast, aber wunderlich genug sieht der Bursche aus.«
So blieb nun der Mops beim Schäferhund. Bis gegen Mitternacht freute er sich mit dem Kameraden über den gestirnten Himmel, und sie bellten ihren Dank zum Mond hinauf. Nach Mitternacht bedauerte aber der Mops, daß ihm in der kühlen Herbstnacht sein gutes Bett fehlte; und – zu seiner Ehre muß es gesagt werden – er bedauerte auch seinen Herrn, der sich nach ihm sehnte, und so viel Anhänglichkeit hatte er doch, daß er dem Freund gegenüber den Vorsatz aussprach, zurückzukehren. Er wollte aber seiner gedenken in der Ferne und nie vergessen, daß er eine reine Seele gefunden, wo man's gar nicht ahnte.
Am Morgen war Freund Mops etwas verschnupft. Er behauptete, die vielen Gemütsbewegungen und das kalte Bad seien schuld daran, daß er gar keinen Appetit habe. In der Tat aber widerte ihn schon der Geruch dieses Morgenimbisses an. In Hunger und Heimweh verbrachte er nun den Vormittag und spendete dem Freund sehr viel Lob über die Geschicklichkeit, mit der er die Herde zusammenhielt. Freund Mops sprach mit sehr huldreichem Gönnerblick und klopfte dabei dem Schäferhund mehrmals auf die Schulter, ja, er gab ihm sogar einen Kuß auf die linke Wange mit dem ermunternden Zuspruch: »Bleib' nur so und vervollkommne dich noch mehr.«
Solch ein Schäferleben ist für eine kurze Weile wohl schön und anziehend, aber nachgerade fand es der Mops doch sehr langweilig und einförmig, immer nur der Herde nachzugehen und sie beisammenzuhalten, und höchst widerwärtig ist's, daß auf den Stoppelfeldern die Mäuse so ohne Scheu aus- und einschlüpfen.
Gegen Mittag kam eine schöne Mädchengestalt, der Schäferhund sprang ihr entgegen voll Jubel und verkündete dann dem Mops: »Das ist der Schatz meines Herrn.« Der Schäfer tat aber gar nicht zärtlich, er aß ruhig, sprach wenig und gab zum Abschied seinem Schatz nur kurz die Hand.
Am Nachmittag, man weidete an der Landstraße, da kam das Schicksal, in eine Uniform gekleidet. Freund Mops war ganz glücklich, als er wieder einen roten Kragen, einen Tschako, Säbel und Gewehr sah. Er hatte fast ganz vergessen, daß es solche gebildete Erscheinungen in der Welt gibt; es deuchte ihn fast schon ein Jahr, seit er Hof und Residenz verlassen hatte. Er machte alsbald sein Kunststück, um sich als Mann von Welt zu zeigen. Leider fehlte ihm ja das Halsband, das ihn jeder persönlichen Kundgebung enthoben hätte. Der Landjäger, denn das war der Mann in Uniform, sagte mit Frohlocken: »Ah, da bist du? Komm mit.« – Freund Mops war nicht willens. Er sah, daß dies ein Mann von sehr niederer Rangklasse war, er flüchtete zu seinem Freund, dem Schäferhund, und dieser stellte sich gegen den Landjäger und gab dem Herrn ängstlich zu verstehen, er solle den Mops nicht hergeben, es sei ein Glücksmops. Auch der Mops selbst stimmte bei. Vergebens. Der Schäfer willigte sofort ein, als der Landjäger erklärte, daß er eben diesen verlorenen Hund suche.
Der Schäferhund sah dem verhafteten Freund traurig nach, auch der Mops schaute immer zurück, bis sein Träger mit ihm im Wald verschwand. Jetzt kam wieder eine böse Zeit für den Mops; er sollte laufen und noch dazu an einem Strick, den der Landjäger ihm um den Hals gebunden hatte, und den Hals, der sonst nichts kannte als das schöne Halsband. Anfangs wollte der Mops nicht vom Fleck gehen, aber ein paar tüchtige Schläge und zuletzt eine halbe Wurst machten ihn doch wieder frischauf. »Ich hab' ihn!« rief der Landjäger frohlockend dem Torwächter zu, als er nach mehrstündigem Marsch, aber ohne sich aufzuhalten, vor die Stadt kam. »Er hat ihn! Man hat ihn! Der Mops ist da!« Die Nachricht verbreitete sich schnell in der ganzen Stadt; und ehe der Landjäger vor das Amtshaus kam, umgaben ihn Hunderte von Menschen. Besonders die Kinder waren wie toll. Seit gestern mittag rumorte es in den Schulen: es läuft ein Glück in der Welt herum auf vier Beinen, und wer es fängt, wird Vizekönig. Mehrmals erscholl ein Hoch, es war nur nicht gewiß, galt es dem Landjäger oder dem Mops. Der Landjäger hatte klugerweise schon weit vor der Stadt den Mops wieder auf den Arm genommen und zeigte ihn jetzt triumphierend dem Amtmann. Der Mops ließ sich ohne Widerstreben auf den Arm des Amtmanns legen und war glücklich, nun endlich an dem Herzen zu ruhen, zu dem es ihn so unwiderstehlich hingedrängt hatte; er leckte die Hand, die ihn so liebreich streichelte. Der Amtmann eilte mit der glücklichen Eroberung die Treppe hinauf und in die Putzstube. Der Hund witterte in der Putzstube schnell, wer dagewesen war. Er schnüffelte an dem Sofa herum und setzte sich gerade auf den Platz, wo gestern sein Herr gesessen hatte. Der Amtmann lobte den Hund sehr und wiederholte oft: »Und da sagen die Menschen, so ein Tier habe keinen Verstand! Mehr als manche Menschen hat so ein Hund, es fehlt ihm nichts als die Sprache.« Freund Mops nieste zum Beweis, daß der Amtmann die Wahrheit gesprochen, und der Amtmann sagte leise: »Zur Gesundheit!« Die Amtmännin kam herbei, und ihre erste Frage war: »Beißt er nicht?«
»Er hat nur stumpfe Zähne«, erwiderte der Landjäger, stolz auf seine nähere Bekanntschaft. Aber statt des Dankes ward er barsch angerufen: »Wo ist das Halsband? Das goldene Halsband?«
»Ich habe ihn so gebracht, wie ich ihn gefunden habe«, erwiderte der Landjäger, und der Amtmann sagte: »Er kann jetzt gehen, das übrige wird sich finden.«
Nun war's allerdings zu spät, den Hund in die Nachbarstadt zu bringen; der Fürst war auf einem andern Weg zur Residenz zurückgekehrt. Der Abend brach herein, und der Amtmann schickte vor allem nach seinem Neffen, der sich schon seit Jahren um eine Notariatsstelle bewarb, sie aber nie erhalten konnte. Er liebte die Tochter des Amtmanns, und nun sollte das Glück der beiden Leute gemacht werden. Natürlich, ganz in aller Stille. Man ist ja sonst dem Spott der Menschen ausgesetzt. Der Neffe sollte sich bereithalten, um anderntags mit dem Amtmann in die Hauptstadt fahren zu können. Wenn man nur dem Mops hätte sagen können, wie freundlich gesinnt man ihm war. Der aber war sehr unwirsch. Er hörte kaum, wie der Amtmann zu seiner Frau sagte: »Ich bin gestern dem Metzger begegnet, der ein schönes Kalb zur Stadt trieb. Laß frisches Kalbfleisch holen und brate es für das gute Tier, und wenn du das Kalbshirn bekommen kannst, ist's noch besser; das ist eine leichte und nahrhafte Speise.« Dem Mops dämmerte es wie durch einen Traumnebel, daß das vielleicht das Kalb sei, dem er gestern im Geleit des groben Gesellen, der ihn gezaust hatte, begegnet war. Der Amtsdiener kam auch in das Putzzimmer und rief triumphierend: »Hab' ich's nicht gesagt, der Hund ist ins Preußische entflohen?«
»Was meint Er, daß man dem guten Tier zu fressen geben soll?« fragte der Amtmann herablassend den Amtsdiener.
»Die selige Frau Obervogtin«, erwiderte der Amtsdiener, »hat auch einen Mops gehabt; ich erinnere mich seiner deutlich, ich war damals noch ein kleines Kind, ich hab's aber gesehen, wie sie ihm Zuckerbrot gegeben hat. Sie hat's aber vorher gekaut. Es ist ein Graus gewesen, wie er ihr so den Fraß vom Mund weggefressen hat.«
»Auf Eure Verantwortung hin also wage ich's, dem Hund Zuckerbrot zu geben.«
»Ich nehm's nicht auf meine Verantwortung«, erwiderte der Amtsdiener und machte sich davon. Der Hund rührte und regte sich nicht, und der Amtmann hieß alles in der Nähe der Putzstube still sein, der Hund wolle schlafen.
Im ganzen Städtchen regte sich die Neugier, den Lieblingshund des Fürsten, mit dem er sich hatte abmalen lassen, zu sehen. Die Amtmännin benutzte die Gelegenheit, anstelle einer großen Gesellschaft, die sie noch schuldig war, den Mops vorzuführen. Man kam jetzt billiger weg, denn man konnte sich nicht so schnell vorbereiten; und man hatte etwas zu zeigen, was niemand anders hatte.
Wenn's nicht wahr wäre, könnte man's nicht erzählen; aber es ist leider wahr: eine große Gesellschaft fast von dreißig Personen wurde wegen des Hundes geladen. Man war sehr vergnügt, aber der Mops nahm keinen Anteil an der allgemeinen Heiterkeit, er lag stumm in seiner Sofaecke, blieb unwirsch und verschmähte Braten und Kalbshirn.
»Wie glücklich«, rief ein Weiser, »wie glückselig wären viele Menschen, wenn sie die freundlichen Blicke, die guten Worte und Streichelhände des Fürsten und der Fürstin bekämen, die an den Hund verschwendet werden, der das gar nicht zu würdigen versteht. Ich meine«, rief er plötzlich von einem glücklichen Gedanken gehoben, »ich meine, das Tier langweilt sich; wir sollten ihm Gesellschaft bringen, das wird ihn erheitern.«
Das war ein guter, lustiger Vorschlag.
Man brachte schnell aus allen Häusern die kleinen Hunde herbei, aber der verdrießliche Mops würdigte keinen eines Blickes, nur als der weißhaarige Wachtelhund der Pulvermüllerin kam, tat er freundlich. Die Pulvermüllerin, die sonst eigentlich nicht ganz zu den Honoratioren gehörte, gewann dadurch an Ansehen, sie war nur zu schüchtern und verzagt, um sich das zunutze zu machen; sie willigte indes gern ein, daß ihr Wachtelhund zur Unterhaltung des Mopses mit in die Residenz genommen werde.
Schon am frühen Morgen fuhr der Amtmann mit seinem Neffen, nachdem sie den Mops behutsam auf ein gesticktes Kissen gelegt und den Wachtelhund ihm zugesellt hatten, zur Residenz. Es war bald Nacht, als man dort ankam; der Hund gab auf der Reise wenig Lebenszeichen von sich, indes fraß er doch am Mittag einige Stücke Zuckerbrot. Er wedelte mit dem Schwanz und wickelte ihn in eine Brezel auf, als ihm der Amtmann sehr freundliche Worte sagte.
Im Schloß des Fürsten herrschte große Freude, als der Amtmann mit seinem Neffen den Hund brachte. Der Hofmarschall war indes sofort unwirsch gegen den Amtmann, weil das Halsband fehlte, und er bekam jetzt denselben Verweis, den er dem Landjäger gegeben hatte, nur etwas höflicher und boshafter zugleich. Der Amtmann wollte aufbrausen, denn es ist ehrenrührig, sich solche Vorwürfe machen zu lassen; aber weil er eine Gunst erbitten wollte, hielt er an sich. Der Marschall befahl dem Kammerdiener: »Friedrich, tragen Sie den Michel hinauf zu Durchlaucht.« – Michel? – Auf dieses Wort richtete der Hund seinen Kopf auf und sah den altbekannten Diener schläfrig an. Der Amtmann und sein Neffe wurden nicht beim Fürsten vorgelassen, und sie konnten dessen froh sein, denn Entsetzlicheres war noch nicht geschehen! Als man den Hund vor dem Fürsten niedersetzte, damit er auf ihn zulaufe, schaute er nur einmal gläsernen Blickes zu seinem Herrn auf, sank um und lag tot auf dem Boden. Er wurde schnell wieder fortgeschafft, der Hoftierarzt herbeigerufen. Zu spät, Michel Mops hatte geendet.
Nun erhielt der Amtmann statt des Dankes Schelten, daß man den Hund gewiß halb totgejagt habe, um ihn zu fangen, oder daß man ihn mit Essen verdorben habe. Der Hund wurde noch in der Nacht seziert, und der Amtmann mochte beteuern, wie er wollte, es wurde ihm nicht geglaubt, daß der Mops die schlechten Speisereste, die man im Magen fand, nicht im Amtshause erhalten habe. Von den mannigfachen Welterfahrungen, die der Mops auf seiner Wanderung sich angeeignet hatte, bemerkten der Hoftierarzt und der Hof nichts.
So das Ende des letzten Hofmopses, genannt Michel Mops, ausgestopft zu sehen im fürstlichen Lustschlosse. Der Amtmann kehrte traurig mit seinem Neffen in die Stadt zurück. – Die Welt hat nichts von Michel Mops als diese Geschichte und die Errungenschaft, daß in der Bergstadt mit den hellen Wässerlein eine Druckerei errichtet wurde.
Der Hofmarschall gab sich alle Mühe, und da auch das kleine Land seine Diplomaten hat, sogar auf diplomatischem Wege dem Fürsten wieder einen Mops zu verschaffen. Vergebens. Die Diplomatie fand keinen Mops mehr.
Wenn aber der geneigte Leser im Besitz eines Mopses ist, so weiß er jetzt, wo er ihn anzubringen hat.
Warum sind die meisten Menschen, die eifrig darauf aus sind, daß das Gesetz herrsche und die Obrigkeit auch in Achtung stehe, ich frage: Warum sind die meisten Menschen so froh, wenn der Polizei ein Schabernack gespielt wird? Sie gehört doch auch zur Obrigkeit, und wie! Macht sie sich denn nicht überall geltend, auf Schritt und Tritt, zu Pferd und zu Fuß, bei Tag und bei Nacht? – Ja, das ist's eben. Sie macht den ordentlichen und gesetzmäßigen Leuten viel mehr zu tun als den unordentlichen. Sie gibt sich das Ansehen, als ob sie allein mündig sei und alle Bürger unmündige Kinder; sie wird in gar vielen Orten nicht, wie sich's gebührt, von den Bürgermeistern und von den Bürgern selbst gehandhabt, sondern von Menschen, die man ebenso hergesetzt hat und die einen ansehen, als ob sie sagen wollten: Warum kann ich dich denn nicht beim Kragen nehmen? – Und wenn man sie braucht, dann sind sie gerade nicht da. Das meiste Ärgernis entsteht aber dadurch, daß viele Anordnungen so aussehen, nicht als wollte man die Leute schützen, sondern als wollte man sie im Zaume halten. Und endlich (um das Register vollzumachen), ein Hauptübel ist, daß die Polizeidiener ein Fanggeld oder einen Anzeigerlohn haben; da hat es dann oft den Anschein, als ob nur die Verordnungen da wären, um die Leute recht strafen zu können, und nicht dazu, um Unordnung zu verhüten.
Davon kann der Gevattersmann wieder ein Geschichtchen erzählen, das in einer Stadt geschehen ist, welche jetzt zu einer deutschen Bundesfestung gemacht wird und die zwischen dem Rhein und der Donau liegt. Hier wohnt ein ehrsamer Schreiner und hat mehrere Gesellen. Nachts, wenn Feierabend ist, wollen die Gesellen auch nicht eben zu Haus bleiben, sondern der eine geht da-, der andere dorthin. Nun kann der Meister nicht jedem der Gesellen einen Hausschlüssel geben, sondern allen insgesamt nur einen. Sie machen nun unten an der Abflußrinne einen Verschlag, und da legen sie den Schlüssel hinein; wer nach Haus kommt, nimmt ihn, schließt auf und wieder zu und legt ihn von innen wieder in den Verschlag. Nun wird aber der Meister von der Polizei mehrmals bestraft, weil man in der Nacht sein Haus offen gefunden hatte. (Es läßt sich eigentlich doch kein rechter Grund für ein derartiges Verbot auffinden, denn wenn jemand nachlässig sein will, so daß er bestohlen werden kann, so ist das seine Sache und geht niemand was an.)
Der Meister ermahnt mehrmals seine Gesellen, doch ordentlicher zu sein, sie aber behaupten, immer geschlossen zu haben; da sagt einer: »Ich glaube, der Polizeidiener hat das Versteck des Schlüssels entdeckt und macht selber auf, um die Anzeigegebühren zu erschnappen; gebt acht, ich werde auch ein Fanggeld verdienen.« Er hämmerte und meißelte nun etwas in dem Verschlag, wohin gewöhnlich der Schlüssel gelegt wurde. Am Abend blieb alles zu Hause. In der Geisterstunde, zwischen 11 und 12, hörte man jemand jämmerlich winseln. Der Meister und die Gesellen schauten zum Fenster hinaus und erblicken den Polizeidiener richtig mit der linken Hand in der Rattenfalle gefangen, die ihm der pfiffige Geselle gelegt hatte. Er hatte sich fast ganz zum Boden bücken müssen und jammerte nun erbärmlich in dieser gekrümmten Stellung. Alle Nachbarn kamen herbei, und man ließ den Gefangenen erst los, als er versprochen hatte, alle empfangenen Strafgelder zu ersetzen.
Es war einmal ein Bauer, der seinen alten, arbeitsunfähigen Vater gar schlecht behandelte, ihm kaum notdürftig zu essen gab, und auch das noch in der rohesten Weise. Einstmals sah der Bauer, wie sein junger Sohn aus einem Stück Holz einen Trog schnitzte.
»Was machst du da?« fragte er.
»Ich schnitze einen Trog«, erwiderte der Knabe, »aus dem ich dir zu fressen geben will, wenn du alt bist.«
Der Vater hatte eben ausgeholt, um dem Knaben eine tüchtige Ohrfeige zugeben; aber eine unsichtbare Gewalt hielt ihm die Hand. Er sah, daß dies nur die Strafe dafür war, was er an seinem eigenen Vater tat, er ward fortan mild und liebevoll und rettete damit sein eigen Herz, das seines Vaters und seines Kindes.
Ja, die Art, wie die alten Bauern behandelt werden, die ihr Gut an ihre Kinder abgegeben und nun im Auszug oder, wie man's auch nennt, im Leibgeding leben, gehört oft zu dem empörendsten. Ist bei der Übergabe auch alles noch so genau schriftlich festgestellt worden, die Liebe und die gute Art läßt sich nicht auf einem Bogen Papier lebendig machen, und wagt es der Alte einmal, vor Gericht zu klagen, so ist nicht viel damit geholfen. Wo die Herzensgüte fehlt, da ist das Beste nicht da. Der große Dichter Shakespeare hat das Leben solch eines Auszüglers und seinen traurigen Untergang in der ergreifendsten Weise geschildert. Der Mann, den er uns darstellt, kann nicht vor Gericht klagen, denn er ist ein König, der sein Besitztum unter seinen Töchtern aufgeteilt hat, die ihn nun hartherzig behandeln und ihn neu erziehen wollen. Es ist König Lear. Was aber hier von einem König berichtet wird, geschieht in geringeren Verhältnissen in nicht minder erschütternder Weise. Da kann kein Staatsgesetz helfen, das Herz allein entscheidet.
Ich habe mich auf Reisen oft zu solchen einsamen Altbauern gesetzt. Ich wollte sie erheitern, ihnen dies und jenes berichten; aber ich habe meist gefunden, daß sie kaum mehr zu hören verstehen, wenn sie auch das Gehör noch besitzen; es ist meist ein einziger dumpfer Gedanke, der sie beherrscht und den sie fast unwillkürlich vor sich hin murmeln, in abgerissenen Worten, dazwischen manchmal ein Gebet. Dann starren sie in der Regel mit offenem Mund drein oder versinken in sich und erwarten keine andere Rettung als den Tod. Wenn die Geistlichen hier nicht helfen können, so ist es Pflicht jedes Nachbarn, unablässig da zu mahnen und einzugreifen. Aber freilich, die meisten Menschen leben für sich und glauben, sie hätten genug getan, wenn sie kein Unrecht begehen; daß sie aber verpflichtet sind, wo sie eine Untat sehen, diese abzustellen und nicht müde zu werden, sich nicht abweisen zu lassen und immer wieder zu kommen, das geht nur wenigen auf. Um so lieber ist mir's nun, daß ich von einer meiner letzten Reisen eine erfreuliche Geschichte mitteilen kann.
Es war ein schöner heißer Sommermittag im Harzgebirge. Ich wollte zum Brocken und wanderte nun durch ein kleines Tal auf dem schmalen, an der Berglehne sich hinziehenden Fußsteig. Da saß ein armer alter Mann mit dünnen schneeweißen Locken am Wege; er hatte einen braunen, langen Schlehdornstock im Schoß. Ich setzte mich zu ihm, fragte nach Leben und Treiben, und der Alte erzählte, daß er ehedem Waldhüter gewesen; es sei kein Felsen, der zu ersteigen sei, und keine Talschlucht, wo er nicht aber- und abermals gewandert sei. »Und siehst du«, sagte er, »siehst du die Tannen dort oben? Die habe ich gepflanzt. Jeden Tag, wenn ich zu Berge ging, habe ich meinen Büchsenranzen voll Erde mit hinaufgetragen, und dann in den Schrunden, wo nur die Felsen einen breiten Fleck hergeben, da habe ich sie festgemacht; und dann hab' ich gewartet, bis Gras und Gestrüpp daraus hervorgewachsen ist, das nagelt und klammert die Bodenerde an den Felsen; dann hab' ich die kleinen Stämmchen hinaufgetragen und eingepflanzt. Mein Fabian, mein Ältester, der lange beim Militär war und dann von einem Baum erschlagen wurde, hat mir, wie er noch ganz klein war, oft dabei geholfen. Wenn du hinaufkommst, kannst du die Bäume sehen, ich sehe sie nicht mehr recht.«
»Und bei wem lebt Ihr jetzt?« fragte ich.
»Bei wem? Bei wem?« wiederholte der Alte und sah mich starr an. »Bei niemandem. Ich hab' niemand mehr auf der Welt. Ja, noch einen Sohn hab' ich, er kann noch auf der Welt sein, aber ich weiß es nicht.«
»Und wovon lebt Ihr?«
»Ich habe meine Pension, vierundzwanzig Taler jährlich; es ist aber jetzt alles so teuer.«
»Und Euer Sohn schreibt Euch nicht und schickt Euch nichts?«
»Schreiben hat er nicht gelernt und schicken kann man nur, wenn man selber etwas hat. Aber er ist der bravste Mensch von der Welt, ein gutes Kind, ein treues Kind, er hat mir sein ganzes Vermögen hiergelassen. Aber ich rühre es nicht an. Das bleibt. Ich bin kein Verschwender. Nein, Heinrich, dein Vater bewahrt dir dein Vermögen auf.«
Nach vielen unverständlichen Einschaltungen erfuhr ich folgendes:
Es mögen jetzt wohl achtzehn Jahre her sein, vielleicht auch länger, denn der Alte war mit den Zahlen in einer sonderbaren Verwirrung (vor dreißig Jahren, so hieß bei ihm alles, was vielleicht erst vor zwei oder drei Jahren geschehen), da hatte sich der jüngste Sohn des Waldhüters anwerben lassen, um nach Amerika auszuwandern (das Land wurde mir nicht klar), wo große Wälder, die noch keine Axt gesehen, wie der Alte sich ausdrückte, zu bewirtschaften waren. Nun hatte der Sohn noch ein mütterliches Erbe, das in runden hundert Talern bestand. Der Alte wollte es nicht anders; Heinrich mußte sein Besitztum mitnehmen; es gehöre ihm, und er könne nicht wissen, wie er draußen in der fremden Welt einen Notpfennig brauche. Der Sohn mußte gehorchen. Aber am Samstag vor der Abreise ging der Sohn noch zum Pfarrer, nahm Abschied bei ihm und ließ sich die Nummer des Liedes auf ein Papier schreiben, das morgen in der Kirche gesungen würde. In der Nacht nahm der Sohn Abschied vom Vater, und sein letztes Wort war noch: »Vater, wenn Ihr morgen das Lied in der Kirche singt, denkt auch an mich.«
In der Nacht stand der Alte, der immer allein war, mehrmals auf; es war ihm, als höre er seinen Sohn draußen in der Stube umhergehen, aber es war niemand da. Gewiß hat er etwas vergessen, dachte der Alte, und jetzt kommt sein Geist und sucht es und will es mitnehmen. Denn der Alte ist nicht frei von Aberglauben, und es wäre gewiß nicht angebracht gewesen, ihn davon bekehren zu wollen. Auf dem Fenstersims, wo draußen Rosmarin und Nelken blühten, davon sich der Ausgewanderte noch einen Strauß auf den Hut gesteckt hatte, dort lag das Gesangbuch des Alten, wie von jeher in ein weißes baumwollenes Tuch eingewickelt. Auf diesem Tuch spielte der Mond, der von den Bergen niederschien, jetzt gar so seltsam, und der Alte legte seine Hand darauf, wie wenn es da etwas zu fassen gäbe. Endlich kehrte er wieder in sein Bett zurück.
Am Morgen, als es zur Kirche läutete, ging der Alte mit seinem Gesangbuch unter dem Arm dahin; erst in der Kirche wickelte er es aus dem Tuch, sah nach der Nummer des Liedes, die auf der Empore angezeigt war, und blätterte sie, immer die Finger netzend, mühsam auf. Aber plötzlich schrie er laut auf, daß alle in der Kirche zusammenschraken, und sein Schrei übertönte die Introduktion der Orgel: »Heinrich, was hast du getan!« Da lag der Hunderttalerschein des Ausgewanderten, und das war sein ganzes Vermögen, da lag es, hier auf dem Blatt.
»Das hat der Heinrich hineingelegt und darum hat er noch gestern gesagt: ›Vater, wenn Ihr morgen das Lied singet, denkt auch an mich.‹«
Den ersten Vers konnte der Alte nicht mitsingen, aber beim zweiten sang er mit, als ob er die Stimme seiner jungen Tage wiederbekommen hätte.
Nach der Kirche sprach alles davon, wie gut und getreu der Ausgewanderte an seinem Vater gehandelt. Der Alte sprach kein Wort. Er klemmte nur das Gesangbuch so fest unter den Arm, daß ihm die Brust weh tat; aber darauf achtete er kaum.
»Ich hab' das Geld noch, ich hab's nicht angerührt, und es liegt noch auf der Stelle, wo er's hingelegt.« So sagte der Alte, und ich mußte ihn ins Dorf und in sein Häuschen begleiten. Dort lag auf dem Fenstersims das Gesangbuch, in ein weißes baumwollenes Tuch eingewickelt. Der Alte nahm das Buch heraus, und richtig: bei dem Gesang Nr. 134 lag noch der Hunderttalerschein.
»Warum habt Ihr das Geld nicht auf Zinsen angelegt?« fragte ich.
Der Alte lachte und endlich ließ er sich zu der Antwort herbei:
»Das haben mir doch noch alle Leute gesagt, jeder Mensch, da ist einer so gescheit wie der andere, sie wissen alle nur eins. Aber ich will nicht.«
»Ihr habt die besten Zinsen von dem Geld, Ihr nährt Euch von dem guten Gedanken, daß Euer Sohn so brav ist«, erwiderte ich.
»Schau, schau!« rief der Alte jetzt. »Du bist der erste Mensch, der das versteht. Du hast auch gewiß schon viel Gutes genossen von Menschen, weil du das so verstehst. Du bist nicht dumm, ich hab' dir's gleich angesehen.«
Der Alte war ganz glücklich, daß es noch einen so gescheiten Menschen gab wie ihn. Und als ich ihn nun fragte, warum er das Buch mit dem Geld so offen liegen lasse, ob er denn gar nicht fürchte, daß jemand eine Scheibe eindrücke und es mit leichter Mühe heraushole, entgegnete er lächelnd – und das Lächeln in diesem verwitterten Antlitz war wundersam:
»Das tut kein Mensch. Die hier aus der Gegend wissen, was da drin ist, und da würde sich jeder lieber die Hand abhacken, ehe er das Buch stehlen würde. Und die es aber nicht wissen, meinst du? Ja, Gesangbücher stehlen die Menschen nicht, das schließt besser als Schloß und Riegel.«
Der Alte geleitete mich wieder ein Stückchen Wegs bis dahin, wo ich ihn zuerst angetroffen hatte. Dann sagten wir einander Lebewohl als Freunde.
Als ich vergangenes Jahr wieder im Harz war, fand ich den Alten nicht mehr an seiner Stelle – er lag unter der Erde. Sein Gesangbuch aber mit dem Geld ist beim Pfarrer, und in einem öffentlichen Aushang ist der Sohn aufgefordert, es in Empfang zu nehmen, sonst fällt beides den Verwandten zu.
In einem Märchen, es ist noch gar nicht alt, wird erzählt, daß der Teufel einmal auf Arbeit ausging und brav zu sein versprach, wenn man ihm vollauf zu tun gebe. Die Menschen ließen sich darauf ein und gaben ihm nun die mühseligsten Sachen zu verrichten, aber kaum hatte man ihm gesagt, was er zu tun habe, war er wie der Wind wieder da und sagte: »Ich bin fertig, gebt mir Arbeit, oder ich werde wild.« Die Menschen wissen nun gar nicht, was sie anfangen sollen, bis einer dem Teufel den Auftrag gibt, die Straße nach der nächsten Stadt so schnell zu pflastern, daß er sie jetzt, beim Abfahren mit einer zweispännigen Kutsche, immer vor sich gepflastert fände. Der Teufel brachte auch das zuwege. Das Märchen endet nun damit, aber die Geschichte ist darum noch nicht aus.
Das Pflaster war fertig, und der Teufel kam wieder und sprach: »Gebt mir zu arbeiten, oder ich werde wild.« Jetzt wurde er in den Polizeistaat aufgenommen, und ein Beamter nahm ihn zu sich, und da hat er in den Akten zu tun, daß er nicht fertig wird bis an den Jüngsten Tag. Wo ein Strahl des Lichts oder eine freie frische Bewegung in die Welt dringen will, da wird der Teufel hingeschickt, um das Loch zuzustopfen, durch welches das Licht eindringt, und die freie Bewegung einzuklemmen und zu knebeln. Hat er da ein Loch zugestopft und einen Strick fester angezogen, bricht's an der andern Seite wieder los, und er keucht und rennt hin und her und protokolliert und untersucht und registriert und referiert, nimmt eine Duplik und eine Replik auf und schreibt und streut Sand auf die Tinte und siegelt, daß gar kein Ende zu finden ist.
Freilich ist dieses ganze Geschäft unnötig, und wenn man die Menschen mehr gewähren ließe, könnte man die Hälfte des Amtierens ersparen, aber das ist es ja eben, die unnötigen Geschäfte sind immer die größten.
Da steckt der Teufel!
Ja, ich erinnere mich noch seiner jungen Jahre: freilich alt sah der Michel schon damals aus: ein kleines Männchen mit stoppeligem Bart, ich glaube, wenn er am Sonntag rasiert war, hatte er am Montag schon wieder seinen gehörigen Wochenbart. Ja, ich erinnere mich noch seines Hochzeitstages, es war keine Musik dabei und sehr wenig Gefolge. Der Michel ging neben seiner Braut einher, sie war groß und stattlich, schön aber nicht, und es sah so aus, als wenn sie ihn nur zur Begleitung mitgenommen hätte, wie wenn man unterwegs zu einem Begegnenden sagt: »Komm mit, ich mag nicht so allein gehen.« Und neben der Braut ging ihre Mutter, die alt' Babi hat man sie geheißen. Sie hatte ein halbes Häuschen draußen im Hennebühl, in der Gasse nach abseits; der Weg dahin war schmal und von zwei Hecken eingeschlossen.
Der Brautzug bestand nur aus den Brautleuten, der Mutter, dem Dorfschützen und einer Schwester der Babi aus Ahldorf mit ihrem Mann. Als sie nun vorüberzogen, den kleinen Hügel hinan zur Kirche, da schauten die Menschen aus den Fenstern, blieben auf den Gassen stehen und winkten einander und sprachen davon, wie wunderlich es wäre, daß Menschen in solcher Armut auch noch heiraten. Manche aber gaben dem Michel doch recht und sagten, es sei immer besser, ein Heimwesen zu haben, als sein Leben lang Knecht zu bleiben. Alle aber staunten über seinen Mut, daß er es wage, die Käthe zu heiraten und die alt' Babi noch dazu. Der Michel war beliebt im Dorf, er war ein guter Taglöhner, just nicht von den flinksten, aber er machte seine ehrliche Arbeit und war nicht heikel im Essen; er war Tag und Nacht zu haben für alle Dienste, war mit allem zufrieden und kurz, was man so nennt, eine gute Haut.
Hinter dem Brautzug drein kamen noch einige alte Weiber in ihrem Sonntagsstaat, mit ihrem Gebetbuch. Sie lassen sich nicht gern irgendeine Feierlichkeit im Dorf entschlüpfen, die ihnen Gelegenheit gibt, in die Kirche zu gehen und sich da etwas Orgel spielen zu lassen und auch zu beten; da hat man doch am Tag etwas Besonderes gehabt. Übermütige junge Mädchen riefen einander an und ermunterten sich gegenseitig, vom Waschkübel und der Hausarbeit hinweg, trotz des Werkeltagsanzuges, sich in die Kirche zu schleichen und von der Empore aus zu sehen, wie der Michel und die Käthe getraut werden. Die Sache ging aber ganz gut vonstatten, und als es wiederum läutete und die Vermählten aus der Kirche kamen, da gingen da und dort Männer und Frauen auf sie zu und wünschten ihnen Glück. Die Käthe gab nicht viel drauf und die Babi noch weit weniger. Der Michel aber schmunzelte gar vergnüglich und streichelte sein glattes Kinn. Es ist das einzige Mal, daß ich ihn ohne Wochenbart gesehen habe. Das Hochzeitsmahl soll sehr bescheiden gewesen sein.
Was tut's? Der Michel war verheiratet und hatte nun einen Hausstand so gut wie andere.
Am Abend erzählte unser Nachbar, der Schlosser Blank, daß er auf dem Weg nach Ahldorf den Michel getroffen habe, wie er am Morgen seines Hochzeitstages Steine klopfte an der Straße, denn Michel war nicht ganz ohne Amt und Würde, er war Stellvertreter des Wegknechtes, da dieser krank daniederlag.
Lange war von Michel keine Rede mehr, man sah ihn manchmal ins Feld fahren oder heimkehren mit zwei Kühen, die an den Wagen oder Pflug gespannt waren; eine Kuh gehörte ihm, die andere seinem Hausgenossen, dem Korbmacher Heigele. Sie halfen einander gegenseitig aus, das Feld zu bestellen, und was so der Arbeit mehr ist.
So gingen Jahre vorüber. Da, in einer Herbstnacht schrie es durch das Dorf: »Feurio! Feurio!« Ihr heutigentags könnt gar nicht mehr wissen, wie gräßlich das damals klang, als noch nirgends eine ordnungsgemäße Feuerwehr eingerichtet war. Die Sturmglocke läutete, Fenster wurden aufgerissen, Menschen eilten auf die Straße und fragten: »Wo brennt's?«
»Draußen im Hennebühl bei der alten Babi!«
Die Spritze wurde herausgezogen, wir Kinder eilten auch mit auf den Brandplatz, wir wurden fortgejagt, kamen aber bald wieder.
Unvergeßlich ist mir der Anblick, wie abseits unter dem Kirschbaum, vom Feuer beschienen, die alte Babi stand mit aufgelöstem Haar, sie hielt ihre schwarze Katze auf dem Arm, ihre Augen flimmerten und starrten in die lichterlohe Flamme hinein, und die Augen der Katze flimmerten noch mehr.
»Wo ist der Michel?« hieß es.
»Er hat die Kuh gerettet und ist dabei durch einen herabfallenden brennenden Balken verletzt worden, die ganze linke Wange soll ihm verbrannt sein!«
Jedermann bedauerte den Michel. Die Spritze ächzte, und der Schlosser Blank, der oben auf der Spritze saß und den Schlauch leitete, schrie sich heiser. Aus den Nachbardörfern kamen auch die Spritzen herbei, aber sie kamen zu spät. Das ganze Haus mit allem, was drin war, war vom Feuer verzehrt.
Die Kuh war in des Rodelbauern Haus gebracht worden. Dort im Stall war großes Gedränge, alle wollten die Gerettete sehen, als ob man noch nie eine Kuh gesehen hätte. Die Kuh brummte in sich hinein, als wollte sie sagen: Ihr einfältigen Menschen, was habt ihr an mir zu sehen? Seht nach dem Michel!
Ja, der war schlimm anzuschauen; man erzählte sich im Dorfe Grausiges, wie er zugerichtet sei; man erzählte aber auch, daß er einen schönen Spaß gemacht habe, denn als ihn der Chirurg verband, sagte er zu ihm:
»Künftig kriegst du fürs Rasieren nur einen halben Kreuzer, denn auf der Seite, da wächst kein Bart mehr.«
Und so war's auch, der Michel behielt sein Leben lang eine rote Brandnarbe, die fast die ganze linke Wange bedeckte.
Nun aber hieß es: Wie bauen wir das Haus wieder auf? Denn wenn man's nicht aufbaut, bekommt man das Geld nicht, mit dem es in der Brandkasse versichert ist. Dazu hatte noch der Michel all seinen Hausrat verloren, für den er nichts bekommt, und der war eigentlich mehr wert als das Haus selbst. Jetzt erfuhr man auch, daß er einen heimlichen Schatz besessen, ganze fünfzig Gulden, die man aber beim Wegräumen des Schuttes nicht fand. Der Michel behauptete, daß sie einer der Wegräumenden gefunden und für sich behalten habe.
Die alte Babi wußte Rat, sie brachte es beim Schultheißenamt und beim Landgericht dahin, daß Michel einen Brandbrief erhielt. So nannte sie den mit einem großen Amtssiegel versehenen Brief, der den Michel ermächtigte, auf den Bettel zu gehen. Da stand's geschrieben und untersiegelt, daß er ein braver und arbeitsamer Mann sei und das Unglück gehabt habe, abzubrennen, und die Mildtätigkeit der Menschen wurde angerufen, ihm wieder aufzuhelfen.
Unser Knecht begegnete draußen im Weiherwald dem Michel, als er zum erstenmal mit dem Brandbrief in die Fremde ging. Er zeigte dem Knecht den Brief und sagte:
»Da soll ich nun betteln gehen, die Babi will's haben, und sie sagt, ich wäre der einfältigste Tölpel, wenn ich's nicht dahinbringe, daß wir das Siebenfache bekommen, was wir verloren haben. Sieh dir den Stock an«, sagte er dann zu unserem Knecht; »weißt du, was das ist?«
»Ja, ein Schlehdorn.«
»Nein, ein Bettelstab. Komm, Bettelstab!« sagte er dann, steckte sein Zeugnis, das sich in einem großen Umschlag befand, wieder ein, drückte mehrmals an die Brust, um sich zu versichern, daß er es noch bei sich habe, und trollte davon.
Der Michel kam lange nicht nach Hause, den ganzen Winter nicht, aber im Dorf hieß es, er habe Geld geschickt. Die alte Babi hatte Kaffee und Zucker beim Krämer in der Stadt gekauft, sie hatte es heimlich getan, aber es war doch ruchbar geworden. Und die Käthe trug zu Weihnachten ein schönes neues Kleid. Sie hatte freilich die Kuh verkauft, aber es war doch sicher, daß sie noch heimliche Schätze haben mußten.
Man hatte schon das Heu eingebracht, als der Michel wiederkam. Er sah ganz wohlgenährt aus, er kaufte dem Heigele seine Haushälfte ab, und nun wurde zu bauen begonnen. Man kann nicht anders sagen, der Michel arbeitete rechtschaffen mit; er grub und schaufelte und fuhr mit dem Schubkarren hin und her, aber von dem, was ihm begegnet war, erzählte er nichts. Im Herbst wurde das Häuschen gerichtet, weiter schien es noch nicht zu reichen. Der Michel war wieder verschwunden. Im Amtsbezirk hielt er sich gar nicht auf, er ging immer weiter hinaus, und so kam er im andern Jahre wieder. Das Haus wurde ausgebaut, neuer Hausrat wurde angeschafft.
Der Michel, den man sonst immer zu aller Arbeit haben konnte, war jetzt nicht mehr so willig bei der Hand, und kaum waren die Blätter am Kirschbaum vor dem Häuschen gelb, als der Michel wieder verschwunden war.
Jetzt war's klar, der Michel war ein handwerksmäßiger Bettler geworden, und man konnte es ihm auch nicht verübeln, daß er lieber draußen als daheim war, wo er bei Frau und Schwiegermutter nicht viele gute Tage hatte.
Wenn er heimkam, war er äußerst bescheiden, ging viel zur Kirche, arbeitete auch manchmal wieder an der Straße, aber er hielt's nie lange dabei aus, und plötzlich war er wieder verschwunden, niemand wußte, wohin.
Unser Knecht erzählte mir einmal, aber ganz im geheimen, als ob kein Mensch etwas davon ahnen dürfe, der Michel habe ihm vertraut, der Schlehdornstock sei wie behext, er habe keine Ruhe im Haus, und wenn der Stock längere Zeit in der Ecke gestanden, da sei es – er könne drauf schwören, daß es in Wahrheit der Fall sei –, da sei es oft geschehen, daß dieser in der Nacht aufstehe und ihn auf den Kopf und auf die Hände schlage, und dann sei es höchste Zeit, daß er fortgehe, und es sei sicher, daß er immer gute Ernte habe. Unser Knecht fragte den Michel, ob er nie nachgeforscht habe, ob der Stock allein ihn schlage, ob nicht vielleicht die alt' Babi an einem Ende des Stockes hänge. Michel kratzte sich hinter den Ohren und erklärte, daß das nicht möglich sei. Als wenn aber von ganz anderem die Rede gewesen wäre, setzte er schnell hinzu, im Lande sei es mit dem Bettelbrandeln nichts, da seien die Menschen so karg; aber droben im Badischen, in der Schweiz auf den einzelnen Höfen seien die Menschen gar gut. Geld schenken sie nicht gern, aber Erbsen, Bohnen, Mehl, Kartoffeln, was man nur schleppen könne, und das mache er zu Geld. Da brauche ich nur meinen Brandbrief mit dem roten Siegel zu zeigen und zu sagen: »Ihr lieben Leute, danket Gott, daß er euch vor Feuerschaden bewahrt; seht mich an, mir hat's mein Hab und Gut verbrannt, und ich muß betteln, und gebt nun einen Gotteslohn, daß er euch für ewige Zeit vor Feuer bewahre! – Kaum habe ich das gesagt, da sind sie dir voll Mitleid, Männer, Weiber und Kinder; aber ich weiß nicht, was es ist, sie haben alle ein grausames Bangen vor mir, besonders wenn ich da auf die Narbe an meiner Wange zeige, und über Nacht haben sie mich nirgends gern, wenn ich sage, daß ich ein abgebrannter Mensch bin; wo ich über Nacht bleiben will, fordere ich meine Gabe immer erst am andern Tag.« So lebte nun der Michel viele Jahre. Wenn er heimkam – es war kein wohliges Daheim –, hatte er's in den ersten Tagen immer ganz gut; kaum aber war der zweite Sonntag vorüber, gab es keine gute Stunde mehr, dafür aber um so schlechteres Essen, und wenn er klagte, hieß es, er sei an Leckereien gewöhnt.
Darum ging er auch immer wieder gern in die Fremde.
Als die alte Babi starb, vertraute er unserem Knecht, daß er nun sein Bettelleben aufgeben wollte; wenn er sich's recht überlege, so habe ihn eigentlich die alte Babi dazu verhext.
Aber das Sprichwort muß wahr sein: Wer einmal ein Paar Schuhe auf dem Bettelgang zerrissen hat, der hat keine Ruhe mehr.
Kinder hatte der Michel nicht, und so wanderte er wieder fort. Die Käthe gab ihm eine Strecke Wegs das Geleit, und auf dem Heimweg sammelte sie Futter für ihre Kuh und ihre Ziege.
Manchmal kam der Michel auch den Sommer nicht nach Hause. Man staunte im Dorf kaum mehr, wenn er wiederkam, die Wanderschaft des Michel erschien als ein guter Nahrungszweig. Ja, es boten sich ihm manche an, Kameradschaft mit ihm zu machen, aber er nahm niemand mit.
Es sind wohl jetzt zwanzig Jahre her, da standen viele aus dem Dorf vor unserem Haus. Der Schlosser stand oben auf der Leiter und nagelte eine kleine viereckige Blechtafel an den Balken unter dem Mittelfenster. Auf der Tafel war in Gold eine zackige Flamme abgebildet, draus schwang sich ein goldener Vogel empor und drunter stand: »Feuerversicherungsgesellschaft Deutscher Phönix«.
»Was ist denn das? Phönix?« fragten die Umstehenden.
Der Schulmeister erklärte, daß er Agent der Gesellschaft sei, die diesen Namen führt. Phönix sei nach der Sage der alten Ägypter ein heiliger Vogel, der viele tausend Jahre lebe, und es lebe immer nur einer; wenn er sterben wolle, so verbrenne er sich in einem Feuer von lauter Myrrhen, und dann käme wieder ein junger Phönix heraus, der wieder viele tausend Jahre lebe. Der Schulmeister schärfte den Bauern sehr eindringlich ein, daß das nur eine Fabel sei, aber man habe es als ein schönes Sinnbild zu der guten Anstalt gewählt, die dafür sorge, daß der Mensch mit seinem Hab und Gut unbeschädigt aus dem Brandunglück hervorgeht. Und so habe sich die Gesellschaft genannt, weil sie einem jeden gegen mäßige Versicherung den Schaden ersetze, der ihm durch den Brand zugefügt wird. Er knüpfte die Mahnung daran, daß ein jeder in die Versicherungsgesellschaft eintrete.
»Da kommt unser Phönix«, hieß es plötzlich, und alle Blicke richteten sich nach dem oberen Dorf, wo eben der Michel von der Wanderschaft heimkehrte.
Auch der Michel blieb bei der Gruppe stehen und fragte, was das sei.
»Das bist du«, hieß es allgemein, »du bist auch so ein Vogel Phönix. Der Michel heißt Phönix. Willkommen, Phönix! Guten Tag, Phönix! Wie geht dir's, Phönix?«
Von allen Seiten hagelte es Spott und Witz – und der Witz war gar nicht feinkörnig – auf Michel herab. Niemand bot ihm eine Willkommenshand, und jetzt zum erstenmal sah der Michel, daß er nicht wie ehedem gering angesehen im Dorf war, sondern daß man ihn verachtete, und das hatte er doch nicht geglaubt. Er ging weiter durch das Dorf und hob den Stock hoch, als wollte er jeden, der noch ein Wort gegen ihn wagte, damit züchtigen. Aber es kümmerte sich weiter niemand um ihn, und so senkte er den Bettelstock wieder zur Erde. Zu Hause sagte ihm die Frau:
»Du hast wohl schon etwas draußen gegessen? Ich habe nicht gewußt, daß du heute kommst, ich hab' nichts.«
Michel nickte. Er hatte freilich Hunger gehabt, aber er war ihm jetzt vergangen.
Als er am andern Morgen vor sein Haus trat, sah er, wie überall an Tür, Fensterladen und Balken mit Kreide angeschrieben war: »Phönix«.
Michel war voller Wut, er nahm seinen Stock und wollte sogleich wieder in die Fremde. Er ging auch davon, aber draußen im Weiherwald an der Hecke, wo er vor Jahren den Stock geschnitten hatte, stand er unversehens still und lächelte vor sich hin. Dann plötzlich wandte er sich, wie wenn ihn jemand umgedreht hätte, und ging wieder ins Dorf zurück, geradewegs zum Schulmeister.
»Sie heißen mich den Phönix«, sagte er zum Lehrer.
»Das ist gerade keine Schande.«
»Sie meinen's aber so, und sie können recht haben. Jetzt, Herr Lehrer, ich habe fragen wollen, ob ich auch so eine Tafel haben und auch in die Gesellschaft eintreten kann?«
»Warum nicht?«
»Warum nicht? Weil, weil –« es wurde dem Michel schwer, seinen Grund herauszubringen, er konnte nicht sagen, wie verachtet er sich fühlte; endlich sagte er: »Ich möchte nicht, daß die Gesellschaft in Unehre kommt, wenn ich auch dabei bin.«
Der Lehrer erklärte ihm, daß das nicht der Fall sei; er zeigte ihm eine große Kiste mit Blechtafeln, und der Michel sagte:
»Ja, ja, wer diese alle anheften könnte, der hätte was getan in der Welt.«
Als die Schulmeisterin in die Stube kam, bat der Michel den Lehrer, mit ihm in ein anderes Zimmer zu gehen; dort sprach er lange, und er muß Gutes gesprochen haben, denn der Lehrer gab ihm das Geleit bis vor das Haus und reichte ihm draußen noch einmal die Hand.
»Ja, ja, sie sollen mich nur Michel Phönix heißen«, sagte er leise zum Lehrer, »das ist gut, das soll eine Ehre werden.«
Er ging durch das Dorf und lächelte immer vor sich hin und lächelte alle Begegnenden an.
Michel war der zweite im Dorfe, der in die Feuerversicherung eintrat, auch an sein Haus wurde die Tafel angenagelt.
Er blieb nun im Dorf, und als die Blätter an den Bäumen gelb wurden, fragten ihn die Leute: »Gehst du denn nicht mehr fort?«
»Ich kann gehen und bleiben, wie ich will«, entgegnete der Michel. Aber oft war er beim Schulmeister, und die Leute sagten, er lerne aufs neue Lesen und Schreiben.
Seit Jahren hatte Michel keinen Schnee im Dorf gesehen, aber in diesem Jahre, als der erste Schnee fiel, läutete es wieder von der Kirche, und der Michel ging wieder den Berg hinan, auf dem die Kirche stand, aber Käthe ging nicht mit ihm, sie wurde vorausgetragen und nicht weit von ihrer Mutter begraben. Michel war nun einsam, und er blieb allein in seinem Haus. Die Leute sagten, er werde sich auf sein Alter noch gute Tage machen und sich, da er wohlhabend war, eine junge Frau holen und sich pflegen lassen. Daran war aber bei ihm kein Gedanke.
Es war kurz vor Neujahr, da stand der Michel in der Küche am Herd. Er schaute sich scheu um, dann nahm er den vergriffenen und vielbeklebten Brandbrief aus der Tasche und legte ihn auf das Feuer. Er sah zu, wie das große Siegel zuerst Blasen zog und dann zerschmolz. Mit heftiger Anstrengung faßte er dann den Stock, brach ihn überm Knie entzwei, legte die Stücke auf das Feuer, blies in die Flammen und schrie: »Fort, Bettel! Feuer, bist tot, tot!« Die Brandnarbe an der linken Wange glühte, aber immer mehr blies der Michel in das Feuer, er stand dabei, bis Brief und Stock zu Asche verbrannt waren.
Es war im vergangenen Jahr, da traf ich in einem einsamen Wirtshaus des oberen Gebirges eine große Versammlung von Landbewohnern. Hinter dem Tisch saß ein altes Männchen und hatte Dutzende von schimmernden Blechtafeln vor sich ausgelegt. »Ihr lieben Leute«, predigte er, und obgleich man wohl merkte, daß er das schon oft vorgebracht, hatten seine Worte doch einen eigenen bewegten Ton, »Ihr lieben Leute! Es ist eine große Sache in die Welt gekommen, eine schöne, eine gute, eine brave und eine ehrliche; alle guten Worte passen darauf. Das Beste auf der Welt und das Schönste ist das Feuer, aber auch das Schlimmste und das Häßlichste auf der Welt ist das Feuer. Jetzt haben sich die Menschen zusammengetan und sagen: Was es Böses tut, wollen wir auslöschen, und wer das nicht hören will, mit dem soll man kein Mitleid mehr haben, und man soll ihm keine Gabe geben, wenn er ins Unglück gerät. Warum hat er nicht in guten Tagen vorgesorgt, in ruhigen? Oh, ihr lieben Leute! Viele von euch haben mir Gutes getan und kennen mich von ehedem. Und jetzt möchte ich euch was Gutes tun. Seht mich an, meine Backe ist verbrannt vom Feuer, aber in meiner Seele ist noch mehr verbrannt, ich bin ein Brandbettler geworden. Wenn ich euch erzählen wollte, wie schwer und wie elend das ist, bis morgen früh wär' ich nicht fertig. Drum, wer das rechte Herz und den rechten Verstand, der tut jetzt dazu und tritt mit ein in die Genossenschaft. Da haben die Menschen etwas erfunden, was man sich nicht hätte denken können, das kann grausam schaden, und dagegen muß man helfen. Seht, da stehen die Zündhölzchen. Es ist mir recht, daß ihr lacht. Ihr wißt, wie schnell das eine Flamme gibt, aber dagegen hat man ein Heilmittel finden müssen, und das ist mein Löschblech, die Feuerversicherung.
Sagt nicht, daß dadurch mehr Brandstiftungen kommen; da lest, da werdet ihr alles sehen, nehmt's mit heim, glaubt mir, es tut euch gut und euren Kindern; ich bleibe noch mehrere Tage in der Gegend, und morgen gehe ich von Haus zu Haus, und da bringe ich die Täfelchen mit, und wer will, dem nagle ich's gleich fest. Seht, das sind gute Nägel, die halten brav. Und sie heißen mich den Phönix, und ich bin's gern.«
Er verteilte Zettel und Schriften an alle Anwesenden, worauf das Nähere zu lesen war.
So sprach und tat das Männchen. In mir war sofort eine Erinnerung aufgetaucht, und die Brandwunde machte ihn ja kenntlich: das ist der Michel Phönix aus meinem Geburtsdorf. Aber es erschien mir kaum möglich, daß das Männchen so redefertig geworden sei. Ohne von seinem Stuhl aufzustehen, sagte er zu mir herüber, da ich an einem anderen Tisch saß:
»Ich rede nichts gegen andere Gesellschaften, die sind auch gut, und wer da eintritt, tut ebenso recht. Sind Sie vielleicht auch ein Agent?« sagte er, aufstehend und an meinen Tisch tretend.
Ich verneinte und sagte ihm, daß ich ihn wohl kenne, ich erinnere mich seiner Hochzeit und seines Hausbrandes.
Er war nun ganz glückselig, ein Ortskind in der Fremde zu treffen, und wir saßen wohlgemut beisammen. Ich mußte mit ihm auf die Gesundheit unseres Knechts anstoßen, der doch schon lange gestorben war. Und immer aufs neue sagte er: »Sehen Sie, ich bin jetzt siebzig Jahre alt, ich habe mein Leben im Elend verbracht. Warum ist das nicht früher eingerichtet worden? Und ich verstehe nicht, warum die Regierungen das Hausieren in dieser Sache nicht erlauben wollen. Ich muß das Gute heimlich tun und jede Minute gewärtig sein, daß mich ein Landjäger ins Gefängnis führt. Und doch ist es so. Man muß den Leuten ins Haus kommen, denn nach einer guten Sache ausgehen, das tun die wenigsten.«
Er erzählte mir, daß er über tausend Täfelchen angeschlagen habe, und er hoffe es noch zu zehntausend zu bringen, wenn ihm Gott noch fünf Jahre Leben schenke.
Wir saßen lange beisammen, und er erzählte viel. Als ich am andern Morgen vor das Wirtshaus trat, stand der Michel oben auf der Leiter und nagelte eine Tafel an das Wirtshaus.
»Euch ist's wohl da oben!« rief ich hinauf.
»Oh wie wohl! Das ist meine Leiter, auf der ich in den Himmel hinaufsteige und den Menschen das Leben sicher machen helfe. Und ich bekomme jetzt noch was Neues dazu. Die Rinderpest ist eine gute Sache!«
»Die Rinderpest gut?«
»Ich mein' nicht so, ich meine es anders. Nächstens hausiere ich auch für die Viehversicherung, jetzt sind die Menschen eher dazu zu bringen.«
Der Michel wandert noch durch die Lande, und wohl denen, die ihr Haus erst damit festfugen, daß sie es mit der Tafel schmücken, sei es in dieser, sei es in jener Gesellschaft
Einen Gast bei Tisch zu haben, dem es wohl schmeckt, das gehört zu den schönsten Freuden, und ähnlich ist das Wohlgefühl, einem von fern her gekommenen Freund den Heimatort und die Schönheit seiner Umgebung zu zeigen.
In solcher Empfindung ging an einem klaren Sommerabend der tapfere Tribun (es ist das sein Spitzname von der Universität her und er hat in seiner kernhaft festen Art in der Tat etwas von einem römischen Volkstribun) vor dem Tor einer mitteldeutschen Residenzstadt in Gesellschaft eines alten Studiengenossen aus Bayern, der ihn nach langjähriger Trennung endlich einmal besucht hatte. Der Tribun fuchtelte mit seinem Spazierstock herum wie vor Zeiten als Student, denn er schlug damals eine gute Klinge, und die Quarten und Terzen, die er jetzt in die Luft schlug, waren eigentlich nur äußere Zeichen auftauchender Jugenderinnerungen. Wie noch sein dreifarbiges Burschenband über dem eingerahmten Bild der unvergeßlichen Stadt Heidelberg hängt, so bewahrt er in seiner Seele alle Erinnerungen der Vergangenheit.
Es bezeichnet den Kernpunkt seines ganzen Geschickes, wenn man die einfachen Tatsachen seines Lebens erwähnt. Er hat seine erste Liebe geheiratet, hat in seinem Geburtsort eine hohe Stellung erreicht und – hat nie einen Freund verloren.
Die beiden Freunde standen auf einer Anhöhe, von wo aus man rückwärts gewendet die Stadt, den Strom und die in weiten Bogen sie umschließenden Berge überschauen konnte. Der Tribun weidete sich an dem erquicklichen Ausblick in die Landschaft und am Anblick seines Freundes, der seine silberne Brille mit der linken Hand fester ans Auge drückte und mit stillem Lächeln dreinschaute.
Während der Tribun schmächtig und straff geblieben war wie in seiner Jugend und nur die schlichten braunen Haare sich gelichtet hatten, hatte der Bayer, groß gebaut und stark, einen mächtigen Umfang gewonnen, und seine Haltung war bequem, ja man konnte ihm fast ansehen, daß er an die Equipage gewöhnt war, zu der ihm sein Beruf – er war Medizinalrat – verholfen hatte. Indem er jetzt den Hut lüftete und sich den Schweiß von der Stirn trocknete, zeigte sich ein volles schwarzes Haar über der großen weit gewölbten Stirn. Aus seinem Antlitz sprach eine feste Ruhe und sichere Güte, die sein Erscheinen am Krankenbett schon an sich zum Heilmittel macht, denn es geht eine Zuversicht davon aus, die unmittelbar kräftigt. Jetzt sagte er – und auch seine Stimme hat etwas Wohltuendes – zu seinem Freund: »Ich hätte mir deine Heimat doch nicht so schön gedacht.«
»Erinnerst du dich noch«, sagte der Tribun, »unseres Abschieds auf dem Schwalbennest bei Neckarsteinach? Wir tauschten noch im letzten Augenblick die Mützen, ich hatte die deinige noch lange, bis meine Mutter sie während meiner Gerichtsstudien in Paris einem jungen Handwerker schenkte.«
Lautlos gingen die beiden Freunde miteinander über die Hochebene, aber in ihrem Innern tönte helle Freude. Denn wenn zwei Freunde nach langer Trennung beisammen sind, sich in der Gegenwart haben und die Vergangenheit aus dem Schlummer erwecken, da ist über der gewohnten Welt eine zweite Welt; es ist als wäre die Luft von der Erde bis zum Himmel hinauf voll heiter lächelnder Kindergesichter, Kopf an Kopf ...
»Dort ist unser Ziel«, sagte der Tribun, den Gastfreund zum Vorsprung des Berges führend.
»Ein herrliches Tal, und das so nahe der Stadt!« rief der Gastfreund. »Was ist das dort für eine Burg, und wem gehört sie?«
»Ja, wohl ist's eine Burg, und sie gehört dem Ritter von viel Furcht und viel Tadel, und doch ist er der Held unserer Zeit. In seinen festen Verliesen schmachten übermütige gewaltige Gefangene, und Scharen ziehen aus, sie zu erlösen und unter klingendem Spiel, unter Pauken- und Trompetenschall werden sie begrüßt. Freue dich, du bist zu Hause, das ist unsere Bayrisch-Bierburg, und der Ritter, der hier haust, hat den Schildspruch actiis unitis (mit vereinten Aktien).«
»Also auch hier?« bemerkte lächelnd der Gastfreund. »Und der stille Widerhall des stromdurchrauschten Tales wird gestört durch allerlei Operngedudel!«
»Drum hab' ich dich hergeführt, weil heute der einzig stille Tag hier ist, wo man noch ein gutes Wort miteinander reden kann beim frischen Trunk.«
»Wie lieblich muß dieses Tal gewesen sein, bevor die Lokomotive es mit schrillem Pfiff durchbrauste und bevor die große Trompete hier an diesem schönen grünen Fleck den Kuckuck verscheuchte.«
»Ja, wohl geht vieles zum Kuckuck in unserer Zeit, aber ich lasse mir den Glauben nicht nehmen, daß eine andre Welt mit neuer Schönheit auch in unsrer Zeit sich vorbereitet und teilweise schon sich auftut.«
Und wo zwei denkende Freunde heutigentags beisammen sind und eine Stunde frohen Wiedersehens feiern, da drängt die Seele alsbald hinaus nach den Wünschen, Fragen und Hoffnungen für das Vaterland und die höheren Anliegen der Menschheit. In dem Freudenfeste, wo einer sich am Denken des andern erlabt, gilt der erste nicht befohlene Trinkspruch der großen Gemeinschaft.
Während die Freunde den Berg hinabstiegen, standen sie oft still und sprachen zueinander von den zerstörten Hoffnungen für das Vaterland und die glückliche Erhebung der Menschheit. Das Wiedersehen war erst jetzt ein volles, da sie sich nicht nur in leiblicher Erscheinung wiedererkannten, sondern da auch ihr Geistesblick sich begegnete im Ausschauen nach demselben Ziel für das Vaterland und die Menschheit.
Man war im Wirtsgarten angekommen; der Tribun schlug mit seinem Stock auf einen unbesetzten Tisch nahe dem Bach und befahl dem Kellner, zwei Glas Lagerbier zu bringen. Dann, als der Tribun den ersten Trunk gekostet hatte, setzte er das Glas nieder und sagte: »Das ist noch ein geschichtlicher Überrest von einem gestern angezapften Faß. Das ist welk. Man muß frisch anstechen.« Er rief abermals den Kellner und sagte ihm, er möge den Braumeister herschicken.
»Er kann nicht kommen.«
»Ist er zu Haus?«
»Ja, er ist beim Verladen, und da läßt er sich nicht abrufen.«
»So sagen Sie ihm, der Präsident Holzwart sei da und ließe ihn bitten, ein frisches Faß anzustechen. Es ist schon lange meine Idee«, setzte er zu dem Freunde gewandt hinzu, »daß alles Gestrige zu geringerem Preise ausgeschenkt werden soll, und unser Braumeister ist mit mir einig. Sieh! Dieser Mann ist ein Beispiel jener neuen Menschen, deren Dasein und Wirken uns eine neue Welt bringt, eine andere, als wir aus unsern Studierstuben heraus meinten, aber doch eine schöne. Da lobt man immer die alten Zunftmeister mit ihren ehrenfesten, biederen, aber auch beschränkten Gewohnheiten, da lobt man die Selbständigkeit und glaubt, nur darin stecke jene geschlossene Bürgertugend. Hier unser Braumeister – ich habe als Mitglied des Verwaltungsrates viel mit ihm zu tun, er ist äußerst bestimmt und gerad –, hier unser Braumeister ist einer jener neuen Menschen, die die Sittlichkeit nach unsern gegebenen Verhältnissen erneuern. Er ist, wenn man's genau nehmen will, unselbständig, ist Diener einer Gesamtheit, aber nicht nur ist sein Vorteil mit dem der Gesamtheit verbunden, er selber überwacht den unsern mit einer Strenge und einem Eifer, die viel höher sind, als wenn er sie bloß auf seinen Privatbesitz anwendete. Und solche Menschen wie dieser Beyderlinden sind die natürlichen Einungsmeister der Zukunft.«
»Beyderlinden? Wenn das mein Jugendgenosse wäre! Gewiß, er ist's, ich will zu ihm.«
»Bleib doch, was hast du? Was willst du von unserem Braumeister?«
»Ich hatte auf der Schule einen treuen Kameraden dieses Namens. Als ich zur Universität ging, wurde er Bierbrauer. – Wenn er es wäre! Ich habe so lange nichts von ihm gehört.«
»Ein Studiengenosse Bierbrauer?« fragte der Tribun.
»Ja, er war eine eigentümliche derb-kräftige Natur. Wir hatten eben miteinander das Universitätsexamen bestanden, er sollte Jurist werden, sein Vater war Generalkassierer, da stellte sich eine namhafte Kassendifferenz heraus. Die Untersuchung war langwierig und verwickelt, der Vater Guidos wurde verhaftet, und Guido war kurz entschlossen und ging bei einem Braumeister in die Lehre. Er wollte nichts mehr von der Staatslaufbahn wissen und war überhaupt von jeher ein Mensch, der sich mehr zu den praktischen Tätigkeiten hingezogen fühlte. Ich habe seitdem nichts mehr von ihm gehört. Jetzt, da ich so bei dir sitze und dich habe, wie in den Tagen, als wir die dreifarbige Mütze trugen, jetzt steigen mir auf einmal Erinnerungen auf an so viele, viele Menschen, mit denen ich ein Stück Leben verbracht; sie haben es mit fortgenommen, wohin? ... Komm mit, komm, wir wollen ihn aufsuchen. Das wäre mir eine wunderbare Fügung, wenn ich durch dich alten, treuen Gesellen noch einen andern wiederbekäme.«
Der Tribun wehrte ab, und als er ein frisches Glas gekostet hatte, sagte er auf seine neckische Weise: »Sei stolz, ein Bayer zu sein. Ihr erobert die Welt. Der Strom der Bildung breitet sich mit dem bayrischen Bier aus. Ja, lache nur, es ist Tatsache: Mit dem bayrischen Bier breitet sich in Amerika das deutsche Element aus, und das deutsche Lied erschallt.«
»Guten Tag, Herr Präsident!« sagte plötzlich eine kräftige, volltönende Stimme, und die beiden Freunde zuckten zusammen; denn aus dem abgeschlossenen Privatgarten kommend, stand plötzlich der Braumeister vor ihnen; eine markige Erscheinung. Er lüftete ein wenig seine grünsamtene aufgestülpte Mütze.
Der Präsident (wie der Tribun eigentlich im Staatskalender hieß) reichte ihm die Hand. Er hatte das noch nie getan, denn er ist ein wenig streng in der Form und tut nie das einemal, was er das andremal unterlassen könnte. Jetzt aber hatte er ihm unwillkürlich die Hand entgegengestreckt, und der Braumeister verneigte sich lächelnd und sagte entschuldigend, »Wenn der Herr Präsident etwas mit ihm zu reden habe, möge er noch eine Weile Geduld haben, es sei ihm jetzt rein unmöglich auch nur eine Viertelstunde wegzukommen, er wolle aber, wenn es gewünscht werde, anderentags in die Stadt kommen. Der Gastfreund war aufgestanden und rief mit bebender Stimme: »Guido, bist du's denn? Bestelmaier! Ist's denn möglich?«
Der Braumeister stutzte. »Ich weiß nicht«, sagte er, »ich heiße allerdings mit meinem Vornamen Guido, aber Bestelmaier – wer kann mich hier so nennen?«
»Kennst du denn deinen alten Fiedler nicht mehr?«
»Herrgot, ja!«
Und die beiden Freunde lagen sich in den Armen.
Der Braumeister riß sich zuerst los, und jetzt fragte er, und seine Lippen waren blaß, als er die Worte sagte: »Wie kommst du denn hierher? Was bist du denn jetzt? Verzeih, ich darf eigentlich nicht mehr du sagen.«
»Ich bin dein alter Karl und was ich sonst noch bin, daß ich Medizinalrat heiße, das gilt für die Welt, nicht für dich, für dich heiße ich Karl. Punktum.«
»Ja, ja, gut, ein rechtschaffenes Gemüt bleibt sich gleich, ja, ja, es freut mich, daß wir einander wiedersehen; aber das ist jetzt anders.«
»Was anders! Komm, setz dich her. Einen glückseligeren Tag habe ich noch nicht im Leben gehabt. Hast du denn noch nie hier mit meinem alten Freund Holzwart von mir gesprochen? Habt Ihr meiner noch nie erwähnt? Wie ist das möglich?«
»Wie konnten wir wissen«, schaltete sich Holzwart ein, und der Braumeister setzte hinzu: »Ich muß um Entschuldigung bitten, es wartet alles auf mich, ich kann mich jetzt nicht setzen. Wenn die Herren in einer Stunde noch da sind, dann komme ich wieder«, und auf seine Kleider niederschauend, schloß er: »Ich werde mich auch danach ankleiden.«
»Was da, nichts da, du hast noch nicht ein einziges Mal Karl zu mir gesagt«, rief der begeisterte Gastfreund, »ich merke schon, wie du drum herumgehst. Du darfst nicht vom Fleck, bis du mit mir angestoßen hast. Da, nimm das Glas Holzwarts und stoß mit mir an. Sag auch: ›Auf deine Gesundheit, Karl!‹«
Dabei faßte er das Glas, der Braumeister wiederholte aber mit stockender Stimme die Worte, dann setzte er das Glas rasch nieder, wandte sich ab und sagte: »Ich komme bald wieder.« Und fort ging er.
Nach den ersten Kundgebungen der Überraschung erzählte der Gastfreund weitere Einzelheiten aus dem Leben des Braumeisters. »Es geht dir gewiß auch so«, sagte er, »man wollte es in der Jugend nicht glauben, daß ganze Existenzen, ganze Familien spurlos weggewischt werden. Man glaubt an die Dauer von so vielem, und wenn man dann das Leben überschaut, ist so manches spurlos verschwunden, und was ewig zu ragen schien, ist verwittert. Man erlebt im Privatleben untergegangene und neu erstehende Reiche und Dynastien. Da war in meiner Vaterstadt das Haus des Generalkassierers Beyderlinden. Das war ein Schicken, Kommen, Gehen von und nach dem Haus, und nun erinnert sich kaum mehr ein Mensch, wer dort in dem stattlichen Haus gewohnt hat. Mann und Frau und Sohn waren zerstoben. Und eine jovialere Natur als den Generalkassierer hat es schwerlich gegeben. Wie er selbst behäbig und wohlgemut war, so wollte er auch alles um sich her haben. Er war, wie man ihn mir später schilderte, eine jener jovialen Naturen, die nur heitere Gesichter um sich her sehen wollen, äußerst großmütig, natürlich in der unbezweifelten Voraussetzung, daß alles sich seinen Launen fügte; er verstand sich von selbst, daß er tonangebender Herr in allen Gesellschaften war. Er war natürlich Präsident im Kasino wie in jedem andern Verein, und sogar die Offiziere der Garnison erkannten ihn selbstverständlich als den Leitenden an. Denn er war auch mit dem Hauptmannsrang aus dem Militärdienst in die Finanzverwaltung übergegangen. Widerspruch konnte er nicht vertragen, und ein Witzwort war über ihn in Umlauf: er verwechsle den Begriff Vorsitzender mit Vorgesetzter. Dennoch fügte sich ihm alles. Die Frau war eine vortreffliche Sängerin, und sie hatte sich einen eigenen Gesangverein aus Männern und Frauen der Honoratioren gebildet, und alles was auf Bildung Anspruch machte, suchte im Hause heimisch zu sein. Ja, ich erinnere mich noch, bei dem Vortrag eines Oratoriums in der Hauptkirche den Gesang der Einzelstimme von ihr gehört zu haben, sie hatte einen mächtigen ergreifenden Diskant. Im Hause ging es immer hoch her, es fehlte nie an Gästen, und die beiden Schimmel, die sich der Herr Generalkassierer hielt (ein Pferdekontingent gehörte zu seinem Amt), hatten das schönste Geschirr und trabten stolz auf der Straße dahin. Ich kam oft ins Haus. Guido hatte als Kind das schönste Spielzeug und als Jüngling die wertvollsten Bücher. Auch eine vollständige Tischlerwerkstätte hatte ihm sein Vater eingerichtet und ihm einen Lehrmeister gestellt, der ihn wöchentlich mehrere Stunden unterrichtete; denn Handarbeiten waren immer Guidos höchste Lust, und er gewann viel Geschicklichkeit. Und weil er allerlei zu bosseln oder, wie man bei uns sagt, zu besteln verstand, hatte er den Spitznamen Bestelmaier. Ein Jahr vor unserem gemeinschaftlichen Abgang zur Universität machte er allerlei chemische Versuche. Er durfte nur wünschen, und sein Vater schaffte ihm alles an, denn er war das einzige Kind. Man munkelte in der Stadt immer, daß es beim Generalkassierer nicht mit rechten Dingen zugehen könne; aber man ließ sich's einstweilen wohl bei ihm munden, und bei der Revision fand sich immer alles in bester Ordnung. Da brach plötzlich das Ungewitter herein. Es zeigte sich eine große Kassendifferenz, und bei der Verhaftung des Generalkassierers fiel etwas vor, von dem man noch lange redete und das noch heute nicht aufgeklärt ist. Auf dem Tisch standen Lichter zum Einsiegeln der Papiere, da griff der Generalkassierer in die Seitentasche, holte ein Papier heraus und verbrannte es. Man hat nie erfahren, was das war. Die Mutter hielt es in der Stadt nicht mehr aus, wo alles verkauft wurde. Sie zog sich in ein kleines Städtchen zurück, aus dem sie stammte. Als ich mit dem grünen Ränzchen auf dem Rücken zur Universität zog, begegnete mir in jenem kleinen Städtchen ein junger Mann, mit der hohen Lederschürze angetan, den Hammer im Brustlatz steckend, vorgeneigten Kopfes dahergehend, eine schwere Bütte auf dem Rücken. Ich blieb stehen: »Ist das nicht?« Er erkannte mich, es war Guido. Er reichte mir die Hand und stemmte einen Stock, den er in der Hand trug, unter die Bütte und richtete sich auf. Ich konnte nicht reden vor innerer Bewegung, er aber sagte: »Du wunderst dich wohl über mich? In anderen Zeiten wäre ein Bursche wie ich unter die Soldaten gegangen oder gar in eine Schauspielerbande. Ich bin unter die Arbeiter gegangen. Ja, ich will euch Studenten das Bier brauen, damit ihr fidel sein könnt. Sieh mich nicht so traurig an. Glaub mir, wenn mein Vater frei und in Ehren wäre, so wäre ich einer der glücklichsten Menschen auf der Welt. Mir ist das Handwerk lieber als alles andere.« Das war das letztemal, daß ich mit ihm sprach. Er ging langsam und behutsam auftretend, damit das Jungbier in der Bütte nicht überschwappe, davon. Ich schaute ihm lange nach. Es war immer etwas selbständig Entschlossenes in ihm. Bei aller Zartheit des Gemüts hatte er etwas schroff Abwehrendes, bei aller Verwöhnung etwas Bedürfnisloses behalten. Ich habe ihm später einmal von der Universität aus geschrieben, habe aber keine Antwort bekommen und bis zu dieser Stunde nichts mehr von ihm gehört.«
Die Abenddämmerung begann bereits, als der Braumeister wohlgekleidet wiederkam. Holzwart, den ein Bekannter aus der Stadt angesprochen hatte, gesellte sich zu diesem; er wollte die Freude des Wiedersehens den beiden gern allein lassen. Sie saßen in der Tat auch wohlgemut beisammen, und der Medizinalrat begann dem Jugendfreund Vorwürfe wegen seines Mißtrauens gegenüber den höheren Ständen zu machen, da er ihn trotz des innersten Herzensdranges habe fremd behandeln wollen. Der Meister erwiderte: »Kann sein, daß ich auch etwas bekommen habe von dem Mißtrauen, das alle handarbeitenden gegen die federführenden Stände haben; und ich habe auch manche Erfahrung gemacht, die mich darin bestärkte. Doch, du bist treu, treu wie Gold. Bist du verheiratet?«
»Ja, ich habe meine Frau bei mir; sie ist bei der Frau des Präsidenten, die eine Landsmännin von uns ist, eine gediegene, prächtige Natur, oh, die wird sich auch freuen, einen Landsmann hier zu finden. Die Frauen laufen heute miteinander in den Kaufläden umher. Von allen Sehenswürdigkeiten einer Stadt sind den Frauen doch im Grund des Herzens die Putzläden die wichtigsten, und um zwei Groschen billiger einkaufen ist ihnen höchster Triumph. Aber morgen kommen wir beide mit den Frauen zu dir heraus. Ich seh' dir's an, du hast doch auch eine Frau?«
»Ja, und zwei Knaben, frische Pudelköpfe, sie sind auch nach der Stadt; wir haben morgen zu Johanni hier ein großes Sommerfest. Erzähle, wie erging es dir?«
»Gut, recht gut. Natürlich ist in jedem Leben noch etwas zu wünschen übrig. Aber ich meine, es ist undankbar und sündhaft, wenn man nicht immer und vor allem das Gute erkennt, das einem geworden, und wegsieht über das Fehlende. Ich habe viel Glück in meinem Beruf gehabt. Er ist beschwerlich, aber ich kann auch viel Gutes bewirken.«
»Erinnerst du dich, wie ich dir damals, als meine Mutter noch lebte, zum letztenmal mit der Bütte auf dem Rücken begegnete und dir die Hand bot?«
»Jawohl«, sagte der Medizinalrat und holte tief Atem. Er war stark genug, um sich so zu halten, als ob er die Nachricht vom Tod der Mutter schon gekannt hätte; denn er wußte, wie es beim Wiedersehen nach langer Trennung doppelt bitter ist, im raschen Erwecken schmerzlicher Ereignisse alte verharschte Wunden aufzureißen. Und doch konnte er sich nicht bezwingen, aus dem plötzlichen Schreck heraus zu einem andern Wort zu greifen, und wieder schalt er sich innerlich und nannte es Selbstsucht, daß er die Freude dieser Stunde nicht durchbrechen und sein volles Mitgefühl nicht bekennen wollte.
Die beiden schwiegen eine Weile. Der Freund hatte nicht den Mut, nach dem Vater zu fragen, und der Braumeister wußte nicht recht, wie er von ihm reden sollte, und es verdroß ihn auch, daß der Freund das Thema mied. Diese Schonung tat ihm fast weher als eine Verletzung. Dennoch sagte er endlich: »Mein Vater war noch mehrere Jahre bei mir. Er saß droben auf der Schreibstube und war pünktlich in seinem Amt. Nur wenn ihn einer gesehen, der ihn in seinen alten Verhältnissen gekannt hatte, war er wochenlang unglücklich. Es war etwas in ihm, wie wenn ihn die Ketten der Gefangenschaft in die Seele geschnitten hätten. Meine Frau hat sich bis zu seinem letzten Augenblick das Himmelreich an ihm verdient.«
Der Freund reichte dem Braumeister über den Tisch hinüber still die Hand.
Sie sprachen nun noch von ihren Jugendgenossen und – verdorben, gestorben hieß es oft. Nur wenige hatten Schicksal und eigene Willenskraft zu würdigen Zielen geführt.
»Laß uns ins Haus gehen, es wird kühl«, sagte der Braumeister, und ich sitze nicht gern im Freien. Du weißt noch von unserer letzten Turnfahrt her, ich marschiere so gern und so weit als irgend jemand mag, aber beim Sitzen, Essen und Trinken, da bin ich gern unter Dach. Komm herein in meine Stube, nimm den Präsidenten auch mit, wenn er will; den Mann habe ich schon lange gern gehabt. Wenn nur ein Zehntel der Menschen so wäre wie der, da wäre die Welt ein Paradies. Mir ist es jetzt, wie wenn mir immer eine innere Stimme gesagt hätte: Das ist eigentlich ein alter Jugendfreund von dir, mit dem du dich in froher Jugendlust umhergetummelt hast. Und jetzt merke ich's, du bist's eigentlich gewesen, der in ihm gesteckt und mich zu ihm hingezogen hat. Ich bin sonst hier noch gar fremd, ohne Wurzel, die Leute sind mir hierzulande zu höflich und verschliffen; man muß bei allem, was sie sagen, zu viel Höflichkeitsrabatt abziehen. Der Präsident aber, bei dem ist's anders. Er ist der einzige, der den Grundsatz geltend macht, daß weder die Aktionäre noch die Herren der Verwaltung das Entscheidende bei Gedeihen oder Mißraten einer solchen Unternehmung sind, sondern wesentlich der Braumeister. Ich sage das nicht, weil ich diese Stellung habe, sondern weil es im allgemeinen notwendig ist, daß diese Ansicht vorwaltet. Er ist auch der erste der Direktoren gewesen, zu dem ich ein herzhaftes Zutrauen gefaßt habe, als sie damals nach Kulmbach gekommen sind.«
»Ja, das mußt du mir alles genau erzählen.«
Die drei gingen in die Stube. Hier hatte der Braumeister ein schmackhaftes Abendessen herrichten lassen, und als die Zigarren qualmten, sagte der Medizinalrat: »Morgen, Guido, komme ich in aller Frühe zu dir heraus, und da mußt du mir deine Geschichte ausführlich erzählen.«
»Ich erzähle dir's meinetwegen gleich«, entgegnete der Braumeister, »der Herr Präsident darf alles mithören.«
Dieser nickte und sprach dabei einige dankende Worte, und der Braumeister begann:
»Jener Mittag, es war am 23. September, steht, solang ich lebe, mir vor Augen. Du erinnerst dich, wir kamen zum letztenmal aus dem Gymnasium. Ich stand noch lange mit dir an der Ecke bei der Höckerin, und mir war so seltsam zumute, so frei und doch wieder so bang, als könnte ich nicht heim. Ich trat ins elterliche Haus, ein Landjäger an der Haustür fragte mich, wer ich sei. Ich eilte die Treppe hinauf. Auch hier ein Landjäger. Mein Vater war verhaftet worden. Ich höre noch, wie der Kriminalrichter ihn barsch fragte, was das für ein Papier sei, das er verbrannt habe. Er antwortete ruhig: ›Hab' dir's ja schon gesagt, es ist nur ein Spaß. Ich werde dir's näher erklären, wenn wir allein sind.‹
Ich sehe ihn noch, wie er weggeführt wird und wie er an seinem Schreibtisch im Vorübergehen schnell eine Prise nimmt aus der großen Dose, darauf Napoleon abgebildet ist; dann greift er mit beiden Händen, wie er es immer getan hat, an die beiden Westentaschen, um sicher zu sein, daß er hüben seine Uhr und drüben seine goldne Dose bei sich hatte, und doch hat er beide nicht mehr, man hat sie ihm beide abgenommen. Ich hab's in mir gespürt, wie ihm sein muß, als ob man ihm Herz und Lunge aus dem Leib genommen hätte. Er ist mir noch einmal mit der Hand über das Gesicht gefahren, wie er zur Tür hinausging, und hat nichts gesagt, als: ›Geh zur Mutter und bleib bei ihr, bis ich wiederkomme.‹ Und fort haben ihn die Gendarmen geführt. Wir haben neben dem Amtshaus gewohnt. Wie oft habe ich gesehen, wie verhaftete Menschen abgeführt wurden, aber es ist mir nicht in den Sinn gekommen, daß das auch andern Leuten geschehen kann als solchen, die geringe Kleidung tragen. Ich kann noch die Stelle bezeichnen, wo ich gestanden habe, lange, lange. Ich sehe noch den Rollstuhl, auf den mein Blick geheftet war, wie ich so dastand und es mir war, als spürte ich jetzt auf einmal, wie die ganze Erde rollt, und ich bin auf einem ganz andern Fleck, auf einer ganz andern Welt; ich muß ein sonderbarer Mensch gewesen sein, das sehe ich erst jetzt, wenn ich zurückdenke, was alles in mir vorgegangen ist – und hinter mir hörte ich den Untersuchungsrichter in den Papieren rascheln und sie zusammenpacken. Und wie aus dem Schlafe geweckt, schreckte ich auf, als der Beamte sagte: ›Gehen Sie hier weg von der Tür, ich muß sie versiegeln.‹ Als sie nun das Licht löschten und ich roch das Wachs – du weißt ja, mein Vater hat nie andre als Wachskerzen gebrannt – noch heute, wenn ich eine Wachskerze rieche, steht das alles lebendig vor mir. – Aber ich will mich nicht mehr so lang bei den Einzelheiten aufhalten. Wie ich so dahinstarrte, als sähe ich in eine fremde Welt, in das Chaos vor der Schöpfung... Ich glaube, daß jeder Mensch einmal in seinem Leben an einem Punkt gestanden haben muß, wo ihm das Chaos erschien, alles wüst und wirr, und der Ruf: ›Es werde Licht!‹ will sich nur schwer und spät durchringen.
Ich war wie außerhalb der Welt.
Als ich nun auf mein Zimmer kam und meine Bücher sah, da sagte ich mir: Nein, das geht nicht mehr, ich kann nicht morgen da fortfahren, wo ich gestern gewesen bin, nein, nein, ich muß anders, ganz anders in eine ganz andere Welt... Und doch steckte ich meine Schulprämien schnell zu mir, wie wenn ich sie retten müßte, wenn sie mir helfen müßten, mich schützen vor Gefahr und Not. Etwas aus der Zeit, da ich diese Denkmünzen fünf Jahre nacheinander als Ehrenpreis heimbrachte, rührte mich an, als ich sie anfaßte. Wie da meine Eltern so glücklich waren, und ich selbst ... ich hielt eine ganze Vergangenheit in der Hand. Meine Mutter war glücklicherweise gerade um diese Zeit in ihrem Geburtsort bei ihrer verwitweten Schwester. Ich saß lange auf meinem Zimmer. Niemand rief mich zum Essen, es wurde nicht gekocht, es war niemand da. Mein Vater hatte während der Abwesenheit der Mutter mit mir im Gasthof zum Erbprinzen gegessen. Ich wollte fort, ich wollte im Gasthof essen, denn ich spürte einen entsetzlichen Hunger, und doch schämte ich mich und ärgerte ich mich wieder, daß ich jetzt hungerte. Was sollte ich jetzt anfangen?«
»Dachtest du nicht an mich? Warum kamst du nicht zu mir?« unterbrach hier der Medizinalrat.
»Wohl dachte ich an dich und an viele andere, aber ich war bös, ingrimmig bös auf die anderen und auf dich. ›Warum kommt niemand und schaut nach mir? Die ganze Welt ist falsch.‹ – So jammerte ich. Ich eilte fort, hinaus aus der treulosen Stadt; meine Mutter muß doch kommen, oder ich wandere zu ihr. Als ich am Gasthof zum Erbprinzen vorüberging, läutete es eben zur Tafel. Gestern stand ich noch hier mit meinem Vater, und die Offiziere und Beamten beglückwünschten mich, denn ich würde bald zur Universität ziehen.
Ich eilte fort, weinend wie ein kleines Kind, hinaus aus der Stadt bis zum nächsten Dorf. Ich kaufte mir im ersten Bäckerladen Brot, und als dürfte ich mich nirgends niederlassen und setzen, eilte ich wieder davon. Glücklicherweise begegnete mir ein Handwerksbursche, der auch des Weges ging, er klagte, daß ihm sein Felleisen zu schwer sei; er habe auf ein Fuhrwerk warten wollen, um sein Gepäck aufzuladen, aber es komme niemand, und er möchte doch noch das Städtchen vor Abend erreichen. Ich erbot mich, ihm seinen Ranzen zu tragen, er sah mich lächelnd an und hielt das für Spott, aber ich faßte schnell in die Tragriemen und nahm den Ranzen auf, und wir wandern miteinander fürbaß, und so bin ich plötzlich ein Handwerksbursch geworden. Jetzt saßen die andern Tischgenossen drin im Erbprinzen beim Braten, und da ging ich hier und trug einem fremden Menschen seinen Ranzen, bloß damit ich jemand hatte, mit dem ich ein Wort sprechen konnte, damit ich nicht so allein war auf der Welt. Des Generalkassierers Guido hat noch in mir aufstehen wollen, aber schwer drückte es mir die Seele, da ich dachte, wo jetzt mein Vater war.
Ich erzähle Euch das alles so genau, ich kann natürlich nicht so fortfahren und will auch nicht, aber der Tag, an dem in einem Menschen eine Wandlung vorgeht, da hat die ganze Welt auf einmal einen andern Anblick.
Es war ein einziger Tag, und an diesem einzigen Tag habe ich durchgemacht, wie es Menschen zumute sein muß, die ihr Leben lang eine gewisse empfindsame Stimmung nicht loswerden; sie erwarten etwas von der Welt: Schonung, Mitgefühl, Teilnahme; aber in der Welt geht jedes seinen Weg und kümmert sich nicht darum, ob in dieser Stunde jemand gestorben oder verdorben ist.
Der Wandergesell, es war ein Bierbrauer aus Thüringen, erzählte mir viel; ich nickte ihm zu, aber hörte ihn kaum. In mir weinte es, aber äußerlich faßte ich mich bald, zumal, als wir des Städtchens ansichtig wurden, wo meine Mutter jetzt sich aufhielt. Es war in einer Biegung des Weges, ich weiß noch den Baum, ich weiß noch den Meilenstein am Weg, wo mich der volle Jammer der Verlassenheit nochmals überkam. Aber an diesem Meilenstein ging jetzt ein anderer Mensch vorüber, ich war, ich darf es sagen, an diesem Tag zum Manne gereift, freilich erst in Gedanken und festem Vorsatz, denn in der Ausführung stockte und zagte ich später noch oft. Aber ich war jetzt aus Schmerz und Not neu geboren. In alten Zeiten hat man nach solchem Ringen, nach solcher Wandlung den alten Namen abgelegt und einen neuen gewonnen. Wir haben nichts Derartiges mehr, wir müssen ins uns neu werden.
Es lag mir schwer auf dem Herzen, auf welche Weise ich das Entsetzliche meiner Mutter mitteilen sollte, denn sie konnte ja noch nichts davon wissen. Als ich aber dem Hause meiner Tante nahe war, trat mir deren Sohn, der hier Pfarrvikar war, entgegen und teilte mir mit, daß der Untersuchungsrichter auch bei meiner Mutter gewesen sei. Man hatte vermutet, daß sie viel Geld bei sich habe, um es auswärts unterzubringen; man hatte zwar nichts bei ihr gefunden, aber ihr Schreck war nicht minder groß. Als ich in die Stube trat, ging mir meine Mutter entgegen. Sie weinte nicht, sie jammerte nicht. Ihr Antlitz war fest und starr, und sie sagte, es sei brav und klug von mir, daß ich nicht daheim geblieben, ich müsse bei ihr bleiben, bis der Vater wieder frei sei. Sie nötigte mich zu essen und zu trinken, und mir war's, als wenn ich von einer großen Wanderung heimkäme. Ich spürte noch den schweren Ranzen auf meinem Rücken, den ich bis vor das Stadttor getragen hatte. Ich hatte ihn nicht mehr, aber die Last lag noch auf mir.
Anfangs wie zum Spiel, und da ich von Büchern gar nichts mehr wissen wollte und nicht mehr stillsitzen konnte, half ich einem Bierbrauer in der Nachbarschaft beim eben beginnenden ersten Sud, und kaum einen Monat darauf, als die Hoffnungen auf Befreiung meines Vaters immer mehr schwanden, wurde ich förmlich als Lehrling eingeschrieben. Es war gerade an dem Tag, an dem du mir begegnetest auf deiner Wanderung zur Universität. Meine Mutter wollte sich fast verzehren vor Kummer, daß ich nicht studieren konnte. Es war ihr entsetzlich, daß der Sohn eines hohen Beamten hemdsärmelig über die Straße gehe und überhaupt als gewöhnlicher Handwerker erscheinen sollte.
Auch jetzt noch tröstete sich meine Mutter, daß das nur einstweilen ein Zeitvertreib für mich sei. ›Wenn der Vater wieder in Ehren dasteht, führen wir dich mit unsern beiden Schimmeln zur Universität!‹ sagte sie wieder und wieder; und schrecklich war es ihr, wenn sie meine Hand anfühlte, die eine rauhe Haut bekommen hatte. Meine Mutter war ebenfalls die Tochter eines Beamten gewesen, und obgleich ihr Vater eines Handwerkers Sohn war, so erschien es ihr doch himmelschreiend, daß ihr einziges Kind wieder in die Niedrigkeit – denn als solche betrachtete sie das Handwerksleben – gestoßen würde.
So schnell erbt sich ein, wenn auch verzeihlicher, Hochmut fort. Ich war indes, soweit es unter den gegebenen Verhältnisse möglich war, wohlgemut und frischauf; und in einem zugereisten Sachsen gewann ich einen wohlwollenden Beschützer. Er hatte eine gewisse Achtung vor der Bildung, die ich genossen hatte, und suchte sich mancherlei Kenntnisse von mir anzueignen; aber wegen seiner Höflichkeit wurde er vielfach geneckt und gehänselt, und als er nun auch grob werden wollte wie die andern, übernahm er sich stets und kam dadurch in arge Händel. Besonders wollte er eine allgemeine Verschwörung dagegen anstiften, daß man nicht mehr Brauknechte, sondern Braugesellen sagen sollte. Er sah erst spät, daß man ihn auch damit verhöhnte und vor dem Meister preisgab. Er schnürte sein Bündel, als wir den letzten Aussud machten.
Jetzt im Sommer ging es nun an die Böttcherarbeit. Du weißt, ich konnte sonst gut schnitzen und drechseln, aber seltsamerweise, ich bin nie ein rechter Böttcher geworden. Ich darf sagen, ich weiß, was alles, dazu gehört, aber ich konnte es nie recht ausführen und kann es noch jetzt nicht.
Am Tag vor Pfingsten kam die Entscheidung, die meinen Vater zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilte. Auf sein Drängen sowie auf das des Rechtsanwaltes mußten wir ein Gnadengesuch für ihn einreichen, und Anfang Juli kam die Antwort, daß er zu sieben Jahren Arbeitshaus begnadigt sei.
Meine Mutter ging nun mit mir zu Fuß den weiten Weg, um von ihm Abschied zu nehmen. Verwandte hatten uns ein Fuhrwerk geben wollen, aber sie lehnte es ab, sie wollte zu Fuß gehen. Eine Art von selbstquälerischer Kasteiung war über sie gekommen. Mein Vater war blaß geworden, aber unförmlich dick, und er gab mir recht, daß ich ein Handwerk gelernt hatte. Es sei ein Elend mit dem Beamtentum, und wenn er frei sei, hoffe er mit mir und der Mutter auswandern zu können.
›Sieben Jahre! Sieben Jahre!‹ rief meine Mutter, und sie sprach es aus, wie wunderlich rasch mein Vater über eine so lange Zeit hinwegdenke und hinwegspreche. ›Ich kenne dich gar nicht mehr‹, rief sie; und in der Tat, mein Vater war so verändert, daß ich glaube, ich hätte ihn nicht gekannt, wenn er mir auf der Straße begegnet wäre. ›Wenn ich nur noch schnupfen dürfte, nur eine Prise Tabak‹, sagte er immer. ›Ich meine, das Blei aus dem Hirn müßte mir auf einmal herausgehen, wenn ich nur eine Prise nehmen könnte. Guido, bitte für mich, und wenn du bis zum König gehen mußt, daß mir der Schnupftabak erlaubt wird.‹
Noch als wir weggingen, rief er uns nach: ›Sorgt dafür, daß mir der Schnupftabak erlaubt wird, und schickt mir dann ein Pfund von meinem Tabak! Schreibt auch an meinen Bruder Franz nach Lindau. Er wird euch in allem helfen. Er muß.‹
›Wohin kommst du?‹ fragte meine Mutter.
›Nach der Plassenburg.‹
›Nicht auf die Festung ?‹
›Nein, es hat seine besondere Bewandtnis; ich komme auf die Plassenburg.‹
Es geht einem oft, daß ein Wort für das Ohr das ist, was für das Auge das Zücken eines Dolches; mir war's jetzt, als ob sich in dem Wort Plassenburg alle Bosheit und alles Elend der Welt eingenistet habe, und das zuckte so höhnisch, und doch hatte ich es schon oft nennen hören und von der weißen Frau auf der Plassenburg, und daß dort einst die Residenz der Markgrafen von Brandenburg gewesen, hatte ich in mancherlei Büchern gelesen. Auf dem ganzen Heimweg hörte ich immer nur das Wort: Plassenburg! und niemand sprach's, und mir war's, als hätte die Sprache gar kein anderes Wort mehr und nur dieses einzige.
Still, fast ohne ein Wort zu reden, kehrte ich mit der Mutter in unsern Aufenthaltsort zurück. Sie wickelte sich immer tiefer in ihr großes Tuch, als ob sie fröre, und doch war es ein heller heißer Julitag.
Von jenem Tag an hat meine Mutter das Tor des Städtchens nicht mehr verlassen. Sie saß meist still da, nähte und strickte, und da ich nun auch bei meinem Meister die Kost erhielt, sah ich die Mutter oft ganze Tage nicht. Sie gab einigen Beamtentöchtern Musik- und Gesangunterricht, und ich sah, wie peinlich und herzzerreißend es für sie war, zur Lustbarkeit der Menschen zu arbeiten mit einem unaufhörlichen Weh im Herzen. Sie ließ sich nie dazu bewegen, mich einmal im Brauhaus zu besuchen, sie sprach nie mit mir von meiner Zukunft. Es schien, als ob sie sich freiwillig eine Art Gefangenschaft auferlegt hätte, und ihre innige Liebe zu dem fernen Gefangenen sprach sich nur manchmal in den Worten aus: ›Ich kann es gar nicht begreifen, wie er sich so sehr verändert hat.‹
Am Abend mußte ich ihr manchmal vorlesen. Es gab wenige Bücher, die sich dazu eigneten. Wer an einem schweren innern Kummer leidet, findet überall Beziehungen und Andeutungen an dessen Erweckung. Ich bat meine Mutter, ihr aus den alten klassischen Schriftstellern der Griechen und Römer vorlesen zu dürfen, und sie gestattete es mir gern, so schwer ihr das anfangs auch wurde; sie wollte mich nicht ganz verbauern lassen, wie sie oft und oft wiederholte. Merkwürdigerweise fand aber auch die Mutter bald Freude, besonders an den römischen Geschichtsschreibern; denn es liegt eine eigene Macht in diesen Darstellungen der Alten, und eben das, daß sie mit unsern kleinen Leiden nichts gemein haben, daß sie so für sich dastehen wie Berge und Ströme, wie Bäume und Bauten, das läßt uns bei ihnen uns selbst vergessen und uns an ihnen erquicken. Und wunderbar ergriffen wurde meine Mutter, als ich ihr einst aus Tacitus' ›Germania‹ die Stelle vorlas, wo der Römer von den alten Germanen berichtet: ›Wehklagen und Tränen enden sie schnell, langsam Betrübnis und Schmerz. Frauen ziemt Trauer, Männern Andenken.‹ Ich mußte ihr die Stelle zweimal vorlesen, und ich fand später einen Zettel, auf dem sie sich diesen Text abgeschrieben hatte.
Ich könnte viel davon erzählen, wie in der kleinen Stadt zwischen zwei Schwestern sich der große Kampf auftat, der unsere ganze Welt bewegt. Die Schwester, eine an sich gute und treuherzige Frau, wollte die Bedrückte in ihre Betstunden ziehen, die sehr eifrig in der Stadt gehalten wurden, das allein sollte Heilung für ihre Leiden geben; und als meine Mutter nicht wollte, nannte sie sie oft ein Weltkind und eine Heidin, die noch nicht genug gebrochen wäre.
Die Zeit meiner Lossprechung als Lehrling rückte heran. Feierlicher konnte auch kein griechischer Weiser einen Jüngling in die Geheimlehren einführen, als der Meister tat, indem er mich zum erstenmal in das innerste Heiligtum unseres Handwerks mitnahm, mir selbst das sogenannte Zeug, nämlich das Ferment, geben ließ. Man hält dieses Verfahren für ein tiefes Geheimnis, und ich habe erst später erfahren, wie unklug ich tat, einst die natürlichen Gesetze, die dabei herrschen, gesprächsweise zu erklären.
Es will vielen Handwerkern eben noch gar nicht recht eingehen, daß es vor der Wissenschaft gar keine Geheimnisse gibt, und das Zurückführen der Vorgänge auf die notwendigen Naturgesetze ihnen gar nichts von ihrer stillen Weihe nimmt.
Meine Mutter richtete mir indes in Ruhe alles zur Wanderschaft her, und doch hatte ich ihr geschworen, sie nicht zu verlassen, sondern als Geselle im Städtchen zu bleiben. Sie antwortete selten etwas darauf. Das Entsetzliche für sie war, daß ich Wohltaten empfangen sollte. Ich bemerkte seit einiger Zeit eine große Unruhe an ihr, und als ich von dem Gesellenspruch heimkam, fand ich vollständig neue Kleidung für mich auf dem Tisch ausgebreitet, und seit Jahren zum erstenmal weinte sie, fiel mir um den Hals und rief: ›Nicht wahr, Guido, du läßt dir nie etwas schenken? Zieh deinen Hut nicht ab für einen Bettelpfennig auf der Straße; hungere lieber. Es würde mich töten, wenn ich denken müßte, du stehst in der Staubwolke, die die Räder aufwirbeln, und hältst deinen Hut denen hin, die drin in der Kutsche sitzen.‹
Seltsamerweise entzog sie mir schnell ihre Hand, als ich ihr die meine dargeboten hatte; und am Mittag, als ich bei ihr aß, faßte sie immer alles mit der linken Hand an. ›Aber, Mutter, was hast du?‹ fragte ich. ›Hast du dich an der rechten Hand verletzt?‹
›Nein, nein, es ist nichts‹, sagte sie, schnell die Hand aufhebend und mit den Fingern spielend. ›Da, siehst du, ich kann sie ganz gut bewegen.‹
›Nun, gib mir einmal die Hand.‹ Sie zögerte lange, und jetzt sah ich, was geschehen war. Der Diamantring, den meine Mutter immer noch getragen hatte, denn er war das Brautgeschenk meines Vaters, der fehlte.
Seit der Verhaftung meines Vaters trug meine Mutter den Ring nur noch so, daß der Reifen sichtbar war, der Diamant befand sich immer in der Handfläche. Nun war er ganz verschwunden. Sie hatte ihn verkauft, ihr letztes Kleinod, um mir die Kleider zur Wanderung anzuschaffen.
Ich wandte mich jetzt zum erstenmal an den reichen Oheim in Lindau, aber zu unserem Schrecken erhielten wir die Nachricht, daß der Oheim unter Hinterlassung einer großen Schuldenlast nach Amerika geflohen sei.
Es gelang mir, von meinem Arbeitslohn den Brautring wieder zu erwerben, und als ich jetzt zum erstenmal Geld für meine Arbeit in die Hand bekam, war ich überaus glücklich. Das hatte ich mir erworben aus eigener Kraft, und wäre ich den Studien gefolgt, so hätte ich noch lange mich von andern müssen ernähren lassen.
In diesem Winter wurde ich auch militärpflichtig, aber als einziges Kind, als sogenannter Ernährer, wurde ich freigestellt. Der Winter, in dem ich jetzt als Geselle noch im Städtchen blieb, war für uns beide ein glücklicher, soweit eben von Glück die Rede sein kann, aber die Erinnerung daran tut mir doch wohl. Meine Mutter hatte sich mit meinem Beruf ausgesöhnt, ja sie trug sich mit Plänen, daß ich gewiß einmal eine reiche Bierbrauerstochter heiraten und ein großes Anwesen erwerben würde, dann komme sie zu mir und erziehe meine Kinder. Es waren ihre letzten, seligen Träumereien; denn schon von Fastnacht an begann sie zu kränkeln, und im Mai begruben wir sie.
Ich selber hatte die Trauerbotschaft meinem Vater verkündigen müssen, und als der Brief fort war und meine Mutter tot, da drängte es mich hin zum Vater. Aber konnte man hin zu ihm? Ja, es war gestattet, ihn zu besuchen. Wir hatten nur das Geld nicht dazu, und meine Mutter wollte sich von niemand etwas schenken lassen, und lieber versagte sie sich und uns allen den traurigen Trost.
Ich verließ das Städtchen kurz vor Pfingsten. Auf den Straßen standen überall Schränke, Stühle und Tische, die für die Festzeit gescheuert wurden, und viele Leute riefen mir noch ein Lebewohl zu, ich aber hörte es kaum, denn mitten in aller Wehmut mußte ich immer wieder denken: Wir hatten ehedem auch Kisten und Kasten, Bilder und Geräte aller Art – und jetzt? Was ich auf dem Rücken habe, ist der Hausrat einer ganzen Familie.
Jetzt war ich ein Wanderbursche, aber ich wanderte nicht ziellos hinaus in die Welt. Plassenburg! Plassenburg! rief es, und dort unten am Fuße des Berges mußt du Arbeit finden und bist deinem Vater nahe. Da ist ja Kulmbach, eine der besten Hochschulen deines Handwerks.
Es gibt Stunden, wo es ist, als ob sich auf einmal die ganze Welt reimte. Mußtest du nun grade ein Bierbrauer werden, dein Vater dort auf der Plassenburg, und du kannst ihm nahe sein?
Es ist wunderbar, wie vielerlei, namentlich in einem jugendlichen Herzen, nebeneinander Platz haben kann. Die Trauer um den Tod der Mutter, das bange Drängen hin zum Vater und zwischenhinein doch auch etwas von der Wanderlust und Frühlingsduft. Wenn ich bei meinem eigenen Gang sechs Tritte zu gleicher Zeit gehört hätte, ich glaube, ich hätte mich nicht gewundert, so war ich dreierlei Menschen, als ich auf dem Rücken den frischen Ranzen, draus frischbeschlagene wanderlustige Stiefel schauten, dahinzog über Berg und Tal, und plötzlich kam's über mich, daß ich noch glücklich werden könne. Ich hatte beim Abschied nicht geweint, und jetzt mußte ich weinen, da es mir schwer aufs Herz fiel, daß meine Mutter tot war und mein Vater gefangen – und keiner von beiden kann mit mir die freie Luft atmen. Und die Mutter hat mir's prophezeit, daß ich eine stattliche Bierbrauerstochter heimführe, und das muß wahr werden. Wenn ich nur jetzt schon gleich wüßte, wo sie ist, wie sie ist. Jetzt bin ich so traurig und allein, und ja, jetzt könnte sie mich gleich am besten trösten. Wer weiß, wo du jetzt still sinnend umhergehst, und du denkst vielleicht auch an den, der dir beschieden ist. Wir wissen nichts voneinander, und jetzt wäre es so schöne Zeit, daß wir einander glücklich machen könnten, und ich habe es jetzt so besonders nötig.
So lag ich träumend und denkend, hoffend und zagend am Waldesrand, und mein wohlgefüllter Ranzen war mein Kissen, und darin sind Strümpfe, die meine Mutter gestrickt, und Hemden, die meine Mutter genäht, und da sind ihre Gedanken mit darin und ihre gute liebe Seele. Meinem Vater bring' ich den Trauring, und ein Pfund Schnupftabak kaufe ich ihm noch unterwegs, es wird sich schon Gelegenheit finden, daß ich's ihm zustecke. Und – glückselige Jugend, die aus dem Wirrwarr heraus, aus allem Wirbel von Denken und Sinnen einschlafen kann ...
Als ich erwachte, wo lag ich? Dort unter dem Baum, gerade gegenüber dem Meilenstein, wo ich vor zwei Jahren auch so eine Wandlung des Lebens erfahren hatte. Ich grüßte ihn, er war mir wie ein Altar, wie ein Prediger geworden. Und weiter ging's in die Lande hinein. Ich betrachtete lange mein Wanderbuch: was für Wappen, was für Zeichen werden sie da hineinschreiben! Ist es nicht seltsam, daß ich meinen eigenen Namen und die Beschreibung meiner Person mit in der Tasche herumtrage? Was würde ein alter Grieche, ein alter Römer dazu sagen, wenn er von solch einer Einrichtung hörte?
Wenn man so durch die Welt dahingeht mit eigenen absonderlichen Gedanken im Kopf, da kann man leicht dazu kommen, auch alles auf den Kopf zu stellen. Wie wunderlich war mir's, daß die Menschen auf den Straßen hin- und herrennen, auf den Feldern arbeiten, in Dörfern und Städten feste Wohnungen haben, und was wird am Ende daraus? Und warum plagen die Menschen einander, warum ist alles so wirr, die kurze Spanne Zeit, die man Leben nennt? Oh, wie viele stille Plätzschen gibt es auf der Welt, wie viele helle Täler, wo die Menschen in Frieden glücklich sein könnten; und warum ist so viel Elend auf der Welt?
Ich kam von einer Toten und ging zu einem Gefangenen, und wenn ich vor Zeiten von fröhlicher Wanderlust gehört hatte, so war mir das jetzt nur wie ein Märchen. Aber ich schritt immer wacker vorwärts. Erinnerst du dich noch, wie unser alter Professor der Naturlehre uns erklärte, daß das Gehen des Menschen teils ein beständig aufgehaltenes Fallen, teils der Versuch sei, die Erde einzustampfen, die den auftretenden Fuß dann wieder zurückstößt, daß er sich hebt und vorwärts kommt? Ja, ja, weiter ist das Leben nichts. So träumte ich dahin. Aber es sind sehr pünktliche Traumwecker in der Welt aufgestellt, die heißen Gendarmen; besonders auf uns Handwerksburschen haben sie ein sorgfältiges Auge, und sie haben recht: was soll uns das aberwitzige Träumen und Sinnen? Tu deine Arbeit und deine Pflicht und schlaf wohl.
Ich hatte, wie gesagt, unter dem Nachlaß meiner Mutter einen Zettel gefunden, worauf sie sich einen Kernspruch des römischen Geschichtsschreibers abgeschrieben hatte. Ich hatte den Zettel bei mir, und wie ich ihn las, sprach sie ihn mir, und er prägte sich mir in die Seele: ›Wehklagen und Tränen enden sie schnell, langsam Betrübnis und Schmerz. Frauen ziemt Trauer, Männern Andenken.‹
Ich legte den Zettel in mein Wanderbuch.
Es war ein heißer Mittag, als ich in Kulmbach anlangte. Die ganze Stadt war so freundlich gesinnt, daß sie einen Menschen eigens dazu bestellt hatte, der alle Fremden und so auch mich willkommen hieß. Am Bayreuther Tor unter den Tempelsäulen des Torwarthauses stand der Priester der Gastfreundlichkeit und allgemeinen Menschenliebe, und ohne viele unnötige gemütliche Redensarten fragte er mich kurz und knapp: »Woher? Wohin?« und empfing mein Wanderbuch, in das er einige Weihrauchwolken aus seiner langen Pfeife blies und dazu nickte.
Ich fand unsre Herberge bald und, um kein Aufsehen zu erregen, fragte ich zuerst nach Arbeit um und erhielt abschlägigen Bescheid; aber das kümmerte mich wenig, ich war doch an einem Ziel und ging durch Kulmbach, als grüßte mich etwas Heimatliches überall; mir war's, als müßte da und dort aus einem Fenster eine befreundete Stimme mir zurufen, ein bekanntes Gesicht mir zunicken. Es war wie eine Vorahnung dessen, was ich alles später hier erfahren sollte. Ich war froh, daß ich meine alte leichtmütige Natur wiedergewonnen hatte; ich mußte meinem Vater Frische bringen. Als wollte ich nur Spazierengehen, machte ich mich auf den Weg nach der Plassenburg. Wie ich vom untern Schloß hinaufstieg, da vom Rentamt aus, stand ein Bogentor weit offen, und mitten im Tor ein Kind, ein Mädchen von vielleicht zwölf Jahren, dürftig gekleidet, mit schlichten, lose wallenden blonden Haaren, und blaue Augen schauten auf mich herab, so blau wie die Kornblumen, die das Kind in der Hand hielt. Es erschrak, als ich es plötzlich so betrachtete, wandte sich ab und wollte entfliehen; aber ich war schon bei ihm und sagte: »Schenke mir deine Blumen!‹ Es gab sie und wollte fort, ich aber hielt es und fragte: ›Soll ich dir auch was schenken?‹ Es spielte an meiner Hand. Ich trug den Trauring meiner Mutter, und das Kind sagte: ›Schenk mir diesen Ring da.‹
›Nein, den kann ich dir nicht geben.‹ In das letzte Haus, das oberhalb des Rentamts steht, floh das Kind schnell hinein, und als ich den Burgweg, der hüben und drüben mit breiten Linden besetzt ist, hinanging und zurückschaute, sah ich das Kind, wie es vor dem Haus stand und mir nachblickte; es hielt dabei einen Finger an den Mund gedrückt, eine Gewohnheit, die es noch heutigentages hat, denn Justine hat ihren klaren Verstand aus den Fingern gesogen: es hat sie niemand eigentlich je regelrecht unterrichtet.
Der Weg zur Burg ist steil. Manchmal einzeln, manchmal paarweise kamen Soldaten herab und rauchten vergnüglich in straffem, raschem Gang. Wie muß es den Gefangenen zumute sein, wenn sie die freien Menschen rauchen sehen? Aber ist es nicht in der Welt überhaupt so? Erfreuen wir uns nicht sorglos eines Genusses und denken nicht daran, wie andere neben uns entbehren?
Ich fühlte doch, welch ein Leidensgang es ist, auf dem ich war, so sehr ich mir auch einreden wollte, daß ich starken Mutes sei und sein müsse. Die Knie wollten mir brechen, und ich setzte mich an der Windung des Weges auf die steinerne Bank unter einer Linde mit breitem, kurzem Stamm. Wie weit und froh überschaute sich da das Wiesental vom Fluß durchschnitten; denn dort bei Steinhausen vereinigen sich der rote und der weiße Main. Und ist es nicht sehr klug ausgedacht, gerade auf eine solche Höhe mit weiter Fernsicht die Gefangenen zu setzen? Jeder Ausblick sagt: Da seht ihr's, wie schön und weit die Welt ist, und ihr könnt darin gefangen sein.
Ich war endlich in der Burg. Aus dem Hauptgebäude hörte ich hundertfältiges Stimmengewirr. Einige redeten an den Gitterstäben und sprachen heraus, ich weiß nicht, was. Andere hörte man drinnen miteinander plaudern und streiten, sie waren, wie ich später erfuhr, bereits in den Schlafsälen, denn es war die Zeit nach dem Nachtessen.
Vor der Wohnung des Inspektor saß eine Frau und hielt ein kleines Kind auf dem Arm. Ich grüßte, das Kind langte nach meinen Blumen, die ich noch unwillkürlich in der Hand hielt, ich gab sie ihm, und die Frau dankte; und diese Blumen waren es, die mir meinen schweren Weg erleichterten. Die Frau hielt mich für einen Lustreisenden, der von hier oben die schöne Aussicht genießen wolle. Sie sagte mir, ich solle eilen, an den Mauervorsprung zu kommen, denn die Sonne gehe schnell unter. Ich faßte Mut und erzählte ihr, wer ich sei, und sie berichtete ihrem eben herbeikommenden Mann, was ich wünschte. Der Mann, mit dem großen Schlüsselbund in der Hand, sah mich forschend an, und auch der große braune Hund, der ihm folgte, schnupperte an mir herum. Der Mann sagte kein Wort, wandte sich zu dem Kind und machte Musik; ja, es war die wunderlichste, die es auf der Welt geben konnte, denn er machte mit den großen Gefängnisschlüsseln ein Geräusch, das das Kind ergötzte.
»Komm du jetz mit, ich muß eilen«, sagte er im vertraulichen Du zu mir; es war aber kein vertrauliches, sondern ein natürliches; der Sohn des Sträflings und dazu noch der Handwerksbursche wurde mit Du angeredet, und – sollte man's glauben – daß der Mensch so närrisch sein kann, daß mich das in diesem Moment kränkte? So viel vom alten Hochmut der Studierten hatte mit Latein und Griechisch in mir Platz gefunden.
»Nimm dich zusammen«, sagte mir der Inspektor und faßte mich ermutigend dabei am Kinn; auch das tat mir weh, und doch meinte es der alte Schnurrbart gut. »Nimm dich zusammen, du wirst deinen Vater verändert finden. Und noch eins, ich lasse dich mit ihm allein, du wirst ihm nichts geben, was er nicht haben darf. Ich vertraue deinem ehrlichen Gesicht.‹
Das Pfund Schnupftabak in meiner Tasche wurde plötzlich zentnerschwer. Ich zog es heraus und sagte: ›Da ist ein Pfund Schnupftabake
›Du wirst mich doch nicht bestechen wollen?‹
›Nein, daran habe ich noch nie gedacht, daß man das könnte und daß ich das könnte. Ich will Ihnen nur ehrlich sagen, dies habe ich meinem Vater zustecken wollen, aber weil Sie mir vertrauen, darf ich's nicht.‹
›Ei, ei, du närrischer Bursch, das darfst du freilich jetzt auch nicht. Laß einmal sehen; ah, das ist ganz feiner Pariser, ich werde ihn behalten, bis du wieder herauskommst.‹
Ich glaubte zu merken, wie es ihm fast leid tat, daß er mich durch Vertrauen gebunden hatte. Aber das war wieder nur einer meiner in der Welt heimatlosen Gedanken.
Ich wurde nun viele Treppen auf und durch mehrere Arbeitssäle und Schlafsäle geführt; endlich mußte ich auf einem Hausflur warten, und heraus kam eine dünne, entsetzlich abgehärmte Gestalt.
Das Schrecklichste war, daß mein Vater immer nur über sein Elend klagte und gar nicht an die Mutter und an mich denken konnte.
Ich erzählte ihm von dem Tabak, den ich ihm hatte bringen wollen und der nun drunten beim Inspektor geblieben war. Er lachte mich aus wegen meiner gutmütigen Dummheit: der Inspektor habe nur so gesagt, weil es eben seine Vorschrift sei, er habe dabei nicht anders gedacht, als ich bringe ihm, was nur möglich sei. Ich versprach dem Vater, ihm andern Tages Tabak zu bringen und überhaupt in seiner Nähe zu bleiben, ich würde nicht nachlassen, bis ich in Kulmbach Arbeit gefunden, um ihm nahe zu sein. Er fuhr mir mit der Hand über das Gesicht und sagte: ›Das nehm' ich an, das mußt du halten. Als Vater befehle ich dir, nirgend anders in Arbeit zu treten als hier.‹
War das nicht ein Glück, daß mein Vater noch seinen Herrschertrieb über andere behalten hatte?
Als ich aus dem Tor der Burg heraustrat, flimmerten drunten im Städtchen die Lichter, und da war mir's, als wenn ich plötzlich aus einer ganz ändern Welt auf die Erde geschleudert wäre, und die Bäume rauschten, und drunten sang eine Stimme. Als ich wieder dem Haus nahe kam, wo mir das Kind begegnet war, sah ich auf dem dort liegenden Bauholz das Kind ganz zusammengekauert, und es sang in die stille Nacht hinein; es hielt inne, und jetzt in der Nacht lief es mir nicht davon. Ich führte es an der Hand nach seinem Haus. Die Mutter – das Kind war vaterlos – saß mit einigen andern Hausbewohnern auch vor dem Haus in der milden Sommernacht, und als ich eben berichtete, daß ich hier in meinem Handwerk Arbeit suchte, erhob sich einer der Sitzenden und sagte: ›Ich meine, die Stimme kenne ich!‹ Er entzündete ein Streichhölzchen, leuchtete mir ins Gesicht und sagte: ›Ja, ja! Du bist's! Es ist doch wunderlich, wie die Menschen wieder zusammenkommen. Erinnerst du dich des Gesellen, dem du vor Jahren seinen Ranzen getragen?‹ Ich erkannte ihn auch wieder, und ohne ihm zu sagen, welchen Grund ich dafür hatte, bat und beschwor ich ihn, mir hier Arbeit zu verschaffen. Er erklärte mir, daß er Oberbursche sei, daß ich aber jetzt hier keine Arbeit fände, die Sudzeit sei vorüber, es seien schon viele entlassen, und man halte nur die nötigsten Leute, um die Böttcherarbeit zu vollführen.
Der Oberbursche führte mich nun in die Stube und tat überhaupt vor den Hausbewohnern, als ob wir alte vertraute Freunde wären. Ich ließ mir das gern gefallen. Beim Weggang begleitete er mich zur Herberge, und jetzt zum erstenmal spürte ich recht, was es heißt, ein Geheimnis auf der Seele zu haben. Ich mußte mit dem Kameraden lustig zechen; er fragte nicht viel danach, woher ich sei, was mir im Sinn liege. Die Welt duldet nicht, daß man sich immer mit seinen eigenen Gedanken herumschlage; und das hat auch sein Gutes.
In der schlaflosen Nacht mußte ich immer denken, wie viele Jahre jetzt schon mein Vater diese Glocke gehört und wie er vielleicht eben jetzt auch hinausdenkt zu mir. Am Morgen suchte ich den Oberburschen bei der Arbeit auf, er hieß Schneckenberger. Er gab mir noch den Rat, doch zu seinem Braumeister zu gehen, aber ihn ja streng nach altem Brauch anzusprechen, denn er sei ein Altfränkischer, und zugleich noch einer von denen, die nicht nur flüssiges Brot – wie man das Bier nennt –, sondern auch festes bereiten konnten. Er war Bierbrauer und Bäcker zugleich gewesen. Er hatte noch immer ein Vorurteil gegen diejenigen, die der Teilung der Arbeit angehörten.
Ich ging nun hin und sagte, den Hut in der Linken, den Stock in der Rechten: ›Grüß ihn Gott, Meister, Gott ehre das ehrbare Handwerk. Ich wollte den ehrsamen Meister fragen, ob er einen ehrlichen Gesellen einstellen will?‹ Der Meister lächelte, schüttelte aber verneinend den Kopf. Er war ein kleines, behäbiges Männchen. Er hatte zwei Söhne im Geschäft, während ein dritter bereits in Erlangen ansässig war. Der Erlanger war gerade beim Vater, als ich um Arbeit ansprach, und der Erlanger sagte, er wäre nicht abgeneigt, mich mitzunehmen. Ich lehnte das ab und gab vor, daß ich notwendig in Familienangelegenheiten nach dem Norden reisen müsse, und ich hätte nur vorläufig angefragt.
›Vorläufig anfragen ist bei mir nicht der Brauch‹, meinte der Meister barsch und sagte zu seinem Sohn: ›Da siehst du, wie sich jetzt die Brauknechte gebärden. Fragt der Bursche vorläufig an. Hat man so was je gehört? Was stehst du noch da?‹ wandte er sich wieder an mich. ›Du kannst vorläufig gehen. Vorläufig!‹ hörte ich noch hinter mir her schelten. Hat der Mensch sich nicht benommen, wie wenn er ein Amtmann wär'?‹
Ich erschrak, als ich das hörte, und eilte zu dem Oberburschen, ihm berichtend, wie übel er mir geraten habe. Er hatte aber recht, indem er mir entgegnete: ›Laß dich das nicht grämen, der Meister hätte dich aus Gutmütigkeit doch nicht genommen; wenn er dich braucht, nimmt er dich, und weiter ist's vorbei.‹
Ich lernte immer mehr kennen, daß die Welt nur ein starres Kämpfen ist, und als ich mit neu eingekauftem Schnupftabak wiederum den Berg hinanging, fiel mir's schwer aufs Herz, daß ich nun gebunden war. Was ich ehedem aus freiem Willen hatte tun wollen, war nun erzwungen; mein Vater hatte mein Versprechen angenommen, daß ich nicht woanders bleiben dürfe als hier. Ich kam mir wie gefangen vor. Ich durfte jetzt eine Zeitlang Spazierengehen in die Welt hinaus, aber ich war an den einzigen Ort gebannt, zu dem mußte ich zurück.
Jetzt am Tage, da ich meinen Vater wiedersah, war ich gefaßter und auch er. Ich gab ihm den Schnupftabak, er schnupfte hastig, dann aber sagte er: ›Das ist nichts, du hast mir nicht meinen rechten gebracht.‹
›Nein, nein, ich habe Ihren gewöhnlichen Pariser Nr. l gebracht. Da steht's drauf .‹
›Steht's drauf? Sie machen jetzt alles falsch. Nimm nur den Schnupftabak wieder mit, ich will ihn nicht.‹
So hatte ich das Vertrauen des Inspektors vergebens betrogen.
Ich zog nun den Trauring der Mutter ab und gab ihn dem Vater. Er machte die Augen zu, steckte ihn an den Finger, dann zog er ihn wieder ab und sagte: ›Da siehst du, er fällt mir wieder von der Hand ab, ich bin zu mager, nimm ihn nur wieder.‹
›Nein, behalten Sie ihn doch, wenn auch in der Tasche.‹
›Ja, gib, nein, nimm nur. Ich bin in meiner Tasche nicht allein zu Haus. Junge, weißt du denn nicht, wo ich bin? Da ist nichts sicher, was nicht angewachsen ist. Sei froh, daß du nicht wissen kannst, was es ist, Tag und Nacht unter solchen Menschen zu sein, und sie verspotten mich noch, weil sie alle meinen, man dünkt sich besser als sie. O Sohn! Es ist ein furchtbares Gesetz in der Welt: die Willkür wird mit Willenstod bestraft. Ich bin nicht mehr mein. Schlafengehen, Essen, Trinken, Beten, alles muß ich nach fremdem Befehl.‹ Und mit tiefem Schmerz erzählte er mir, daß man sich hier von den Aufsehern allerlei Ungerechtigkeit müsse gefallen lassen. Er habe einmal dagegen Einspruch erhoben und sei dafür in Eisen gelegt worden, und seitdem seien ihm alle Aufseher feind, denn er habe sie verklagt und habe es nun doppelt schlecht. Jetzt, zum erstenmal sah ich meinen Vater weinen. Ich erzählte nun, daß ich augenblicklich in Kulmbach keine Arbeit bekommen, daß es aber sehr wahrscheinlich sei, daß ich im Herbst zur Sudzeit eintreten könne, und ich wollte nun unterdes wandern, aber nirgends mich festhalten lassen, um ganz gewiß wieder in seine Nähe zu kommen.
Er glaubte mir nicht und rief wiederholt: ›Wenn du gewollt hättest, hättest du gewiß Arbeit bekommen, aber du willst mich eben auch verlassen, wie alle auf der Welt. Geh nur, geh nur, ich will auch von dir nichts.‹
Der größte Teil der Kassendifferenz, die sich bei meinem Vater fand, war dadurch entstanden, daß er dem Oheim in Lindau eine große Summe vorgestreckt hatte: der Schuldschein darüber, das war das Papier, das er bei der Verhaftung verbrannt hatte.
Er traute niemand mehr. Es zerschnitt mir das Herz, meinen Vater so mißtrauisch und gebrochen zu sehen. Jetzt schwor ich ihm beim Andenken an die Mutter, daß ich zum Herbst wiederkommen würde. Er wollte nichts davon wissen. Er war wie ein Kind, dem jedes Versprechen in die Zukunft eigentlich gleichgültig ist. Nur was es jetzt in die Hand bekommt, ist ihm von Wert.
Die Zeit, die meinem Vater zum Gespräch mit mir vergönnt gewesen, war um. Ich saß noch lange an dem Wall vor dem Gefängnis, aber ich sah nicht hinaus in die weite Landschaft, und als endlich drunten ein fröhliches Faßhämmern begann, da wachte ich auf: Es ist besser, ich ziehe in der Welt herum, ich muß noch fester werden, um meiner schweren Pflicht zu genügen. Und aus all diesem Kummer heraus kam wieder etwas von lockender Wanderlust über mich. Die Sonne schien so hell, und als ich durch die Burg hinausging, da war's, als könnte man wie ein fliegender Vogel hinaus sich schwingen ins Grüne. Und jetzt im Weiterschreiten eröffnete sich ein Stück Welt hell und weit. Es muß noch kommen, daß ich mit meinem Vater hier hinausziehe. Wie wonnig wird der Tag sein!
Am Rande des Weges sah ich jetzt das Kind wieder, das seine Ziege weiden ließ. Ich stand noch eine Weile bei ihm, und es sagte mir, daß es Justine heiße. Und fort ging ich ins Blaue hinein.
Ich war nun gleich zu Beginn meiner Wanderschaft zum Stromer geworden. Es gibt in unserm Handwerk eigentlich keine Stromer. Ja, ein Brauer als Wanderbursch gehört schon zur Seltenheit, ist eigentlich eine Ausnahme. Es mag sein, weil unser Handwerk ein bürgerlich seßhafteres ist. Unsere Werkstatt ist ein ganzes Haus, von oben bis unten, und schließt sich an die stetige Landwirtschaft. Ich habe die meisten Stromer unter Schustern, Schneidern, Drechslern und Webern gefunden. Wandern und wandern, das war nun mein Vorsatz. Ich machte einen weiten Bogen durch Thüringen, Sachsen und Brandenburg, Westfalen bis an den Rhein und über Schwaben wieder bis nach Kulmbach. Ich war aber auf dieser Reise arg heruntergekommen. Die Mahnung meiner Mutter, daß ich um alles in der Welt nur nicht betteln solle, hatte ich schon längst an den Schuhen abgelaufen. Ich war ein ausgepichter Fechter, und als ich im Herbst wieder am Bayreuther Tor in Kulmbach anlangte, hatte mein Wanderbuch eine Musterkarte von Siegeln aus aller Herren Ländern, und innerlich war mir auch manches Siegel der Erfahrung aufgedrückt. Aber jetzt mußte es anders werden. Ich lechzte wahrhaft nach Arbeit. In der Herberge traf ich den Oberburschen. Es lag etwas wie Freude in seinem Antlitz, als er mich so verwahrlost fand. Ja, es war so weit gekommen, daß ich zur Umschau für die Arbeit mir seinen Rock borgen mußte; und richtig, ich trat bei demselben Meister ein, wo er in Arbeit stand. Ich hatte bei dem Meister ein seltsames Verhör zu bestehen. Mein Wanderbuch und das daraus ersichtliche Umherziehen flößte ihm Mißtrauen ein, und er wollte wissen, was ich da und da gewollt hätte. In dieser und jener Stadt ließe sich ja gar nichts für mein Handwerk erwarten, und warum hast du da und da keine Arbeit genommen? Ich mußte ein ganzes Gewebe von Lügen zusammenbringen, um mich herauszureden. Es gelang mir scheinbar, aber wie ich später erfuhr, hatte der Meister stets ein Mißtrauen gegen mich, das noch durch ein andres aufrechterhalten und vermehrt wurde. Die Arbeit wurde mir aber jetzt wieder so schwer wie in der ersten Zeit, als ich in die Lehre getreten war. Nur einmal am Abend war ich oben auf der Plassenburg gewesen und hatte durch den Inspektor meinem Vater sagen lassen, daß ich nun fest in seiner Nähe sei. Aber erst am nächsten Sonntag konnte ich ihn selbst sehen und sprechen. Er tat jetzt, als ob es ihm ganz gleichgültig wäre, daß ich in seiner Nähe bleibe. Ich ertrug das geduldig, aber ich war doch auch doppelt gebunden, denn ich hatte dem Oberburschen offen bekannt, warum ich gerade hier sein wolle. Nach der klugen Weise solcher Leute tat er, als ob er das nicht nur geahnt, sondern ganz sicher gewußt habe. Er wollte dabei nicht nur erreichen, daß ich ihn für überaus klug halten mußte, sondern auch, daß er durch mein Vertrauen nicht gebunden war; er hatte ja vorher selbst gewußt, was ich ihm jetzt mitteilte. Er versprach mir indes aus freien Stücken volle Verschwiegenheit. Ich mußte ihm natürlich in allem untergeben sein, denn er war nicht nur der Oberbursche, sondern er kannte auch noch ein Geheimnis von mir, und er wußte mir's immer so darzustellen, daß ich ganz gewiß augenblicklich fortgejagt würde, wenn man mein Verhältnis zum Alten da oben, wie er stets sagte, erführe. Ich glaubte das nun zwar nicht, aber es war mir doch im Grunde der Seele noch hart genug, daß ich als Geselle behandelt wurde und niemand darauf achtete, was ich eigentlich war; doppelt schrecklich wäre mir's gewesen, wenn nun jeder erfahren hätte, welch ein Flecken auf meinem Namen ruhte.
Die beiden Söhne unsres Meisters und von diesen besonders der jüngere, Leopold, eine äußerst wohlgemute, arbeitsame und glückliche Natur, gewannen mich lieb. Leopold war eines jener geraden und hochbegünstigten Wesen, die in ihren Lebensberuf mit Naturnotwendigkeit hineinwachsen. Die ganze Welt lachte ihn an, und er lachte in die Welt hinein. Er sang fast immer bei der Arbeit, und bei der Faßbinderei spielte der Hammer, wie wenn er lebendig wäre in seiner Hand. Mir lachte das Herz im Leibe, sooft ich ihn sah, wenn wir miteinander arbeiteten und an Sonntagen spazierengingen. Er hatte noch gar nichts erlebt, er war im Heimatgrunde froh aufgewachsen und war frisch und gesund bis ins tiefste Herz hinein. Während er mir dankte, daß ich ihn mancherlei lehrte und mir dienen wollte, wie wenn ich der Haussohn und er ein fremder Knecht wäre, hatte ich an ihm die volle Freude einer echten Jugendfreundschaft. Dennoch teilte ich ihm von meinem schweren Schicksal nichts mit. Unser Zusammenleben war mir ein reiner Zufluchtsort, in den nichts von Trauer und Elend hereinkam, und ich wollte mir ihn so erhalten und auch das heitere, harmlose Gemüt Leopolds nicht damit stören. Ich war mit ihm so vollauf fröhlich, ja schwärmerisch glückselig, als ob noch nie ein Kummer in mich gedrungen wäre. Auf der Steinbank unter der Linde am Burgweg saßen wir oft halbe Nächte und plauderten und sangen, und Leopold hatte besonders ein Lied, das auf meinen Namen gemacht schien:
›Bei der Linden Kannst mich finden,
Bei der Linden bin ich gern.
Da wollen wir sitzen
Und schön stat (still) sein,
Und unsre Herzen Schlagen hör'n.
Auch ein Lehrling, der viel von den andern geneckt wurde, hing an mir wie ein jüngerer Bruder, denn ich behandelte ihn mit Liebe und suchte ihm damit die weichherzige Empfindlichkeit auszutreiben. Er hielt sich nun immer zu mir, und in der Fastnacht besuchten wir seine Eltern in Bayreuth, und ich wurde dort geehrt und gepflegt, daß mir's ins tiefste Herz hinein wohltat.
Der Oberbursche war in dem Haus, in dem Justines Mutter wohnte, ganz daheim. Ich war oft mit ihm dort, und das Kind schloß sich mir immer mehr an. Es ist eigenartig, mein Vorsatz, allein zu bleiben, gelingt mir nie, ich muß Menschen haben.«
Der Medizinalrat schaltete hier ein: »Das ist doch etwas von der guten Natur deines Vaters; er war auch immer der Allerweltsbeiständer, er mußte immer Menschen um sich haben, denen er mit seinem Rat beistehen und denen er Freude machen konnte.«
»Ja, ja, das ist so«, fuhr der Erzähler fort: »So hatte ich bald eine ganze Gruppe von Menschen, die mir zugeneigt waren; dabei war ich auch mit allen andern frischauf, denn ich gewann viel neue Kenntnisse und Erfahrungen in meinem Handwerk, ja, jetzt gewann ich auch wieder oder eigentlich erst recht zum erstenmal die Freude meines Handwerks. Am Abend wurden in unserer großen Stube noch allerlei Turnkünste gezeigt. Erst hier gewann ich ein Ansehen, denn ich war behende wie eine Katze, und dabei besiegte ich doch einmal an Kraft unsern Goliath. Wir hatten einen Pfannenburschen, der ein wahrer Riese an Kraft war; er schaufelte immer nur mit der einen Hand, und es kam ihm doch keiner zuvor. Eines Abends nun wagte ich mit ihm ein Wettspiel. Wir knüpften ein langes Handtuch zusammen, und jeder legte sich's ums Genick. Nun zogen wir aneinander. Keiner regte sich von der Stelle; da gelang's mir endlich, mit einem Ruck den Gewaltigen herumzureißen. Er strengte sich nun mit aller Gewalt an, mich zu werfen, aber es glückte ihm nicht. Ich riß ihn hin und her in der Stube, und der Riese, der bisher dafür gegolten hatte, daß er alles zermalmen könne, weinte vor Ärger. Acht Tage lang waren wir beide gliedlahm, ich konnte den Kopf nicht mehr drehen und mußte, wenn ich das wollte, mich immer ganz wenden, und besonders im Bett war das entsetzlich; aber keiner von uns sagte ein Wort, und von da an genoß ich einen gewissen Respekt. Arbeit allein war meine Lust; ich floh alles Denken und Grübeln, und wenn ich am Abend in die Brauerei kam, sprang ich oft mit einem hohen lustigen Satz hinein und: ›Juchhe!‹ hieß es. ›Wenn es nur morgen recht viel zu arbeiten gibt.‹ Mein Meister hat es oft gesagt, und ich muß jetzt dasselbe wiederholen: In fünfzig Jahren wird man's gar nicht mehr glauben, wie man früher arbeiten mußte. Da drüben die Dampfmaschine, die ist jetzt das eiserne Herz des ganzen Betriebes. Was die Dampfmaschine mit ihren alle Räume durchlaufenden Treibwellen tut, das war ehedem schweißvolle Hände-Arbeit, aber sie war auch lustig. Beim Festaufmaischen wurde immer gesungen, und dabei war in aller Art ein Wettkampf; es war ein kriegerischer Geist, einander zu überholen, und wer aus dem Takt kam, mußte mit Schimpf austreten. Indes läßt sich die alte Arbeitsweise nicht mehr herstellen, und ich selber bin so glücklich gewesen, hier in unserem neuen Werk manche Arbeitserleichterung gefunden zu haben. Man muß selbst gearbeitet haben, um Mühe und Arbeit ersparende Vorrichtungen und Maschinen zu erfinden. Es ist oft nur eine Kleinigkeit, die man anzubringen hat, daß die Arbeit nicht nur leichter, sondern auch genauer gemacht wird. Doch, ich muß Euch weiter erzählen.
Die chemischen Spielereien aus meiner frühen Jugend erwachten und kamen mir inmitten der Arbeit zustatten. Leopold, der Lehrling, und ich unterrichteten uns gemeinschaftlich, und ich hatte manchen Triumph, beim Sieden und Gären die Gesetze zu zeigen. Denn das ist und bleibt: Der Ungebildete beobachtet nur die einzelne Tatsache, der Gebildete allein sieht vollständig, denn er sieht die Gesetze. Auf unsern Meister paßte die Bezeichnung ›altfränkisch‹ in jeder Beziehung, in der guten treufesten Handhabung der Arbeit wie in der beschränkten Abwehr jeder Neuerung aus allgemeinen Grundsätzen. Die Verbesserungen, die ich mit Leopold an Bierküble und Bierschiff anbrachte, mußten wir im geheimen bewerkstelligen. Vor allem hatte der Meister einen wahren Haß auf alles, was von der Chemie herstammte. Es sagte immer: ›Die paar Groschen Leben, die ich noch habe, will ich ausgeben, wie ich's gewohnt bin.‹ Und die chemischen Ausdrücke, die er hie und da gehört hatte, gebrauchte er nur als Spottworte. Er hörte uns einst beim Ausruhen nach dem Festaufmaischen von Kohlensäure, ungelöstem Zuckergummi und Stärkemehl sprechen, und von da an nannte er mich monatelang manchmal den Kohlensauren, manchmal den Stärkegummi. Ein Thermometer, mit dem wir die so nötige gleichbleibende Temperatur des Lagerkellers messen wollten, durften wir von ihm nicht sehen lassen, und er für sich hatte recht, denn er konnte ohne jegliches Instrument die Temperatur ganz genau bezeichnen.
So hatte ich ein frisches fast heimliches Leben hier, und der Meister ging sogar so weit, daß er mich manchmal in einer Art neckte, die wie Zuneigung aussah. Er hatte einst gehört, wie ich mit Leopold darüber sprach, daß Regen- und Schneewasser – weil es keine erdigen Teile hat – das beste Bier gäbe, wie aber nur der Umstand hinderlich sei, daß man es nicht massenhaft genug sammeln und auch nicht vor Fäulnis bewahren könne. Wenn es nun regnete oder schneite, sagte der Meister oft zu mir: ›Du, Zuckergummi, da regnet das beste Bierwasser vom Himmel.‹ Dennoch hatte der Meister tief im Herzen immer ein Mißtrauen gegen mich, und daran war besonders Freund Schneckenberger schuld. Dieser schien es ungern zu sehen, daß ich mit den Meistersöhnen so gut stand, ja sogar, daß ich im Frühling mit ihnen und mit der Tochter des Hauses nach der Plassenburg spazierenging; droben ist nämlich ein gutes Wirtshaus, und die Menschen, die in der Nähe leben, denken sich nichts mehr dabei, sich da zu vergnügen, wo nebenan Gefangene sitzen. Es wurde viel gesungen, und ich selbst sang mit, so hell und laut ich konnte; mein Vater sollte uns hören, denn er hatte mir merkwürdigerweise oft geklagt, daß er eine Sehnsucht nach Musik habe, die ihn fast wie ein Wahnsinn verzehre. ›Wenn ich nur Musik hören könnte, Musik, schönen Gesang; ich spür's, das wäre ein Bad für meine Seele, aus dem ich frisch gestärkt hervorginge.‹
So sang ich ihm nun mit den andern.
Der Oberbursche hatte ein Auge auf die Meisterstochter geworfen und glaubte am besten sein Ziel zu erreichen, indem er sich zum Liebling des Meisters machte. Reinlichkeit ist natürlich das erste Erfordernis bei unserm Handwerk, denn jede Unreinlichkeit in Faß, Pfanne und Darrboden führt einen Gärungsstoff mit sich. Der Alte war nun in Handhabung der Sauberkeit peinlich genau und hatte dabei auch übrigens allerlei Grillen: denn, wie schon gesagt, wo Kunstgriffe sich ansetzen, setzen sich auch Grillen an. Mir dagegen lag das Grundmäßige, die Ursache, viel näher, und ich suchte daher einmal dem Meister die strenge Handhabung seiner Kunstgriffe abzustreiten, indem ich ihm darlegte, was dabei einen Grund habe und was nicht. Er schüttelte den Kopf. Nun aber war er ganz fertig mit mir. Ich war in seinen Augen ein Taugenichts. Dazu kam, daß bald im Städtchen bekannt wurde, ich sei vormals ein Student gewesen, und während ich wohl sah, daß mich viele Leute darum besonders beachteten, kam ich bei meinen Handwerksgenossen wie bei dem Meister dadurch nur noch mehr in ein Mißverhältnis.
Der Meister stimmte darin mit den Gesellen überein, und machte sich's ebensowenig klar wie diese, daß die Bildung eigentlich nur besondere Fertigkeit zu allerlei Schelmereien sei. Und da ich unter dessen, was durch meinen Vater auf mir lastete, immer etwas Scheues und Zaghaftes hatte, so galt das dem Meister für Duckmäuserei. Der Oberbursche war und blieb sein Liebling, denn er benahm sich zutraulich, offen und gradaus. Der Meister ging immer umher, überall, den ganzen Tag. Keiner wußte, wann er ihn überraschte, und dadurch war allzeit und unausgesetzte Aufmerksamkeit; aber auch die Arbeit selbst hat in sich etwas Mahnendes, das nicht lässig werden läßt.
Der Oberbursche mußte indes doch ein eignes Merkzeichen haben, wenn der Meister in der Nähe war, und wenn er uns Burschen und den Lehrling tüchtig ausschimpfte, konnten wir sicher sein, daß der Meister lausche; denn dann tat es der Oberbursche jedesmal bei der geringsten Veranlassung, um sich vor dem Meister recht als gut Kind hinzustellen. Obwohl Schneckenberger ein so unwirscher Geselle war, standen wir doch in einem zutraulichen Verhältnis. Er war einer jener Menschen, die sich immer gewaltsam anstrengen, sich irgendwo festzusetzen, aber nie dazu kommen. Ich hatte eigentlich Mitleid mit ihm, aber natürlich durfte ich ihm das nie sagen; und daß ich mir viel von ihm gefallen ließ, nahm er einfach als notwendige Anerkennung seiner Herrschaft. Dadurch, daß es nun offenkundig geworden war, ich hätte studiert, bekam ich nun auch ungehindert Gelegenheit, die kleine Justine, die immer mehr heranwuchs, zu unterrichten, und ich brachte den größten Teil meiner Abende und Sonntage in jenem letzten Häuschen vor der Plassenburg zu.
Für meinen Vater konnte ich eigentlich wenig mehr tun, als daß ich ihm das Gefühl gab, daß ich in seiner Nähe sei, und er sagte in seiner Vergrämung oft, es sei eigentlich nicht nötig, daß ich in Kulmbach bliebe, ja, es täte ihm eigentlich nur weh, wenn er immer wieder sehe, daß es Menschen gäbe, die frei herumlaufen dürfen. Mein Vater verbitterte sich sein hartes Leben noch durch den steten Kampf gegen die Aufseher, und er war einst nahe daran, mich zu verfluchen, als ich ihm vorhielt, daß diese Männer ein nicht minder elendes und gefangenes Leben führten als diejenigen, die sie beaufsichtigten.
Ich ertrug alles in Geduld, und dazu war ich auch in meinen Verhältnissen so festgewachsen, daß von Fortgehen bei mir keine Rede war. Dennoch wäre es ohne Dazwischentreten meines Leopold fast einmal plötzlich dazu gekommen. Ohne viel weiter darüber nachzudenken, hatte ich der Mutter Justines oftmals einen Kübel voll ausgepreßtem Malz zur Viehfütterung gegeben. Eine besondere Freude hatte sie, wenn ich ihr von dem Braumalz gab, das man auf der Trommel brennt und mit dem man dem Braubier die Farbe gibt; sie aß oft ganze Hände voll davon. Sie wußte aber auch von diesem Braumalz einen sehr guten Kaffee zu bereiten, und ich weiß nicht, woher sie das Wort hatte, aber sie sagte immer: ›Der schmeckt so gut wie der arabische Kaffee und ist noch nahrhafter!‹ Aber im zweiten Sommer, als wir in verschiedene Fässer neue Borde eingezogen hatten und sie eben an mir mit einem leeren Tragkorb vorüberging, erlaubte ich ihr, die alten Borde, es waren höchstens 15-20, und zwar geringere Bodenbretter, mitzunehmen. Da kam der Alte dazu, und er wollte mich augenblicklich fortschicken. Nur dem Dazwischentreten Leopolds und meinem eigenen freimütigen Bekenntnis, daß ich sehe, ich hätte unrecht, gelang es, seinen Zorn zu stillen.
Der Alte zwinkerte mißtrauisch mit den Augen, als er mich meinen Fehler so offen bekennen sah; er wollte das anfangs für ausgelernte Schelmerei nehmen, aber er sah meine tiefe Reue und gab nach. Er konnte nicht ahnen, was mir plötzlich so sehr aufs Gewissen fiel. Hatte nicht mein Vater in der Lust zu schenken und andern zu helfen mit Anvertrautem so leicht hantiert, daß er zuletzt ins Verbrechen versank? Steckt nicht auch in dir etwas von diesem rücksichtslosen Umspringen mit fremdem Gut?
Ich war nahe daran, vor dem Meister in die Knie zu sinken und ihm alles zu bekennen, was in mir vorging, aber ich war doch nun schon weltklug, es als unstatthaft zu verwerfen; das war weder der rechte Mann für solche Beichte, noch taugt diese überhaupt etwas. Je mehr man in Selbstanklage sein Innerstes bekennt und die Grundursachen herauskehrt, um so geringer halten einen die Menschen und sie dünken sich wunder wie groß und tugendhaft, weil sie selber nie so tief hineingesunken. Ich fügte daher nur einfach hinzu: ›Meister, Ihr habt recht, es soll nicht mehr geschehen.‹ Und dabei verblieb's. Der Meister sagte fortan nie mehr ein Scherzwort zu mir.
Es war im zweiten Frühling, die Tochter des Hauses war Braut geworden, und der Oberbursche ging immer umher, als brenne ihm der Kopf. Er sprach tagtäglich davon, daß er aufkündigen und davongehen wolle, aber er konnte nicht fort. Es wurmte ihn offenbar, daß ich dann zum Oberburschen aufsteigen würde und überhaupt, daß alles hier lustig sei, während er wieder in die Welt hinaus müsse. Es ging etwas in ihm vor, was mir ihn unheimlich machte, und jeden Morgen war ich froh, wenn ich hörte, daß in der Nacht nichts vorgefallen war, kein Mord, kein Brand. Droben, wo Justine wohnte, schimpfte und fluchte der Oberbursche über die ganze Welt, und wenn er zum Meister kam, tat er wieder überaus geschmeidig und unterwürfig. Ich erfuhr erst später, daß er mich immer beim Meister angeklagt hatte, denn er hatte längere Zeit geglaubt, die Meisterstochter neige mir zu. Ich suchte ihn jetzt in allerlei Weise zu mäßigen, aber er sagte mir einmal: ›Sei still, du kohlensaurer Sträflingssohn. Du bist undankbar und hast kein Vertrauen zu mir. Warum lehrst du den Leopold und den Lehrling alles?‹
›Was denn?‹
›Der Lehrling sagt, du wüßtest ein Mittel, wie man mit leichter Mühe dem Bier den Tod gibt. Sag, was ist das?‹
Ich wollte ihm ausreden, daß ich etwas Derartiges wisse, daß es überhaupt Derartiges gebe, aber er blieb fest und schwor zuletzt, auch mir kein Vertrauen mehr zu bewahren, wenn ich ihm kein Vertrauen schenke. Ich war eitel und albern und schwach genug – denn alles wirkte mit –, ihm das Mittel anzugeben. Jedes Bier wird sauer, wenn man es neu in Gärung bringt. Das kann man einfach damit machen, indem man die Krume eines stark gesäuerten Schwarzbrots in das Faß wirft und das ganz schnell, wenn man das Brot vorher in Essig taucht und den Essig darin trocknen läßt. Ich erschrak vor mir selbst, als ich ihm dies Mittel genannt hatte. Ich hatte bisher dem Oberburschen nur halb vertraut; erst in dieser Minute erschien er mir völlig alles Schlechten fähig, und doch gab ich ihm in eben dieser Minute eine Waffe, gab dem Meuchelmörder ein Gift. Ich suchte mir die Angst auszureden, aber ich wurde sie nicht los; ich hatte einen Verrat begangen, ein Geheimnis in unreine Hände gelegt. Und ich war doch nicht sicher, daß er mich nicht verriet. Warum sollte er nicht, da ich die Wissenschaft verriet? Es gibt auch in der Freundschaft einen sündhaften Verkehr und besonders darin, daß man immer wieder sich und dem andern einredet, man sei gut und vertrauensvoll miteinander, und es ist dem doch nicht so. Ich galt als der Freund Schneckenbergers und war's; gewissermaßen auch, und doch war ich's nie recht. Ich hatte kein volles Vertrauen zu ihm, und jetzt rächte sich die Halbheit und die Lüge. Ich hatte ihm nicht nur meine eigenen Verhältnisse, sondern auch eine Zerstörungskraft in die Hand gegeben, und doch vertraute ich ihm nicht und glaubte nicht an ihn. Und wieder wollte ich mich beruhigen, der Oberbursche hatte mich ja ausgelacht, als ich ihm das Mittel angab, und dabei gesagt, daß ihm das schon lange bekannt sei, er habe geglaubt, ich wisse ganz anderes, das sei ja jedem Kind bekannt; aber ich konnte doch eine Bangigkeit nicht loswerden. Ich ging nun wochenlang immer wie zitternd umher; ich wollte dem Meister erklären, wer ich sei, um es dem Oberburschen nicht zu lassen, daß er mich nach Belieben verunehre, aber ich kam immer nicht dazu. Hätte ich nur geahnt, daß ich durch dieses Zögern neues Mißtrauen auf mich lenkte; aber wer kann sich das vorstellen? Mein Leopold fragte mich oft, warum ich so traurig sei, ob es wohl wahr sei, daß ich die fünfzehnjährige Justine liebte, die nun als Magd bei der Schwester unseres Lehrlings in Bayreuth in Dienst getreten war. Ich wich seinem Drängen aus. Allerdings tat mir die Abwesenheit des Kindes weh, aber ich wußte sie wohlversorgt, denn ich hatte sie den Eltern unseres Lehrling empfohlen; und zum Dank für meine Freundlichkeit gegenüber dem Lehrling hatten sie sie in Dienst genommen und behandelten sie gewiß gut. Ich war nahe daran, dem Meistersohn zu sagen, wo mein Vater sei, aber ich brachte es nicht über die Lippen, und so lebte ich dahin bis zum zweiten Vorabend vor der Hochzeit der Meisterstochter.
Ich war oben bei der Mutter Justines, da standen plötzlich der Meister und sein ältester Sohn mit einem Korb vor mir. ›Wir sind auf deine Schelmereien gekommen!‹ sagte der Meister heftig. ›Wir haben das Nest ausgehoben. Da schau, hier im Haus, wo du deinen Aufenthalt hast, hier hat sich endlich gefunden, was abhanden gekommen ist; und kein Teufel hat gewußt, wie. Ja, ja, wo man die Borde hinschenkt, da müssen auch die Hähne nach!‹ Und der Sohn rückte einen Korb voller Messinghähne herein, die uns allerdings seit geraumer Zeit abhanden gekommen waren.
›Was geht das mich an?‹ fragte ich.
›Das wirst du vor dem Gericht erfahren, du ungelöster Zuckergummi‹, sagte der älteste Sohn. Der Meister aber gebot ihm Stille und sagte: ›Laßt mich mit ihm, die paar Groschen Leben, die ich noch habe, will ich nicht vor den Gerichten verzetteln. Komm her zu mir, du saubres Früchtel, du kannst ja so leicht bekennen, es hat sich ja gezeigt damals bei den Borden. Sag gradheraus. Nein, du kannst nicht. Weg da ihr andern von mir, ich will ihn selber richten.‹ Er warf einen Stuhl um, knackte ein Bein ab und rief dabei: ›Du sollst's von mir kriegen, dann kannst du über's Feld springen!‹ Er stürzte auf mich los und faßte mich an der Brust.
Ich kann nicht mehr sagen, was da über mich kam – ich sollte als Dieb gezüchtigt werden. Ich hielt dem Meister die Hand fest, und sagte :›Herr Meister! Wenn ich Strafe verdiene, so wäre es ganz recht, ganz natürlich, und ich würde nichts dagegen einwenden, daß Ihr sie mir gebt, Meister. Aber nicht der Richter gibt die Prügel, sondern ein anderer, der Richter muß ruhig urteilen können, nicht in Leidenschaft stehen, die blind macht, die taub macht; darum sind Richter in die Welt gestellt und wieder –‹
›Wie es scheint, hast du schon dein Teil damit zu tun gehabt!‹ rief der Meister schäumend vor Wut.
›Ja, das habe ich leider Gottes, und mehr und schwerer, als Ihr denken könnt. Ich bin härter gestraft als Gesetze, als Ketten und Prügel strafen können. Wißt Ihr, wer da oben ist ?‹
›Du weißt es nicht! Du weißt es nicht, daß ein Gott im Himmel ist.‹
›Ich meine es anders, ich will Euch noch mehr fragen, worüber Ihr erschrecken werdet.‹
›Ja, sag, gesteh alles, was hast du sonst noch?‹
›Da droben auf der Plassenburg sitzt mein Vater nun schon fünf lange schwere Jahre, und ich bin da, um ihm nahe zu sein.‹
›Das weiß ich schon lang, drum hab' ich geglaubt, du bist doppelt ehrlich. Aber ich seh', du holst dir da oben den Unterricht, wie man am besten stiehlt und raubt und scheinheilig tut.‹
›Herr Meister, so wahr möge Gott Euch das Gute lohnen, das Ihr getan, so wahr das ist, was ich zu Euch spreche: Ich bin unschuldig an diesem da. Ich weiß nichts davon; aber ich sehe, der Verdacht liegt auf mir, ich weiß ihn nicht abzuwälzen, ich will ihn auf niemand laden, der mit mir hier im Hause aus und ein geht.‹
›Für den werd' ich auch schon sorgen.‹
›Meister, so bitt' ich um eins, es wird eine Zeit kommen, wo ich's fordern kann, jetzt muß ich's noch bitten, so bitt' ich: Entlaßt mich.‹
›Und du meinst, das wäre genug?‹
›Es ist mehr als die härteste Strafe,, die mir werden kann. Bedenkt, ich bin meinem Vater nahe, ich habe alles auf mich genommen, um ihm Trost zu bringen. Wir sind allein auf der ganzen Welt, und nun werde ich hinausgestoßen, selber mit einem Flecken auf meiner Ehre, kann meinem Vater nichts mehr sein und bin mir selber nichts mehr. Jeder Schritt, den ich gehe, ist schwerer, als wenn ich Eisen an den Füßen hätte, und, Meister, so möge Gott mich in der Ewigkeit verdammen, wenn ich jetzt schuldig bin.‹
Es muß etwas in meinen Worten gewesen sein, was den Meister bewältigte, denn er sagte: ›Laßt ihn gehen, kommt mit, und du komm morgen früh zu mir, und hol dir dein Wanderbuch; aber laß dich nicht mehr im Brauhaus und in keinem Keller mehr antreffen.‹
›Warum?‹
›Weil das bei uns Altfränkischen so der Brauch ist. Wirst du in einem Keller getroffen, lasse ich dich gleich einspunden. Geh 'nauf und schlaf bei deinem Vater.‹
Da saß ich nun. Aber es ist jetzt keine Zeit mehr zum Brüten, ich wollte noch hinauf und von meinem Vater Abschied nehmen, denn morgen am Tage konnte ich mich hier nirgends mehr sehen lassen. Mir bangte davor, meinem Vater alles zu sagen. Als ich hinaustrat, riß mich ein Wirbelwind fast um, der Wind jagte ein Gewitter vor sich her, und jetzt brüllte der Donner, und Blitze zuckten und beleuchteten rasch das weite Tal, die Burg, die Stadt; und dann war wieder alles doppelt dunkel und finster. Die alten Linden am Wege rauschten und sausten und übergossen den Weg und mich selbst mit ihren unaufgebrochenen Blüten, und mir war's als ob es Schwefel regnete, und ein Ast knackte von der Linde an der Steinbank und fiel gerade neben mir nieder und riß mich um. Ich richtete mich auf, und jetzt rauschte ein gewaltiges Hagelwetter nieder. Das war das rechte Wetter für mich. Wie muß den Gefangenen dort zumute sein, wenn sie jetzt erwachen und hören es draußen rasen und sie selber sind gefangen. Das ist das rechte Wetter, in dem der Sohn, der für einen Dieb gilt, von dem gefangenen Vater Abschied nimmt. Und wieder – so tief war ich doch ins Handwerk eingewachsen – mitten in allem fiel mir jetzt ein, daß wir Bier auf Gärung hatten; das konnte jetzt beim Gewitter durch die Elektrizität der Luft umschlagen.
Ich war den Berg hinangegangen bis zum Tor der Burg und hätte doch vorher wissen können, was ich jetzt von der Wache erfuhr: daß niemand mehr eingelassen werde und ich jetzt meinen Vater nicht sprechen könne. Ich nahm mir vor, vom nächsten Ort zu schreiben, wo ich morgen haltmachen würde.
Als ich durch und durch naß in der Herberge ankam, traf ich hier den Oberburschen und den Lehrling, die auf mich warteten. Der Lehrling weinte fast, als er mich sah, und wollte meine Hand gar nicht loslassen. Der Oberbursche sagte: ›Du gehörst noch gar nicht daher, ich habe mit dem allein zu reden.‹ Der Lehrling mußte fort. Der Oberbursche lachte mich aus, als ich dem Lehrling noch nachrief, ob er den Luftzugang zu unserem Sommerbier bei dem Gewitter gehörig abgeschlossen habe, und ihm empfahl, nochmals nachzusehen. Der Lehrling versprach mir anderentags das Geleit zu geben. Nun ließ der Oberbursche Branntwein bringen. Ich mußte trinken, daß ich mich erwärme, und er selber trank übermäßig und sagte, die Hahnen seien von dem Meister hingeschafft worden, um auf gute Manier uns beide Gesellen jetzt, wo es wenig zu tun gebe, aus Lohn und Brot zu bringen; denn er sehe schon, auch er müsse fort, aber er glaube, daß die Greifenwirtin in Bayreuth, die diesen Sommer des Vaters Bier ausschenke, viel Musik haben müsse. Ich fragte ihn, was er meine, er aber sagte: ›Denk ans Sprichwort.‹ Ich verstand ihn nicht. Es gibt Zustände und Stunden, wo uns alles Denken genommen ist.
In dieser Nacht habe ich schwer gerungen mit allen finstern Geistern. Der Trotz gegen die Welt, gegen diese tugendstolze, erbärmliche, rüttelte mich auf. Ich war in Empörung gegen alles, ja ich wäre jetzt gern ein Verbrecher geworden. Feindlich im ewigen Kampf mit der Welt stehen, rauben und vernichten, wo man vermag, das dünkte mir ein Labsal. Sie haben mich gekränkt, mich unschuldig hinausgestoßen. – Wenn ich nur Rache nehmen könnte, und sei es, daß ich dabei selbst zugrunde ginge.
So warf es mich hin und her die lange schwere Nacht, und als ich aus einem schweren Traum erwachte, war mir's, als hörte ich noch die Stimme meiner Mutter. Sie rief: ›Guido!‹ und legte ihre Hand auf meine Schulter; ich wandte mich um und wollte sie fassen. Ich war allein, aber ich war erlöst.
Am Morgen brachte mir der Lehrling mein Wanderbuch und sagte, Leopold habe es beim Vater dahin gebracht, daß er mir nicht ins Wanderbuch geschrieben habe, warum ich entlassen werde. Aber es sei ihm vom Vater verboten, mich nochmals zu sehen. Er half mir nun beim Einpacken und trug mir den Ranzen zum Tor hinaus, still neben mir hergehend. Erst draußen vor der Stadt begann er immerfort zu klagen, daß er noch kein eigenes Brauhaus habe, ich sollte nur sehen, daß ich einstweilen unterkäme, er werde bald ein Brauhaus haben, dann nähme er mich und wir wollten miteinander leben wie Brüder. Die Treuherzigkeit des wackern Jungen tat mir wohl, ich hatte doch etwas Gutes getan da drin im Städtchen, und ich bat ihn, Justine von mir zu grüßen und ihr zu sagen, daß alles noch gut werde; die Unschuld werde schon an den Tag kommen. Ich bat ihn noch, auch zu meinem Vater zu gehen und ihm zu sagen, daß ich vom nächsten Ort aus schreiben werde, vielleicht heute noch. Nun war ich allein, und jetzt mußte ich wandern. Ich trug eine Last, die schwer drückte, ich war in Unehre ausgestoßen, und ich konnte mir denken, was man in diesem und in jenem Hause, wo man sich mir freundlich zugewandt hatte, von mir denken müsse, und bald bin ich den Menschen da drin nichts als ein Schall, der schnell verklungen ist. Und neu ging mir's auf, wie viele Menschen mein waren und wie viele nun auch durch mich traurig und unglücklich wurden. Vor allem wehe tat es mir um meinen Leopold, der hatte mich so brüderlich geliebt, er war so arglos und frisch gewesen, und jetzt ... Es gibt Erfahrungen, durch die ein Gemüt noch schneller versäuert wird und umschlägt als Bier durch eine Brotkrume. Und wie ich so fortwanderte und darüber nachdachte, wie mein Unglück auch das Leopolds geworden ist, wie ich es zu verantworten habe, daß durch mich eine Seele verdorben wurde, und wie ich mich jetzt hineindachte in das Städtchen und Leopold in Gedanken auf Schritt und Tritt begleitete, da kam ein Fuhrwerk mit Hausrat dahergefahren; es war die Aussteuer unserer Meisterstochter und vorn darauf ein neues Faß, zierlich geschnitzt, wozu ich noch selbst die Zeichnung gemacht hatte. Der Knecht kannte mich, er rief mich an, ob ich nicht mitfahren wolle, ich winkte still verneinend, und jetzt plötzlich fiel mir ein, was der Oberbursche gesagt hatte: die neue Greifenwirtin werde viel Musik haben müssen; ja das ist's, was er gestern gemeint hatte. Wo sauer Bier ist, da muß man Musik machen. Gewiß, er wollte dem Bier den Tod geben. Ich kehrte um, ich mußte unsere Arbeit retten und zugleich das helle Gemüt Leopolds. Der Oberbursche wußte das Mittel, ich war schuld, wenn er die grausame Tat vollzog. Ich kehrte um und ging dann wieder vorwärts, bald hin, bald her. Ich wußte kaum mehr, welches der Weg nach Kulmbach und welches der in die weite Welt hinaus war, so schwirrte mir alles, aber ich war fest entschlossen, umzukehren und Leopold zu warnen und ihn und unsere Arbeit zu retten. Im Dorf wartete ich, bis es Nacht geworden war, dann ließ ich meinen Ranzen bei den Wirtsleuten liegen, füllte meine Feldtasche mit Branntwein und kaufte mir einen Laib Brot, den ich in Stücke zerschnitt und in meine Taschen steckte. Ich wußte noch nicht genau, was ich wollte, aber es trieb mich vorwärts, immer wieder Kulmbach zu.
Das Städtchen lag ruhig schlummernd im Mondschein. Nur bisweilen bellte ein Hund, die Brunnen rauschten, und ich wandelte wie ein Gespenst durch die Straßen. Als ich den Weg zur Plassenburg hinaufging, wer saß da unter der Linde? Ja, es war Leopold, und wir beide schauten uns an wie Gespenster, und doch hatte jeder in diesem Augenblick an den andern gedacht und ihn herbeigewünscht. Ich gewann zuerst die Sprache wieder, und ich sagte zu ihm: »Bruderherz, es ist ein Segen in der Welt: Wo niemand mehr bei uns ist und sehen kann, was wir getan, gelassen, wo wir niemand zum Zeugen anrufen können, ist doch einer bei uns allgegenwärtig, und so schwöre ich dir bei Gott dem Allgegenwärtigen, ich bin unschuldig, ich schwöre es dir hier bei den ewigen Sternen, die über uns leuchten, und ich bin gekommen, um dir das zu sagen. Dein helles Gemüt soll nicht getrübt werden. Du sollst nicht glauben, daß einer, den du Herzbruder nanntest, schlecht sei. Gib mir deine Hand, du gibst sie deinem braven Kameraden.«
Leopold stand zitternd, und mit einem Jubelschrei fiel er mir um den Hals, und wir küßten uns zum erstenmal, und das war ein Augenblick, dem keiner gleicht. Wir hielten einander fest und weinten vor Freude, und die Sterne am Himmel erglänzten neu und die Linden rauschten.
Hand in Hand schritten wir dann lange durch das Tal, und keiner redete ein Wort, bis endlich Leopold sagte: ›Ich habe doch fest darauf gehofft, daß du wiederkommst. Ich hatte mir vorgenommen, dort, wo wir so oft miteinander gesessen, die ganze Nacht zu warten, und wenn du diese Nacht nicht kämst, dich auf ewig zu vergessen.‹
Er erzählte mir, daß er noch am Abend spät bei meinem Vater oben auf der Plassenburg gewesen sei; er habe ihm mitgeteilt, daß ich fort sei, daß er aber, weil er einmal mein Freund gewesen, an meiner Stelle ihm leisten wolle, was in seinen Kräften stehe. Wie selig machte mich diese Tat meines Freundes. In solchem Augenblick kommt eine Wonne in das Herz, der nichts mehr gleicht, und es ist nicht wohlgetan, wenn man auf solche flammenden Jugendstunden in späterer Zeit achselzuckend zurückschaut; denn es gibt einen Tau, der in das Leben dringt, und was von Frische in uns bleibt, quillt aus ihm.
Ich berichtete Leopold, was ich von dem Oberburschen fürchtete. Er stand starr und erzählte mir, daß der Oberbursche nicht abgelassen habe, bis man den immer zugemauerten Keller, in dem die großen Sommervorräte lagen, aufbrach, und es fiel ihm jetzt auf, daß der Oberbursche immer sagte, er wolle morgen und übermorgen schon alles allein machen, die Sendung ins Ausland besorgen, da Leopold mit der Hochzeit der Schwester zu tun habe. Es sei ihm aufgefallen, daß der Oberbursche so besorgt und tätig sein wolle, während er doch merke, daß er auch bald entlassen werde. Ich beschwor nun Leopold, dem Oberburschen die Kellerschlüssel abzunehmen, damit er nicht zur Ausführung seines Verbrechens käme. Hier aber zeigte sich ein großer Unterschied zwischen Leopold und mir. Leopold wollte ihn die Sache ausführen lassen, wenigstens bis zum unwiderleglichen Versuch und dann wollte man ihn packen und er mußte dann auch den Diebstahl eingestehen. Mir widerstrebte es, einen Menschen nicht daran zu hindern, daß er ein Verbrechen begeht, sondern ihn zum Verbrecher werden zu lassen und dann zu packen; dennoch erzählte ich, daß es meine Absicht gewesen sei, in den Keller zu schleichen, mich dort zu verstecken und den Oberburschen daran zu hindern, daß er die Tat ausführe. Leopold indes verwarf alles das als zu gutmütig und verlangte von mir, daß ich den Oberburschen überrasche. Ich gab nach. Wir waren die ganze Nacht hin und her gewandert, und als der Morgen graute und die ersten Lerchen sich aufschwangen, ging ich in den Keller, versteckte mich hinter ein Faß und schlief bald ein. Ich wurde von Gesang erweckt, denn der Lehrling kam hell singend, und es hallte wider von den Gewölben. Jetzt kam er mit Licht an dem Faß vorüber, hinter dem ich war, nein, ich durfte mich nicht verraten, mich ihm nicht zu erkennen geben. Er ging hinaus und schloß wieder zu. Ich mußte lange geschlafen haben, denn ich fühlte einen entsetzlichen Hunger. Mein Brot und der Branntwein erfrischten mich wieder. Ich wußte nicht, war es Tag oder Nacht. Es rieselte leise von der Decke, ich hörte jeden Ton; ich meinte, ich hörte die Spinnen. Unsre Sommerbierkeller waren immer kalt, und das war gut, wir brauchten dadurch das Lagerbier weniger stark einzusieden und ihm weniger Hopfen zuzusetzen; jetzt aber schauerte es mich, und es war so entsetzlich dunkel, ich hatte ja selbst noch mitgeholfen, für den Sommer alle Öffnungen dicht mit Sand auszufüllen.
Mir wirbelte es im Sinn, daß ich mich doch von Leopold hatte voreilig umstimmen lassen. Wenn ich den Oberburschen packte, würde er mich vor dem Meister anklagen, und da ich gegen seinen ausdrücklichen Befehl mich hier versteckt hielt, wäre ein Verdacht gegen mich geschaffen, ich käme aufs neue ins Unglück. Das wäre die Strafe, weil ich mich verleiten ließ, einem andern eine Grube zu graben. Ich war entschlossen, sobald jemand kam, mich leise hinauszuschleichen. Ich wußte nicht mehr, wie lange ich dort war, und wußte nicht, warum sich Leopold nicht sehen ließ? Warum ließ er mich so lange allein? Da rasselte es am Schloß. Es mußte Nacht sein, ich hörte nichts als Hunde bellen, die Windungen im Keller ließen nichts von warmer Tagesluft eindringen. Jetzt hörte ich des Oberburschen Schritte. Er klopfte mit seinem Hammer an alle Fässer und lachte dabei. Er stieg an einem hinauf, öffnete den Spund und schlug ihn schnell wieder zu. Was war das? Jetzt kam er nahe. Er nahm die bewegliche Treppe und stieg hinauf und zwar grade an dem Faß, hinter dem ich kauerte. Er schlug mit dem breiten Eisenhammer den Spund auf. Mir ging jeder Schlag durch Mark und Bein. Dann setzte er sich auf das Faß, steckte den Heber hinein, und mit einem tiefen Atemzug holte er ein volles Glas heraus und ließ das andere im Heber auf den Boden laufen. Er hielt das Glas ans Licht und sagte vor sich hin: ›Ei, wie schön hell, wie hell, das soll mir munden!‹
Mich überlief kalter Schweiß. Er hatte ein Stück Brot neben sich, das er zerbröselte; dann hob er das Glas empor und rief: ›Zur Gesundheit! Das andere bringe ich alles dem Teufel und seiner essigsauren Großmutter.‹ Da schnellte ich empor und faßte ihn, und ich weiß nicht, wie es gekommen, ich rief ein paar griechische Worte und rang mit ihm. Wir kollerten von dem Faß; er schrie: ›Der Teufel! Der Teufel! Er hat mich schon! Hat mich schon!‹ und lag leblos da. Mir standen die Haare zu Berge; ich lief hinaus. Es war nicht Nacht, es war Tag, ein kühler, sonnenloser Tag, und die Menschen, die mich sahen, entsetzten sich, denn ich soll ganz schwarzblau und von Spinnenweben und Schmutz bedeckt gewesen sein und entsetzlich ausgesehen haben. Ich schrie um Hilfe. Vom Berg herab kam Musik, ein fröhlicher Zug nahte, das war der Hochzeitszug. Leopold sprang voraus; als er mich sah, faßte mich, ich sank kraftlos nieder, aber er erweckte mich rasch. Der Zug ging heimwärts. Der Meister, der älteste Sohn, der Lehrling, die Gesellen und viele aus dem Städtchen drangen mit in den Keller ein. Da lag der Oberbursche noch am Boden, schrie und winselte, der Teufel, der Teufel habe ihn gerufen.
Wir brachten ihn wieder zur Besinnung, und er gestand alles, den Diebstahl der Hähne und was er sonst noch getan hatte. In dem einen Faß, das ich schnell hatte aufspunden hören, fand sich in der Tat ein großes Stück Brot, und ein in große Stücke geschnittener Laib Brot, in den offenbar Essig eingetrocknet war, lag noch neben ihm. Er ist ins Arbeitshaus gekommen, aber bald wurde er ins Irrenhaus gebracht, wo er kurz darauf gestorben ist.
Im Haus des Meisters wurde ich nun mit Freuden wieder neu aufgenommen. Ich blieb dort noch zwei Jahre. Unser Meister meinte noch immer, die Welt gehe unter, weil die Jugend nicht mehr so sei, wie die seinige war, weil sie andere Vergnügungen hat; aber die Welt wird eben immer wieder neu, und sogar die Aktienunternehmungen, die der Meister vor allem haßte, weil sie die Selbständigkeit unseres Handwerks untergraben, sogar diese müssen mit der Zeit eine Lebenserneuerung bringen. Wenige Monate bevor mein Vater frei wurde, kamen die Abgeordneten des hiesigen Aktienvereins. Ich wurde ihnen als tüchtig empfohlen, und mein Meister legte ihnen noch besonders ans Herz, daß sie nicht leicht einen fänden, der auf fremdes Gut so bedacht sei wie ich, und ich darf ohne Ziererei gestehen, daß dies der Fall ist.
Und ist es nicht wunderbar, daß ich grade heute in dieser Nacht vor Johanni, da sich mein Wiedersehen mit Leopold zum zehntenmal jährt, euch alles das erzählen muß?«
So schloß der Braumeister, und der Medizinalrat fragte: »Aber wie ist's mit Justine?«
»Sie hat den Trauring meiner Mutter, den sie damals als Kind von mir verlangte, in der Tat bekommen. Still, sie kommt eben. Ich höre sie draußen. Komm herein, Frau.«
Justine trat ein mit den beiden Kindern, und der Braumeister sagte zu ihr: »Da hab' ich meinen besten, treuen Jugendfreund.«
»Und hier einen neuen Freund!« sagte der Tribun und reichte dem Braumeister die eine und Justine die andre Hand. Ein fröhlicherer Menschenkreis saß lange nicht beisammen auf der Bierburg als an diesem Abend.
Der Medizinalrat dankte dem Tribun, daß er durch ihn einen neuen Jugendfreund wiederbekommen hatte, aber mit der Zeit wurde es noch ganz anders. Der Braumeister gewann durch ihn einen neuen Freund und neue Heimat. Er war in dem fremden Land doch noch immer fremd gewesen; jetzt hatte er einen Mann, und dazu einen solchen von beneidenswerter Gleichmäßigkeit und Festigkeit des Wesens, der ihm nahe war wie ein Jugendfreund, denn er hatte ihn durch seinen Jugendfreund gewonnen, und je mehr er den Tribun achten und lieben lernte, um so mehr lernte er auch Wesen und Charakter des Volksstammes, unter den er versetzt war, achten und lieben. In dem fremden Boden wurzelte er erst jetzt ein. Ja, es freute ihn, daß seine Kinder die landesübliche singende Mundart haben, während er früher oft gewünscht hatte, sie möchten die Mundart seiner Heimat gewinnen.
Kommt einmal gegen Abend in einer Stadt in Deutschland ein Fremder mit der Extrapost an und verlangt Pferde, um weiterzufahren. Ein baumstarker Postillion spannt an und fährt mit dem fremden Herrn ab. Als sie in den zwei Stunden langen Wald kommen, fängt es an, Nacht zu werden. Es ist, als ob die Pferde selber eine besondere Unruhe verspürten, und sie laufen, daß man glaubt, die Räder fliegen davon. Plötzlich werden sie aber angehalten, drei Räuber überfallen den Wagen und verlangen von dem Reisenden, er solle ihnen alles, was er habe, freiwillig geben, oder sie wollten ihn zwingen, daß er keinen Einspruch mehr machen könne. Der Bedrängte ruft nun den Postillion zu Hilfe. Dieser aber sitzt ruhig auf dem Bock und schmaucht behaglich seine Pfeife, als ob ihn die ganze Geschichte nichts anginge. – Was wollte also der Fremde tun? Er steigt aus und muß zusehen, wie ihm die Räuber alles, was er an Geld und Geldeswert hat, wegnehmen. Als er nun endlich ausgeplündert ist, sagt der Fremde: »Mit Verlaub, ihr Männer, ich hätte noch eine Bitte, daß ihr mir einen Dienst erweist; ich will's nicht umsonst. In meiner Kutsche ist noch eine verborgene Kiste mit fünfhundert Talern, die sollt ihr haben, wenn ihr mir den Schwager da oben, den Postillion, herunternehmt und tüchtig durchwalkt.«
Zu einem so ehrlichen Verdienst lassen sich die Räuber nicht zweimal auffordern, sie reißen den Postillion herunter und trommeln tüchtig auf ihn los. Eine Weile läßt er alles mit sich machen. Endlich hebt er die Achseln und sagt: »Jetzt ist's genug!«, eben gerade, als seine Peiniger dabei sind, ihn ganz niederzuwerfen. Nun kehrt er den Spieß um, packt den einen hüben und den andern drüben und schlägt sie so aufeinander, daß ihnen das Herz im Leibe zittert und sie umfallen wie die Mücken im Herbst. Jetzt kniet sich mein Postillion zu ihnen hin und gibt ihnen das Draufgeld samt Zinsen wieder zurück. Als das der Fremde merkt, gewinnt er Mut und macht es mit seiner Leibwache ebenso. Mit Hilfe herzugekommener Leute gelingt es dann, die Räuber zu binden und sie so zur Stadt zu bringen. Unterwegs sagt der Fremde zu dem Postillion: »Aber hör einmal, du bist ein sonderbarer Heiliger. Warum bist du denn so ruhig gewesen und hast mir nicht geholfen und hast dich zuerst prügeln lassen?«
»Warm muß ich werden!« antwortete der Postillion, »wenn ich meine tüchtige Tracht Prügel habe, dann weiß ich erst, was ich bin, dann kann ich erst recht tapfer um mich hauen.«
Daraus ist zu lernen, wie gar viele Menschen ruhig bleiben, solange ihr Nachbar in der Klemme steckt, bis es endlich ihnen selber an den Kragen geht.
Das ganze Dorf hat damals über die Geschichte gelacht, und jetzt lachen wohl noch viel mehr darüber. Es kann keiner mehr sagen, wann die Namen zuerst aufgekommen sind, aber zutreffend waren sie, und man konnte sich's gar nicht denken, daß die beiden alten Weiber je anders geheißen, je anders heißen konnten, als Huzel und Pochel. –
Draußen am Ende des Dorfes, abseits in der kalten Gasse, Scheubuß genannt, da steht ein kleines Haus. Selbst der Weidenbaum scheint da nicht gern daheim zu sein, denn er wendet sich eigenwillig ab von dem Häuschen, er möchte auch gern fort, aber er kann nicht, und wie mitleidflehend streckt er die Arme nach der Straße zu den dort Vorübergehenden und will sagen: Nehmt mich mit, ich bin hier schrecklich gebannt, ihr könnt's gar nicht glauben, was ich alles hören muß, und muß dazu stillhalten. Von anderen Bäumen holen sich doch noch die Kinder eine schlanke Gerte, mir aber müssen sie verholzen und verdorren, weil alles glaubt, von diesem Ort kann nichts kommen, was guttut. Nur die Vögel allein wissen, daß ich unschuldig bin, und kommen bei mir zu Gast und singen mir was vor. Und wenn ich's recht betrachte, sind denn meine beiden Herrinnen eigentlich so bös? Ja, das waren sie, da kann der Weidenbaum nichts dreinreden, das weiß das ganze Dorf besser. Da, in der unteren Stube, sie hat nur ein Fenster und auch vor diesem war meist der Laden zu, da wohnte die Pochel; sie war selten zu Haus, denn in dem großen Dorf, wo nahezu 1800 Seelen lebten, da sterben auch mehr als in einem kleinen Ort, da hat die Leichenfrau viel zu tun, und die Pochel ist eine Leichenfrau. Natürlich ward sie dadurch den Menschen unheimlich, und ihre Gestalt und ihr Wesen taten nichts dazu, sie liebenswürdiger zu machen. Sie war groß und starkknochig, sah immer unwirsch drein, und niemand konnte sich rühmen, je ein freundliches Wort von ihr gehört zu haben, am wenigsten ihr verstorbener Mann, der ein Korbmacher gewesen. Es ist bekannt, daß unter den Raubvögeln das Weibchen immer das Stärkste und Grausamste ist. So war die Pochel immer bös auf ihren Mann gewesen, weil er ihr nicht stark und herb genug war, und man sagt, sie soll besonders schuld sein, daß ihr Mann, bevor seine achtjährige Strafe um war, nicht daheim starb. Nur ihr einziger Sohn, Jos genannt, soll gut von ihr behandelt worden sein; gesehen hat's nie jemand, aber seitdem er als Metzger in der Fremde war, sprach sie immer mit einer gewissen Zärtlichkeit von ihm.
Es ärgerte sie zwar, daß Jos sein Handwerk aufgegeben und »in der Stadt am Meer« – in le Havre – Koch geworden; und die Leute ließen es nicht fehlen, ihr vorzurechnen, welche schmackhafte Speisen der Jos gewiß jetzt koche und brate und wie seine Mutter nicht einmal etwas davon rieche. Es verdroß die Pochel besonders, daß Jos ein Handwerk angenommen, mit dem er sich nie im Dorf niederlassen konnte, und sie wollte auf ihre alten Tage – sie war jetzt bereits sechzig, sprach aber von ihren alten Tagen, als ob die noch weit, weit hinaus lägen –, wie gesagt, sie wollte auf ihre alten Tage doch noch gern ihren Sohn mit seiner Familie im Dorf haben, besonders um die Huzel dadurch zu ärgern.
Man hätte aber nicht viel von der Pochel gehört, wenn nicht über ihr das grausamste Geschick gewaltet hätte; denn ihre Erzfeindin rumorte ihr auf dem Kopf herum, und das war die Huzel. Sie bewohnte nämlich den oberen Stock des Häuschens und konnte nicht vertrieben werden, denn die Hälfte des Häuschens gehörte ihr. Wenn man ein hochbeiniges Pferd und eine Kuh zusammenspannt – so sähe das aus, wie wenn man sich die Huzel und die Pochel nebeneinander denkt. Die Huzel war ein kleines Weibchen, dessen Gesicht aus lauter Falten bestand, mit lebhaften, unruhigen Eidechsenaugen; sie soll in früheren Zeiten sogar einmal hübsch gewesen sein, denn sie hatte auch den Namen »das porzellanene Teufele«. Die Huzel war auch eine Witwe, und zwar eine ehrsame Schneiderswitwe, und seit dem Tod ihres Mannes lebte sie still und spann jahraus, jahrein, wenn sie nicht in ihrem eigentlichen Gewerbe zu tun hatte. Sie war Bauschmacherin – Bausch nennt man hierzulande den ausgestopften Wulst, den man zum Korbtragen auf den Kopf legt –, und sie wußte die Bäusche zierlich aus Lappen zusammenzusetzen und mit gezackten Kränzen und Einnähten zu versehen. Es war ausgemacht, daß eine Last viel leichter war, wenn man einen Bausch von der Huzel hatte. Auch die Huzel hatte ein Kind, und zwar eine Tochter: aber das treulose Mädchen hatte die Mutter verlassen, um sich in Amerika ein Glück zu suchen. Böse Leute sagen, sie habe sich geschämt, die Tochter der Huzel zu sein, denn es war ein stattliches Mädchen mit etwas übertriebener Vornehmheit; das kann aber nur Verleumdung sein, auch in Amerika blieb sie ja doch nur die Tochter der Huzel. Das vornehme Wesen hatte sie indes von beiden Eltern. Der Vater war ein Mann gewesen, der erzählen konnte, wie es »in Paris drein« aussah, und nur ein unglückliches Schicksal hatte ihn in das Dorf versetzt und ihn darin verkommen lassen. Die Huzel selber aber hatte auch etwas Vornehmes, sie sah immer zierlich aus; freilich war sie auch unheimlich. Wenn sie einein, begegnete, da war's immer, als ob ein längst verschollenes Märchen aus dem Boden herauskäme. Sie war blaß und hatte immer etwas rätselhaft Geheimnisvolles, wie wenn sie daheim Hühner hätte, die goldne Eier legen.
Wenn man sie im Dorf wegen der Feindschaft mit der Pochel neckte, zuckte sie immer mitleidig die Achseln über den »Gaul«, denn der allgemeine Schimpfname war ihr nicht gut genug, sie nannte die Pochel nie anders als Gaul.
Woher die Feindschaft der beiden Weiber gekommen? Frage lieber: seit wann der Weiher dort am Ende des Dorfes ist? Er ist da. Eine dunkle Sage will behaupten, die Huzel habe einmal: » Mein Haus« gesagt, während sie doch nach allgemeinem landesüblichen Recht nicht anders sagen durfte, als: » Unser Haus«. Von da an soll die Feindschaft der beiden stammen, und an Nahrung dazu fehlte es nie. Die Huzel lebte fast nur von Kaffee, während die Pochel wirklich fressen konnte wie ein Gaul, und es war ihr eigentlich egal, was es war, wenn's nur recht viel und derb war. Die Hauptfeindschaft der Pochel wendete sich vielfach dahin, daß sie auf die »Himbeere« schimpfte, die immer für sich war und sich um keines Menschen Leid und Freud kümmerte. Wie die Huzel sie nie anders als Gaul nannte, so wurde sie dagegen immer »Himbeere« geschimpft, wozu der Pochel ein Mal im Gesicht der Huzel das volle Recht gab.
Es war natürlich den Leuten im Dorf eine große Freude, die beiden aufeinanderzuhetzen. Da tat jeder gern mit, denn das Losziehen auf andere ist für viele nach einem Gespräch oft wie der Käse nach dem Essen; und manche lassen sich diesen Käse als Hauptspeise genügen.
Ein besonderes Fest war es, wenn Briefe aus der Ferne kamen; manchmal schrieb der Jos, manchmal die Martina, das war die Tochter der Huzel. Sooft nun eine der Frauen einen Brief von ihrem Kind bekam, ging jede mit dem Brief im ganzen Dorf umher und ließ ihn vorlesen, und nur die nächste Nachbarin, die doch am begierigsten darauf war, die durfte nichts davon haben. Die Huzel hatte nicht unrecht: Die Martina schrieb viel schönere Briefe als der Jos, das wußte die Huzel, obgleich sie nie einen von Jos gesehen oder gehört hatte. Dessen konnte man aber sicher sicher sein: Jede trug den empfangenen Brief so lange in der Hand herum, bis die andere gesehen hatte, daß sie einen Brief bekommen hatte, und dann sollte sie sich ärgern, daß sie nichts davon erfuhr.
Nun aber, es war gegen Fastnacht, verbreitete sich das Gerücht im Dorf – Ausgewanderte sollten es nach Hollmaringen geschrieben haben –, daß der Jos in Amerika sei und Jos und Martina sich in Amerika miteinander verlobt hätten. Das war nun eine rechte Lust, die beiden so grundmäßig aufeinander schimpfen zu hören. »Wie könnt ihr nur glauben, daß mein Sohn eine zusammengeflickte Schneiderstochter heiraten wird? Ich gehe selber hinüber nach Amerika, und ich reiße sie auseinander.« – »Wie kann eine so stolze Prinzessin, wie meine Tochter, eines Krattenmachers Buben nur ansehen?« So hieß es hin und her. Am Fastnachtssonntag schimpften die beiden Weiber vor aller Welt am Rathausbrunnen einander seit vielen Jahren zum erstenmal Auge in Auge. Das ganze Dorf kam herbeigesprungen, wie Huzel und Pochel einander heimzahlten, und die Pochel schrie immer: »Eh' ich das zugebe, daß mein Jos deine Tochter heiratet, du Huzel, eh' häng' ich dich auf am Weidenbaum vor unserm Haus.« Die Stimme der Pochel tönte wie die eines großen Bullenbeißers und die der Huzel wie die eines kläffenden Spitzes; er hat keine so gewaltigen Töne, aber er gibt nicht nach und kann fortmachen, wenn dem andern der Atem lange ausgegangen.
»Ich hätte Angst, mit der allein in einem Haus zu wohnen«, spottete man, um den Zorn und die Furcht der Pochel zu reizen. Die Huzel sagte schelmisch: »Der Gaul weiß schon, daß er mir nichts tun kann. Er soll nur kommen. Ich habe Mittel, daß er nicht Hand und Fuß rühren kann.«
Alle Leute wichen zurück, denn glaubte man auch nicht mehr ganz an Hexen, so war doch das gewiß, daß die Huzel geheime Zauberkünste kannte, und jetzt hatte sie sich verraten. Wie hat sie so unheimlich gelacht, und den schweren Kübel auf dem Kopf hat sie heimgetragen, wie wenn's nichts als eine Haube wäre!
Auch die Pochel konnte sich eines Schauders nicht erwehren, aber sie tat, als ob sie sich nicht darum kümmere, und in der Nacht hörte der Weidenbaum, wie in der untern Stube geflucht und gebrummt wurde, und in der oberen Stube wurde gesungen, und die Pochel hörte ganz deutlich, wie zwei Spindeln sich drehten, und doch war niemand bei der Hexe; aber sie hat gewiß einen Geist, der ihr spinnen helfen muß. Und horch, wie sie jetzt lacht. Gibt's denn Menschen, die allein lachen können? Nein! Nein! Die Pochel schimpfte jetzt auf sich selber, daß sie sich fürchte, aber sie schlich doch hinaus und streute Erbsen auf die Treppe, daß die Huzel stürze, wenn sie herabkäme; dann stellte sie die Axt ihres verstorbenen Mannes an das Bett.
Am andern Morgen früh klopfte es am Haus.
Die beiden Weiber schauten zu gleicher Zeit zum Fenster heraus, und jede fragte die Magd des Schullehrers, die geklopft hatte:
»Was gibt's?«
»Was willst du?«
»Ich weiß nicht. Ihr sollt beide miteinander gleich zum Schullehrer kommen. Ich glaube, er hat was.«
»Ich komme nicht!«
»Und ich auch nicht!«
Und wieder war es still, und während oben und unten Feuer angemacht wurde, horchte die eine hinauf, die andere hinab. Die Pochel war froh, daß sie im untern Stock wohnte. Wenn die falsche Huzel nun doch hingehen will, kann sie nicht vorbei, ohne daß sie gesehen wird, und dann soll sie die Angst bezahlen, die sie mir vergangene Nacht verursachte.
Und wieder hatte die Huzel Angst, daß die Pochel davonschleiche, ohne daß sie was merke. Sie stand schon einmal an der Treppe, um dem Gaul hinabzurufen, sie möge doch gescheit sein, man könne doch nicht wissen, ob nicht was Wahres an dem Geschwätz der Leute sei, und vielleicht habe die Sendung des Schulmeisters etwas Derartiges zu bedeuten! Aber sie war wieder stolz genug, dem Unhold nicht das erste Wort zu gönnen, und so trank sie im stillen ihren Kaffee.
Die Pochel erlauschte den Augenblick, da ihre Erzfeindin in die Stube gegangen war, und wischte schnell die Erbsen von der Stiege ab. Jetzt war es Tag, am hellen Tag konnte sie doch nicht mit ansehen, daß die Huzel sich zu Tode falle.
Richtig! Nach einer Weile kam die Huzel, wie immer ordentlich gekleidet, die Treppe herab. Die Pöchel stand mit dem Rücken gegen die Tür gewendet und schaute die Huzel nicht an; aber als sie fort war, rannte sie ihr nach. Das porzellanene Teufele sollte sich nicht wieder lieb Kind machen bei den Menschen, daß sie den Anschein gewinne, als ob sie auf den Ruf anderer folge und immer friedfertig sei. Mit zerzausten Haaren und nur nachlässig gekleidet, rannte Pöchel der Nebenbuhlerin nach, die sich nicht umwandte. Während des ganzen Weges schimpfte sie in sich hinein auf die Schlechte, und am Schulhaus schimpfte sie erst recht, wie schlecht die Huzel sei, daß sie ihr nicht einmal Zeit lasse, sich ordentlich anzukleiden.
In der Stube des Schullehrers schauten die beiden einander Auge in Auge, und die Eidechsenäuglein der Huzel flimmerten in ganz besonderem Glanz, da sie ihre Feindin so verwahrlost sah. Diese schimpfte nun wieder, aber die Huzel sagte klugerweise:
»Ich brauch' dich nicht zu schimpfen. Sieh' dich im Spiegel, da brauch' ich dich nicht zu schimpfen. Herr Lehrer, erlauben Sie, daß sie sich im Spiegel ansieht? Er wird nicht schmutzig davon.«
Der Lehrer hieß alle seine Angehörigen die Stube verlassen, dann sagte er zu den beiden Weibern, daß sie fortan besser miteinander sein müssen, denn – und er zeigte dabei einen Brief und ein Päckchen – das, was das Gerücht wunderbarerweise vorhergesagt, ehe es wahr gewesen, sei nun eingetroffen: Jos und Martina seien in New Orleans bereits verheiratet. Er las den Brief den beiden vor, den sie teils an den Schullehrer, teils an die Schwiegermütter geschrieben hatten, und zwar Jos an die Huzel und Martina an die Pochel.
Sie hörten ruhig zu, aber mitten im Lesen schüttelte die Huzel den Kopf, und die Pochel wollte es ihr nicht gönnen, daß sie etwas mehr tat als sie: Sie schüttelte auch den Kopf. Als der Brief zu Ende gelesen war, sagte die Huzel:
»Herr Lehrer, das gefällt mir nicht von Ihnen, das schickt sich nicht für Sie; zu so etwas dürfen Sie sich nicht hergeben. Das ist ein Fastnachtsschwank, den man sich mit uns armen Witwen gemacht hat.«
Der Lehrer wollte erwidern, aber die Pochel schrie laut und schimpfte auch den Lehrer aus; er kam nicht zu Wort. Da öffnete er das Päckchen und hielt den beiden in goldenem Rahmen ein Bild entgegen. Sie waren plötzlich stumm, und –
»Herrgott, mein Jos!« – »Herrgott, meine Martina!« riefen sie, aber – »Weg, laß mich sehen!« hieß es gleich darauf, und die Pochel stieß die Huzel von sich, daß sie in eine Ecke fiel. Der Lehrer hob sie auf, nahm der Gewalttätigen das Bild und gab es der Huzel. Sie betrachtete es stumm staunend, und ihre Lippen murmelten etwas dazu, aber niemand hörte, was sie sagte. Wirklich waren hier die beiden Kinder in einer Photographie ganz deutlich wiederzusehen. Sie hielten einander an der rechten Hand, und fast an jedem Finger glänzte ein Ring. Wie stattlich sah Martina aus in dem blauseidenen Kleid mit der großen goldenen Kette, der Brosche und den Ohrringen, und man mag sagen, was man will, auch der Jos ist ein hübscher Bursche, und er ist so dick geworden, dem muß es gutgehen, und er hat auch eine goldene Kette an der Uhr und eine goldene Nadel auf der Brust. Nein, nein, da kann nicht mehr von Fastnachtspossen die Rede sein.
Die Huzel wollte auch der Feindin jetzt das Bild zeigen, aber sie brachte sich nicht dazu. Sie gab es nur dem Lehrer zurück, und dieser fragte: »Nun seht ihr hoch, daß hier nicht von einer Fastnachtposse die Rede sein kann. Wer von Euch will das Bild mitnehmen ?«
»Wenn man's auseinanderschneiden könnt', möcht' ich meine Hälfte haben«, sagte die Pochel. Und die Huzel sagte: »Behalten Sie's, Herr Lehrer. Wenn ich nur schon daheim wär' und niemand vor mir sehen müßt', niemand als meine Katz'.«
Sie hatte recht, so zu klagen, denn draußen – von der Lehrerin und deren Kindern benachrichtigt – stand das halbe Dorf versammelt und jubelte und jauchzte über das lustige Ereignis. Man wollte mit dem Hauptspaß nur warten, bis die Schwiegermütter herauskämen; und als sie endlich herauskamen, erscholl unaufhörlich Vivat! und Hurra! Die Huzel weinte, die Pochel aber schlug dem ersten, der an ihr zerrte, so stark auf die Brust, daß er niedertaumelte. Während sich alles mit Lachen nach dem Niedergestürzten wandte, flog sie mit raschen Schritten eilig durch das Dorf hinaus, und alle Leute sprangen ans Fenster und riefen nach: »Was gibt's?« Aber sie antwortete nicht und eilte heimwärts, und die Hunde, die die Pochel immer nicht leiden konnte, bellten hinter ihr drein, aber sie achtete nicht darauf. Sie konnte kaum in das Haus, so voll von Rauch war es. Weil nichts ihr die Tränen aus den Augen treiben konnte, so mußte es jetzt der Rauch tun. Sie jammerte, wie verlassen sie sei, denn sie hungerte, und dabei schimpfte sie auf die Huzel, die so klug gewesen war, vor dem Gang zum Schulmeister ordentlich zu frühstücken. Ja, die ist hinterhältig! Und wo sie nur jetzt sitzen mag? Sie ist wie in den Boden hinein verschwunden.
Wirklich kam die Huzel den ganzen Tag nicht nach Haus, und am Abend hörte die Pochel plötzlich ihre Spindel auf dem Boden tanzen und surren und hatte doch niemand ins Haus gehen sehen. Gewiß spinnt jetzt der Geist, den sie im Dienst hat, ganz allein. Teils aus Schauder, teils aus Neugierde, um zu sehen, ob das wirklich sei, wollte die Pochel die Treppe hinaufgehen, aber es war besser, sie ging vor das Haus und schaute nach, ob Licht sei. Richtig, es war da. »Warum will denn jetzt niemand sterben, daß ich aus dem Haus komme?« klagte die Pochel in die stürmische Nacht hinein, in der der Schnee aufwirbelte. Der Weidenbaum schüttelte sein Gezweige hin und her.
Die Pochel saß still in der Stube und wünschte sich vor Zorn und Ärger jetzt selbst den Tod. Aber nein, da hat's ja die Huzel zu gut, da geht sie zu den Kindern und lebt in Saus und Braus. Aber warum rückt die Huzel oben heut abend so oft den Stuhl? Warum macht sie so oft die Tür auf und zu? Still, so raschelt's, wenn sie zu Bett geht.
Nochmals geht die Pochel vor das Haus. Richtig! Das Licht ist ausgelöscht. Wie sie aber wieder in die Stube kommt, hört sie die Spindel oben tanzen, sie schleicht leise hinauf, wer weiß, ob nicht die Huzel das Bild hat: nein, die darf es nicht haben. Sie horcht an der Tür, hört aber nur ein Murmeln und nicht, was die Huzel redet. Sie schleicht wieder hinab und legt sich ins Bett, aber sie kann nicht schlafen, die Treppe knackt. »Was ist das? ... Die Axt! ... So, jetzt komm!« Es raschelt an der Tür, es greift nach dem Schloß, »Alle guten Geister loben den Herrn und dich hol' der Teufel!« ruft die Pochel, springt rasch nach der Tür und öffnet sie. Richtig, da steht die Huzel.
»Was willst du?« ruft die Pochel, die Axt erhebend, »Tu mir was, wenn du kannst.«
»Ich will nichts, ich hab' dich nur fragen wollen, ob du vielleicht doch das Bild vom Lehrer geholt hast. Es ist doch mein Kind auch dabei, und es gehört dir nicht allein.«
»Was stehst du so unter der Tür?« schreit die Pochel. Sie will aber nicht sagen: »Komm doch herein«, und die Huzel wartet drauf. Es friert sie, denn sie ist nur dürftig bekleidet, und nach zehn Jahren zum erstenmal tritt sie über die Schwelle. »Wo hast du das Bild?« fragt sie jetzt.
»Ich hab' nichts!« schreit die Pochel und springt schnell in ihr Bett. Die Huzel fängt an ruhiger zu sprechen und sagt: »Leider Gottes ist etwas da, was wir miteinander haben.« Pochel aber geht nicht darauf ein und fragt nur: »Was willst du denn? Wo warst du denn den ganzen Tag? Kannst du wirklich in den Boden verschwinden? Kannst du wirklich etwas, daß man dir nichts tun kann in der Nacht?«
Die Huzel gibt klugerweise sehr ausweichende, geheimnisvolle Antworten. Warum soll sie auch sagen, daß sie den ganzen Tag im Schafstall gesessen und gestrickt hat? Sie will die Starkknochige noch in Furcht lassen und sich dadurch schützen. Sie sagt jetzt: »Weißt du noch die Geschichte vom König Salomo, der alle Weisheit und alle Zauberei verstanden hat?« »Nein, das sind deine Sachen, davon weiß ich nichts.«
»Es geht uns auch so wie den beiden Weibern, die vor ihn gekommem sind. Ich kenn' dich, du möchtest lieber, daß unsere beiden Kinder sterben, weil sie uns das angetan, und ich will, daß sie leben sollen, wenn ich auch nichts von ihnen mag.«
»Stell dich nicht so gutmütig; du hast dein Leben lang für keinen Menschen was getan, aber frage nach im ganzen Dorf, und du wirst hören, daß man in jeder Not auf mich rechnen kann.«
»Das ist wahr, du bist eben auch stark, und – was ich dir habe sagen wollen: Hör mich doch ordentlich an, laß mich da ein bißchen auf dein Bett setzen, es ist mir so kalt.«
Die Pochel freute sich innerlich, daß die Huzel vor Kälte mit den Zähnen klapperte, als sie jetzt fortfuhr: »Es ist schon arg genug, daß wir uns und unsere Kinder so vor den Leuten beschimpft haben.«
»Du hast immer zuerst angefangen«, schrie Pochel.
»Ja, ja, das läßt sich jetzt nicht mehr auseinanderbringen; aber wie meinst? Du hast ja gesehen, wie unsere Kinder einander die Hände halten, wie meinst du?« Die Huzel streckte die Hand aus, aber die Pochel hielt die ihre unter der Decke und sagte: »Ja, ja, es ist nicht gut, wenn man so aufeinander schimpft; man weiß nicht, wie man endlich doch zusammenkommt.«
Worauf die Huzel erwiderte:
»Du bist gescheiter, als ich gewußt habe.«
»So, du verdorrte Himbeere! Wie kannst du das sagen? Wo hast denn du dein Doktorexamen gemacht? Wie kannst du mich loben? Brauch' ich von dir ein Lob? Wer gibt dir das Recht dazu? Hinaus aus meiner Stube! Ich will nichts von dir.«
Die Huzel bot alles auf, sie zu beruhigen, und sie verstand das, was unvermeidlich war, als pure Güte darzustellen, und wie die Kinder, die wohl wissen, daß die Mütter heute den Brief bekommen, eben jetzt die Stunde feiern bei gutem Essen und Trinken. Die Pochel, die heute vor Zorn und Ärger noch gar nichts Ordentliches gegessen hatte, sagte unversehens: »Ich will aufstehen und was zu essen machen.«
»Ja«, rief die Huzel, »wir wollen auch die Hochzeit unserer Kinder feiern!«
Die Pochel machte nun Kaffee, und als die beiden am Herd standen, jammerten sie darüber, wie man so lange zweimal Holz verbrannt, man hätte ja an einem Feuer kochen können. Der Kaffee war fertig, und die beiden saßen nun und tranken miteinander. Huzel lobte das Geschirr und lobte den Kaffee, aber innerlich sagte sie: »Das ist ein Kaffee für den Gaul!« Sie würgte ihn aber doch um des Friedens halber hinab.
Zuletzt sagte die Huzel: »Halt! Auf Kaffee schläft man schlecht. Wart', ich hole, was dir guttut.« Sie ging hinauf und brachte kichernd und lachend – denn sie hatte schon in der Stube davon gekostet, – ein langes Glas, darin saure Kirschen auf Branntwein gesetzt waren. Sie schenkte der Pochel ein, aber diese wollte nicht trinken.
»Nein, Schwiegermutter, du mußt trinken«, ließ Huzel nicht ab zu bedrängen. Endlich mit Todesverachtung nahm die Pochel einen Schluck, aber schnell, als ob sie einen Husten bekäme, spie sie alles wieder aus, denn sie fürchtete sich, daß die Hutzel sie vergiften wolle. Nun aber trank die Huzel mit großer Fertigkeit, und die Pochel bekam Mut, sie genoß auch gern Fremdes und tat sich gut daran; eine trank der andern immer frisch zu, und so lachten, sangen und tanzten sie miteinander in der Stube herum. Die Pochel wurde ganz taumelig, sie mußte sich auf einen Stuhl setzen, aber die Hutzel hörte nicht auf und tanzte ganz allein herum, äußerst zierlich, und sang dabei und hielt sich das Röckchen mit beiden Händen.
Der Weidenbaum vor der Tür kam sich ganz närrisch vor über das, was er manchmal hörte, und er bedauerte jetzt aufrichtig, daß er sich so hartnäckig von dem Häuschen abgewandt hatte; wäre er nach der anderen Seite hin gewachsen, wäre ihm kein Wort von allem entgangen.
Mit den Worten: »Morgen, wenn wir gesund sind, trinken wir Kaffee miteinander!« war Huzel in ihre Stube hinaufgegangen, und die Pochel lag fiebernd im Bett.
In der Stube tanzten Flämmchen, und ein Mann und eine Frau, die hatten lauter goldene Ketten an, um und um. Der Pochel wurde schwer bang; gewiß, das porzellanene Teufele hatte sie vergiftet, und sie schrie plötzlich auf: »Hilfe, ich bin vergiftet! Das porzellanene Teufele hat mich getötet!« Sie sprang aus dem Bett, sie fand die Kreide und schrieb auf den Tisch: »Wenn man mich morgen tot findet, muß man die Huzel köpfen, sie hat mich vergiftet!«
Und draußen am Weidenbaum stand eine große Menge Menschen, und der Wind pfiff und der Schnee wirbelte auf, und am Weidenbaum hing ein Gehenkter...
Am Morgen, als die Pochel erwachte und zum Fenster hinausschaute: Was ist das? Das ist ja wirklich ein Gehenkter, und sie selbst lebte ja noch! – Sie schrie laut auf, und die Huzel kam herunter. Sie sahen, was geschehen war; man hatte ihnen zum Possen das wahrgemacht, was die Pochel gedroht. Man hatte eine Gestalt, ganz ähnlich bekleidet wie Huzel, als Fastnachtsmummenschanz an die Weide gehenkt.
»Da siehst du, wie weit es gekommen ist«, sagte die Huzel, »und was sind das für Zeichen, die da auf den Tisch geschrieben sind? Was steht denn da?«
Die Pochel wischte es schnell ab mit der Hand, und jetzt reichte sie die kreidige Hand, die die Spuren vom Todesurteil trug, versöhnt ihrer Erzfeindin.
Die Pochel ging hinaus und trennte die Puppe vom Baum ab. Die Huzel wollte ihr helfen, aber sie sagte: »Nein, die Leute dürfen nicht sehen, daß wir versöhnt sind; sonst hört das gebrannte Leiden hier nicht auf.« Die Huzel wollte wieder sagen, daß sie gescheit sei, aber sie behielt es diesmal für sich.
Sie verschlossen das Haus und tranken zum erstenmal gemeinschaftlich in Frieden den Morgenkaffee, den aber diesmal die Huzel bereitete; denn sie verstand's besser.
Nun wurde ausgemacht, daß die Huzel das Bild holen sollte und auch den Brief, denn sie hatten ihn noch nicht ordentlich gehört. Der Lehrer wollte zwar das Gemeinsame nicht herausgeben, bis auch die Feindin es bewilligt, aber er fügte sich doch endlich auf Bitten seiner Frau, die Angst hatte, daß die Hexe ihr oder ihren Kindern etwas Böses antun möchte, wenn man nicht willfahre.
Am Mittag las die Huzel den Brief erst recht vor. Die beiden Kinder baten die Mütter inständig, daß sie zu ihnen kommen möchten. Der Jos hatte eine große Speisewirtschaft errichtet, und die beiden Mütter sollten in der Küche helfen und auf alles achthaben, denn man könne hierzulande fremden Leuten nicht trauen. Er wolle Geld schicken, wenn der Erlös des Hauses und der übrigen Habe nicht ausreiche.
Es waren noch schwere Sachen zu überwinden, und vor allem wurde festgesetzt, daß man vor der Welt die alte Feindseligkeit bewahre; denn die Neckerei, die man sonst zu ertragen habe, wäre nicht auszuhalten.
Vor den Leuten also taten sie immer feindselig, still zu Hause indes war wirklicher Friede, und der wurde am besten dadurch bewirkt, daß die Pochel zu der alten Feindin sagte: »Du bist wirklich gescheiter als ich.«
Es wurde nun beraten, daß man das bewegliche Vermögen verkaufe, und auf das Häuschen war schon längst ein Angebot getan. Die Huzel gab an, daß sie allein auswandere, die Pochel, daß sie zurückbleibe. Insgeheim aber verschaffte sie sich doch einen Paß, und zur Versteigerung in der oberen Stube wurde in der Nacht alles, was die Pochel von Wert hatte, hinaufgeschleppt, damit es als Eigentum der Huzel versteigert werde.
Nun aber kam noch das Schwerste. Wie verläßt man das Dorf, ohne Spießruten zu laufen durch Spott und Hohn?
Es war in der Nacht zum l. Mai, da kam die Huzel mit einem Bündel unterm Arm herab in die untere Stube und sagte: »Schwiegermutter! Ich hab' was Gutes!«
»So? Hast du noch von deinem Branntwein?«
»Nein. Wir haben jetzt Geld und haben Pässe, jetzt schläft alles im Dorf; mach deine Sachen zusammen und geh mit; sie sollen morgen früh sich die Augen reiben und nicht wissen, was geschehen ist. Denk nur, wie es werden soll, wenn eine von uns oder wenn wir gar miteinander fortgehen? Ich habe gehört, daß die Musikanten im Dorf sich bereithalten, und das ganze Dorf will uns mit Musik das Geleit geben. Schau, der Mond ist so hell, es ist alles so still, kein Mensch merkt was; komm, ich helf' dir!«
»Ich kann schon allein, ich brauche keine Hilfe, hab' nie eine gebraucht. Aber wie ist's mit den Sachen, die wir doch noch zurücklassen, und mit dem Verkauf des Häuschens?«
»Ich schicke von der Stadt aus einen Brief an den Schullehrer, daß er alles verkaufen soll. Da sieh, ich hab ihm schon geschrieben.«
Der Weidenbaum am Häuschen schüttelte im leisen Frühlingswind die ergrünenden Zweige, als er die beiden miteinander das Haus verlassen sah. Sie gingen hinten am Dorf herum durch die Wiesen den Berg hinab und redeten kein Wort. Erst als sie das Dorf hinter sich hatten, atmeten sie auf; vom Turm schlug es zwölf, und die Pochel sagte jetzt: »Gib mir nur dein Bündel, mir macht's nichts, ich kann noch mehr tragen.« »Nein, gib mir deines!« erwiderte die Huzel höflich. »Du wirst doch nicht glauben, daß ich mir von dir mein Bündel tragen lasse? Gib nur her!«
Aber keine faßte das Bündel der anderen an; die Huzel dachte im stillen: Sie wird doch so viel Lebensart haben, daß sie mich noch einmal bittet! Und die Pochel dachte in sich hinein: Meinetwegen kann die Huzel niedersinken; sowie sie noch einmal ein Wort sagt, bürd' ich ihr alles auf.
Es redete keine mehr ein Wort, bis der dunkle Wald sie verschlang.
Im Dorf aber staunte man zuerst, wie die beiden Hexen verschwunden waren, bald aber hieß es, daß in der Hexennacht der Teufel sie geholt habe.
Sie sollen indes wohlbehalten in einer großen Küche in New Orleans sein und kochen und braten, aber sie selber werden schwerlich weichgekocht. Nur gegen ihre Kinder sollen sie etwas von menschlicher Güte zeigen. Die Pochel soll sogar mit den Schwarzen fertig werden, und wer zu diesen beiden in Dienst kommt, kann mit Recht sagen: er kommt in des Teufels Küche.
Auf einem Rathaus, in dem es früher viel Mäuse gegeben haben soll, bis man in neuerer Zeit die Mauslöcher zustopfte und Öffentlichkeit und helles Licht einführte, was den Mäusen gar nicht paßt – auf diesem Rathaus ließ sich ein Dieb freiwillig einsperren, heißt das, er war bisher kein Dieb, sondern machte sich jetzt erst dazu.
Als abends alle Türen geschlossen wurden, duckte sich der Diebskandidat in eine Ecke, und spät in der Nacht, als alles still geworden war, wollte er auch keinen Lärm machen, öffnete ganz leise die Tür und darauf die Kasse, in der die Gemeindegelder waren. Um ja die Menschen nicht aus ihrer Ruhe aufzustören, hatte er sich die Stiefel ausgezogen, und nachdem er sich alle Taschen gefüllt hatte, belegte er sich noch die Sohlen inwendig mit doppelten Talern, und er war auch ganz stolz, als er so auf Talern ging und stand. Nun wollte er den Ort verlassen, indem er ein Seil an das Fensterkreuz gebunden hatte, sich hinausschwang und hinabzurutschen versuchte. Aber das Seil schnitt ihm tiefe Schrunden in die Hände, fast bis auf die Knochen, und noch ein Stockwerk hoch vom Boden entfernt, ließ er vor Schmerzen los und stürzte herab. Wie weh tat das jetzt, als das Talerpflaster und das Steinpflaster aufeinanderstießen! Der arme Reiche klappte zusammen, als wenn er nie auf zwei Beinen gestanden hätte. Nun, als er zu Fall gekommen war, sprang das Geld aus den Taschen wie treulose Freunde. Da lag er jetzt und konnte kein Glied rühren, und als es Tag wurde, versammelte sich eine große Menge Menschen um ihn; es war leicht zu sehen, was da vorgefallen oder eigentlich herabgefallen war. Der Doktor Gscheitle war auch mit unter den Versammelten, und er sagte zu dem vormaligen Diebskandidaten, der jetzt sich als Dieb versucht hatte: »Aber guter Mann, warum habt Ihr den sonderbaren Weg genommen, warum seid Ihr nicht auch die Treppe heruntergegangen wie die anderen Herren auch?«
Er ist ein Pfiffikus, der Gscheitle, er weiß seine Bosheiten anzubringen, daß man ihm nicht beikommen kann.
»Ja, ich möchte nur wissen, woran Sie mir's ansehen, daß ich schon mancherlei erlebt haben muß.«
»Das läßt sich nicht so sagen, aber man sieht's am Gesicht, und wie ich Euch vorhin, als es bergan ging, mit dem alten Mann, der drin im Wagen sitzt, reden hörte und von anderen erzählen, da merkte ich's: solche Dinge sieht und denkt nur ein Mensch, der selber etwas erlebt hat; denn wer selber etwas durchgemacht hat, kriegt erst Augen und Verstand und sieht und merkt, was auch mit anderen und in ihnen vorgeht.«
»Ja, das ist wahr, das ist richtig, ich hab' auch einmal etwas erlebt, und wenn ich daran denke, da ist mir's, wie wenn ich die Zeit vorher doch halb geschlafen hätte und erst von da an aufgewacht wäre, und hab' doch auch vorher manches durchgemacht und meine fünf Sinne beieinander gehabt; aber es ist mir doch von da an alles viel deutlicher geworden, was ich früher erlebt habe und was ich jetzt erlebe.«
»Was ist denn das, was Euch so gepackt hat? Darf man's wissen?«
»Warum nicht? Es ist kein Geheimnis. Sehen Sie, der Wagen und die Pferde sind mein eigen, und ich habe auch noch Äcker. Ich fahre mit dem Stellwagen oder Omnibus, wie sie jetzt sagen, dreimal in der Woche zur Eisenbahn. Ich wohne aber nicht in der Amtsstadt, ich wohne eine Stunde davon, wir kommen an dem Dorf vorbei; meine Frau geht nicht gern vom Dorf weg, und es ist auch besser so. Wie ich heimgekommen bin und mich gesetzt habe, da bin ich drei Jahre lang ein Kuhbäuerlein gewesen, wie andere meines Schlags, und daneben habe ich auch als Holzknecht im Wald gearbeitet. Ich verstehe das Feldgeschäft und das Waldgeschäft von Jugend auf; aber ich war doch vordem Postillion, und da hat meine Frau gesagt – sie ist gescheit –: ›Paul‹, hat sie gesagt, ›du verdienst mit der Peitsche in der Hand mehr als mit Axt und Dreschflegeln.‹ Sehen Sie, das will von einer Frau viel heißen, wenn sie ihrem Manne ein Geschäft anweist, das ihn viel von daheim fortführt; aber sie weiß, ich bin doch mit allen Gedanken daheim. Und so hab' ich mir das Fuhrwerk gekauft und bin jetzt wieder Fuhrmann, und es ist mir viel wohler dabei, das ist doch mein eigentliches Geschäft.
Ja, wenn ich so zurückdenke, ich hab' viel erlebt, wenn ich auch mein Leben lang nicht außer Landes gekommen bin, nicht einmal über die badische Grenze hinüber. Von meiner Kinderzeit weiß ich nicht viel. Ja, doch eines. Mein Bruder Peter und ich – wir sind nämlich Zwillinge, sind an Peter und Paul geboren, und mein Vater hat uns darum die Namen gegeben –, wir zwei, wir sind die besten Vogelfänger gewesen. Ein Bruder meiner Mutter – ich hab' meine Mutter nicht gekannt, sie ist bald nach unserer Geburt gestorben – der Ohm Mukle – er hat mit seinem Taufnamen Nepomuk geheißen, wir sagen aber nur Mukle – der Mukle war ein Vogelhändler, und ein andrer Bruder von der Mutter hat in der Schweiz gewohnt und der hat dem Mukle die Vögel abgekauft. Der Schweizer wandert aus nach Amerika und schreibt dem Mukle, er soll auch mit, er soll aber noch so viel Vögel, als er nur kriegen kann, mitnehmen; in Amerika werden die Vögel mit Gold aufgewogen, besonders was Nachtigallen und Kreuzschnäbel sind. Nun hat der Mukle ein Töchterle gehabt, ein bildsauberes Kind, in einem Alter mit uns. Ich hab' sie über alles gern gehabt; und das Kind hat der Mukle dazu angehalten, Ameiseneier zu suchen als Futter für die Vögel, und da hat der Mukle Vogelfutter gehabt und auch Weihrauch aus den Ameiseneiern gezogen. Und wenn ihm einmal die Ameiseneier gemangelt haben, da hat er's verstanden, die Käferfresser auch an Körnerfutter zu gewöhnen. Er war so eine Art Hexenmeister und hat alles verstanden, aber er ist doch in seinem Leben zu nichts gekommen.
Und das Mareile, sein Kind – seine anderen sind da und dort in Diensten gewesen –, das Mareile war das jüngste und war gar ein liebes Kind, und wie's jetzt ans Auswandern geht, da kann sie's kaum schleppen, so viele Ameiseneier und Würmer hat sie zusammengetragen. Da wird das Kind plötzlich krank und liegt im Bett und kann keinen Vogelsang hören und sagt, es sticht ihm was im Ohr, und die Ameisen wollten's auffressen. Und so ist das arme Kind gestorben, und der Mukle ist fort mit den anderen. Wie ich aber das arme Kind tot gesehen hab', da hab' ich eigentlich zum erstenmal in meinem Leben einen tüchtigen Schreck ins Herz hinein bekommen. Ich bin drei Tage herumgegangen wie verirrt, und hab' geglaubt, das vergaß' ich nie; aber, lieber Gott, was vergißt man nicht alles! Ich hab' an das gute Mareile wie lang nicht mehr gedacht, bis heute, wo ich Ihnen alles so erzähle, weil wir grad so gut beieinander sind.
Wie wir Zwillinge aus der Schule gekommen sind, haben wir unserm Vater geholfen, der war Zimmermann, und wir haben ein schönes Stück Geld verdient. Aber da hat der Vater einmal Schaden gelitten, ist krank geworden und ist alles wieder draufgegangen. Nun sind wir beide, ich und mein Bruder, in den Wald gegangen und haben Holz gefällt. Wir waren beide ein paar starke Burschen und haben schwere Stücke ausgeführt, von denen die Leute noch heutigentags reden. Einmal heben wir beim Holzfällen einen Stamm auf, und da sagt der Förster zu uns: »Wenn ihr den Stamm miteinander heimtragt, ist er euer eigen.« Und richtig, wir haben ihn heimgetragen eine gute Stunde Wegs weit; und er ist so groß gewesen, daß man drei Pfluggründel draus gemacht hat. Aber der Vater war sehr bös drüber, daß wir das unternommen haben, wir hätten ja beide können schwer unglücklich sein damit.
Nun hat's geheißen: Jetzt müßt ihr Brüder auseinander, und wir haben doch von je zusammengehalten wie die Finger einer Hand; aber was tut's! Es muß sein. Ich werde zuerst Knecht beim Postmeister, und dann anderthalb Jahr lang, eh' ich militärpflichtig geworden bin, bin ich Postillion, und mein Bruder ist Flößer geworden. Er war ein Prachtmensch und stark wie von Eisen, ich bin nur ein halber Mensch gegen ihn, und ich bin doch auch kein Schwächling. Und jeden Kreuzer, den wir beide verdient haben, jeden Kreuzer haben wir dem Vater geschickt. Ich hab' vor meinem zweiundzwanzigsten Jahr nicht geraucht, und wenn mir meine Nebenknechte haben eine Pfeife Tabak schenken wollen, hab' ich gesagt: ›Nein, ich muß dann auch reichen, wenn ihr mir keinen schenkt.‹
Jetzt ist aber eine schwere Zeit gekommen. Ich werde den Tag nie vergessen, wo wir beide Brüder zur Amtsstadt gemußt haben, um das Los zu ziehen, wer Soldat werden muß. Der Vater hat uns ein Stück Wegs das Geleit gegeben. Ich hab' vergessen zu sagen, daß er ein neues Geschäft angefangen hat; er hat einen reichen Bruder im Dorf gehabt, der ihm hätte helfen können, aber lieber hätte der Vater den Mund auf einen Stein aufgeschlagen, ehe er etwas geschenkt genommen, und daß er's einmal genommen hat und wie er's genommen hat, das hat ihm eigentlich sein Herz abgekränkt. Ich werd's Ihnen hernach schon erzählen. Der Vater hat jetzt, wo er nicht so hinausgekonnt und sich hat schonen müssen, gelernt, Holzschuhe zu machen. Das ist ein gutes Geschäft gewesen, und der Vater hat's oft gesagt: Es sind jetzt weit weniger Menschen krank, seit die Holzschuhe aufgekommen, denn das beste ist, immer einen warmen und trocknen Fuß zu haben.
Ja, damals begleitet uns also der Vater bis an die Stelle, wo er vor Jahren verunglückt ist, weiter ist er nie mehr gekommen, solang er gelebt hat, und da sagt er noch: ›So ist's recht, daß ihr beide einander an der Hand führt; haltet nur immer zusammen als Brüder, und verlaßt nie einer den andern; ich bitt' nur Gott, daß er mir das nicht antut, daß sie euch beide zu den Soldaten nehmen. Ich mein', dir, Peter‹, sagt er zu meinem Bruder, ›ich mein', dir könnt's nicht schaden, wenn du ein paar Jahre Soldat wärst, du könntest ein bißchen geschmeidiger und gewitzigter werden.‹ Und da geht der Vater heim und wir nach der Stadt. Bei der Musterung hat sich's gezeigt, daß von den Gestellten bis zu Nummer 110 alles frei ist. Ich ziehe zuerst und glücklich Nummer 23, und jetzt zieht mein Bruder und grad Nummer 111. Der erste Mann, der Soldat werden muß. Der Vater ist ruhig gewesen, wie wir heimgekommen sind und ich ihm das erzählt habe. Ich gehe mit dem Bruder nach der Hauptstadt und werde Postillion; da sind wir doch beieinander, und ich hab' gar manchen Schoppen bezahlt für ihn und seine Kameraden. Mein Verdienst ist gut und ich schicke jeden Kreuzer meinem Vater. Kaum ist ein Jahr vorbei, da schreibt er, er habe mir von meinem Geld einen kleinen Acker gekauft; ich solle nur weiter so schicken, da werde sich Trinkgeld und Lohn in lauter Feld und Wiese verwandeln. Dieselbe Nacht, wie ich die Nachricht bekommen, hab' ich den großen Schweizer Eilwagen zu fahren, und lustiger bin ich mein Lebtag nicht dahingefahren, und besser hab' ich mein Leben lang nicht geblasen als in jener Nacht. Ich hab' mir oft die Felder betrachtet, die da am Wege liegen: Juchhe! Jetzt wird's lustig! Wartet nur, euch kann man alle kaufen, wenn man nur das Geld dazu hat, und wenigstens mein Teil von der Welt will ich haben und noch eins, und noch ein paar dazu!
Das Sparen ist doch gewiß eine schöne Sache, aber man muß sich hüten, daß der Geizteufel und der Unruhteufel nicht in einen fahren. Wie hat mich's gefreut, daß ich einen eignen kleinen Acker habe! Mein Vater hat mir geschrieben, wo der Acker liegt, und ich kenne ihn ganz genau. Aber jetzt möchte ich gleich oder wenigstens in vier Wochen ein ganzes Bauerngut haben; aber das geht langsam aus den Stationsgeldern, besondere Trinkgelder gibt's kaum mehr, und daneben kostet mich auch mein Bruder manchen Batzen, er verdient beim Militär gar nichts. Er war ein schöner Bursche, fast um einen Kopf größer als ich, und sie haben ihn zur Garde genommen. Einmal kommt er ganz glückselig zu mir und berichtet, daß er den Sattelpreis bekommen habe. Das ist nämlich so: Es wird Alarm geblasen, und wer am schnellsten sein Pferd gezäumt und alles aufgelegt hat, was man im Feld braucht, der bekommt den Preis. Mein Bruder hat das in sechs Minuten fertiggekriegt, alles fix und fertig, und glauben Sie mir, das ist kein kleines Kunststück. Ich hab's dem Vater geschrieben, wie mich das gefreut und wie es auch ihn freuen muß. Denn ich weiß nicht, wie es gekommen ist, wir sind doch Zwillinge, aber es ist doch immer so gewesen, als wär' ich sein viel älterer Beschützer und Versorger; er hat nie recht für sich selber sorgen können; wo man ihn hingestellt hat, da hat er alles gut und richtig ausgeführt, aber so – ich weiß nicht, wie ich sagen soll –, so aus sich selber was zu machen, dazu hat er's nicht bringen können; er hat immer und bei allem einen Anführer haben müssen, man hat ihn einschirren müssen und anspannen, nachher hat er gezogen wie das beste Pferd. Und ein schöner Mensch war er, ein Gesicht hat er gehabt wie Milch und Blut und so getreue Augen wie ein guter Hund und gewachsen wie die schönste Tanne, und so gutmütig ist er gewesen – jedes Kind hat ihn regieren können. Ja, wenn ich an den Bruder denke, wird mir immer ganz weh ums Herz, und ich kann's nicht herausbringen, warum er so für nichts hat sterben müssen. Da führen sie sein Regiment nach Schleswig-Holstein. Ich hab' dabeigestanden, wie sie davonreiten im großen Trupp, aber ich hab' ihn doch herausgefunden, und er nickt mir noch zu, und ich hab' mir doch nicht gedacht, daß das zum letztenmal ist – und da sind sie alle davongeritten, und die Musik hat geblasen; und wie sie weiter sind, ist's nur noch ein buntes Gewimmel, da drunter ist mein Bruder, ich hab' ihn nicht mehr gesehen.
Er liegt begraben droben am Meer, und kein Mensch kann mir sagen, was sie denn da droben ausgeführt haben und warum mein Bruder hat da sterben müssen.
So, es ist gut, daß ich Ihnen das berichtet hab', denn wenn ich daran denk', wird mir's ganz wirbelig im Kopf, und es ist nur gut, daß das mein Vater nicht mehr erlebt hat, denn es ist mehrere Jahre später gewesen, wie mein Bruder davongeritten und in den Tod gegangen ist.
Also damals. Ich gewöhne mich doch wieder ans Sparen, und ich weiß nicht, wie lang es gewesen ist, aber länger als zwei Jahr' ist's gewiß nicht, da schreibt mein Vater wieder, er habe mir noch eine Wiese gekauft und wie den Acker auf meinen Namen eintragen lassen. Jetzt fehlt mir nur noch ein Stück Wald, dann hab' ich von allem; denn Weinberge – das werden Sie gesehen haben –, die gibt's bei uns hier oben nicht. Sie sehen ja da am Weg, daß die Kirschen erst im August bei uns reif sind. Aber guten Fruchtboden haben wir.
Es ist mir recht,– daß mein Vater mir Acker und Wiese gekauft hat, aber selbst bebauen werd' ich sie doch nie; ich bleib' in der Stadt und schaffe mir ein Fuhrwerk an, ich wüßte gar nicht mehr, wie ich mich aufs Dorf gewöhnen sollte. – Nun kommt eines Tages ein Mann aus meinem Ort zu mir und sagt, mein Vater habe oft recht arg Verlangen nach mir, aber er wolle mir's nicht schreiben, damit ich mich nicht versäume. Wie ich das höre, krieg' ich auch ein Heimweh, das mich Tag und Nacht nicht ruhen läßt. Ich bekomme Urlaub und gehe heim. Es sind doch nur zwölf Stunden bis heim, aber sie sind mir gar schwer geworden; denn wenn man sich so gewöhnt hat, auf dem Bock und heimwegs auf dem Sattelgaul zu sitzen, da wird einem das Gehen gar schwer. Wie ich nun in unser Dorf komme, begegnet mir ein prächtiges Mädchen. Ich seh's an, ich hab's nicht erkannt, und es sagt zu mir: ›Ei, du bist's? Ich hab' geglaubt, du wärst dein Bruder.‹
›Ja, welchen von uns beiden meinst du denn?‹
›Bist du denn nicht der Peter?‹
›Nein, ich bin der Paul.‹
Und wir reden so und drehen uns immer im Ring herum und kriegen's doch nicht heraus, wen sie eigentlich gemeint hat, ob sie mich für mich oder für meinen Bruder gehalten, und wir lachen, daß die Leute, die auf dem Feld Kartoffeln austun, alle nach uns aufschauen. Und ich freue mich, es ist ja meine Base Madlene, die Tochter von meines Vaters Bruder. Sie ist noch bei ihrem Bruder. Das ist ein gar schlimmer Mensch. Freilich ist er der reichste im Ort. Er hat ein reiches Mädchen geheiratet, sie hat einen Knecht heiraten wollen, und ihr Vater hat sie gezwungen, den Vigil zu nehmen.
Die Madlene geht grad heim, um das Essen zu rüsten. Sie erzählt mir, wie es meinem Vater geht und daß weder sie noch ihr Bruder ihm ins Haus dürfen.
Ich komme zu meinem Vater. Er sieht schrecklich abgemagert aus und will's doch nicht gelten lassen, daß er krank sei und sich nicht pflegen kann. Kaum bin ich eine Viertelstunde da, so sagt er: ›Mit dem Vigil darfst du kein Wort reden, und wenn er dich grüßt, dankst du ihm nicht und drehst ihm den Rücken zu und speist aus!‹ – Der Vigil, das war eben der reiche Brudersohn. Der Vater sagt mir weiter: ›Ich habe dich gewiß nie zu etwas Bösem angehalten – und wenn ich in einer Stunde vor Gott komme, so werd' ich ihn fragen, warum er solch einen Menschen so lang da herumhausen und es ihm gutgehen läßt – aber wenn einer dem Vigil ein Messer ins Genick stieße, der täte was Gutes!‹
Nur nach und nach kriege ich's heraus, was der Vigil meinem Vater angetan. Mein Vater ist in großer Not gewesen und hat doch keinen Heller von dem Geld, das ich geschickt habe, tut sich verbraucht. Wie ich das jetzt so genau erfahre, da ist mir's schwer, aufs Herz gefallen, und ich hab' daran gedacht, daß ich doch so manchen Schoppen getrunken hab' und manches ausgegeben; ja man vergißt sich immer, wenn man so von daheim weg ist und lebt, während der arme Vater daheim Not gelitten – aber mein Vater will's nicht zugeben, daß ich mir Vorwürfe mache, und sagt: ›Du hast ja leider Gottes nichts und sorgst noch für deinen Bruder.‹ Und nun erfahre ich, was geschehen ist. Der Hirtendienst war frei im Dorf, der Vigil sagt, mein Vater müsse ihn annehmen. Er kommt zu ihm und sagt ihm das. Mein Vater klagt, daß er ja nicht gut gehen und die Kühe zusammentreiben kann; der Vigil schreit: ›Ihr seid nichts als ein Faulenzer und wollt, daß ich Euch erhalte, aber von mir kriegt ihr nichts.‹
Das hat er ihm in seiner Stube gesagt, es hat meinen Vater schwer gekränkt; er hat zwei Jahre kein Wort mit dem Vigil gesprochen; aber es hat ihm doch nicht so weh getan wie das, daß ihn der Vigil vor der ganzen Gemeinde beschämt hat. Er ruft ihm einmal vor allen Leuten zu: ›Ohm, kommt herauf und holt die Saatfrucht, die ich Euch schenken will. Wenn Ihr sie nicht gleich holt, kriegt Ihr keine mehr!‹ – Mein Vater sagt, daß er's von jenem Augenblick an in den Knien spürt, da sitzt eine Müdigkeit, die will gar nicht mehr heraus und die zieht ihn hinab in den Boden. Und noch – was will er machen? Er ist ein armer Mann, und er nimmt die Saatfrucht und denkt, er will sie ihm auch wieder vor der ganzen Gemeinde zurückgeben. Aber da verhagelt ihm in der Ernte alles und er kann's nicht. Der Vigil tut das Jahr drauf wieder groß und schenkt dem Vater wieder vor der ganzen Gemeinde ein Malter Korn, und der Vater nimmt's – und so viel Körnchen sind nicht in dem Sack, als es ihm Stiche durchs Herz gibt, daß er's nehmen muß. Und wie nun so alte Leute sind, sein einziges Dichten und Trachten ist: Wenn nur der Vigil zugrunde ginge. Ich hätt's nie geglaubt, daß man das kann. Am Abend kam ein Spätgewitter, und so fürchterlich hat's gedonnert und geblitzt, wie ich's noch nie gehört hab'; und da sagt mein Vater: ›Weißt du, was ich jetzt wünsche? Ich wünsche, der Vigil wäre draußen im Freien, in einer Talschlucht, und sieben Stunden weit um ihn herum kein Haus und kein Dach, und da säß' er nun und müßt' vor Angst vergehen!‹ – Es war höchste Zeit, daß ich heimgekommen bin, denn die Stunden meines Vaters waren gezählt. Mag sein, daß meine Heimkunft und das gewaltige Schimpfen auf den Vigil ihn so angegriffen haben. Wie er nachts im Bett liegt, schreit er plötzlich: ›Paul, steh auf, geh' hinüber und schlag dem Vigil das Hirn ein! – Nein, tu's nicht, aber eins versprich mir: Wenn ich nicht mehr bin, dein ganzes Leben lang, was du nur kannst, tust du dem Vigil an! Ich möchte Gott bitten, daß er seinen ganzen Segen auf dich herabkommen ließe, daß du recht reich würdest und den Vigil recht plagen und ihm den Meister zeigen könntest. Und wenn er dann kommt und von dir ein Malter Korn bettelt, dann zeig' ihm, was er an mir getan!‹
Am andern Tag ist mein Vater schwer krank, und der Doktor sagt: ›Er macht's nicht mehr lang.‹ Ich gehe hinüber zum Vigil und sag' ihm: ›Ich bitt' dich, geh zu meinem Vater und bitt' ihn um Verzeihung! Wer weiß, ob er noch einmal die Sonne aufgehen sieht.‹ Der Vigil ist aber herb und hart und sagt, er wisse nicht, warum er meinen Vater um Verzeihung bitten solle; mein Vater sei ein eitler Narr, der verlange, man solle ihm noch gute Worte darum geben, daß er was geschenkt nehme. Ich lege nun Geld auf den Tisch und sage: ›Da, da hast du dein Korn bezahlt.‹ Der Vigil nimmt das Geld und wirft's zum Fenster hinaus; drunten steht die Schwester vom Vigil, die Madlene, die bringt das Geld herauf und sieht und hört, was wir gegeneinander haben. Ich sage noch: ›Du tust bös, du machst, daß ich dir auch feind sein muß wie mein Vater.‹ Da lacht der Vigil und schreit: ›Das wird auch die einzige Erbschaft sein, die dir dein Vater hinterläßt!‹
Ich rede kein Wort weiter und gehe fort. Wenn man so vor Augen hat, daß das Menschenleben ein Ende hat, wie mag man da noch Zank und Streit haben? Die Madlene gibt mir das Geleit und sagt: ›Verzeih' ihm! Er hat selber keine gute Stunde auf der Welt bei all seinem Geld und Gut. Darum ist er grimmig und zornig auf die ganze Welt. Und denk', daß dein Vater jetzt krank liegt.‹
Wie sie mir das ins Gedächtnis ruft, renn' ich schnell wieder heim zum Vater: vielleicht ist er gar jetzt in dieser Viertelstunde gestorben. Ich komm' heim, und da sagt der Vater: ›Das hättest du nicht tun sollen, du hättest nicht zum Vigil gehen sollen und ihn bitten, daß er zu mir kommt! Jetzt rühmt er sich noch, daß er dir den Marsch geblasen.‹
Mein Vater beteuerte, es habe ihm niemand gesagt, daß ich den Vigil aufgesucht, und doch war's, als ob er jedes Wort gehört hätte, das wir dort gesprochen. In solchen Stunden vor dem Tode – da muß der Mensch mehr können, als man glaubt.
Ich sitze den ganzen Tag beim Vater, und wie ein Wägelchen am Hause vorüberfährt, sagt er: »Das ist der Vigil, er fährt das ganze Jahr mit Rollengeschirr am Halfter, es soll alles aufschauen nach ihm, und so knallt er, so geht sein Wägelchen, so sein Pferd. Er tut's nur mir zum Possen, daß er jetzt da vorüber spazierenfährt!‹
Nie werde ich's vergessen, wie der Vater plötzlich eine Hand voll Stroh aus seinem Bett ausrauft, mir es ins Gesicht hält und ruft: ›Siehst du, das ist gewachsen aus der Saat! Ich lieg' auf dem Stroh, er hat mich aufs Stroh geworfen! Was Stroh! Alles ist Stroh! Wo ist Gerechtigkeit im Himmel und auf Erden, daß es einem Manne wie dem Vigil so gutgehen darf? Ja, das ist das Ärgste, was er mir angetan: er hat mich an Gott und aller Gerechtigkeit zweifeln machen! Ich hab' nie gewußt, was das ist – und jetzt jahrelang, da steh' ich und da geh' ich und da lieg' ich, und es ist mir immer, als ob jemand käme, der mir mit der Axt das Hirn einschlägt und mich mit der Peitsche aus der Welt hinausjagt! Ich bin nicht mehr in der Welt daheim, der Vigil hat mich draus vertrieben! Ich bin dir einmal im Sommer fast Nacht für Nacht aufgestanden und im Dorf umhergelaufen und in die Felder hinaus, wie wenn ich verrückt wäre: dann bin ich am Haus des Vigil gestanden und habe gehorcht und habe geglaubt, hören zu müssen, wie er im Schlaf aufschreit, die Teufel müssen im Schlaf an ihm würgen. Aber es ist alles nichts, und ich bin wieder heim. Und so böse Zeiten, Sohn, so böse Zeiten hab' ich nie in meinem Leben gehabt. Ich hab's wieder vergessen und hab' mich dreingefunden und habe gedacht: Dein Kopf ist zu dumm, daß du's ausmessen kannst, wie die Welt regiert wird, und ich selber hab's auch nicht verdient, daß mir's gutgeht, und doch hat Gott derweil mein Korn draußen auf dem Feld wachsen lassen und hat nicht danach gefragt, was mir im Herzen umgeht, wie ich da frevle. Ich hab' mir auch gedacht: der Vigil ist eigentlich schon tot, er geht nur noch da auf der Welt als Gespenst herum und ißt und trinkt und schläft und fährt, aber er hat eigentlich nichts davon. Und dann ist's wieder über mich gekommen: Was willst du von dem einzigen Menschen? Das darf nicht sein, daß er dir das Herz aus dem Leib nimmt, das tät' ihm ja gerade noch wohl, wenn er wüßt', wie er dich plagt, wenn du an ihn denken mußt! Nein, ich tu's nicht mehr! O Sohn, ich wünsche nicht, daß du es auch erfährst, was das ist, wenn man darauf kommt: Es gibt einen grundschlechten Menschen, der mit Haut und Haar nichts nutz ist, und doch geht's ihm gut! Warum bin ich ehrlich? Warum bin ich gut gegen jedermann? Ist's nicht besser, wenn man's auch nicht ist? Sind wir Menschen denn etwas mehr als der Wurm, der vom Fuß zertreten wird? Ich hätte doch auch danebentreten können, und der Wurm wär' noch da. O Sohn! Und das alles hat der Vigil getan, und so viel Halme sind nicht aus der Saat gewachsen, die er mir geschenkt hat, und alles ist Stroh! Und er wirft mich aufs Stroh! Ich hab' gemeint, ich muß auf all die Häuser hinauf, auf die Giebel und auf die Dächer, die ich hab' aufrichten helfen, und muß schreien: ›Wachet auf, wachet auf! Die Welt ist im Elend!‹ Und ich hab' doch nie in meinem Leben Schwindel gehabt, wenn ich auf einem einzigen Balken oben gesessen bin und er hat geschwankt; aber jetzt geh' ich dir auf ebenem Boden, wie wenn ich an einem Giebel hinge, und es schwindelt mich. Der Doktor sagt mir, ich sei krank, und gibt mir ein Tränklein, aber es hilft mir kein Tränklein – ich weiß, woran ich krank bin!‹
Wie ich das alles so höre, stundenlang und viel härter, als ich's berichten kann, da mein' ich, ich muß vergehen und mein Kopf sitzt nicht mehr fest.
Am Mittag kommt der Pfarrer, kann aber die bösen harten Gedanken aus meinem Vater nicht herausbringen, er hat sich ganz drein verbissen, und er sagt immer wieder, er wolle Gott fragen, warum er solch einen Menschen, wie den Vigil, so in der Welt wirtschaften lasse. Das gäbe er nicht her und wenn er dafür die Seligkeit einkaufen könne.
Man meint oft, mein Vater hat den Atem nicht mehr; aber wenn er auf den Vigil zu sprechen kommt, da wird es ihm auf einmal leicht. – Gegen Abend kommt die Madlene, und kaum hat sie die Tür geöffnet und guten Abend gesagt, so ruft mein Vater, sie soll fortgehen, er wolle von niemand etwas wissen aus des Vigil Haus. Sie aber sagt: ›Ich laß mich nicht vertreiben – Ihr seid meines Vaters Bruder!‹ Und sie ist gescheit und fest und sagt: ›Ohm, der Vigil schickt mich, er kann's nicht selbst tun, dazu ist er zu herb, und er sagt, Ihr sollt nicht aus der Welt gehen mit Groll gegen ihn im Herzen.‹
›Du lügst! Du lügst!‹ schreit mein Vater. ›Tu das nicht, sonst hast du Teil an seiner Hundeseele! Betrüg mich nicht!‹
Die Madlene gesteht offen, sie habe nur das gesagt, was der Vigil doch tun möchte, wenn er's auch nicht tue, und – was dem Pfarrer nicht gelungen war und mir nicht, das gelang ihr jetzt. Mit fester Stimme sagt sie: ›Ohm! Ihr habt das Korn von meinem Bruder zur Aussaat gebraucht, und wißt Ihr, was Ihr daraus macht? – Aussaat zu Haß und Zorn und Gift, da für Euren Paul und für mich! Das schreit zum Himmel! Wer einen andern Menschen, sei er, wer er sei, haßt, der tut sich selber am wehesten damit, er macht sich selber schlecht, und wer seinem Nebenmenschen den Tod wünscht, der hat ihn umgebracht, das gilt vor Gott, und er ist unstet und flüchtig auf der Welt; eines muß dem andern verzeihen, und wer auch noch so brav ist, hat doch auch schon Schlechtes getan auf der Welt und noch mehr Schlechtes tun wollen, und wenn alles geworden wär', was einer gewollt hat, könnte keiner aufrecht gehen, und wer sich rein fühlt, werfe den ersten Stein.‹
Die Augen, mit denen da mein Vater die Madlene ansieht, die stehen mir ewig offen. Sie redet nicht aus, denn eben hört man das Wägelchen des Vigil vorbeifahren und so nah und deutlich, wie wenn es durch die Stube fahre, und da sagt mein Vater: ›Ich verzeih' dir, Vigil, ich verzeih' dir!‹ Er atmet auf, wie wenn ihm ein Zentnerstein vom Herzen genommen wäre. Die Madlene faßt seine Hand und er sagt – er hat auf einmal eine ganz andere Stimme, gar nicht mehr so rauh und heiser wie sonst, als wäre das ein ganz anderer Mensch, der da spricht:
›Ja, Madlene, wenn du den Paul heiraten willst, da soll alles gut sein, und ich nehme keinen Haß und kein Zürnen mit in die andre Welt,‹
So sagt mein Vater, und so sind gewiß nie zwei Menschen zusammengegeben worden wie wir. Wir haben kaum erst angefangen gehabt, uns liebzubekommen, und haben noch lange nicht so weit hinaus gedacht. Die Madlene steht auf und sagt: ›Wenn du mich willst, ich heirate dich von Herzen gern.‹ Und da bin ich Bräutigam gewesen, ich weiß nicht, wie, und alle meine Gedanken, daß ich in der Stadt bleiben wollt', waren wie weggeflogen. Ich habe meinen Acker und meine Wiese, und die Madlene hat auch so viel an Land, daß wir zwei Kühe drauf halten können. Das alles läuft so durcheinander in meinem Kopf. Und in derselben Stunde ist mein Vater gestorben, wir haben gar nichts davon gemerkt; wie wir wieder nach ihm umschauen, war er tot. Aber sein Gesicht ist so heiter gewesen, so glücklich, wie noch nie.
So, jetzt sind wir in meinem Dorf. Sehen Sie dort die beiden Frauen, die ein Kind laufen lehren? Das ist meine Frau und meine Schwester.«
»Lebt der Vigil noch, und wie geht's ihm?«
»Der hat ein böses Leben und einen bösen Tod gehabt. Das ist eine schwere Geschichte, die will ich ein andermal erzählen, wenn wir wieder zusammenkommen.«
Alles, was der GevattersmannFreund, Nachbar hier schreibt und womit er seinen Mitmenschen zu nützen und sie zu erfreuen wünscht, das darf nicht so kurzweg zu dir gelangen; es muß vorher einem Staatsbeamten vorgelegt sein, und der sagt, ob's gedruckt werden darf oder nicht, und was ihm nicht gefällt, das streicht er weg, und du erfährst nie, was man dir zu sagen hatte. Das ist Zensur.
Hast du auch schon gewußt, was Zensur ist, so kannst du doch kaum ermessen, wie sich die Seele umkehrt bei dem Gedanken, daß man nicht freiweg reden darf.
Und warum zerstampfst du die Feder nicht, warum schreibst du dennoch? fragst du.
Du hast wohl schon von Menschen gehört, die sich aus Liebe zu einem Gefangenen mit ihm einsperren ließen, die ihn erheiterten und aufrichteten, solange sein Leben aushielt oder bis zum Tage, da die Riegel des Kerkers sich öffnen. – Nun denn, wer unter Zensur schreibt, der läßt sich aus Liebe zu seinem Volk mit ihm einsperren, pflegt dessen Kraft, so gut er kann, damit sie nicht in sich verkomme, erheitert und erhebt, damit am Tage der Freiheit nicht ein geknicktes, in sich gebrochenes Wesen das freie Licht erschaue.
Es gab einstmalen einen Gefangenen, der soll ein Prinz gewesen sein, dessen Kraft die zeitlichen Herrscher fürchteten; man wollte ihm nicht den Kopf vor die Füße legen, weil man das Morden scheut, und – der Menschengeist ist ja am erfinderischsten im Quälen – was wurde ersonnen? Man schmiedete dem Verstoßenen eine eiserne Maske über den ganzen Kopf, die man so vernietet hatte, daß sie nicht abzulösen war; und so lebte der Eisenübergossene im Kerker, seine Gefangenenwärter kannten ihn nicht, er selbst kannte sich nicht mehr ...
Kannst du dir denken, wie es einem zumute werden muß in solch einem doppelten Gehäuse? Du brauchst dir gerade nichts Besonderes auf deinen breiten Mund oder auf deine dicken Backen einzubilden, aber überlege, wie seltsam es dir zumute wäre, wenn du seit Jahren nicht betrachtet hättest, wie du aussiehst.
Ein Stück Vieh braucht und hat keinen Spiegel. Wenn es morgens früh aufsteht, hat es Stiefel und anderes Weißzeug an, Rock und Hosen sind nach dem besten Schnitte angepaßt. Ja, lache nur, der Spiegel ist ein Vorzug des Menschen, er kann sich selbst betrachten, als wäre er etwas anderes, er kann sich selbst vorstellen.
Und die ausgesprochenen, unverfälschten Worte sind der Spiegel der Seele, darin sich des Menschen Geist beschaut, erkennt und beurteilt.
Ein Mensch, ein Volk, das nicht frei reden darf, hat eine eiserne Maske festgenietet auf seiner Seele, es kennt sich selbst nicht, und die Gefangenenwärter kennen es auch nicht. Das Weitere denke dir selber.