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Die Blaugras-Penelope
Sie war dreiundzwanzig Jahre alt geworden und hatte nichts Besonderes erlebt. Ihre Wiege hatte in den weiten Grasdistrikten von Kentucky – dem Blaugraslande Blaugras (blue-grass) nennt man das Gras, das auf dem reichen Kalkboden von Kentucky und Tennessee wächst und dessen Name als Bezeichnung der ganzen Gegend sowie ihrer Bewohner dient. – gestanden, und sie war in jenem gemächlichen Behagen aufgewachsen, das durch die sich ausgleichenden Gegensätze – kleine Farmhäuser, ungeheure, dazu gehörende Landstrecken, günstige Vermögensverhältnisse und einen vollständigen Mangel an geselligem Verkehr – geschaffen wird. Vor ihr lagen alle Möglichkeiten.
Sie war schön. Aber die Macht ihrer Reize erlitt dadurch Abbruch, daß es in den freilich dünn gesäten Nachbarfamilien ebenfalls schöne Mädchen gab.
Unter diesen Umständen hatte sie sich mit einem jungen Mann verheiratet, der sein mäßiges Kapital an Wissen und Bildung in der benachbarten kleinen Stadt als Schulmeister verwertete. Nach der Hochzeit hatten sich die Türen des elterlichen Hauses liebevoll aufgetan, um das junge Paar hinauszulassen. Es war ohne Bedauern und ohne großen Gefühlsaufwand gegangen, um fern von diesem ihnen schon allzu bekannten Schauplatz ein neues Dasein zu beginnen. Mit ihrer Abreise nach Kalifornien, als Mr. und Mrs. Tucker, wurden sie Fremde für das heimatliche Nest im Blaugraslande.
Beide jungen Leute ertrugen die schlimmen Tage ihres neuen Lebens mit demselben heiteren Gleichmut, mit dem sie die Glücksfälle hinnahmen. In einem Zeitraum von drei Jahren hatte sich der Schulmeister zuerst in einen Advokaten und dann in einen Geldmann verwandelt, und seine Frau aus dem Blaugraslande fand sich in diese Umwandlungen mit der ihr eigenen Anmut. Sie verstand es, den plötzlichen Übergang zum Reichtum und zu dem damit verbundenen Einfluß zu mildern. Nur etwas störte auf dem Felde erfüllter Möglichkeiten: das Ehepaar hatte keine Kinder. Es war, als hätten die Erfolge der jungen Leute die Zukunft erschöpft, so daß einer kommenden Generation nichts mehr zu tun übrig bliebe.
Ein heftiger Südweststurm tobte gegen die Fenster der Ankleidezimmer ihres neuen, in einer der hügeligen Vorstädte von San Franzisko gelegenen Hauses und bedrohte die unpassenden Stuckornamente des Balkons und der Simse mit Untergang und Verderben, als Mrs. Tucker ein Besuch gemeldet wurde. Sie trat in das Empfangszimmer und fand den Gast mit einer halb bewundernden, halb mißbilligenden Betrachtung ihrer Möbel, Tapeten und Gardinen beschäftigt. Sie erkannte Mr. Calhoun Weaver, einen ihrer früheren Blaugras-Nachbarn, sofort, während sie gleichzeitig mit weiblichem Instinkt witterte, daß er drauf und dran war, sein Mißfallen an ihrer Einrichtung auf ihre Person zu übertragen. Mit leichter Liebenswürdigkeit scheuchte sie den Verdacht hinweg, indem sie den alten Bekannten in vertrauter Weise bewillkommnete und mit seinem Vornamen begrüßte.
»Schätze, Ihre alten Blaugras-Freunde passen nicht besonders hier in den Firlefanz herein«, sagte er, während er seine Blicke rundum schweifen ließ, als wollte er ihre klaren Augen vermeiden und sich dadurch, daß er sich gegen den Eindruck des Glanzes ihrer Umgebung auflehnte, gegen den alten Zauber ihres Wesens wappnen.
»Ich dachte, ich sollte doch, um der alten Zeiten willen, 'mal mit vorsprechen!«
»Und warum sollten Sie das auch nicht, Cal?« fragte Mrs. Tucker mit ihrem offenen Lächeln.
»Ich befinde mich gerade mit 'n paar einflußreichen Freunden auf dem Wege nach Sacramento«, fuhr der Gast fort, noch immer in dem sichtlichen Bestreben, sich von ihren Reizen und ihrer Umgebung nicht betören zu lassen. »Ich bin mit Senator Dyce von Kentucky und seinem Vetter, dem Richter Briggs, hier. – Die Herren sind Ihnen vielleicht bekannt. Bestimmt wird sie Spencer, wollte sagen Mr. Tucker, kennen.«
»Schätze, daß es so ist«, erwiderte Mrs. Tucker lächelnd. »Erzählen Sie mir etwas von den jungen Burschen und Mädchen daheim und auch von sich selber! Sie sehen sehr wohl aus, als ob es Ihnen gut ginge.«
»Ich wußte nicht, ob Ihnen viel daran läge, etwas aus dem alten Blaugraslande zu hören«, sagte er ein wenig besänftigt. »Bin selbst 'ne Weile von dort weggewesen.« Da sich seine Eitelkeit unter dem Verdacht eines leisen Anklanges von Gönnerhaftigkeit im Wesen seiner Wirtin sofort regte, fügte er rasch hinzu: »Es geht den Leuten dort gut – vielleicht ebenso gut wie manchen anderen.«
»Und Sie haben sich noch nicht verheiratet«, fuhr Mrs. Tucker, ohne den Stich zu beachten, ruhig fort. »Oh, Cal, Cal, ich fürchte, Sie sind noch immer der alte unbeständige Schmetterling. Welches arme junge Ding härmt sich denn jetzt in Vineville um Sie ab?«
Bei dieser Anspielung auf seine häufig den Gegenstand wechselnde altmodische Galanterie wurde Cal vor Vergnügen rot.
»Na, sehen Sie, Bell«, sagte er, sich vor innerlicher Befriedigung blähend, »sehen Sie, wenn Sie von alten Zeiten sprechen und etwa denken sollten, ich trüge es Spencer nach, daß –«
Mrs. Tucker unterbrach diesen sentimentalen Rückblick, indem sie schalkhaft und warnend zugleich den Finger hob.
»Genug davon!« sagte sie. »Aber ich bin neugierig zu erfahren, wie es den alten Bekannten geht. Sie müssen zum Mittagessen bleiben und mir alles erzählen. Leider treffen Sie Spencer nicht zu Hause; er ist noch nicht von Sacramento zurück.«
So angenehm nun auch Cal Weaver ein Zusammensein mit seiner ehemaligen Nachbarin hier inmitten ihres Glanzes und Reichtums gewesen wäre, so verstieß es doch zu sehr gegen seinen Stolz und vertrug sich zu wenig mit seinen angeblich notwendigen Geschäften. Außerdem empfand er mit einem gewissen Unbehagen, daß sich hinter Mrs. Tuckers einfacher, ungezwungener Art eine größere Überlegenheit versteckte, als er während des früheren Verkehrs an ihr bemerkt hatte.
»Schätze«, sagte er, indem er endlich zögernd auf die Tür zuschritt, »schätze, Spencer hat sich bei seinen Unternehmungen ordentlich vorgesehen. Das Geschäft mit dem Alameda-Damm, von dem man soviel spricht, ist 'ne gewaltige Sache – vielleicht zu gewaltig für ihn, wenn man's ihm 'mal allein auf dem Halse ließe. Aber ich denke, er ist an Wagnisse gewöhnt.«
»Gewiß«, entgegnete Mrs. Tucker heiter, »er hat es ja sogar gewagt, mich zu heiraten.«
Mr. Cal Weaver lächelte, konnte aber der Gelegenheit zu einer galanten Anspielung nicht widerstehen. »Aber Sie sind desto weniger zu Wagnissen geneigt«, meinte er.
»Warum nicht? Habe ich doch Spencer zum Manne genommen«, gab Mrs. Tucker zur Antwort.
Mr. Calhoun Weaver erlag diesem letzten Streich bezaubernden Übermuts. Er brach in ein schallendes, diesmal echtes Gelächter aus und schüttelte Mrs. Tucker herzlich die Hand, indem er rief: »Na, das ist echter Blaugrashumor, den hat so leicht kein anderer.« Dann öffnete er die Haustür und wurde von dem Sturm draußen verschlungen.
Auf Mrs. Tuckers Lippen blieb ein Lächeln stehen, bis sie in ihr Zimmer zurückgekehrt war; auch dann, als sie den Blick bereits wieder auf die vom Sturm gepeitschte Bai gerichtet hatte, leuchtete es noch für einige Minuten in ihren Augen weiter. Vielleicht schwebte ihr eine Erinnerung aus den friedlichen, in stillen Ebenen verlebten Jugendtagen vor; aber wir müssen es dahingestellt sein lassen, ob bei diesem Rückblick eine sanfter schwingende Saite ihres Herzens erklang und ob ihr das Bild aus der Jugendzeit anziehender vorkam als die klaren, scharfen Umrisse ihres jetzigen Lebens.
Diese Erinnerungen gingen bald in der eifrigen Beobachtung eines Bootes unter, das, dem Winde gerade entgegen, soeben um die Alcatraz-Insel bog. Obgleich das kleine Fahrzeug fast nur ein dunkler Fleck in der grauen Schaummasse schien, ließ sich bei genauerem Hinsehen doch erkennen, daß es eines der italienischen Fischerboote mit lateinischen Segeln war, die so häufig die Bai kreuzen. Als die Wolken zerrissen, erschienen draußen die Umrisse des »Goldenen Tors«, und dazwischen kam unvermutet das Ziel des kleinen Fahrzeuges, ein großes Schiff, das im Nebel unsichtbar gewesen war, zum Vorschein. Während sich die Entfernung zwischen Boot und Schiff schnell verringerte, verschwanden beide plötzlich wieder in einem Regenschauer, und als dieser aufhörte, stach das Schiff bereits langsam in die offene See. Das Boot war verschwunden. Vergeblich wischte Mrs. Tucker die angelaufene Fensterscheibe mit ihrem Taschentuch ab – das kleine Fahrzeug war nicht mehr zu sehen. Ein abermaliger Regenguß, der gegen die Fenster schlug, verhinderte jetzt jede Aussicht. Eine Dienerin meldete:
»Hauptmann Poindexter, Ma'am!«
Mrs. Tucker zog fragend die schönen Augenbrauen empor. Hauptmann Poindexter war ein Freund ihres Mannes und hatte schon oft bei ihnen gespeist. Dessenungeachtet fragte sie:
»Haben Sie ihm gesagt, daß Mr. Tucker nicht zu Hause ist?«
»Ja, Ma'am.«
»Fragte er nach mir?«
»Ja, Ma'am.«
»Sagen Sie ihm, ich würde augenblicklich hinunterkommen.«
Mrs. Tucker verriet mit keiner Miene, daß ihr dieser zweite Besuch noch weniger angenehm war als der erste. Sie nährte im Innersten ihres Herzens eine Abneigung gegen Poindexter, denn sie hatte mit dem Instinkt einer klugen Frau längst erraten, daß er ihrem Mann in vielen Punkten überlegen war. Als gute Ehefrau empfand sie es sehr unangenehm, daß der Freund die Beweise für diese Tatsache gelegentlich ganz unbewußt betonte. Neben dieser geheimen Eifersucht bestand zwischen ihr und dem Käpt'n eine geistige Gegnerschaft. Beide waren philosophische Köpfe. Mrs. Tuckers Optimismus vertrug sich aber nicht mit dem gutmütigen, menschenfreundlichen und tatkräftigen Pessimismus des Advokaten.
»Wenn man bedenkt«, hatte Mr. Tucker eines Tages geäußert, »wieviel böse Erfahrungen Jack Poindexter in bezug auf die menschliche Natur gemacht hat, so ist es wirklich wunderbar, wie mild er dennoch denkt und wie geneigt er ist, alles zu verzeihen. Du solltest ihn wirklich höher schätzen, Bell.«
»Damit er auch mir seine Verzeihung angedeihen lassen könnte«, hatte Bell lebhaft erwidert.
»Ich verstehe dich nicht, gebe es aber auf, dich zu einer anderen Ansicht zu bekehren«, hatte Mr. Tucker zur Antwort gegeben, und Mrs. Tucker hatte ihm darauf zärtlich die glatte, hohe, aber sehr törichte Stirn geküßt und gesagt: »Das ist mir lieb, Schatz.«
Inzwischen hatte sich der zweite Besucher wie der erste im Empfangszimmer damit beschäftigt, die Pracht der neuen Einrichtung mit kritischen Augen zu betrachten; aber es lag dabei mehr Teilnahme als Mißbilligung in seinem Wesen; dieser Ausdruck wurde nur einmal getrübt. Über dem Kamin hing eine große Photographie von Mr. Spencer Tucker. Als Poindexter prüfend auf diese langbewimperten Augen blickte, auf diesen weich herabfallenden schwarzen Schnurrbart, auf die wohlgeordneten Locken um die Stirn und auf den vollen Hals, den der à la Byron umgeschlagene Hemdkragen zum Vorschein kommen ließ, da flog ein gutmütig-humoristisches Lächeln über sein Gesicht:
»Du bist doch ein rechter Hansnarr, mein lieber Freund«, sagte er halblaut zu dem Bilde.
Er stand noch vor dem Photo, als Mrs. Tucker eintrat. Hauptmann Poindexter konnte für einen gut aussehenden Mann gelten. Seine aufrechte Haltung bekundete noch die militärische Schule. Die Verhältnisse hatten es ihm vor drei Jahren ermöglicht, den Dienst zu quittieren und seine Talente in der einträglicheren Beschäftigung als Advokat zu verwerten.
»Spencer ist in Sacramento«, sagte Mrs. Tucker.
»Ich wußte, daß er nicht anwesend ist«, entgegnete Poindexter; »aber das Geschäft, das mich heute hierher führt, betrifft Sie beide.« Hier hielt er einen Augenblick inne und blickte zu dem Bild empor. »Ich setze voraus, daß Sie von seinen Geschäften keinen rechten Begriff haben, daß Sie nichts, rein gar nichts davon wissen«, fuhr er fort. Sein Ton war dabei so gütig und doch so bestimmt, gleichsam als müßte dieser Punkt festgestellt werden, ehe er weitersprechen könne, daß sie beinahe mechanisch bejahte.
»Nun denn, Spencer hat sich in große Unternehmungen eingelassen, und sie sind schiefgegangen. Sind so gründlich verunglückt, daß sie gar nicht schöner hätten verunglücken können! Er ist ein bißchen unvorsichtig gewesen – na, Sie wissen ja, wie es so geht. Er behandelte diese Dinge mehr wie ein vergnügliches Kinderspiel, und die Folge ist denn auch, wie gewöhnlich, ein regelrechter Krach. Geld, Kredit und alles, was drum und dran hängt, ist zum Kuckuck«, fuhr er lachend fort. »Verstehen Sie wohl – er ist fertig. Ich spreche in vollem Ernst.«
Dabei zog Poindexter die Augenbrauen hoch. Dann stand er auf, legte die Hände auf den Rücken und sagte, indem er von der ungefähren Höhe der Photographie halb humoristisch auf die Frau blickte: »Ja, es ist gegangen, wie es in solchen Fällen zu gehen pflegt.«
Mrs. Tucker fühlte, daß er die Wahrheit sprach.
»Sie wollen doch nicht sagen –?«
Poindexter nickte, noch immer lächelnd.
Mrs. Tucker erhob sich. Sie hatte den ersten Schrecken bereits überwunden, und ihr Stolz verlieh ihr eine Ruhe, die dem Gleichmut Poindexters gleichkam.
»Wo ist Spencer?« fragte sie.
»Auf der See, und jetzt, wie ich hoffe, bereits außerhalb der Verfolgung.«
War die Erscheinung des aus der Bai hinaussteuernden Schiffes ein wunderliches Zusammentreffen gewesen? Einen Augenblick fühlte sie sich verwirrt und schwindlig. Aber sie bemeisterte ihre Schwachheit, und es gelang ihr, wenn auch mit etwas leiserer Stimme, zu fragen:
»Haben Sie mir keine Botschaft von ihm zu bringen? Hat er Ihnen nichts für mich aufgetragen?«
»Nichts, gar nichts«, gab Poindexter zur Antwort.
»Schätze, er hatte große Eile, davonzukommen, ehe der Krach bekannt wurde.«
»Waren Sie nicht dabei, als er abreiste?«
»Nein«, erwiderte Poindexter, den Kopf schüttelnd. »Ich hätte schwerlich meine Zustimmung dazu gegeben. Aber«, setzte er mit entschuldigendem Lächeln hinzu, »er konnte ja natürlich am besten beurteilen, was sich tun ließ.«
»Vermutlich wird mir Spencer schreiben, wenn er in Sicherheit ist«, antwortete Mrs. Tucker ruhig. »Der Arme wird nur zu viel zu bedenken gehabt haben.«
Sie sprach in so gefaßtem, natürlichem Ton, daß sich Poindexter täuschen ließ. Er ahnte nicht, daß die Frau da vor ihm nur an die Einsamkeit in ihrem verdunkelten Zimmer dachte und nur das beinahe wahnsinnige Verlangen hegte, sich dorthin zu flüchten.
»Das wird er wohl«, fuhr Poindexter fort, während er die Photographie anblickte. Da aber Mrs. Tucker noch immer stehenblieb, setzte er ernster hinzu: »Indes war ich nicht gekommen, um Ihnen zu sagen, was Sie morgen früh in den Zeitungen lesen werden und was Ihnen außerdem jeder andere ebensogut hätte mitteilen können. Ich kam, um einen Bruchteil Ihres Vermögens zu retten. Verstehen Sie? Ich möchte einige Brocken sammeln und sichern.«
»Für ihn?« fragte Mrs. Tucker mit aufleuchtenden Augen.
»Wenn Sie so wollen – natürlich –, doch auch für Sie selbst. Kennen Sie den Viehhof de los Cuervos?«
»Ja.«
»Diese Besitzung ist die einzige von seinen Liegenschaften, die Ihr Gatte nicht verkauft, nicht verpfändet und nicht mit Hypotheken überhäuft hat. Ob er sie absichtlich ausgeschlossen oder nur vergessen hat, weiß ich nicht.«
»Aber ich kann es Ihnen sagen«, rief Mrs. Tucker, indem ihr Gesicht wieder etwas Farbe gewann. »Es war das erste Eigentum, das wir erwarben, und Spencer sagte immer, das solle mir gehören und er wolle ein neues Haus dort bauen.«
Käpt'n Poindexter lächelte und nickte dem Bilde zu.
»Ah, das hat er also gesagt! Aber er hat Ihnen wohl nie eine Urkunde darüber gegeben, und morgen bei Sonnenaufgang werden die Gläubiger den Rancho mit Beschlag belegen, es wäre denn –«
»Es wäre denn –?« fragte Mrs. Tucker mit flammenden Augen.
»Es wäre denn, daß man Sie bereits im Besitze des Ranchos fände«, fuhr Poindexter fort. »Nur wenn Sie dort sind, gelten Sie nach den Gesetzen als Eigentümerin.«
»Ich werde mich sogleich hinbegeben«, sagte Mrs. Tucker.
»Das werden Sie natürlich«, erwiderte Poindexter wieder in scherzendem Ton. »Die Frage ist nur: wie? Los Cuervos liegt vierzig Meilen von hier, und Sie können weder das Dampfboot noch die Postkutsche benutzen. Das Dampfboot geht in einer Stunde ab.«
»Oh, hätte ich das alles doch etwas früher gewußt!« rief Mrs. Tucker.
»Ich wußte es, aber Sie hatten Gesellschaft, und ich wollte Sie nicht stören«, gab Poindexter mit etwas ironischer Galanterie zur Antwort. Dann fuhr er, ohne sich auf eine Erklärung darüber einzulassen, wie er zu der Kenntnis gekommen war, gelassen fort: »In der Postkutsche würde man Sie erkennen. Es darf niemand erfahren, daß Sie erst jetzt zum Rancho reisen. Sie müssen ein Privatfuhrwerk benutzen und den Weg allein zurücklegen, denn sogar ich kann Sie nicht begleiten. Ich muß hier noch allerlei ordnen, um Ihnen den Besitz zu sichern, werde aber dort so bald wie möglich mit Ihnen zusammentreffen. Können Sie einen Wagen eigenhändig vierzig Meilen weit kutschieren?«
Mrs. Tucker hob wie zerstreut ihre schönen Augenlider. »Daheim habe ich einmal eine Strecke von fünfzig Meilen auf diese Weise zurückgelegt«, gab sie einfach zur Antwort.
»Gut! Damals taten Sie es wahrscheinlich nur zum Spaß und weil es Ihnen Vergnügen machte. Tun Sie es jetzt einmal aus solideren Gründen. Sie sollen unterwegs Relaispferde finden, und ich werde Ihnen eine Karte der Gegend und des Weges zustellen. Das Wetter ist zwar für eine Spazierfahrt sehr schlecht; aber das hat auch sein Gutes. Sie werden nur wenigen Menschen begegnen. Und das ist sehr wichtig.«
»Wann soll ich mich auf den Weg machen?«
»Je eher, desto besser. Ich habe schon alles vorbereitet.«
Er erklärte ihr den Plan ihrer heimlichen Flucht und verabschiedete sich scheinbar leichthin.
Nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, sagte sie zu ihrem Mädchen: »Du brauchst das Gas in meinem Zimmer nicht anzuzünden, Mary; ich werde mich nur einige Augenblicke niederlegen und muß dann zum Abend zu Robinsons hinüber.«
Sie betrat ihr Zimmer in gefaßter Haltung. Das Verlangen, sich auf ihr Bett zu werfen, den Kopf in die Kissen zu drücken und ihre Lage zu überdenken, war nicht mehr vorhanden. Bei der Kinderlosigkeit ihrer Ehe hatte kein anderes Leben in den gegenwärtigen Verhältnissen Wurzel geschlagen, und niemand als sie und ihr Gatte erlitten die Umpflanzung in einen anderen Boden. Nur sie und Spencer konnten durch den Wechsel verlieren oder gewinnen, und wer weiß, ob nicht ein »volles gegenseitiges Verständnis« aus einem solchen Umschlage der Dinge erwuchs.
Gern wäre sie an das Fenster getreten, um noch einmal, diesmal in Gedanken, das Schiff zu sehen, das vor kurzem im Nebel untergetaucht war; ein anderes Gefühl hielt sie zurück. Sie wollte alle Sehnsucht nach ihm unterdrücken, bis sie etwas getan hatte, um ihm zu Hilfe zu kommen und das Vertrauen zu verdienen, das er in sie zu setzen schien. Vielleicht glaubte sie gar nicht, daß er das Land für immer verlassen habe oder daß seine Flucht allzuweit gehen werde.
Obwohl sie wußte, daß alle Schmucksachen morgen beschlagnahmt werden würden, packte sie nur das Notwendigste und einige wenige täglich getragene Schmuckstücke für ihre Flucht zusammen; diese Selbstbeschränkung ging, wie wir hinzufügen müssen, mehr aus Geringschätzung des Tandes als aus moralischen Gründen hervor.
Ohne einen Seufzer schlich sie, als die Nacht herabgesunken war, unbemerkt die Treppe hinab. Vor der Tür des Empfangszimmers blieb sie stehen, und zum erstenmal an diesem Abend überkam sie etwas wie ein Gefühl von Schuld und Scham. Verstohlen um sich blickend, stieg sie vor dem Bilde ihres Mannes auf einen Stuhl und küßte seinen tadellosem Schnurrbart, indem sie leise vor sich hinmurmelte: »Du lieber, törichter Mensch du!« Dann schlüpfte sie hinaus, schloß leise die Tür und verließ für immer das Haus, das bis dahin das ihrige gewesen war.
Wind und Regen hatten die ohnehin wenig belebte Vorstadt noch mehr verödet und alle Pflastertreter verscheucht. Die düster brennenden Straßenlaternen verrieten also die Flüchtige nicht. Kaum hatte sie die zweite Straße überschritten, als sie das Klappern von Pferdehufen hinter sich vernahm. Eine leichte gedeckte Chaise mit vier hohen Rädern, ein sogenannter Buggy, kam heran und hielt dicht am Fußsteig. Poindexter sprang heraus. Sie stieg schnell ein; er behielt die Zügel des ungeduldigen Pferdes noch einen Augenblick in der Hand.
»Das Tier ist ziemlich feurig«, bemerkte er. »Sind Sie überzeugt, seiner Herr zu werden?«
»Geben Sie mir die Zügel«, erwiderte sie einfach.
Er legte die Riemen in die beiden festen, wohlgeformten Hände, die sich aus der Tiefe des Wagendaches hervorstreckten, blieb aber noch stehen.
»Eine schwere Aufgabe für eine Frau«, sagte er beinahe rauh. »Ich kann Sie leider nicht begleiten. Aber sprechen Sie offen: gibt es denn sonst keinen Mann, dem Sie sich anvertrauen dürften? Denken Sie einen Augenblick nach – noch ist's Zeit.«
Er schwieg, während er das Spritzleder des Gefährts zuknöpfte.
»Nein, es gibt keinen«, entgegnete eine feste Stimme unter dem Dach des Wagens hervor. »Es ist auch besser so. Alles fertig?«
»Nur noch einen Augenblick«, fuhr er in seiner gewöhnlichen, halb scherzenden Weise fort. »Sie haben einen Freund und Landsmann bei sich – wissen Sie das? Ihr Pferd ist Blaugrasblut. Gute Nacht!«
Fort ging die Reise. Das Pferd setzte sich in Galopp, als wäre es begierig, seinem Heimatland, das auch das der schönen Frau hinter ihm war, Ehre zu machen.
Mrs. Tucker sah den schön gerundeten Rücken des Pferdes in strengem Rhythmus vor sich auf und nieder tauchen. Das Tier empfand den verständnisvollen Druck einer starken, aber gütigen Hand auf dem Gebiß.
Stolz rötete die Wangen der Frau. Sie flüchtete ohne Mann und Heimat durch die Nacht; sie wußte kaum wohin – und doch hatte sie das Gefühl selbständigen Handelns.
Um in diesen ersten Abendstunden belebtere Gegenden zu meiden, war beschlossen worden, daß sie einen etwas weiteren, ganz einsam liegenden Weg einschlagen solle, nämlich den berühmten Korso von San Franzisko, eine mit Kies gut aufgeschüttete Straße am Meeresstrande entlang. Der vereinigte Donner des Windes und der Wellen schlug voll an ihr Ohr. Als der Sturm Mrs. Tucker zwang, das schützende Dach des Wagens zurückzuschlagen, wenn sie nicht riskieren wollte, mit dem leichten Gefährt umgeworfen zu werden, vermochte sie die Augen nicht mehr vor dem wogenden Chaos zu schließen, aus dem heraus die an den Klippen brandenden, aufschäumenden und wieder verrinnenden Wellen wie bleiche Geister unheimlich zu grüßen und zu winken schienen.
Dann und wann schoß in der Finsternis ein weißer Gischtstreifen zwischen den Rädern über den Weg, als ob er in zornigem Zurückrauschen den widerstrebenden Strand mit sich hinabreißen wollte. Der blinde Schrecken des Pferdes, das bei jeder herandringenden Schaumwelle zur Seite sprang, besiegte endlich die halb abergläubische Furcht, die sich der einsamen Frau zu bemächtigen drohte, denn unter den Bemühungen, das Tier zu beruhigen, gewann sie ihr Selbstgefühl wieder. Aber das salzige Naß, das ihre Wimpern feuchtete, war nur zum Teil sprühendes Seewasser.
Ihre Stimmung schlug um. Eine Weile – sie wußte nicht wie lange – schwelgte sie in einer wahnsinnigen Freude an Macht und Freiheit. Sie vergaß alle Sorgen, vergaß die verlorene Heimat sowie die Trennung von dem geliebten Lebensgefährten und versenkte sich mit der ganzen Heftigkeit des weiblichen Gemüts in den einen glühenden Wunsch, ein Mann zu sein. Dabei wurde sie nicht gewahr, daß der Weg abbog. Erst das Klappern der Hufe auf festerem Boden sagte ihr, daß sie die See jetzt im Rücken hatte und daß sie sich der ersten Station ihrer Reise näherte. Eine halbe Stunde später schimmerten ihr aus der Dunkelheit die Lichter des Wirtshauses entgegen, in dem sie ein anderes Pferd bekommen sollte.
Zum Glück interessierte sich der Hausknecht mehr für das Pferd als für die verhüllte Gestalt im Schatten des zurückgeschlagenen Wagendachs; er führte das Tier nach einer sorgfältigen Betrachtung seiner Hufe und einigen bewundernden Ausrufen in den Stall. Mrs. Tucker hätte gern einen zärtlichen Abschied von ihrem vierfüßigen Landsmann genommen und empfand ein plötzliches Gefühl von Einsamkeit, als sie den vierbeinigen Freund davongehen sah, verhielt sich jedoch in der Erinnerung an allerlei Vorsichtsmaßregeln, die ihr Käpt'n Poindexter empfohlen hatte, still und schweigend.
Der offenbar für ihr Ohr bestimmte Ausruf des Hausknechts: »Na, bringt ihr denn den Mustang für die Señora noch nicht herbei?« setzte sie in einige Verwunderung. Erst als das neue Pferd vorgespannt war und sich der Hausknecht für das ihm zugeworfene Goldstück trotz seiner unzweifelhaften angelsächsischen Abkunft mit einem »Gracias!« bedankt hatte, fing der Grund dieser Vorsichtsmaßregel an, ihr klar zu werden, und das Blut stieg ihr heiß ins Gesicht. Wie durfte sich Poindexter erdreisten, sie für eine andere Persönlichkeit auszugeben? Warum reiste sie nicht unter ihrem eigenen Namen, das heißt unter dem ihres Mannes?
Sie dachte plötzlich an Calhoun Weaver, und keineswegs mit angenehmeren Gefühlen. Er hörte gewiß schon morgen von dem Sturz Spencers, vielleicht sogar von ihrer Flucht, und in welchem Licht mußten ihm nun ihre leichtfertigen Reden erscheinen! Würde er glauben, daß ihr der Zusammenbruch ihrer Verhältnisse damals wirklich noch unbekannt gewesen war? Und diesem Gedanken, was andere von ihr halten möchten, schloß sich die viel gewichtigere Frage an, was Spencer empfinden müßte, wenn er sich der Verurteilung durch solche Menschen wie Calhoun preisgegeben sähe. Ob die Leute wohl erfahren würden, daß er sie, seine Frau, in Unwissenheit über seine Flucht gelassen hatte? Ob es Poindexter gewußt oder sich nur so gestellt hatte? Warum war sie nicht klug und geschickt genug gewesen, ihn glauben zu machen, daß sie bereits unterrichtet sei!
Im Augenblick haßte sie Poindexter darum, weil er dieses Geheimnis kannte. Dann empörte sich ihr stolzer Sinn wieder gegen den Mangel an Vertrauen, den ihr Spencer gezeigt hatte. Er hatte offenbar keine große Meinung von ihrem Talent, ihm zu helfen und beizustehen. Natürlich hatte der Arme es nicht übers Herz bringen können, ihr Schmerz zu bereiten oder sich Leuten wie diesem Calhoun Weaver und selbst diesem – wie sie mit einer Art von innerlichem Frohlocken hinzusetzte – Käpt'n Poindexter anzuvertrauen. Doch hätte er ihr, als er sich auf die Flucht begab, immerhin eine Zeile senden sollen, wenn auch nur um sie darauf vorzubereiten, daß sie der Schande allein werde begegnen müssen.
Gegen Mitternacht legte sich der Sturm, und einige Sterne blinkten durch die zerrissenen Wolken. Da ihre vom langen Sitzen erstarrten Glieder anfingen zu schmerzen, benutzte sie die Sicherheit, die ihr die Nacht und die Einsamkeit der Felder gewährten, um abzusteigen. Mit hochgeschürzten Kleidern ging Mrs. Tucker neben dem Mustang her, bis ihr Blut wieder in raschere Bewegung gekommen war und die plötzliche Erscheinung eines Präriewolfs, eines sogenannten Coyoten, sie erschreckte und in den Buggy zurücktrieb. Sie fühlte sich durch den Marsch gestärkt und fähig, ihre Reise fortzusetzen. In der früh anbrechenden kalten, grauen Dämmerung langte sie am Ende ihrer zweiten Station an. Hier verließ sie wieder die Hauptstraße, die bei Anbruch des Tages durch die Nähe einiger Viehhöfe unsicher wurde. Der Weg war rauh und uneben. Die wenigen Wagenspuren, die einzigen Merkzeichen, waren oft kaum zu erkennen, führten zuweilen durch Holzschläge und Rodungen, an verdächtigen Morästen entlang, an steilen schlüpfrigen Höhen hinauf oder schlängelten sich an schroffen Abhängen mit scharfen Biegungen dahin. Einigemale mußte sie sogar aussteigen, um an solchen Abhängen die glitschenden Räder zu stützen oder den Wagen zu erleichtern.
Endlich vermochte sie im undeutlichen Morgenlicht die niedrigen, von Sümpfen und Kanälen durchschnittenen Marschen zu unterscheiden, hinter denen sich die hellgraue Fläche der unteren Bai ausdehnte. Sie sah die etwas dunkleren Umrisse einer Halbinsel, die, wie sie wußte, die äußerste Grenze ihres künftigen Wohnsitzes, das Ranchos de los Cuervos, bildete. Eine Stunde später neigte sich der Weg zur Ebene hinab und näherte sich wieder der Landstraße, bis sie den seitwärts abbiegenden, nach dem Rancho führenden Fahrweg erreicht hatte.
Hier hielt sie eine Weile und ließ ihrem Mustang die Zügel auf den Rücken fallen. Eine seltsame, unbegreifliche Zaghaftigkeit bemächtigte sich ihrer. Die Schwierigkeiten der Reise waren vorüber; der Viehhof lag, kaum noch eine Wegstunde entfernt, vor ihr; sie hatte den wichtigsten Teil ihrer Aufgabe erfüllt – und nun hielt sie unschlüssig und zögernd ihr Pferd an. Was war denn über sie gekommen?
Sie wollte sich Poindexters Worte, ihre eigene Begeisterung ins Gedächtnis zurückrufen – vergeblich! Alles, was sie noch wußte, war, daß sie sich hier befand, um das Eigentum ihres Mannes in Besitz zu nehmen – aber für diesen einfachen Zweck erschienen ihr plötzlich die Mittel so übertrieben und lächerlich geheimnisvoll, daß noch etwas anderes dahinterstecken mußte und sie sich von einer Gefahr ergriffen fühlte, die sie vielleicht nicht ins Auge gefaßt hatte und in die sie sich nun blindlings hineinstürzte.
Unter dem Druck dieses sonderbaren Gefühls hielt sie noch vor dem sich von der Landstraße abzweigenden Wege, als ein eigentümlicher Ton sie aus ihrer Unentschlossenheit aufrüttelte. Erschrocken schaute sie in die Höhe und erblickte zwei Telegrafendrähte. Sie wußte nun, daß sie es waren, die unter dem Hauch des Morgenwindes diesen Äolsharfenton von sich gegeben hatten. Aber der Anblick weckte eine andere, mehr praktische Befürchtung in ihrer Seele. Wurde sie nicht vielleicht in demselben Augenblick von dem Telegrafen überholt? Hatte Poindexter daran gedacht? Jetzt zögerte sie nicht länger. Die Peitsche berührte den Rücken des ermüdeten Mustangs, und von neuem trabte er vorwärts.
Als sich die Fernsicht aufklärte, wurde ihre Aufmerksamkeit durch die weißen Segel eines kleinen Bootes in Anspruch genommen, das langsam in dem sich durch die Marschen schlängelnden Kanal daherkam. Während sie die Segel beobachtete, vernahm sie den Galopp eines Pferdes hinter sich. Schnell drehte sie sich um und erblickte einen Reiter, der ihr folgte. Die Besorgnis verwandelte sich jedoch in ein Gefühl der Erleichterung, als sie die stramme Gestalt und die breiten Schultern Poindexters erkannte, der allerdings mehr denn je das Aussehen eines Militärs und weniger denn je das eines klugen, vorsichtigen Advokaten hatte.
Mit weiblicher Koketterie ordnete Mrs. Tucker, ehe er herankam, ihr etwas zerzaustes Haar.
»Ich dachte, Sie befänden sich in jenem Boot!« rief sie ihm entgegen.
»Nein«, gab er lachend, zur Antwort. »Ich war auf der Landstraße um zwei Stunden hinter Ihnen und habe vergeblich nach Ihnen ausgeschaut, bis ich Sie endlich da oben an dem abbiegenden Weg offenbar unschlüssig halten sah.«
»Wer kann in jenem Boot sein?« fragte Mrs. Tucker, halb in der Absicht, ihre Verlegenheit zu verbergen.
»Wahrscheinlich ein Chinese, der seine Gartenfrüchte zu Markte fährt. Aber Sie sind bereits in Sicherheit und haben Ihren Zweck erreicht, denn Sie befinden sich auf Ihrem eigenen Grund und Boden. Vor etwa fünf Minuten haben Sie die Grenze Ihrer Besitzung überschritten. Und sehen Sie: alles, was da vor Ihnen liegt, vom Landungsplatz bis zu dem Küstengebirge hinüber, ist Ihr Eigentum.«
Der halb scherzende Ton erheiterte Mrs. Tucker nicht. Sie schauerte leicht zusammen, als sie ihr Auge über diese gleichförmige, beinahe unabsehbare, nur von Gras und Seebinsen bewachsene Fläche hinschweifen ließ.
»Es sieht vielleicht nicht besonders schön aus; aber der Boden ist der fruchtbarste in ganz Kalifornien, und an dem Landungsplatz da unten wird einmal eine Stadt stehen. Sie können sie ›Blaugrasville‹ nennen. – Sie scheinen abgespannt und erschöpft«, fuhr Poindexter im Tone halb humoristischer Teilnahme fort.
Mrs. Tucker gab sich Mühe, eine in ihren Wimpern hängende Träne zu verbergen.
»Sind wir bald da?« fragte sie.
»Beinahe. – Sie wissen, daß Sie nicht gerade in einen Palast kommen«, gab er mit derselben halb teilnehmenden, halb spöttischen Heiterkeit zur Antwort. »Sie finden nur die alte Casa, die seit Jahren nicht bewohnt ist; aber ich halte es für besser, daß Sie dort wohnen als in der Nähe der Arbeiterhütten. Kein Mensch wird eine Ahnung davon haben, wann Sie von der alten Casa Besitz ergreifen, während man in den Hütten die Stunde Ihrer Ankunft genau wissen würde. Und falls man Ihnen Schwierigkeiten in den Weg legt …«
»Wenn man mir Schwierigkeiten in den Weglegt?« fragte Mrs. Tucker, indem sie ihre offenen, ehrlichen Augen zu Poindexter erhob.
In diesem Augenblick machte sein Roß – allem Anschein nach zufällig von den Sporen berührt – einen Seitensprung, und so vergingen ein oder zwei Minuten, ehe er ihr die verlangte Erklärung geben konnte.
»Ich meinte nur, falls das einmal als Beweis angeführt werden sollte –«, sagte er. »Aber da wären wir ja angekommen.«
Was aus der Entfernung wie ein sich mitten aus der flachen Ebene erhebender grüner Hügel ausgesehen hatte, entpuppte sich in der Nähe als ein Sammelsurium von Mauern aus ungebrannten Backsteinen, das von Büschen und Schlingpflanzen überwuchert war und sich äußerlich in nichts von den öden, verlassenen und verfallenen amerikanisch-spanischen Ansiedlungen unterschied. Die ehemaligen Spitzbogenfenster, die jetzt nur noch Löcher und Spalten in zusammengestürzten Mauern und mit Strauchwerk überwachsen waren, gestatteten keinen Einblick in das Innere, und erst nachdem die Ankömmlinge einen verfallenen Corral, d. h. eine Einfriedung für das Vieh, passiert hatten, gelangten sie in den Patio, den Hof, der Casa.
Ein vertrocknetes altes Weib, deren Kleidung, Gestalt und Haarfarbe ein Teil der verwitterten Trümmerstätte zu sein schienen, raschelte aus einer niedrigen, gewölbten Eingangstür hervor, bewillkommnete die Gäste mit schwacher, knarrender Stimme und lud sie ein, näherzutreten. Mrs. Tucker folgte ihr in die dämmerige Behausung und war erstaunt, im Inneren zwei oder drei bewohnbare Räume zu finden. Vor allem waren sie trocken und peinlich sauber gehalten, zwei Eigenschaften, die in Mrs. Tuckers weiblichen Augen für die sonstige Ärmlichkeit Ersatz boten.
»Ich konnte von San Bruno, der nächsten kleinen Stadt, nichts herschicken, ohne Verdacht zu erregen«, erklärte Poindexter, »aber wenn Sie es über sich gewinnen, hier einen Tag und eine Nacht zuzubringen, werde ich einen unserer chinesischen Freunde da draußen auf dem Kanal beauftragen, als Rückfracht alles Notwendige für Sie herzuschaffen. Wir laufen da keine Gefahr, verraten zu werden, denn nach den Gesetzen Kaliforniens können Chinesen und Indianer nicht Zeugnis gegen einen Weißen ablegen. Und nun lassen Sie mich Ihnen Lebewohl sagen, denn ich muß das aufwärtsgehende Dampfschiff noch erreichen, und der Landungsplatz liegt fünf Wegstunden von hier. Morgen komme ich wieder und hoffe, Ihnen einen Plan für die Zukunft unterbreiten zu können. Das Schwerste ist vorüber«, fügte er dann in ernsterem Ton hinzu, indem er ihre Hand länger als unbedingt nötig hielt. »Lassen Sie mich aussprechen, daß Sie die Probe vortrefflich bestanden haben, Mrs. Tucker!«
In der leichten Verlegenheit, die sich ihrer bei diesem plötzlichen Umschlagen seines Tones bemächtigte, empfand sie, daß ihr Dank sehr gemessen und kühl herauskam. Aber Poindexter unterbrach sie.
»Danken Sie mir nicht«, rief er, sofort in die frühere leichte Ironie zurückfallend. »Ich habe nur getan, was meines Amtes ist, das heißt, ich habe Ihnen Rat erteilt. Alles übrige haben Sie selbst vollbracht, und zwar wie eine wackere, mutige Frau – echtes Blaugras, möchte ich sagen. Und nun leben Sie wohl.« Damit schwang er sich auf sein Pferd, kehrte aber, als käme ihm ein Gedanke, nochmals um, lenkte das Roß dicht an sie heran und flüsterte: »Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich in den nächsten Tagen wenig fremde Menschen sehen und mich von allen Neuigkeiten fernzuhalten suchen.« Dabei lachte er wieder, warf ihr einen halb galanten, halb militärischen Gruß zu und sprengte davon. Die Frage, die Mrs. Tucker am meisten bewegte, die, auf welche Weise sie sich mit ihrem Mann in Verbindung setzen könne, blieb unausgesprochen. Aber sie hatte wenigstens Poindexter gegenüber ihrem Stolz nichts vergeben.
Mrs. Tucker wendete sich zurück in das einsame, unbequeme Haus. Da ihr mangelhaftes Spanisch kaum zur Verständigung über das Notwendigste ausreichte, blieb ihr sogar die Erleichterung durch ein Gespräch mit dem einzigen lebenden Wesen im Hause versagt, und sie mußte sich mit dem vertrockneten Lächeln und den verwitterten Knicksen der Alten begnügen.
Am Nachmittag, als das Haus im gleichmäßig sausenden Wind anfing wie eine leere Muschel zu singen und zu klingen, vermochte sie die Einsamkeit des Zimmers nicht länger zu ertragen. Sie schritt über die hölzerne Veranda, durch die der Wind pfeifend strich, und über den im blendenden Sonnenschein liegenden Patio hinaus durch das offene Tor. Die Aussicht, die sich ihr bot, war nicht geeignet, ihren Mut und ihre Stimmung zu heben. Eine weite Fläche, die sich bis zu dem fernen Küstengebirge hinzog, lag pfad- und schattenlos vor ihr. Da stand sie, bis die Augen schmerzten und ihre in dem kalten Wind erstarrenden Glieder sie erinnerten, die Wärme des geschützt liegenden Patios zu suchen. Poindexter hatte ihr gesagt, daß die Ansiedlungen der Arbeiter etwa zwei Stunden von der alten Casa entfernt lägen. Dorthin wollte sie trotz seiner Warnung gehen. Doch hatte sie ihm nicht versprochen, hier zu bleiben, bis er wiederkam?
In tödlicher Einförmigkeit schlich der lange Tag dahin, und freudig bewillkommnete Mrs. Tucker die Nacht, die wenigstens die trostlose Aussicht verhüllte. Etwas dauerte fort: der schreckliche Wind, der ihre Nerven aufregte und dessen eintöniges Sausen ihr Qualen verursachte, blies weiter. Als sie endlich vor Erschöpfung dennoch einschlief, wehte er um ihr Kopfkissen, schien sie voll Ungeduld aufzufordern, ihm zu folgen, und brachte ihr fieberhafte Träume von Spencer, den sie müde und mit wunden Füßen dahinwanken sah. Sie wollte dem Geliebten zu Hilfe kommen; aber als sie ihn erreicht hatte und ihre Arme nach ihm ausbreitete, trieb der Sturm sie mitleidslos an ihm vorüber und weiter – immer weiter, während Spencer verzweifelt hinter ihr zurückblieb.
Der helle Tag schien bereits in die Fenster, als Mrs. Tucker erwachte. Der Wind sauste noch immer.
Mrs. Tucker erhob sich mit einem festen Entschluß. Sie hatte gestern abend von der alten Concha erfahren, daß sich in der Nähe der Arbeiterniederlassung eine Tienda, ein Kramladen für die Viehtreiber und Hirten des Ranchos, befand, und da sie einige Kleinigkeiten brauchte, wollte sie das als Vorwand benutzen, sich eine Weile da aufzuhalten. Sie war sicher, niemand zu treffen, der sie kannte.
Als sie das Haus verließ, schien sie der Wind zu packen und fortzuführen, gerade so, wie sie es im Traum erlebt hatte. Schon nach wenigen Augenblicken waren die niedrigen Mauern der Casa hinter ihr wie in die Erde versunken, und sie befand sich mit dem Winde allein auf der im scharfen Sonnenlicht glitzernden Ebene. Einige Krähen segelten mit schräg gestellten Flügeln vor ihr im Winde dahin, und von den Marschen her ließ sich das Geschrei der Kibitze vernehmen.
So mochte sie, durch die Morgenluft und den Sonnenschein belebt, wohl eine Stunde gegangen sein, als sie der Gruppe von Zwergeichen, die ihr Ziel bildeten, nahe genug gekommen war, um zwei schuppenartige Gebäude zu erkennen. Näherkommend bemerkte sie im Schatten der Bäume zwei oder drei Reitpferde, deren Besitzer auf dem Rande eines Tränktroges saßen. Über der offenen Tür stand, mit plumpen Buchstaben auf ein Brett gemalt, »Tienda«. An der Tür und an den Fenstern waren Verkaufsgegenstände aufgestapelt.
Mrs. Tucker war an die Ärmlichkeit und Schmucklosigkeit der Grenzarchitektur gewöhnt. Aber neben diesen scharfeckigen, unangestrichenen, roh aufgeführten Schuppen schienen ihr die zerbröckelnden Mauern der alten Hazienda, die ihr gegenwärtig ein Obdach bot, schön und malerisch. Einer der Reiter, der etwas aus einer Zeitung vorlas, ließ das Blatt bei ihrer Annäherung sinken und starrte sie an. Ihre Person rief offenbar eine ungewöhnliche Bewegung im Schuppen hervor, und als sie atemlos und mit klopfendem Herzen den Vorbau betrat, fühlte sie ein Dutzend verwunderter Augen auf sich gerichtet. Ihr leicht verletzbarer Stolz empörte sich gegen diese Musterung; ihr gewöhnlich gleichgültiger, nachlässiger Ton nahm einen noch kühleren Klang an, als sie sich auf den Ladentisch lehnte und die gewünschten Artikel verlangte.
Tiefes Schweigen gab ihr Antwort. Mrs. Tucker wiederholte ihr Begehren in etwas schärferer Weise.
»Schätze, Sie wollen sich den Anschein geben, als wüßten Sie nicht, daß der Laden hier vom Sheriff mit Beschlag belegt ist«, sagte einer der Männer.
Mrs. Tucker beachtete die Rede nicht.
»Na, ich wüßte nicht, wem das besser bekannt sein sollte als Spencer Tuckers Frau!« rief ein anderer der Männer mit rauhem Lachen, in das die übrigen einstimmten.
Mrs. Tucker sah jetzt, in welch üble Lage sie sich gebracht hatte, ließ sich aber nicht einschüchtern.
»Ist denn niemand zur Bedienung der Käufer hier?« fragte sie, indem sie ihre klaren Augen voll auf die Umstehenden richtete.
»Da müssen Sie den Sheriff fragen; er war der letzte, den man hier bediente«, gab der Spaßmacher, der sich in jeder kalifornischen Gesellschaft befindet, zur Antwort.
»Ist der Sheriff hier?« fragte Mrs. Tucker weiter, ohne das neue Gelächter zu beachten, das dieser Witz hervorrief.
Die in der Tür lehnten, machten für einen Mann aus ihrer Mitte Platz, der halb gezogen, halb geschoben in den Laden stolperte.
»Da ist er!« riefen viele, offenbar in der Erwartung, daß die Gegenwart dieser Persönlichkeit Veranlassung zu einem neuen Spaß geben werde.
Der Mann sah Mrs. Tucker mit bittendem Blick an.
»Es ist so, Madam«, sagte er dann. »Dieser Laden hier ist mit Beschlag belegt. Aber wenn Sie irgendwas brauchen – na, nicht wahr, Burschen«, wandte er sich in befürwortendem Ton an die Umstehenden – »nicht wahr, dann werden wir gegen 'ne Dame nicht ungefällig sein?«
Von der Hintertür des Ladens her ließ sich ein unwilliges Murmeln, ein Einspruch gegen den Vorschlag vernehmen: aber der größte Teil der Männer gab, vielleicht durch Mrs. Tuckers Schönheit bestrickt, seine Einwilligung.
»Nur«, fuhr der Beamte erklärend fort, »da diese Waren im Auftrag der Gläubiger mit Beschlag belegt sind, müßten Sie den Wert an Geld dafür einlegen, und wenn Sie vielleicht geglaubt haben, Sie könnten die Sachen auf Rechnung nehmen –«
»Ich will ja bezahlen, was ich kaufe!« rief Mrs. Tucker, indem eine dunkle Zornesröte in ihrem Gesicht aufstieg. »Ich habe das Geld dazu hier.«
»Das glaube ich wohl!« rief die Stimme, die vorhin schon von der Hintertür her protestiert hatte, und eine wütende, aufgeregte Frau drängte sich in den Laden. »Das glaube ich wohl, daß Sie Geld haben! Seht sie nur mal an, ihr Männer! Beseht euch nur die Frau des Diebes, des Betrügers! Sie hat natürlich Geld in der Tasche, trägt Diamanten in den Ohren und Ringe an den Fingern. Sie hat natürlich Geld; aber wir haben keins. Sie kann kaufen, was ihr Herz begehrt – wir besitzen keinen Cent, um das Bett wieder zu erstehen, das man uns unterm Leibe weggestohlen hat. Ja, kaufen Sie nur ein, Mrs. Spencer Tucker! Kaufen Sie den ganzen Laden aus, Mrs. Spencer Tucker! Hören Sie? Und wenn Sie daran noch nicht genug haben, können Sie auch meine Kleider kaufen und meinen Trauring, das einzige, was uns Ihr sauberer Mann gelassen hat.«
»Ich verstehe Sie nicht«, gab Mrs. Tucker kalt zur Antwort und wendete sich der Tür zu; ihre Gegnerin hatte mit einem Satz den Ladentisch übersprungen und stand zwischen ihr und dem Ausgang.
»Sie verstehen mich nicht!« rief sie. »Vielleicht verstehen Sie auch nicht, daß Ihr Mann diese Gentlemen hier nicht nur um den Ertrag ihrer Arbeit betrogen hat, sondern auch um die Sparpfennige, die sie mit hierher brachten und seinen diebischen Händen anvertrauten. Vielleicht wissen Sie gar nicht, daß Ihr Mann meinen Mann um sein bißchen mühsam Erspartes gebracht und ihm dafür die Waren, die Sie jetzt kaufen wollen, verpfändet hat und daß er ein überführter Dieb, ein Fälscher und feiger Ausreißer ist! Und wenn Sie noch immer nicht verstehen, was ich sage, so können Sie's ja in den Zeitungen lesen. Da sehen Sie!« rief das Weib, indem sie das Blatt ergriff, aus dem vorhin den Männern vorgelesen worden war. »Da steht's: ›Fälschung, Schwindel, Unterschleif und Diebstahl.‹ Sehen Sie? Und wenn Sie das auch noch nicht verstehen, so hören Sie weiter, was da steht: ›Ehrlose Flucht – sein Weib im Stich gelassen, um mit einer berüchtigten –‹«
»Halt, altes Mädchen, halt! Wirst du schweigen? Nicht 'n Wort mehr!«
Zu spät! Der Sheriff riß der Frau das Zeitungsblatt aus der Hand. Doch Mrs. Tucker hatte die Stelle, auf die es ankam, bereits gelesen. Es war nur eine einzige Zeile eine Zeile, wie sie ihr bei der gleichgültigen Durchsicht der Tagesneuigkeiten oft genug in die Augen gefallen war: Eheliche Untreue! Sie hatte sich immer gewundert, wie es solche Männer und solche Frauen geben könne, und nun –!
Die Mrs. Tucker umdrängende Menge wich zurück, und selbst das wütende Weib verstummte, als sie Mrs. Tucker ins Antlitz sah. Das Gesicht des Spaßvogels war so bleich, wenn auch nicht so steinern unbewegt wie das der verlassenen Frau, als er halblaut hervorstieß: »Jesus Christus, sie hat wirklich nichts davon gewußt!«
Mrs. Tucker faßte sich und schritt stolz und aufrecht zur Tür. Auf der Schwelle drehte sie sich um.
»Ich wiederhole, daß ich Sie nicht verstehe«, sagte sie zu der Frau gewendet anscheinend ruhig. »Wenn irgend jemand Forderungen an Mr. Tucker hat, so werde ich sie bezahlen, oder sein Anwalt, Käpt'n Poindexter, wird sie begleichen.«
Damit hatte Mrs. Tucker das Mitgefühl der Zuhörer verscherzt, aber nicht ihre Achtung. Man machte ihr mit einer gewissen verbissenen Höflichkeit Platz, um sie in den Vorbau hinaustreten zu lassen. Nur die Frau brach bei den letzten Worten in spöttisches Lachen aus.
»Na, was den Käpt'n Poindexter betrifft, so wird der vielleicht Ihre Rechnungen bezahlen, aber mit den Schulden Ihres Mannes –«
»... ist das eine andere Sache«, fiel hier eine wohlbekannte Stimme in wohlwollendstem Ton ein. »Das wollten Sie doch eben sagen, Mrs. Patterson, und Sie haben nie ein wahreres Wort gesprochen«, sagte der plötzlich hinzugekommene Poindexter, indem er aus seinem Buggy sprang. »Einen Augenblick, Mrs. Tucker! Kommen Sie, benutzen Sie meinen Buggy, um nach der Hazienda zurückzukehren. Um mich machen Sie sich keine Sorge. Ich lasse mir ein Pferd vom Sheriff geben – bin hier bekannt und wie zu Hause. Kommt 'mal mit, Patterson; nur ein paar Schritte, damit uns Eure Frau nicht hört. So, das genügt. Ihr habt eine Forderung von fünftausend Dollar an die Besitzung hier. War's nicht so?«
»Ja!«
»Gut. Nun hört: Auf der Frau, die dort hinfährt, beruht Eure einzige Hoffnung, je einen Cent von Eurem Geld wiederzusehen. Wenn Eure Frau jene Dame noch ein einziges Mal beleidigt, so ist diese Aussicht verloren, und wenn Ihr selbst Euch untersteht …«
»Was dann?«
»So schwöre ich Euch, so wahr es einen Obersten Gerichtshof in Kalifornien gibt, bringe ich Euch in Euren Schuhen um! … Halt, hört mich weiter!«
Patterson blieb stehen. Der unverkennbare Ausdruck einer gewissen humoristischen Duldsamkeit gegenüber menschlichen Schwächen hatte Poindexters schwarzen Augen einen verräterischen feuchten Glanz verliehen, als er fortfuhr: »Und wenn Ihr es für klug und ratsam haltet, Eurem Weibe die Aussicht auf eine glückliche Witwenschaft, die ich ihr da eben eröffnet habe, mitzuteilen, so könnt Ihr's tun. Ich habe nichts dagegen.«
Mr. Patterson unterrichtete, als Poindexter fort war, seine Frau zwar nicht von der Drohung; aber er trug Sorge, ihr begreiflich zu machen, daß Mrs. Tucker eine Macht sei, die man zu schonen und vielleicht zu fürchten hatte.
»Du hast deiner Zunge 'ne Güte getan, und gleichviel, ob du ins Schwarze getroffen hast oder nich, du hast dein Recht gehabt«, sagte er. »Aber nu halte hübsch dein Schnattermaul, wenn du nich etwa der Meinung bist, daß dein Reden mehr wert ist als die fünftausend Dollar samt den Zinsen.«
»Du glaubst doch nicht, daß die je was haben wird, als was Mr. Poindexter, der ihr Schatz zu sein scheint, hergibt?« fragte Mrs. Patterson verächtlich.
»Wie mir der Sheriff sagt, so is ihm bereits die Anzeige zugegangen, daß Mr. Tucker seiner Frau vor drei Jahren den Rancho geschenkt hat und daß sie sich im Besitz befindet und schon im Besitz war, als der Bankrott ausbrach«, entgegnete Mr. Patterson melancholisch. »Übrigens kann's mir ganz egal sein, wer die Trümpfe jetzt in der Hand hat, wenn ich sie nich habe«, fuhr er mit einer Art düsterer Philosophie fort. »Alles, was ich wollte, is nur, daß mir Spencer Tucker 'n Wort gesagt hätte, ehe er durch die Lappen ging.«
»Wärst wohl gern mit 'm gegangen?« rief seine Ehehälfte ärgerlich.
»Schätze, 's könnte so sein«, entgegnete Patterson einfach.
Er konnte sich von dem Gedanken auch dann noch nicht losmachen, als alle im Hause schon schliefen. Er ging nochmals hinaus, um einen Krug frisches Wasser vom Brunnen zu holen. Der melancholische Mann hatte sich eben hinabgebeugt, als er plötzlich wieder auf die Füße sprang.
»Wer ist da?« fragte er mit scharfer Betonung.
»Still!« flüsterte eine Stimme so leise und heimlich, daß man es für ein Lispeln des Windes durch die Palisaden der Viehhürde hätte halten können. Aber so wenig vernehmlich die Stimme auch zu ihm drang, Patterson hatte sie doch als die eines Mannes erkannt, den er bereits in weiter Ferne glaubte, und fühlte, daß eine gemischte Empfindung von Schrecken und Freude durch seine Adern rieselte.
Vorsichtig blickte er sich um. Der Mond verbarg sich noch immer hinter der eben vorüberziehenden Wolke, und nur die Umrisse des Hauses, das Patterson eben verlassen hatte, waren in der Dunkelheit erkennbar.
»Seid Ihr's, Spencer?« fragte er mit bebender Stimme.
»Ja«, entgegnete die Stimme, während sich eine dunkle Gestalt aus einem Winkel des Corrals ablöste.
»Um Gottes willen, redet leise!« flüsterte Patterson, indem er sich der Gestalt näherte. »Der Sheriff ist im Hause!«
»Ich muß Euch einen Augenblick sprechen«, sagte die Gestalt.
»Wartet 'n bißchen«, flüsterte Patterson zurück. Dann musterte er noch einmal das Haus, durch dessen ladenlose Fenster kein Licht mehr schimmerte. »Kommt schnell!« fuhr er dann, noch immer im leisen Flüsterton, fort, indem er die widerstandslose Hand des Fremden ergriff und ihn im Schatten der Mauer hin durch die offene Haustür in die leere Schenkstube zog. Darauf verriegelte Patterson die Tür von innen, schenkte ein Glas Whisky ein, schob es dem Fremden hin und sah zu, wie der es auf einen Zug leerte. Der Mond kam eben wieder zum Vorschein; sein Licht fiel durch das gardinenlose Fenster auf das Gesicht des Fremden und ließ den jetzt etwas in Unordnung geratenen Lockenbau und den weichen Schnurrbart des flüchtigen Spencer Tucker erkennen.
Welcher Art der Einfluß dieses Mannes auf seine Mitmenschen auch gewesen sein mochte, das Urteil über ihn fand seinen Ausdruck durch Patterson, der, nachdem er den Gast mit halb unbehaglichem, halb freundlichem Lächeln betrachtet hatte, fast unwillkürlich rief: »Seid doch 'n verfluchter Kerl, Spencer!«
Spencer Tucker fuhr sich mit der Hand durch das Haar und strich es mit etwas theatralischer Bewegung aus der Stirn.
»Ich bin ein Mensch, auf dessen Habhaftwerdung man einen Preis gesetzt hat!« sagte er bitter. »Wenn Ihr mich dem Sheriff ausliefert, verdient Ihr fünftausend Dollar; wenn Ihr mir durchhelft, habt Ihr nicht das geringste davon, und ich fürchte, Ihr werdet das Glück, das Euch in den Schoß fällt, nicht mal zu würdigen wissen.«
»Schätze, Ihr könnt recht haben«, gab Patterson mit seiner gewöhnlichen Melancholie zur Antwort. »Aber ich dachte, Ihr wärt längst über alle Berge – hättet 'n gerade auslaufendes Schiff benutzt –«
»Das heißt, ich fuhr in 'nem Boot hinaus nach dem Schiff«, unterbrach ihn Tucker mit verhaltener Wut. »Nach dem Schiff, das bereits all mein Hab und Gut an Bord hatte. Das verd... Boot kenterte draußen in der scharfen Bö, und das Schiff segelte davon. Man hatte dort den Unfall bemerkt, dachte wahrscheinlich, ich sei ertrunken, und betrachtete mein Gepäck als gute Beute. Schätze so.«
»Aber die Dirne – die Inez – die doch schon auf dem Schiff war – machte denn die keinen Spektakel?«
»Wer weiß es?« gab Tucker mit unbekümmertem Lachen zur Antwort. »Ich klammerte mich, wie man in der Todesangst tut, an den Kiel des Bootes und hielt mich über Wasser, bis ich von einem chinesischen Fischer gegenüber von Sancelito herausgeangelt wurde. Ich mietete dann den Mann und seinen Seelentränker, um mich hierher zu bringen.«
»Und warum gerade hierher?« fragte Patterson mit scheinbarer Vorsicht, hinter der sich die innerliche Befriedigung nur schlecht verbarg.
»Ihr habt recht, so zu fragen«, entgegnete Tucker mit ebenso unechter Bitterkeit, indem er Patterson mit einer leichten Handbewegung zur Seite schob. »Aber ich dachte, ich dürfte mich wohl 'nem weißen Manne anvertrauen, gegen den ich immer gut gewesen bin und der in gleichem Fall auch auf mich hätte rechnen können. Nein, nein, laßt mich nur gehen oder überliefert mich dem Sheriff!«
Patterson hatte die beiden Hände des hübschen Taugenichts, der ihn zugrunde gerichtet hatte, mit einer Wärme ergriffen, die selbst den Flüchtling einen Augenblick beschämte. Doch schon im nächsten Augenblick flüsterten ihm Eitelkeit und Selbstsucht zu, daß diese Anhänglichkeit ja nur ein seiner höheren Natur dargebrachter Tribut sei. Er fühlte sich geschmeichelt und fing wirklich an zu glauben, daß es an ihm sei, sich zu beklagen.
»Was ich habe und was ich hatte, gehört Euch, Spencer«, gab Patterson mit so einfacher und ruhiger Bestimmtheit zur Antwort, daß jede weitere Erörterung nur eine weitere Beleidigung gewesen wäre. »Ich wollte nur wissen, was Ihr hier zu tun gedenkt.«
»Ich möchte über das Küstengebirge hinüber nach Monterey gehen«, sagte Tucker. »Von dort wird mich einer der Küstenfahrer hinunter nach Acapulco bringen, wo mein Schiff anlegt.«
Patterson schwieg.
»Ich habe da im Corral 'nen Mustang«, sagte er endlich. »Dessen könnt Ihr Euch leicht bemächtigen, und ich brauche erst morgen nachmittag zu bemerken, daß er fort is. In 'ner Stunde«, setzte er hinzu, indem er aus dem Fenster zum Himmel hinaufblickte, »in 'ner Stunde werden sich die Wolken vollends zusammengezogen haben und 's wird regnen, 's bleibt hell genug, daß Ihr Euch auf dem gewöhnlichen Wege über die Berge zurechtfindet, doch aber nicht so hell, daß man Euch leicht erkennen kann. Seid Ihr nicht imstande, die ganze Tour auf 'nmal zurückzulegen, so kehrt in der Posada oben auf dem Kamm ein. Die mexikanischen Rothäute, die die Schenke halten, kennen Euch nicht, und selbst wenn sie Euch erkennen, würden sie Euch schwerlich was anhaben. Könnten's ja kaum, denn hätten sie auch Lust, Euch zu verraten – wer würde ihnen Glauben schenken? Aber wollt Ihr nicht 'nen Bissen essen?« unterbrach er sich in diesen Betrachtungen, indem er die Hälfte einer ungeheuren flachen Kürbispastete hinter dem Schenktisch hervorholte.
Spencer ergriff mit der einen Hand das dargereichte Stück, mit der anderen die rauhe Faust seines Gastfreundes und blieb im gierigen Genuß der Speise, wie von seinen Gefühlen überwältigt, einige Augenblicke stumm.
»Ihr seid ein ganzer Kerl, ein echter weißer Mann, Patterson«, gab er endlich zur Antwort. »Ich nehme Euer Pferd und werde Euch den Posten buchen und gutschreiben. Sobald diese verfluchte Geschichte vorüber ist, komme ich wieder und helfe Euch aus der Patsche; darauf könnt Ihr Euch fest verlassen. Ich vergesse meine Freunde nicht, auch wenn es mir noch so schlecht geht.«
»Das sehe ich«, erwiderte Patterson. »Ich sagte 's schon vorhin zum Sheriff, daß Ihr sicherlich nicht davongegangen wärt, ohne 's mir zu sagen, wenn ich Euch in irgend 'ner Art hätte von Nutzen sein können.« Und ohne Tuckers etwas unbehaglichen Blick zu bemerken, fuhr er fort: »Kann ich Euch sonst noch mit was dienen, Spencer? Aber ich sehe«, setzte er hinzu, als er bemerkte, daß sein Freund und Patron in groben, neuen Kleidern steckte, »ich sehe, Ihr habt schon anderes Geschirr aufgelegt.«
»Ja, der Chinese hat das für mich unten am Landungsplatz gekauft«, entgegnete Tucker. »Freilich passen die Sachen nicht besonders und haben weder Stil noch Schick; was schadet's am Ende«, fuhr er fort, indem er versuchte, im Mondschein einen Blick in den Spiegel hinter dem Schenktische zu tun. Dann füllte er sein Glas nochmals mit Whisky, lehnte sich selbstgefällig in den Stuhl zurück und setzte leichtfertig und munter hinzu: »Junge Weibsbilder gibt's doch nicht hier in der Nähe.«
»Nein, außer Eurer eigenen Frau, die heute hier war, wüßte ich keine«, erzählte Patterson nachdenklich.
Mr. Tucker, der eben von seiner Pastete abbeißen wollte, hielt einen Augenblick inne.
»Ah, richtig!« rief er dann, indem er ein sorgloses Lachen versuchte: »Habt Ihr mir darüber noch etwas zu sagen?«
»Nichts, als daß Mr. Poindexter mit ihr hier war. Er hat sie nach der Hazienda gebracht, um sie in Besitz zu nehmen, ehe noch die Geschichte ruchbar wurde.«
»Unmöglich!« rief Tucker aufspringend. »Ich glaube nicht – das heißt –« Zögernd hielt er inne.
»Ihr meint wahrscheinlich, die Gläubiger würden den Rancho mit Beschlag belegen«, erwiderte Patterson, während er die Augen auf den Fußboden richtete. »Das können sie aber nich, solange Mrs. Tucker fest drauf sitzenbleibt, gleichviel ob die Hazienda wirklich ihr Eigentum is oder ob sie nur für Mr. Poindexter dort aushält. Sie sind 'n gutes Gespann, und wenn sie richtig zusammen anziehen, kommen sie durch.«
Das Lächeln war von Mr. Tuckers Gesicht langsam verschwunden, und jetzt sah es im blassen Mondlicht beinahe steinern aus. Er setzte sein Glas auf den Tisch und trat ans Fenster, während Patterson in seiner düsteren Weise fortfuhr: »Das geht Euch eigentlich nichts mehr an. Ihr seid den beiden zuvorgekommen und habt Eure Rache genommen dadurch, daß Ihr mit dem Frauenzimmer, der Inez, 's Weite gesucht habt. Ich. hab's immer gesagt, wenn die Leute – besonders was die Weibsleute waren – sich wunderten, daß Ihr 'ne Frau wie Eure Frau im Stich lassen könntet, um Euch an 'ne solche Vettel zu hängen, da habe ich immer gesagt, das würde schon seine Gründe haben. Und als nu Eure Frau mit Poindexter hier angeflitzt kam, ehe sie Euch ganz los war, da wird ihnen, schätz' ich, wohl die Geschichte klar geworden sein. Nein, Spencer, ich wußte wohl, daß Ihr Euch aus jenem Frauenzimmer nichts macht und daß es nich um ihretwillen geschah. Und wenn ich's noch nich gewußt hätte, so würde ich's vorhin weggekriegt haben, als Ihr mir so schlankhin erzähltet, daß sie mit dem Schiff fortgesegelt wäre, und Euch hernach Eure Pastete und Euren Whisky so gut schmecken ließt. Da habt Ihr meine Hand, Spencer! Ihr seid so 'n bißchen 'n Hanswurst, aber doch 'n ganzer Kerl! Na, was is denn nu wieder los?«
So oberflächlich und selbstsüchtig Tucker auch sein mochte, so waren Pattersons Worte doch gleich einem Blitz in seine Seele gefallen und hatten ihn tief erregt, ebenso tief vielleicht, wie sie einen besseren Mann hätten erregen können. Hatte er früher in seiner maßlosen Eitelkeit und Oberflächlichkeit die Liebe und Treue seiner Frau hauptsächlich auf Rechnung seiner Erfolge und der daraus entspringenden allgemeinen Beliebtheit gesetzt, so machten ihn dieselben Eigenschaften jetzt, da all der Glanz von ihm abgefallen war, dem niedrigsten Verdacht zugänglich. Er war ein entehrter Flüchtling; sein guter Name wie sein Vermögen waren verloren. Warum sollte sie ihn nicht verlassen? Er war ihr aus Übermut, aus Laune untreu gewesen. War es nun nicht ganz natürlich, daß sie aus Berechnung und zu ihrem wohlerwogenen Vorteil treulos wurde? Er vertiefte sich sogar mit Wollust in den Gedanken, denn lag hier nicht wirklich Grund genug zu der Befürchtung vor, daß er eine große und schöne Liebe verloren hatte, und mußte ihn das nicht vollends elend machen? Außerdem fand der Komödiant in ihm hier seine volle Rechnung. Und so erwiderte er den Händedruck seines Freundes mit krampfhafter Innigkeit, seine Stirn an dessen Schulter lehnend, wobei er mit Befriedigung den tief en Eindruck wahrnahm, den sein Unglück auf den ihm mit hündischer Treue und Anhänglichkeit ergebenen Patterson hervorbrachte. Es war ihm ein Genuß, seine Trauer vor dem teilnehmenden, melancholischen Mann zur Schau zu stellen.
Plötzlich richtete er sich auf, trat einige Schritte zurück und verbarg seine Hand mit theatralischer Gebärde im Busen.
»Was hält mich ab, Poindexter auf der Stelle umzubringen!« schrie er wütend.
»Nichts, als daß er Euch vorher totschießen würde«, entgegnete Patterson. »Er is, wie alle alten Soldaten, verflucht hitzig und mit 'ner Kugel schnell bei der Hand. Schätze, 's hätte nicht viel gefehlt, so hätte er mich heute übern Haufen geschossen.«
»Mischt Euch nicht ein, Patterson, es ist nicht Eure Sache«, sagte Tucker, indem er noch einmal die Hand des Freundes ergriff und drückte. »Überlaßt den Burschen mir. Ich werde ihn zu finden wissen, wenn ich zurückkomme. Spart ihn für mich auf!«
»Wenn er mich nur aufspart«, gab Patterson düster zur Antwort. »Schätze, er würde keine großen Umstände mit mir machen. Scheint 'n paar kleine Bemerkungen über Eure Frau so übelgenommen zu haben, als ob sie 'ne Königin oder 'n Engel wäre.«
Spencer wurde rot und wandte sich verlegen nach dem Fenster. »Es wird jetzt finster genug sein«, sagte er ablenkend. »Wenn ich ohne Aufenthalt über die Berge kommen könnte, hätte ich einen ganzen Tag gewonnen.«
Patterson stand auf, ohne ein Wort zu sagen, füllte eine kleine Flasche mit Branntwein, reichte sie dem Freund und führte ihn dann stumm hinaus in den sanften Regen und die Finsternis. Der Mustang war schnell eingefangen und gesattelt, und ein großer, dicker Poncho – einer jener mexikanischen Mäntel, die man aus wollenen Decken dadurch herstellt, daß man in der Mitte ein Loch zum Durchstecken des Kopfes einschneidet – schützte, Tucker sowohl vor dem Regen wie vor der Gefahr, erkannt zu werden. Er schüttelte Patterson nochmals die Hand, nahm mit einigen eiligen, abgerissenen Sätzen und mit zerstreuter Miene Abschied von ihm und verließ vorsichtig den Corral. Sobald er außer Hörweite des Hauses war, gab er seinem Pferde die Sporen und jagte im Galopp davon.
Um den Bergpfad zu erreichen, mußte er an einer Stelle die Straße, die seine Frau heute morgen gegangen war, kreuzen und in der Entfernung von etwa einer halben Stunde an der Casa vorüberreiten, unter deren Dach sie jetzt weilte. Einer jener Impulse, die bei seinem Charakter so oft an die Stelle überlegter Entschlüsse traten, bestimmte ihn plötzlich, von seinem Wege abzuweichen und sich der Hazienda zu nahem. Aus ihr schimmerte Licht. Warum er zur Hazienda ritt, hätte er sich selber schwerlich zu erklären vermocht. Er handelte weder unter dem Einfluß einer eifersüchtigen Regung noch von Rachegelüsten getrieben – diese Empfindungen waren nur Schaugerichte für Patterson gewesen –, und ebensowenig entsprang sein Tun etwa einem in seinem Herzen schlummernden zärtlichen Gefühl für die Frau, die er so schändlich verlassen hatte. Im Gegenteil, er würde jetzt einem Zusammentreffen mit ihr vorsichtig aus dem Wege gegangen sein. Wahrscheinlich war ihm der leitende Grund selbst unklar; er folgte nur einem unbestimmten Drang zu einem ebenso unbestimmten Ziel.
Tucker fand eine eigentümliche, träumerische Ähnlichkeit zwischen dieser Gegend und den langgestreckten Triften des Blaugraslandes, über die er, während er seiner Frau den Hof machte, so häufig in den Abend- und Nachtstunden geritten war. Er dachte daran, wie sie, um ihn von ihrem Daheimsein zu unterrichten, gewöhnlich ein Licht ins Fenster gestellt hatte. Und während er sich diesen Erinnerungen hingab, brach der Mond plötzlich durch die Wolken und übergoß die Landschaft mit silbernem Glanz. Eine Minute später verhüllte er sich wieder, und es war nun ganz finster. Aber der kleinere, irdische Stern da vor dem nächtlichen Reiter leuchtete noch immer, diente ihm als Führer und zog ihn unaufhaltsam an, während die dunkle Nacht ringsum über ihm zusammenschlug.
Als Mrs. Tucker starr, bleich, hocherhobenen Hauptes aus der Tienda trat und davonfuhr, hatte sie ungefähr die Empfindung, als versänke sie in die einförmige Ebene, die sich in trostloser Greifbarkeit ringsum ausbreitete. Ihre Augen brannten vor Scham, und das Blut stieg ihr von Zeit zu Zeit heiß bis zum Nacken und zu den Schläfen empor, während sie sich in ihrem zertretenen Stolz in ihr Umschlagtuch hüllte und sich über die Zügel beugte. Wann und wie sie die Hazienda erreichte, hätte sie kaum zu sagen vermocht. Nur eines kam ihr zum Bewußtsein, daß sich die staubige Einsamkeit des Patios, die ihr tags vorher so unerträglich erschienen war, jetzt wie Balsam um ihre wunde Seele legte. Dessenungeachtet sprang sie, als sich eine Stunde später Pferdegetrappel und Sporenklirren dem Gehöft näherten, behend von ihrem Lager auf und trat Käpt'n Poindexter in der Veranda mit zusammengezogenen Brauen und blitzenden Augen entgegen.
»Ich würde Sie nicht jetzt schon belästigt haben, wenn ich nicht glaubte, Ihnen vielleicht eine Wiederholung der Szene von heute morgen ersparen zu können«, begann er in ernstem Ton, und als ihn ein zorniger, verächtlicher Blick aus ihren schönen Augen traf, fügte er mit einer ruhig abwehrenden Handbewegung hinzu: »Hören Sie mich an! Ich habe soeben in Erfahrung gebracht, daß sich Ihr Nachbar, Don José Santierra von Los Gatos, auf dem Wege nach Los Cuervos befindet. Er hatte diese Ländereien hier mit Beschlag belegt und haßte Spencer, weil dieser einem Rivalen, der das Land ebenfalls in Anspruch nahm und dessen Rechtstitel gerichtlich bestätigt wurde, den Komplex abkaufte. Ich sage Ihnen dies alles nur«, fuhr er, als sich Mrs. Tucker ungeduldig abwandte, mit flüchtigem Erröten fort, »ich sage Ihnen alles dies nur, um Ihnen zu zeigen, daß dem Manne keinerlei gesetzliche Rechte zustehen und daß Sie ihn nicht zu empfangen brauchen, wenn Sie nicht wollen. Ich konnte sein Kommen nicht verhindern, ohne Ihnen damit vielleicht mehr zu schaden als zu nützen. Bin ich aber hier, wenn er erscheint, so können Sie ihn einfach an mich, Ihren Anwalt, weisen.«
Poindexter schwieg. Und Mrs. Tucker durchmaß die Veranda mit kurzen ungeduldigen Schritten, während sie die Hände krampfhaft ineinander verschlungen hielt.
»Habe ich Ihre Erlaubnis zu bleiben?« fragte er.
Sie blieb plötzlich stehen, trat dann mit schnellen Schritten auf ihn zu und blickte ihm starr in die Augen.
»Weiß ich jetzt alles?« fragte sie.
Er konnte nur erwidern, daß er nicht wisse, was und wieviel sie gehört habe.
»Nun, ich habe gehört, daß mein Mann schändlich hintergangen und mißbraucht worden ist – hintergangen und mißbraucht von einem abscheulichen Weibe, das ihn dazu gebracht hat, ihr sein Vermögen, seine Freunde, seine Ehre, mit einem Worte, außer mir alles zu opfern, was er besaß«, rief sie verächtlich.
»Alles außer Ihnen?« stotterte Poindexter.
»Ja, er hat ihr alles geopfert, nur mich nicht.«
Poindexter guckte in die Luft, in den Himmel, betrachtete die öde Veranda, das Pflaster des Patios und sogar sich selbst. Dann kehrten seine Blicke wieder zu der unbegreiflichen Frau zurück, die da vor ihm stand.
»Ich glaube, Sie wissen alles!« sagte er ernsthaft.
»Und da mir mein Mann gelassen hat, was er mir lassen konnte, diese Besitzung meine ich« – sie sprach immer schneller und drehte dabei ihr Taschentuch krampfhaft zwischen den Fingern zusammen –, »so kann ich damit nun auch machen, was ich will, nicht wahr?«
»Gewiß können Sie das.«
»So verkaufen Sie die Hazienda und die dazugehörigen Ländereien!« rief sie mit leidenschaftlicher Heftigkeit. »Verkaufen Sie alles und jedes! Verkaufen Sie auch dies!« fuhr sie fort, nachdem sie in ihr Schlafzimmer geeilt war, um die Diamantringe herbeizuholen, die sie sofort, nachdem sie nach Hause zurückgekehrt war, von den Fingern gestreift und aus den Ohren genommen hatte. »Verkaufen Sie das alles zu jedem Preis, den man Ihnen bietet, nur verkaufen Sie es so schnell wie möglich; gleich auf der Stelle!«
»Aber wozu?« fragte Poindexter mit ernsten Lippen, während es in seinen Augen humoristisch aufblitzte.
»Um die Schulden zu bezahlen, in die ihn diese – diese Person gestürzt hat – um das Geld zurückzugeben, um das er die Leute bestohlen hat – um ihn von jedem Anteil an ihrer Schande zu reinigen! Verstehen Sie mich nicht?«
»Aber liebe, verehrte Frau«, begann Poindexter, »selbst wenn sich das machen ließe –«
»Sagen Sie mir nicht, wenn sich das machen ließe – es muß sich machen lassen! Glauben Sie, ich wäre imstande, unter dem Dach dieser Hazienda zu schlafen, die durch die Trümmer jener ruinierten Tienda aufrechterhalten wird? Glauben Sie, ich könnte noch diese Diamanten tragen, nachdem mir jenes wütende Weib gesagt hat, sie seien mit ihrem Gelde bezahlt? Nein, wenn Sie der Freund meines Mannes sind, so werden Sie das für – für ihn tun.«
Hier brach sie ab, besah eine Weile ihre kalten Fingerspitzen und fuhr dann zögernd fort: »Ich weiß es, Käpt'n Poindexter, Sie haben es gutgemeint, indem Sie mich hierher brachten, und Sie dürfen nicht denken, daß ich Sie für das schreckliche Ergebnis, den Auftritt von. vorhin, verantwortlich mache. Aber wenn ich durch mein Hierherkommen irgend etwas gerettet habe, so bitte ich Sie um Gottes willen, lassen Sie mich's so schnell wie möglich hingeben und von dannen ziehen. Ich habe einen Freund, der mir behilflich sein wird, mich entweder wieder mit meinem Manne zu vereinigen oder nach Kentucky heimzukehren, wo Spiencer mich aufsuchen wird, das weiß ich gewiß. Mehr will und verlange ich nicht.«
»Das alles würde viel Zeit beanspruchen«, entgegnete Poindexter in teilnehmendem Ton, »denn Sie können jetzt nichts verkaufen, weil es Ihnen niemand abnehmen würde. Sie sind wohl in der Lage, die Hazienda zu behaupten; doch Sie haben nicht die Macht, einem anderen das Eigentumsrecht zu gewährleisten. Wahrscheinlich kommt es, da Spencer außer den Leuten da drüben in der Tienda noch vielen seiner Geschäftsfreunde Geld schuldig ist, zu einem Prozeß, und wenn auch niemand imstande ist, Sie, die Ehefrau des Flüchtlings, von hier zu vertreiben, so würde sich die Sachlage sofort ändern, wenn Sie die Hazienda verkauften. Jeder Käufer würde wissen, daß Sie nicht verkaufen können, und wenn Sie es dennoch täten, so wäre das nur ein nutzloses und darum lächerliches Opfer.«
Sie hörte ihm zerstreut zu, ging bis an das Ende der Veranda, kehrte um und fragte, ohne die Augen vom Boden zu erheben: »Sie kennen die Person, wie ich vermute?«
»Wen meinen Sie?«
»Ich meine jenes Geschöpf. Sie haben sie doch wohl gesehen?«
»Niemals, soviel ich mich erinnere.«
»Das ist sonderbar – Sie waren doch sein Freund!« sagte sie, starr zu ihm aufblickend. »Aber«, fuhr sie ungeduldig fort: »Sie wissen ja wohl, wer sie ist und was sie ist?«
»Ich weiß nicht mehr von ihr, als ich schon gesagt habe«, erwiderte Poindexter. »Sie ist eine berüchtigte Dirne.«
Mrs. Tucker wurde rot, als hätte die Bezeichnung sie selber getroffen.
Er wiederholte die Frage, ob er bleiben dürfe, um bei Don Joses Besuch zugegen zu sein. »Ich muß Sie bitten, sich schnell zu entscheiden, denn ich höre ihn schon kommen«, sagte er.
»Bleiben Sie«, entgegnete Mrs. Tucker, als sich in diesem Augenblick das Klappern von Hufschlägen und das Klirren mexikanischer Sporen von dem Corral her hören ließ. »Nur noch eine Frage. Seit wann kennt er jene Person?«
Noch ehe Poindexter antworten konnte, näherten sich Männertritte, und Don Jose Santierra erschien im Tore.
Don José war ein ansehnlicher, sorgfältig rasierter Mann von mittleren Jahren. Der Spanier blieb ernst und schweigend stehen, während er Mrs. Tucker mit dem Ausdruck tiefer und unwillkürlicher Aufmerksamkeit anblickte.
»Sie sind hier ganz recht«, begann Poindexter. »Dies ist Mrs. Tucker. Ihre Augen täuschen Sie nicht, und es wird Mrs. Tucker zum Vergnügen gereichen, Sie in ihrem Hause zu begrüßen. Es wäre denn, daß Sie in Geschäften kämen«, setzte er halb zu Mrs. Tucker gewendet hinzu, »in welchem Falle ich Sie bitten müßte, mit mir fürlieb zu nehmen.«
Don José Santierra geruhte jetzt, mit einem leichten Emporziehen der Brauen die Anwesenheit des Advokaten zu bemerken.
»Ich komme heute nicht in Geschäftsangelegenheiten, sondern nur in der Absicht, der Señora die Hand zu küssen und ihr als Nachbar meine Dienste anzubieten«, entgegnete er mit einer Art sanfter Melancholie, und indem er seine Augen über die ärmliche Einrichtung schweifen ließ, fuhr er fort: »Das ist hier kein Aufenthalt für eine Dame; das ist ja kaum noch ein Haus, sondern nur noch ein Platz für Wind und trockene Knochen, ohne Bequemlichkeit und Behagen. Die Señora wird uns daher erlauben, ihr hierher zu schicken, was wir in unserer armen Hütte in Los Gatos besitzen, um ihr den Aufenthalt ein wenig angenehmer zu machen. Ich erwarte die Befehle der Señora. Oder wäre es ihr vielleicht genehm, diesen Tag für uns dadurch denkwürdig zu machen, daß sie als Gast nach Los Gatos kommt, um da zu verweilen, bis sie so eingerichtet ist, daß sie selbst Gäste empfangen kann? Wir würden uns das zur höchsten Ehre anrechnen.«
»Die Señora würde es, nachdem sie Don Joses Gastfreundschaft genossen hat, nur um so schwerer finden, unter dieses bescheidene Dach zurückzukehren«, sagte Poindexter mit einem bedeutsamen Blick auf Mrs. Tucker.
Aber der Wink schien weder bei seiner schönen Klientin noch bei dem Fremden Beachtung zu finden. Mit einer gewissen schüchternen Würde, die Don Josés Anwesenheit in ihr wachgerufen zu haben schien, nahm Mrs. Tucker das Wort: »Sie sind sehr gütig und aufmerksam. Mr. Santierra. Ich danke Ihnen dafür und weiß, daß sich mein Mann« – hier ließ sie ihre klaren Augen voll auf den beiden Herren ruhen – »Ihnen ebenfalls zu Dank verpflichtet fühlen würde. Aber ich werde nicht lange genug in der Gegend bleiben, um von Ihrer Güte hier oder in Ihrem Hause Gebrauch machen zu können. Ich habe gegenwärtig nur einen Wunsch, nur einen Zweck, und das ist der, diese Besitzung – mit allem, was ich mein nenne – zu veräußern, um die Schulden meines Mannes zu bezahlen. Vielleicht steht es in Ihrer Macht, mir dabei behilflich zu sein, Don José«, fuhr sie fort, ohne den Ausdruck des aufgehenden Verständnisses, der sich über das Gesicht des Spaniers verbreitete, und das humoristische Erstaunen Poindexters zu bemerken. »Man hat mir gesagt, Sie wünschen Los Cuervos an sich zu bringen, und wenn Sie sich darüber mit Mr. Poindexter verständigen wollten oder könnten, würde ich Ihnen gern in jeder Weise entgegenkommen. Das wäre alles, was Sie für mich zu tun vermöchten, und Sie dürften sich von meiner Dankbarkeit dafür überzeugt halten. Außerdem können Sie mir nur noch in einer Weise dienen – Sie können allen Ihren Freunden und Bekannten sagen, daß sich Mrs. Bell Tucker nur zu dem Zwecke hier aufhält, um das auszuführen, was, wie sie weiß, den Wünschen und Absichten ihres Mannes entsprechen würde.«
Nachdem sie diese kleine Rede beendet hatte, senkte sie den schönen, stolzen Kopf, machte dem höheren Alter, der Silberstickerei und der würdevollen Haltung Don Josés eine artige Verbeugung und verschwand mit dem flüchtigen Sonnenstrahl eines Lächelns von der Veranda.
Die beiden Männer blieben einen Augenblick stumm voreinander stehen. Don José blickte wie in Gedanken versunken nach der Tür, hinter der Mrs. Tucker verschwunden war, bis ihn Poindexter, der sein duldsames Lächeln wiedergefunden hatte, anredete.
»Sie haben Mrs. Tuckers Vorschläge gehört und kennen die Verhältnisse ebensogut, wie sie ihr bekannt sind«, sagte er.
»Ich kenne sie möglicherweise besser«, entgegnete Don José.
Poindexter streifte das dunkle, ernste Gesicht des Mannes mit einem schnellen Blick; da er aber keinen ungewöhnlichen Ausdruck in seinen Mienen wahrnahm, fuhr er fort: »Sie sehen, sie legt die Sache in meine Hand, und wir wollen wie Geschäftsmänner darüber reden. Denken Sie daran, die Besitzung zu kaufen?«
»Sie zu kaufen – nein, das nicht.«
Poindexter zog die Brauen zusammen, glättete sie aber gleich wieder und blickte Don José mit verzeihendem Lächeln an:
»Sollten Sie eine andere Absicht verfolgen, Don José, so möchte ich, als Mrs. Tuckers Anwalt, Sie darauf aufmerksam machen, daß sich die Dame in rechtlichem Besitz des Anwesens befindet und daß nichts als ihr eigener Entschluß sie heraustreiben kann.«
»So – so!«
Das Achselzucken, das diese Worte begleitete, reizte Poindexters Zorn, und in etwas schärferem Ton fuhr er fort: »Demnach hätten Sie mir wohl nichts weiter zu sagen –«
»Vielleicht doch – es ist sogar wahrscheinlich, daß ich Ihnen allerlei zu sagen habe«, entgegnete Don Jose. »Aber«, fügte er hinzu, indem er nach Mrs. Tuckers Tür hinblinzelte, »das kann, nicht hier geschehen.« Dann schwieg er, worauf er mit einem entschuldigenden Lächeln und einer einladenden, etwas studierten, aber graziösen Gebärde nach dem Torweg zeigte und fortfuhr: »Wollten Sie nicht eben auch Ihr Pferd besteigen?«
»Was kann der Bursche vorhaben?« murmelte Poindexter vor sich hin, während er mit einem zustimmenden Nicken daranging, sich auf den Rücken seines Mustangs zu schwingen. »Wäre er nicht ein alter Hidalgo, ich würde ihm mißtrauen. Aber es wird sich ja zeigen. Also vorwärts!«
Auch Don José bestieg seinen Mustang; stumm durchritten die beiden Männer den Corral und erreichten Seite an Seite die offene Ebene. Poindexter sah sich um; kein anderes menschliches Wesen war zu sehen und zu hören. Aber erst als die einsame Hazienda hinter ihnen versunken war, brach Don José das Schweigen:
»Sie sagten eben, wir wollten als Geschäftsmänner miteinander reden«, begann er. »Das möchte ich nicht. Ich schlage vor, daß wir als – als Gentlemen miteinander verhandeln.«
»Schießen Sie los!« entgegnete Poindexter, den die Sache anfing zu belustigen.
»Ich erwähnte vorhin, daß ich nicht die Absicht habe, den Rancho von der Señora zu kaufen, und will Ihnen nun sagen, warum nicht«, fuhr Don José fort, indem er mit der Hand unter die Serape fuhr und ein großes, gefaltetes Papier daraus hervorzog. »Sehen Sie, Don Marco, da haben Sie das Warum.«
Poindexter nahm ihm lächelnd das Schriftstück aus der Hand und las es. Das. Lächeln verschwand von seinen Lippen. Mit sprühenden Augen spornte er sein Pferd, um dem Spanier, der ruhig vorausgeritten war, zu folgen. Fast hätte er ihn überritten.
»Was soll das bedeuten?« fragte er beinahe drohend.
»Was das bedeuten soll?« wiederholte Don José ebenfalls mit flammenden Augen. »Das will ich Ihnen sagen. Es bedeutet, daß dieser Mann, Ihr Klient, dieser Spencer Tucker, ein Judas ist – ein Verräter! Es bedeutet, daß er Los Cuervos vor Jahresfrist seiner Mätresse schenkte, die die Besitzung, kurz bevor sie mit ihm das Land verließ, an mich – hören Sie wohl! – an mich, José Santierra, verkaufte. Es bedeutet, daß Spencer, dieser Coyote, der Dieb, der das Land von einem Diebe kaufte und es an eine Dirne verschenkte, euch alle betrogen hat. Sehen Sie«, fuhr der Spanier fort, indem er sich im Sattel emporhob und das zusammengerollte Dokument wie einen Kommandostab vor sich hinhielt und einen weiten Kreis damit beschrieb, »sehen Sie, soweit Ihr Auge reicht, gehörte dieser Grund und Boden früher mir – und jetzt gehört er wieder mir. Ich brauche also Los Cuervos nicht zu kaufen, denn wenn wir, wie Sie wünschen, als Geschäftsmänner sprechen, so wissen Sie, daß ich Los Cuervos bereits gekauft habe und dieses Papier hier in meiner Hand der Kaufvertrag ist.«
»Aber er ist nicht gerichtlich bestätigt und eingetragen«, entgegnete Poindexter mit einer Sorglosigkeit, die er keineswegs empfand.
»Nein, das ist er nicht. Wünschen Sie, daß ich ihn jetzt bestätigen lasse?« fragte Don José mit seinem früheren einfachen Ernst.
Poindexter biß sich auf die Lippen.
»Sie sagten vorhin, wir wollten als Gentlemen miteinander verhandeln«, warf er ein. »Nun erlauben Sie mir wohl die Frage, ob der Weg, auf dem Sie in den Besitz dieses Dokumentes gelangten, eines Gentlemans würdig war.«
Don José zuckte die Achseln.
»Was wollen Sie?« erwiderte er. »Ich habe die Besitzung in der Schürze einer Buhlerin gefunden und sie für ein Butterbrot gekauft.«
»Und würden Sie sie wieder für ein Butterbrot verkaufen?« fragte Poindexter.
»Wie soll ich das nehmen?« meinte Don José, seine eisengrauen Brauen in die Höhe ziehend. »Vor einer Viertelstunde noch waren wir bereit, alles und um jeden Preis zu verkaufen, und jetzt möchten wir kaufen. Habe ich recht verstanden?«
»Hören Sie mich einen Augenblick an, Don José«, versetzte Poindexter mit dem Ausdruck tiefer Betrübnis in seinen schwarzen Augen. »Habe ich recht verstanden? Soll ich annehmen, daß Sie der Bundesgenosse Spencers und jener Dirne sind, und daß Sie die Absicht haben, jene zwiefach betrogene Frau von der letzten Stätte zu vertreiben, die ihr geblieben ist, um ihr Haupt zur Ruhe zu legen?«
»Ich begreife Sie nicht. Mrs. Tucker sagte ja in Ihrer Gegenwart, daß sie den Wunsch habe zu gehen. Vielleicht paßt es mir, mich gegen das Volk, das zum Rancho gehört, und gegen die Leute in der Tienda großmütig zu zeigen – ich will das gar nicht verreden, und mehr verlangt sie nicht. Aber Sie, Don Marco, wessen Anwalt sind Sie denn eigentlich? Es sieht fast aus, als hätten Sie die Absicht, Partei gegen Ihren Klienten und seine Mätresse zu nehmen und sich auf die Seite seiner Frau zu schlagen!«
»Über meine Absichten werden Sie bald Näheres hören«, entgegnete Poindexter, der seine Fassung wiedergefunden hatte und plötzlich sein Pferd anhielt. »Unsere Pfade scheinen auseinanderzugehen, und so ist's wohl am besten, wir trennen uns gleich hier. Guten Morgen!«
»Geduld, mein Freund, haben Sie nur ein bißchen Geduld!« rief Don José. »Heiliger Antonius, was sind diese Amerikaner für Leute! Hören Sie mich doch an! Was Sie zu tun gedenken, danach habe ich nicht zu fragen; meiner Meinung nach handelt es sich nur darum, was ich« – hier tippte er sich zur Erhöhung der Wichtigkeit seiner Person mit der Hand auf die Brust –, »ich, José Santierra, zu tun gedenke. Nun, ich will es Ihnen sagen. Heute werde ich gar nichts tun, morgen ebenfalls nicht, ebensowenig in den nächsten acht Tagen und in den nächsten vier Wochen! Dann wollen wir weiter sehen!«
Poindexter dachte nach. »Wollen Sie mir Ihr Wort geben, Don José, Ihr Besitzrecht einen Monat lang nicht geltend zu machen?« fragte er dann.
»Das will ich – aber nur unter einer Bedingung«, gab der Spanier zur Antwort. »Merken Sie wohl auf! Ich fordere von Ihnen nicht etwa das Gegenversprechen, daß Sie die Zeit nicht zum Vorteil Ihrer Partei benutzen wollen«, hier zuckte Don José leicht die Achseln. »Nein, ich mache nur eine Bedingung: Sie versprechen mir, daß Mrs. Tucker während dieser Zeit nichts vom Dasein dieses Schriftstückes erfährt.«
Poindexter zögerte einen Augenblick. »Gut, ich verspreche es«, sagte er dann.
»Abgemacht! Adios, Don Marco«, gab der Spanier zurück.
»Adios, Don José!«
Der Spanier drückte seinem Mustang die Sporen in die Seiten und galoppierte in der Richtung nach Los Gatos davon. Der Anwalt hielt noch eine kleine Weile, um dem sich zurückziehenden siegreichen Gegner nachzublicken. Zum erstenmal verschwand der Ausdruck humoristischer Duldsamkeit und Nachsicht, mit dem Mr. Poindexter sonst alle menschlichen Schwachheiten zu betrachten pflegte, aus seinem Gesicht, um einer gewissen Bitterkeit zu weichen.
»Ich hätte darauf gefaßt sein sollen«, sagte er mit einem Anflug von Zornröte auf Stirn und Wangen. »Er ist ein alter Narr – und sie? Na, vielleicht wendet sich für sie noch alles zum besten.«
Dabei sah er mit einem beinahe zärtlichen Blick nach Los Cuervos hin; dann lenkte er sein Pferd dem Landungsplatz des Dampfschiffes zu.
Im Laufe des langen Nachmittags traf in Los Cuervos ein knarrender Ochsenwagen ein, beladen mit allerlei notwendigen und zur Bequemlichkeit wie zum Schmuck der Zimmer dienenden Hausgeräten, und gleichzeitig erschien in der Küche auf geheimnisvolle Weise ein junges mexikanisches Mädchen, das der alten, gebrechlichen Concha zur zeitweiligen Stütze dienen sollte. Beides, die junge Dienerin wie der Ochsenkarren mit seiner Ladung, kamen ohne Zweifel von Don José, der diese zarten Aufmerksamkeiten wahrscheinlich schon vorbereitet hatte, ehe Mrs. Tucker sein Anerbieten zurückgewiesen hatte.
Mit praktischem Sinn überlegte Mrs. Tucker, daß, wenn der alte Herr die Besitzung wirklich an sich brächte, es ihm vielleicht nur angenehm sein könne, all diesen Hausrat gleich hier zu haben, während, wie sie mit weiblichem Instinkt herausfand, die Sachen doch auch sehr wertvoll waren, um dem Hause für etwaige andere Käufer ein besseres Ansehen zu verleihen. So machte sie sich denn mit Vergnügen daran, die Dinge geschmackvoll zu ordnen. Auf diese Weise ging der zweite Tag nach Mrs. Tuckers Einzug in Los Cuervos zu Ende.
Mrs. Tucker war früh schlafen gegangen, wachte aber kurz nach Mitternacht davon auf, daß jemand, wie sie meinte, ihren Namen rief. Der Eindruck war so lebhaft, daß sie aufsprang, hastig einige Kleider überwarf, ans Fenster trat und hinausblickte. Da hörte sie noch einmal ihren Namen rufen und diesmal von einer so wunderbar bekannten Stimme, daß sie mit einem leisen Aufschrei hinaus auf die Veranda stürzte, den Patio kreuzte und bis zum offenen Tor lief.
Totenstille umgab sie. Dann riß der Wolkenschleier entzwei. Die weite Fläche von den Bergen bis zur See lag klar wie in hellem Tageslicht vor ihr; der bewegte Wasserspiegel des fließenden Kanals glitzerte wie ein Band von schwarzen Perlen; die Sumpftümpel erschienen wie geschmolzenes Blei. Aber kein Zeichen des Lebens, kein Geräusch unterbrach die lautlose Einförmigkeit der Landschaft.
Sie mußte wohl geträumt haben. Ein eisiger Luftzug scheuchte sie in das Haus zurück; sie legte sich wieder nieder, und nach einer halben Stunde umfing sie ein sanfter, friedvoller Schlummer.
Die beiden Männer bewahrten, wie sie sich gegenseitig versprochen hatten, das Geheimnis. Mr. Poindexter überzeugte Mrs. Tucker davon, daß der Verkauf von Los Cuervos unmöglich sei, bis sich der Lärm über die Flucht ihres Mannes etwas gelegt habe. Sie war gezwungen, sich in ihr Schicksal zu ergeben. Der Verkauf ihrer Diamanten gestattete ihr, die Pattersons wieder in den ruhigen Besitz und Betrieb der Tienda zu setzen und die Verpflichtungen ihres Mannes gegen die Rancheros und einige andere kleine Leute einzulösen.
Inzwischen war die Regenzeit zu Ende gegangen. Es schien Mrs. Tucker, als hätten die Regenwolken gleichsam über Nacht ihre weißen Zelte abgebrochen und sich davongemacht.
Zwei Monate lang sah sich Mrs. Tucker täglich neu überrascht. Sie hatte der üppig jungfräulichen Flora Kaliforniens niemals so unmittelbar von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden und keine Ahnung von der strahlenden Herrlichkeit gehabt, die sie verschwenderisch aus ihrem Füllhorn schüttet. Wie ein junger Gott schritt der Frühling über die kraftstrotzende Erde. Unter seinen Füßen erwachte überall pulsierendes Leben, und selbst die wenigen flachen Furchen, die die Pflugschar rings um die äußere Umfassung des Corrals zog, genügten, um ein wahres Dickicht gigantischer Getreidehalme so hoch emporschießen zu lassen, daß sie die niedrigen Mauern der Hazienda fast verbargen.
Während dieser Zeit sprach Don José häufig in Los Cuervos vor, um sich nach dem Befinden der Herrin des Hauses zu erkundigen. In strenger Beachtung aller Höflichkeitsformen, die von der stolzen Tochter des Blaugraslandes wohl bemerkt und nach Gebühr gewürdigt wurden, hatte er gleich bei den ersten Besuchen seine Nichte und seine Schwester mitgebracht. Mrs. Tucker hatte den Damen ihren Gegenbesuch abgestattet und bei dieser Gelegenheit die Bekanntschaft der Großmutter Don Josés gemacht, einer Dame, die sogar die alte gebrechliche Concha noch als eine mutwillige Muchacha, einen Springinsfeld, ansah und sich selbst gleichsam mit dem phosphoreszierenden Glanz der Verwitterung schmückte. Bei dieser Gelegenheit hatte Mrs. Tucker in Erfahrung gebracht, daß Don José noch nicht ganz fünfzig Jahre zählte und daß der Ernst seiner Haltung und die gemessene Ruhe seines Wesens nicht das Resultat des Alters, sondern das einer stolzen Selbstbeherrschung war, und dieser Umstand hatte sie – sie wußte nicht warum – äußerst unangenehm berührt. Sie bedauerte plötzlich, daß sich Poindexter jetzt so selten in Los Cuervos sehen ließ, und fragte sich mit einer Art ungeduldiger, nervöser Verwunderung, warum er sie wohl in letzter Zeit so geflissentlich gemieden hatte. Konnte das eine Folge der schmachvollen Andeutungen jenes Weibes in der Tienda sein? Der Gedanke ließ ihre Pulse vor Empörung schneller schlagen.
»Als wenn –«. Sie brachte die Rede nicht einmal vor sich selbst zu Ende. Ihre Augen füllten sich mit bitteren Tränen.
Dessenungeachtet hatte sie nach und nach angefangen, mit weniger fieberhafter Erregung und Unruhe, mit geringerer Ungeduld an den Mann zu denken, der so schlecht an ihr gehandelt hatte. Es schien ihr, als ob sie ihn jetzt nur um so inniger liebte, da seine Abwesenheit – obgleich sie sich mit dieser keineswegs ausgesöhnt fühlte – die Erinnerung an das in ihr frisch erhielt, was er gewesen war, ehe ihn jener wahnsinnige, verzweifelte Schritt von ihr trennte. Sie hatte nie bemerkt, daß sich das Auge eines anderen Weibes in dem seinigen spiegelte; die Vergangenheit war für sie durch kein Zeichen des Erkaltens oder Abnehmens der Liebe getrübt; sie konnte ihn wiederfinden, ihre Arme um ihn schlingen, konnte aus dem bösen, wirren Traum der Gegenwart erwachen, ohne ihm einen Vorwurf zu machen, ohne eine Erklärung zu verlangen.
In diesem unwandelbaren Glauben fand sie Geduld und Ruhe wieder. Sie versuchte nicht mehr, die Einzelheiten seiner Flucht zu erfahren, und es kam ihr nicht im Traume bei, daß diese Ergebung in seine Abwesenheit zum Teil vielleicht der geheimen Furcht entstammte, es könne in seinem Leben Dinge geben, die ihr Vertrauen für immer zerstören müßten.
Aus diesem Grunde war ihr die taktvolle Zurückhaltung der Familie in Los Gatos doppelt wohltuend; und die Abgeschiedenheit, in der sie von einer Welt lebte, die die Verirrungen ihres Mannes kannte und verurteilte, ließ ihr Don Josés Besuche erwünscht und angenehm erscheinen, bis sie durch einen warnenden Instinkt aus ihrer Unbefangenheit aufgescheucht wurde.
Am nächsten Besuchstage Don Josés war auch Käpt'n Poindexter auf ihre Bitte erschienen. Zu ihrem Erstaunen bemerkte sie, daß die beiden Männer einander mit Kälte und Abneigung begegneten. Es erforderte ihren ganzen Takt als Wirtin, diese Gegnerschaft nicht zum offenen Ausbruch kommen zu lassen, und die Anstrengung, die beiderseitige Unzufriedenheit niederzuhalten, sowie andere ihr vorderhand noch unerklärliche Empfindungen versetzten sie in eine nervöse Erregtheit, die ihr das Blut in die Wangen trieb und ihren Augen einen gefährlichen Glanz verlieh.
Das brachte die beiden Männer einander nicht näher. Im Gegenteil, je hübscher Mrs. Tucker wurde, desto kühler und steifer zeigten sie sich gegeneinander, bis sich endlich Don José vor seiner gewöhnlichen Zeit erhob und sich mit mehr als gewöhnlicher Förmlichkeit verabschiedete.
»Sie scheinen mich demnach nicht gerufen zu haben, um ein Geschäft, das ihn angeht, abzumachen«, sagte Poindexter kalt und ruhig, als sich Mrs. Tucker mit ärgerlich verwundertem Gesicht zu ihm wandte. »Oder haben Sie mir unter vier Augen etwas über ihn mitzuteilen?«
»Ich begreife Sie beide nicht«, gab Mrs. Tucker mit einem leisen Beben der Stimme zur Antwort. »Ich hatte keine Ahnung, daß Sie so schlecht zueinander stehen; vielmehr glaubte ich, Sie ständen auf gutem Fuße. Es ist wirklich ärgerlich.« Und ihn ohne eine Spur von Koketterie mit ihren sanften blauen Augen seitwärts ansehend, setzte sie hinzu: »Sie sind beide doch so gut gegen mich gewesen.«
»Vielleicht ist das gerade der Grund«, erwiderte Poindexter ernsthaft. Diese Vermutung wurde von Mrs. Tucker nicht mit gleichem Ernst aufgenommen. Sie begann zu lachen; doch fing das Lachen, das anfänglich harmlos und offen wie das eines Kindes geklungen hatte, eben an, einen nervösen Anstrich zu bekommen, als Mr. Poindexter plötzlich bemerkte:
»Ich habe nichts mit Don José Santierra vorgehabt; aber vielleicht fühlt er sich weniger zur Höflichkeit gegen den Freund des Mannes geneigt als gegen dessen Frau.«
»Mr. Poindexter!« rief Mrs. Tucker, indem sie blaß wurde.
»Ich bitte um Entschuldigung!« versetzte er errötend, »aber –«
»Sie wollten ohne Zweifel sagen, daß Sie keine besonderen Freunde sind«, fiel sie mit wiedergewonnener Ruhe ein. »Ist das der Grund, warum Sie in der letzten Zeit mein Haus gemieden haben?«
»Ich dachte, ich könnte Ihnen anderwärts nützlicher sein als hier«, entgegnete er ausweichend. »Ich bin nämlich vor kurzem auf eine Spur gekommen und habe sie eifrig verfolgt; ich meine auf die Spur jener – jener Person.«
Ein Schatten huschte über Mrs. Tuckers Gesicht.
»Wirklich«, sagte sie kühl. »Ich muß demnach annehmen, daß es Ihnen lieber ist, in Ihren Mußestunden jener Kreatur nachzuspüren als mich zu besuchen?«
Poindexter stand bestürzt. War das die Frau, die noch vor vier Monaten keinen heißeren Wunsch gekannt hatte, als die Mätresse ihres Mannes zu verfolgen? Für den Wandel konnte es nur eine Erklärung geben – Don José! Vor vier Monaten würde er selbst eine solche frivole Vermutung noch mitleidig belächelt haben. Jetzt vermochte er nur mit Anstrengung seine Bitterkeit zu mäßigen; er sagte: »Wenn Sie nicht wünschen, daß wir die Nachforschungen fortsetzen, so –«
»Wenn ich nicht wünsche? Was geht mich die Sache an?« fragte Mrs. Tucker kühl. »Tun. und handeln Sie ganz nach Ihrem eigenen Ermessen.«
Dessenungeachtet sagte sie, als er etwa eine halbe Stunde später aufbrach, beim Abschied mit einem gewissen schüchternen Zögern: »Lassen Sie mich nicht so viel allein, Käpt'n Poindexter – und geben Sie die Verfolgung jener Person auf.«
Und das war nicht die einzige unvorhergesehene Folge dieser unschuldigen Bemühung, ihre besten Freunde einander näherzubringen. Don José erschien am nächsten Besuchstage nicht; an seiner Stelle fand sich Doña Clara, seine jüngste Schwester, ein. Als sich Mrs. Tucker höflich nach Don José und dem Grunde seines Ausbleibens erkundigte, schlang Doña Clara ihre bräunlichen Arme um die Taille der blonden Amerikanerin und sagte: »Warum lassen Sie auch den Abogado, Ihren Anwalt, diesen Poindexter, kommen, wenn mein Bruder Sie besucht!«
»Käpt'n Poindexter besucht mich als Freund!« entgegnete Mrs. Tucker erstaunt. »Er ist ein Gentleman und ist Soldat und Offizier gewesen«, setzte sie dann etwas wärmer hinzu.
»Ah, ja – er ist so eine Art Soldat des Gesetzes, so – was Sie official de policia, Offizier der Gendarmerie, nennen. Aber er ist kein Gentleman, kein Camarero, der eine Dame beschützen kann.«
Mrs. Tucker hatte eine etwas scharfe Antwort auf der Zunge; die Harmlosigkeit und gutmütige Einfalt Doña Claras entwaffnete sie. Dennoch begegnete sie Don José bei seinem nächsten Besuch mit einer gewissen Zurückhaltung, erreichte dadurch bei dem einfachen Kastilianer aber nur das Gegenteil ihrer Absicht; denn sie brachte ihn um ein Haar dazu, ihr eine Erklärung zu machen.
Inzwischen kam ihr ein prächtiger Gedanke. Sie schrieb an Calhoun Weaver, den sie seit jenem denkwürdigen Tage nicht wiedergesehen und gern gemieden hatte, daß sie seines Rates bedürfe. Sie wollte den Leuten hier zeigen, daß sie noch alte Freunde hatte. Nicht im entferntesten dachte sie daran, nach dem heimatlichen Blaugrasland zurückzukehren. Ihre Eltern waren gestorben, und der Gedanke, mit ihrem zerstörten Leben den Gespielen und Gefährten ihrer Jugendtage wieder unter die Augen zu treten, erfüllte sie mit Schauder und Entsetzen.
Mr. Calhoun Weaver kam nach Los Cuervos und zeigte sich so großtuerisch wie möglich, war voller Weisheitssprüche, sehr freundschaftlich, aber ein wenig rüde. Er hatte ihr ja – daran erinnerte sie sich wohl noch? – alles vorausgesagt. Spencer hatte aus lauter Eitelkeit den Kopf verloren und zu viel auf einmal unternommen. Solche Geschäfte erforderten Vorsicht und Festigkeit; das wußte er, ihr Jugendfreund, aus eigener Erfahrung. Vielleicht hatte Mrs. Tucker von den erfolgreichen Unternehmungen, die er selbst kürzlich ins Leben gerufen, gehört? Aber Spencer war Hals über Kopf ins Zeug gegangen. Und was jenes Frauenzimmer betraf – übrigens eine verfl... schöne Person! –, so wußte ja jedermann, daß Spencer nach der Seite hin immer seine kleinen Schwächen gehabt hatte. Er, Calhoun Weaver, konnte ihr nur sagen … aber wenn sie nichts weiter davon hören wollte, hatte sie vielleicht ganz recht. Das beste war, die Sache nicht allzu schwer zu nehmen.
Der Jugendfreund, der so breit, aufgeblasen, selbstsüchtig, verständnis- und urteilslos, ohne jegliche Spur von Zartgefühl und dennoch von einem dunklen Drang erfüllt, ihr nützlich zu sein, vor ihr saß, flößte Mrs. Tucker tiefsten Widerwillen ein. Das beschämende Bewußtsein, wie töricht sie gehandelt hatte, als sie ihn hierher gerufen hatte, und die erneute schmerzliche Empfindung ihrer Verlassenheit und Hilflosigkeit bemächtigten sich ihrer und schienen sie zu lähmen.
»Natürlich fühlen Sie sich unglücklich«, fuhr Calhoun Weaver mit der Selbstgefälligkeit eines gründlichen Kenners der menschlichen Natur fort. »Natürlich – sehr natürlich. Sie befinden sich in 'ner ganz fatalen Lage und wissen im Augenblick weder aus noch ein. Da ist nur eines zu tun – 'nen raschen Entschluß zu fassen und in aller Ruhe 'ne Ehescheidungsklage einzureichen. Lassen Sie mich ausreden! Es gibt keinen Richter und kein Geschworenengericht in Kalifornien, der und das Ihnen nicht ohne weiteres recht geben und Spencer in contumaciam verdonnern würde. Und dann, Bell –«, dabei zog Calhoun seinen Stuhl näher heran, »wenn Sie dann geschieden und frei sind – so –! Nein, Bell, ich will jetzt nicht etwa den Antrag wiederholen, den ich Ihnen früher mal machte, ehe Spencer dazwischenkam – nein – wahrhaftig – auf Ehre – Sie haben nichts zu fürchten! Da nehmen Sie meine Hand darauf!«
Welche Antwort er von Mrs. Tucker empfing, verschweigt die Geschichte. Nur so viel ist sicher, daß Calhoun Weaver eine halbe Stunde später mit Spuren von Tränen auf dem guten, dummen Gesicht, mit heiserer Falsettstimme und anderen Zeichen körperlicher und geistiger Gebrochenheit aus dem Hause in den Hof trat und gerade noch so viel Kraft zu besitzen schien, der alten Concha – mit einem Fingerzeig nach ihrer blaß und stolz in der Tür stehenden Herrin, die ihm ein stummes, halb mitleidiges Lebewohl zuwinkte – in vertraulichem Ton das geheimnisvolle Wort »Blaugras!« zuzuflüstern.
Von nun an gewahrten die wenigen Menschen, die Mrs. Tucker häufiger sahen, eine Veränderung in ihrem Wesen. Ihre kindliche Heiterkeit und mädchenhafte Art waren einem mehr frauenhaften Ernst gewichen.
An einem jener langen, träumerischen Sommernachmittage, an dem der blinkende Wasserspiegel durch nichts belebt wurde als durch das Licht und den gelegentlichen Flügelschatten vorüberziehender Vögel, bemerkte sie einen Wagen, der langsam am Ufer der Lagune daherkam und auf diesem kürzeren Richtweg einen scharf en Winkel der gewöhnlichen Straße abgeschnitten hatte: ein Umstand, der Mrs. Tucker – sie wußte nicht recht warum – mit Unruhe erfüllte. Mit einer seltsamen Empfindung beobachtete sie das näherkommende Fuhrwerk, bis es in den Corral einbog. Wenige Augenblicke später meldete das Mädchen Mr. Patterson, der Mrs. Tucker allein zu sprechen wünschte.
Mrs. Tucker war nicht wenig erstaunt, daß Mr. Patterson Gesellschaft bei sich hatte, denn neben ihm stand eine sehr hübsche, gut gekleidete junge Frau, die Mrs. Tucker mit gutmütiger Neugier und Bewunderung anblickte.
»Es sieht jetzt hier ganz anders aus als vor zwei Jahren. Sie haben alles so viel schöner eingerichtet«, begann die Fremde mit munterem Lachen.
Mrs. Tucker richtete sich bei dieser vertraulichen Anrede auf und wandte sich mit fragender Miene zu Mr. Patterson. Die Melancholie dieses Herrn schien sich durch die Heiterkeit seiner Gefährtin nur noch zu verstärken. Er stieß nur einen tiefen Seufzer aus und rieb, offenbar in düsteres Nachdenken versunken, sein Bein mit der Hutkrempe.
»Na, so geht doch los, Patterson«, sagte die junge Frau lachend, indem sie ihm einen Rippenstoß versetzte. »Geht doch los und stellt mich vor! Steht nicht da wie ein Leichenstein! Ihr wollt nicht? Gut, so werde ich's selbst besorgen«, und die düstere Sprechweise Mir. Pattersons vortrefflich nachahmend, fuhr sie fort: »Mrs. Tucker, ich habe die Ehre, Ihnen die ehemalige Geliebte Mr. Spencer Tuckers vorzustellen. Halt, laufen Sie nicht davon! Ich sagte, die ehemalige, und so wahr ich hier stehe, Ma'am – es ist die Wahrheit. Schätze, ich würde gar nicht hier stehen, wenn es nicht die reine Wahrheit wäre, daß ich ihn, nachdem er Sie verlassen hat, mit keinem Auge wiedergesehen habe.«
»Das is so wahr wie's Evangelium«, fiel Patterson ein, den ein Blick in Mrs. Tuckers marmorbleiches, versteinertes Gesicht plötzlich aus seinen Gedanken aufzurütteln schien, »'s is die reine Wahrheit, und ich kann's beweisen. Ich kann beschwören, daß diese junge Dame längst außerhalb des Goldnen Tors draußen auf 'm Meer schwamm, während sich Spencer Tucker in meiner Schenkstube befand. Ich kann's beschwören, denn ich habe ihm in jener Nacht zu essen und zu trinken gegeben, habe ihn auf 'n Pferd gesetzt und ihn auf den Weg nach Monterey gebracht.«
»Und wo ist er jetzt?« fragte Mrs. Tucker mit einem Ton, der beinahe wie ein Aufschrei klang.
Die beiden blickten erst einander und dann Mrs. Tucker an. Dann entgegneten beide langsam und in vollständigem Unisono: »Aber – das – wollten – wir – ja – eben – von – Ihnen – wissen!« Der Effekt dieser Rede schien beide so zu erfreuen, daß sie noch einmal in demselben Takt und Einklang wiederholten: » Das – wollten – wir – ja – eben – von – Ihnen – wissen.«
Mrs. Tucker lachte nervös auf.
»Das ist die richtige Art und Weise, die Sache zu nehmen«, meinte die Fremde, die Mrs. Tuckers Miene nach ihrer eigenen lustigen Auffassung des Lebens deutete und auslegte. »Na, hören Sie mich an, ich werde Ihnen alles haarklein erzählen.« Dabei suchte sie sich sorgfältig den bequemsten Stuhl aus, setzte sich und kreuzte die Hände im Schoß. »Ich fuhr also am 13. Januar mit dem Schiff ›Argo‹ von hier ab. Wir hatten besprochen und berechnet, daß Ihr Mann das Schiff bei San Franzisko besteigen sollte; käme ihm etwas dazwischen, so wollte er, nach unserer Verabredung, in Acapulco mit mir zusammentreffen. Gut! In San Franzisko kam er nicht an Bord, und wir segelten ohne ihn weiter. Wie es scheint, hat er allerdings die Absicht gehabt, das Schiff auf der Reede von San Franzisko zu erreichen, ist aber daran gehindert worden, weil sein Boot bei dem starken Wind kenterte. Erschrecken Sie nur nicht – er ist, wie Patterson beschwören kann, nicht ertrunken. Aber ich – mir ist's schlechter gegangen. Mich haben sie mitgenommen und in Mexiko allein und ohne 'nen Cent in der Tasche an Land gesetzt. Ich schwör's Ihnen bei meinem und Ihrem Leben: dieser Hund von Kapitän nahm, als er sicher zu sein glaubte, daß sie Spencer erwischt hätten oder daß er ertrunken wäre, alle seine Koffer und sonstigen Sachen in Beschlag und setzte mich ans Land. Hätte ich da unten nicht 'nen Mann gefunden, der mir anbot, mich zu heiraten und mich hierher zurückzubringen, ich hätte sterben und verderben können. Na, ich nahm den Vorschlag an, und die, die als Mr. Tuckers Schatz von hier fortgegangen war, ist als die Frau eines ehrlichen Mannes wiedergekommen. – Damit, schätze ich, ist meine Rechnung glatt.«
»Sie können sich strikte auf das verlassen, was Ihnen die Frau Kapitän Baxter da – wir nannten sie früher, weil sie aus New Orleans kam, immer die französische Inez – erzählt hat, Mrs. Tucker«, fiel nun Patterson ein. »Können ihr alles aufs Wort glauben, denn sie is jetzt 'ne verheiratete Frau und über die Dummheiten 'naus, 's is wirklich und wahrhaftig so, wie sie sagt. Spencer Tucker kam an dem Tage, nachdem sie abgesegelt und sein Boot gekentert war, zu mir in die Tienda.«
Und nun gab Patterson einen ausführlichen, keine noch so überflüssige Einzelheit übergehenden Bericht über die Vorgänge jener Nacht und fügte ergänzend hinzu, er sei einige Tage später zum Wirtshaus oben auf dem Paß gekommen und habe zu seinem Erstaunen gehört, daß man Spencer weder dort noch in Monterey gesehen habe, von wo aus er sich nach Acapulco hatte einschiffen wollen.
»Warum hat man mir alles das nicht früher gesagt?« rief Mrs. Tucker mit beinahe wilder Heftigkeit, während sie bald Patterson, bald Mrs. Baxter ansah. »Warum erfahre ich das erst jetzt? Warum hat man mir alle diese Tatsachen verheimlicht?«
»Das will ich Ihnen sagen«, entgegnete Patterson, während er sich voll Demut und wie zerschlagen in einen Stuhl sinken ließ. »Als ich fand, daß er nicht dahin geritten war, wohin er hatte reiten wollen, da suchte ich 'n anderswo. Ich kannte die Spur des Mustangs, den ich 'm geborgt hatte, an 'nem lockeren Eisen, und da fand ich denn auch richtig 'raus, daß er jenseits der Lagune von dem eigentlichen Weg abgewichen war und eine Richtung eingeschlagen hatte, als ob er in schöner, gerader Linie, so wie 'ne Biene fliegt, hierher zu Ihnen hätte reiten wollen. Auch der Sheriff hatte die Spur entdeckt. ›Wir fangen ihn‹, sagte er mir; ›Tucker sitzt in einer Falle.‹ Das sagte er. Und ich lenkte ab.«
»Nun, und weiter?« fragte Mrs. Tucker atemlos.
»Nun«, fuhr Mr. Patterson in dem Ton eines Mannes fort, der an hartes Martyrium gewöhnt ist, »vielleicht bin ich ein gottverlassener alter Esel; aber ich kalkuliere, er is auch wirklich und wahrhaftig hierher, zu Ihnen, geritten – und 's is ja, wie schon gesagt, immer möglich, daß ich so was wie'n regelrechter Schafskopf bin – aber ich kalkulierte weiter, daß, wenn er dagewesen is, Sie das ja ohne Frage wissen werden. – Wir wollten Sie warnen, der Sheriff ist hinter Ihrem Manne her!«
Mrs. Tucker fühlte, daß ihr unter den prüfenden Blicken der beiden das Blut siedendheiß in den Kopf stieg und daß sie rot bis in die Schläfen wurde, obgleich sie nicht wußte, warum. Aber beide schienen sich immer mehr von ihrer gänzlichen Unkenntnis zu überzeugen, denn Patterson fuhr nach einer Weile nur noch düsterer fort: »Wenn er Ihres Wissens wirklich nicht hier war, so muß er unterwegs nochmals seine Absicht geändert haben und zum Schiffslandeplatz geritten sein, um sich von dort einzuschiffen. Das einzige, was ich dabei nich wüßte, is nur, wo er'n Boot hergekriegt und wo er mein Pferd gelassen hätte.«
Mrs. Tucker war es unheimlich. Sie fühlte einen kalten Schauder über ihren Rücken laufen.
»Ich wette«, sagte Mrs. Baxter, »ich wette, Spencer Tucker kommt nächstens frisch und gesund irgendwo zum Vorschein. Außerdem ist's mehr als wahrscheinlich, daß Poindexter weiß, wo er sich aufhält.«
»Nein«, rief Mrs. Tucker eifrig. »Er hätte es mir gesagt.« Mrs. Baxter sah stumm zu Patterson hinüber. Patterson beantwortete diesen Blick durch einen langen schwermütigen Pfiff.
»Ich verstehe nicht, was Sie damit sagen wollen!« rief Mrs. Tucker, indem sie sich mit kühler Würde aufrichtete und ihren Stuhl etwas zurückschob.
»Sie verstehen nicht? Na, dann segne Gott Ihr unschuldiges Herz!« gab Mrs. Baxter zur Antwort. »Warum war denn der Advokat erst so darauf aus, mich aufzuspüren, und warum saß er allen meinen Freunden und Bekannten auf dem Nacken – und warum hätte er das alles aufgesteckt und ließe mich, seitdem ich hier bin, in Ruhe und Frieden, wenn er nicht recht gut wüßte, wo Spencer ist?«
»Ich kann Ihnen das nicht erklären«, fiel Mrs. Tucker hastig ein. »Das heißt – ich –«
»Dann können Sie uns wohl auch nich erklären«, fragte Patterson mit düsterer Bedeutsamkeit, »warum Poindexter die meisten Forderungen an Spencer aufgekauft und in seine eigenen Hände gebracht hat? Sie sind natürlich überzeugt, daß er's nicht tut, um ihn unter'n Daumen zu kriegen und an der Rückkehr hierher zu hindern, nich wahr? Vielleicht wissen Sie auch nich, warum Poindexter Himmel und Erde in Bewegung setzt, um Don José Santierra zum Verkauf von Los Cuervos zu bewegen, und warum Don José nich drauf eingeht?«
»Don José soll Los Cuervos verkaufen! Sie meinen wohl kaufen?« gab Mrs. Tucker zur Antwort. »Ich selbst habe es ihm zum Kauf angeboten.«
Patterson stand von seinem Stuhl auf, sah sich wie verzweifelt um und fuhr sich dann langsam über die Stirn.
»Ich wußte wohl, daß es kommen mußte«, sagte er in dem früheren unheilverkündenden Ton. »Ich bin verrückt geworden oder blödsinnig. Ich würd 'nen Eid darauf geschworen haben, daß Mrs. Baxter hier mir erst vor 'n paar Stunden erzählte, sie hätte den Rancho an Don José verkauft, und jetzt sagen Sie –«
»Halten Sie ein!« rief Mrs. Tucker mit einer Stimme, die dem Mann und der Frau, die ihr gegenüberstanden, durch Mark und Bein ging. Starr und aufrecht stand sie da. »Ich befehle Ihnen, mir zu erklären, was dies alles zu bedeuten hat!« fuhr sie fort, indem sie Mrs. Baxter scharf ansah.
Von Mrs. Baxters Lippen verschwand das vergnügte Lächeln; sie wurde bleich, als sie zögernd erwiderte: »Ich glaubte, Sie wüßten es längst, daß mir Spencer Los Cuervos geschenkt hatte. Ich verkaufte den Rancho an Don José, um Geld zu unserer Flucht zu bekommen. Es geschah auf Spencers Wunsch und Geheiß.«
»Das ist eine Lüge!« rief Mrs. Tucker.
Die junge Frau stand langsam auf. Dann sagte sie: »Ich wünschte, daß es eine Lüge wäre; aber es ist die Wahrheit. Ebenso wahr ist es, daß ich keinen Cent des Geldes für mich behalten habe. Spencer hat die Summe unverkürzt in Empfang genommen! – Und nun kommt, Patterson, laßt uns gehen«, fuhr sie fort, indem sie ihre Hand auf den Arm des melancholischen Mannes legte.
Beide schritten dem Tore zu. Ehe sie es erreichten, blieb Patterson noch einmal stehen und strich sich mit der Hand über die gesenkte Stirn. Es schien, als drängte sich ihm die Notwendigkeit auf, der Unterredung einen passenden und folgerichtigen Abschluß zu geben.
»Somit haben Sie also gar nichts wieder von Spencer gehört!« sagte er betrübt. Dann verschwand er mit Mrs. Baxter jenseits des Tores.
Sobald sich Mrs. Tucker allein sah, hob sie mit einem Aufschrei die verschränkten, kalten Hände über den Kopf empor. Dann ließ sie diese langsam auf ihr nach oben gekehrtes Antlitz und die Augen herabsinken.
Schnellen Schrittes eilte sie zum Tor, blickte sich draußen um und kehrte, auf dem Wege ihren Trauring vom Finger ziehend, zur Veranda zurück. Hier stand sie eine Weile. Dann rückte sie bedächtig und langsam die Stühle wieder zurecht, brachte die buntfarbigen Kissen und Behänge wieder in Ordnung und ging anscheinend ruhig in ihr Zimmer zurück.
Zwei Tage später trabte die schwitzende Stute Poindexters in den Corral von Los Cuervos ein, und wenige Augenblicke danach betrat der Reiter die Veranda. Erblickte still auf die leeren Räume, die von dem Duft und Atem ihrer bisherigen anmutigen Bewohnerin noch ganz erfüllt schienen, bis sich seine schwarzen Augen feuchteten. Endlich scheuchte ihn das Geklingel mexikanischer Sporen aus seinen Träumereien auf, und das alte humoristische Lächeln lag bereits wieder auf seinem Gesicht, als Don José ungestüm eintrat.
Der Spanier fuhr bei seinem Anblick zurück, gewann jedoch sofort die Fassung wieder.
»Ah, finde ich Sie hier! Das ist mir ja sehr lieb!« rief er, indem er einen Brief aus seiner Brusttasche zog. »Sehen Sie her! Nennen Sie das ein Ehrenwort halten? Kann man sich so auf eine Verabredung mit Ihnen verlassen?«
Poindexter nahm den Brief kühl und gelassen. Er enthielt einige sehr würdevoll gehaltene Zeilen von Mrs. Tucker. Sie teilte Don José mit, daß sie erst jetzt erfahren habe, welche Ansprüche er an Los Cuervos habe. Sie sprach ihm herzlichen Dank für die ihr bewiesene zarte Rücksicht aus und bemerkte, er werde begreifen, daß es ihr unmöglich sei, seine Gastfreundschaft auch nur einen Tag länger in Anspruch zu nehmen.
»Von mir hat sie kein Wort erfahren«, sagte Poindexter ruhig. »Mögen wir im Recht oder Unrecht gewesen sein, ich habe Ihnen mein Wort gehalten. Ebensogut und mit demselben Recht könnte ich Sie beschuldigen, Verrat an mir geübt zu haben«, setzte er noch kühler hinzu, indem auch er einen Brief aus der Tasche zog und ihn Don José einhändigte.
Dieser Brief schien noch kürzer und kälter. Er sagte Kapitän Poindexter, daß Mrs. Tucker, nachdem er sie ein zweites Mal hintergangen habe, sich genötigt sehe, ihre Angelegenheiten fortan in die eigenen Hände zu nehmen, und daß sie die ganze Einrichtung von Los Cuervos ihm hinterlasse, dem sie, wie sie jetzt wisse, dafür verpflichtet und verschuldet sei. Sie verzichte darauf, so fuhr sie fort, ihm zu danken, denn seiner ritterlichen Natur nach würde er für die erste beste Frau in ihrer Lage dasselbe getan haben. Wenn er diese Zeilen erhalte, so schloß der Brief, befände sie sich bereits auf dem Wege nach ihrer alten Heimat in Kentucky, wo sie hoffe, durch eigene Kraft und Anstrengung so viel zu erwerben, daß sie ihre Schuld an ihn abtragen könne.
»Sie sagt kein Wort von ihrem Mann«, brach endlich Don José das Schweigen; er sah Poindexter prüfend in die Augen. »Wäre es möglich, daß sie sich doch wieder mit ihm vereinigt? Was meinen Sie?«
»Ich glaube, in gewissem Sinne ist sie nie von ihm getrennt gewesen«, entgegnete der Sachwalter mit ernster Miene.
Don José wurde rot, entgegnete aber anscheinend gleichgültig: »Und was wird nun mit dem Rancho? Natürlich haben Sie jetzt nicht mehr die Absicht, ihn zu kaufen?«
»Ich bleibe bei meinem Gebot auf die Besitzung«, erwiderte Poindexter ruhig.
Don José sah ihn noch einmal prüfend an.
»Nun, wir wollen uns die Sache überlegen und dann weiter darüber sprechen«, beschloß er die Unterredung.
Und nachdem er die Sache überlegt hatte, nahm er Kapitän Poindexters Angebot an.
Der neue Besitzer führte seine längst gehegten Absichten zur Urbarmachung der Ländereien schnell und unter eigener energischer Leitung aus. Zuerst sanken die dicken Mauern der Hazienda unter den Hammerschlägen der Arbeiter zusammen; dann verschwand die niedrige Umfassung des Corrals, und der nächste Sommerwind strich ohne Hindernis über die nun völlig flache Ebene bis hinab zum Landungsplatz, wo neue Baulichkeiten rasch emporstiegen. Nur ein etwas lebhafteres Grün bezeichnete die Stelle, an der sich die zerfallenen Backsteinmauern der alten Casa wieder dem Erdreich einverleibten, dem sie entstammten. Der Kanal wurde vertieft, die Lagune entwässert und ausgetrocknet, bis eines Tages der magische Spiegel, der dem suchenden Auge der Blaugras-Penelope so lange einen Ruhepunkt gewährt hatte, auch an der tiefsten Stelle tot und glanzlos – nur noch ein zäher, häßlicher Sumpf, ein Schauplatz des Moders und der Verrottung – dalag, um bald ganz und für immer zu verschwinden.
An dieser Stelle des Morasts hielten die Krähen, denen Los Cuervos den Namen verdankte, besonders laute und zahlreiche Versammlungen ab. Sie kamen und gingen in großen Wolken oder arbeiteten in dichten Haufen am Boden, als wollten sie das von den Menschen begonnene Werk vollenden, und so gründlich und fleißig taten sie ihre Arbeit, daß am Ende der Woche nur noch einige zerstreute, weißschimmernde Gebeine auf der Oberfläche des schnell austrocknenden Bodens zurückblieben.
Diese Gebeine waren die letzten Überreste des vermißten Flüchtlings Spencer Tucker. Er mußte in jener Nacht, in der er den Namen seiner Frau gerufen hatte, in den Sumpf geraten sein. – Sumpf deckte nun ein sumpfiges Leben, und der irdische Richter brauchte die Straftaten nicht mehr zu verfolgen. Der Schuldige war gerichtet.
In denselben Frühlingstagen stieg aus anderen, über das ganze Land verbreiteten Sümpfen ein Wind empor, der Dinge wie die eben erzählten mit seinem Hauch hinwegfegte wie leichte Nebel. Es war der Krieg. Er rief die Männer aller Stände. Unter denen, die dem Rufe sofort folgten, war Käpt'n Poindexter. Der Krieg, der ihm die Epauletten wieder auf den Schultern befestigte, verzierte sie mit zwei weiteren Sternen, stellte ihn im Triumph in die ersten Reihen der Kämpfer und legte ihn endlich an einem Sommerabend, nach erbittertem und siegreichem Kampf, vor der Tür eines Farmhauses im Blaugraslande nieder. Die Frau aber, die ihn aufnahm, ihn pflegte und seine Wunden kühlte, sagte nach seiner Genesung, während sie ihre Hand in die seinige legte, mit leiser, schüchterner Stimme:
»Ich habe es ja immer gewußt, daß ich leben müßte, um meine Schuld an dich abzutragen.«