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Melanie Ebhardt

Der Mönch

Da man das Jahr 1529 schrieb, war Erasmus Hergedorf die Zierde der Hohen Schule zu Wittenberg, ein bescheidener Freund Luthers und Melanchthons und der Stolz aller jungen Schüler. Auf seinen Schultern trug er ein gut Teil der Zukunftshoffnung der Evangelischen und des Humanismus; seine Lehrer liebten ihn; seine Gefährten begegneten ihm mit Ehrerbietung. Doch keiner kam ihm ganz nahe.

Nicht, weil er stets nur über den Büchern gesessen hätte; er tat freundlich mit, wenn ihn die Schüler in ihren Kreis zogen. Aber eine seltsame Überlegenheit, die er doch nie zu benutzen schien, hielt selbst die Kecksten von jeder Vertraulichkeit zurück. Sowenig er sich äußerlich von ihnen unterschied, es war doch, als läge ein Schatten über seinem Leben, als wäre er oft völlig abwesend und hätte an allem fröhlichen Treiben innerlich keinen Anteil.

Keiner empfand das so klar und oft so schmerzlich wie sein nächster Freund Lukas Torstedt, der ihm nach seiner eigenen ernsten Gemütsart am ähnlichsten war. Ihn allein zog der gewissenhaft Arbeitende in sein näheres Vertrauen, was die Studien und die vielfachen brennenden Fragen der Zeit betraf; doch auch mit ihm sprach er kaum je über sein vergangenes Leben, seine Eltern und seine Heimat Augsburg. Alles, was Lukas von ihm wußte, war, daß er nie Geschwister gehabt, daß er seine Mutter früh verloren und ihren Verlust nie verwunden hatte. Oft schob Torstedt diesem frühen Schmerz die Schuld an des Freundes verschwiegener Traurigkeit zu und beruhigte sich damit auf kurze Zeit; aber die Sorge um sein Geschick erwachte immer wieder, und je näher die Zeit rückte, die ihm die Vollendung seiner Studien bringen mußte, um so größer wurde diese Sorge.

Wohl sprach Erasmus, wenn sich die Gelegenheit bot, davon, wie er dereinst der reinen Lehre zu dienen gedachte; aber dem feinen Ohr des Freundes klang es stets, als erstickte Hergedorf einen Seufzer, der vielleicht einer dunklen Gefahr auf seinem Wege galt. Es war, als schreckte die nahe Zukunft den jungen Gelehrten, der doch dem Ziel aller Schüler der Hohen Schule zu Wittenberg so mühelos nahegekommen war.

Niemand ahnte damals die schreckliche Verwicklung, die Liebe und Glaubensfanatismus über Erasmus Hergedorf brachten, und niemand ahnte, daß dieser stille Mann bald mit einem Giftfläschchen in der Kutte von Klosterzelle zu Klosterzelle schleichen werde. Und es war gut, daß es niemand ahnte.

 

Einmal waren die beiden Freunde an einem lieblichen Frühlingsmorgen von wunderbarer Klarheit und Frische von den Büchern hinweg ins Freie geeilt. Nach kräftiger Wanderung rasteten sie am Fuße einer Linde, die sich mit weitausladenden Ästen auf einem Hügel unweit der Stadt erhob. Erasmus hatte den Kopf an den Stamm zurückgelehnt und sah in die Krone hinauf. Ein Vogel sang im Gezweig. Sonst war es still.

Lukas betrachtete den Freund verstohlen. Sein jugendlich schönes Gesicht schien von widerstreitenden Gefühlen bewegt. Der Stimme des Vogels lauschend, mochte er seinen Gedanken mehr als sonst nachgeben; sie spiegelten sich in seinen Zügen, sehnsuchtsvoll und schmerzlich, furchterfüllt und endlich doch in einem flüchtigen Lächeln heimlicher Hoffnung, bis sich alles Weiche verlor und ihm ein Ausdruck bitterer Entschlossenheit die feinen Brauen zusammenzog. Und plötzlich heftete er seine dunklen Augen voll auf den Freund, und ein Seufzer hob seine Brust. Fast schien er sein Schweigen brechen zu wollen; aber seine Lippen blieben stumm; nur seine Augen sprachen. Und in diesen Augen lag ein Leid, das viel tiefer war, als sich für sein Alter ziemen wollte, und eine große Furcht wie vor unabwendbarem Unheil.

Der Blick schnitt Lukas ins Herz. Riesengroß wurde seine Angst um den Freund und überwog die Sorge, ihm zu mißfallen. Er sprang auf, ließ sich neben ihm niedergleiten und ergriff seine Hand.

»Warum schweigst du?« rief er fast vorwurfsvoll. »Ich sehe, wie sich dir die Worte auf die Lippen drängen, und du erstickst sie. Rede! Was ängstigt dich? Was verdirbt dir die Jugend? Woran denkst du, das dich schreckt wie das Medusenhaupt? Ich habe mein Herz an dich gehängt, und schwer wird es mir wie ein Stein, weil es deine Not mitträgt und sie nicht kennt.«

Er hielt die zuckende Hand fest, die sich ihm entziehen wollte, und sah ihn flehentlich an.

»Wirf ab! Wirf ab!« bat er. »Ich drängte dich nie. Jetzt frage ich! Du scheidest nun bald – wie soll ich es tragen, dich nicht mehr zu sehen und doch zu wissen, daß du leidest? Sprich! Sprich! Was verbirgst du mir?«

Aber der Gefragte richtete die Augen auf ihn, in Abwehr und Klage, und antwortete mit einem rätselhaften Wort:

»Es kommt ans Licht, wie gern ich es auch verbärge! Noch eine kurze Spanne Zeit, und ihr werdet euch alle an mir ärgern. Was fragst du mich?«

Er löste seine Hand aus der des Freundes, erhob sich und schlug den Weg nach der Stadt ein, ohne sich umzuwenden.

Lukas Torstedt folgte ihm nicht. Kaum wagte er es, ihn mit den Blicken zu geleiten.

 

Wenige Wochen später verließ Erasmus Hergedorf die Hohe Schule zu Wittenberg als junger Doktor der Gottesgelehrtheit, von seinen Lehrern beglückwünscht, von abschiednehmenden Schülern geleitet.

Sein Ziel war Augsburg und sein väterliches Dach.

Lukas Torstedt hatte ihn, nachdem sich der Schwarm der Schüler am Tore verlaufen, noch ein Stück Weges begleitet. Wortarm war ihr Abschied gewesen. Schwer bedrückt kehrte er zurück. Wohl hatte ihn der Freund lange und liebevoll angesehen, als er sich endlich an einem Kreuzwege losriß, wohl hatte er seine Hand mit festem Druck umschlossen und ihm für seine durch Jahre bewiesene Treue Dank gesagt; aber das nahm die Last der Sorge nicht von Lukas' Seele. Er litt das verborgene Leid des Geschiedenen mit, in Ohnmacht und Unkenntnis, und da er seinen Umfang und seine Grenzen nicht kannte, erschien es ihm riesengroß.

Dann gingen die Tage ihren trägen Gang. Mühsam schickte sich Lukas in die ungewohnte Einsamkeit und fand nur in seinen Büchern Trost. Der Sommer kam und brachte ihm keine Freude, nur wachsende Besorgnis und ein ungeduldiges Warten auf eine Botschaft von dem Fernen.

Aber der ersehnte Brief blieb aus. Statt seiner kam eines Tages ein Schreiben des Vaters mit der bösen Kunde, der Sohn habe das Ziel seiner Reise nicht erreicht und sei verschwunden, als hätte ihn die Erde verschlungen. Und da der Sommer müde ward und in den Herbst hinüberdämmerte, erreichte ein merkwürdiges Gerücht die Freunde; es besagte, Erasmus Hergedorf, der Schüler Luthers und Melanchthons, den die Würde eines Doktors der Theologie schmückte, sei katholisch geworden und in ein Kloster gegangen.

Lukas Torstedt erschrak ob der grausamen Kunde; dann aber wies er die Möglichkeit, sie könne die Wahrheit melden, weit von sich. Wohl fiel ihm wieder das unverstandene Wort schwer auf die Seele, das der verlorene Freund an jenem Frühlingsmorgen unter der Linde vor dem Tore Wittenbergs gesprochen hatte und das ihm seitdem in Traum und Wachen dunkel nachging, aber er wußte, das konnte das Ärgernis nicht gewesen sein, das zu geben Erasmus gefürchtet hatte. Undenkbar, unmöglich war es, daß der Gedanke an Abfall damals seine Seele gepeinigt hatte. Nein, etwas anderes mußte ihn gequält haben, und wenn das Unsagbare Wahrheit war, was zu glauben er sich sträubte, so war es mit zwingender Notwendigkeit aus Umständen erwachsen, hatte Erasmus als ein Verhängnis ereilt, dem er nicht einmal durch den Tod hätte entgehen können, denn sonst wäre er eher gestorben.

Wieder schloß sich Lukas in seine Kammer ein und rang. Und da ihm die verhüllte Klage des Freundes das Rätsel tiefer und tiefer verwirrte, warf er die Angst, das Gerücht könnte die Wahrheit künden, weit von sich und stand mit jedem Gedanken treu und tapfer zu dem Verschollenen.

Mit Lukas zweifelten und hofften die anderen Freunde. Überall forschten sie nach dem Verschwundenen, wo immer sich eine Spur zu zeigen schien. Luther sandte Boten an seine Freunde und Anhänger. Der Landgraf von Hessen ließ auf ihn fahnden. Alles umsonst! Die Zeit ging hin, und auch die Hoffnung der Getreuesten wurde matt.

Da kam bittere Trauer über die Freunde des Erasmus Hergedorf. Es schien ihnen, als wäre ihre schönste Hoffnung erloschen, und wo sie geleuchtet hatte, da war jetzt doppelt tiefe Nacht.

Monde wurden zu Jahren und zogen vorüber. Luther wirkte zu Wittenberg. Die Lehre breitete sich aus. Fürsten und Herren fielen ihr zu und boten dem Kaiser Trotz. Zu Augsburg wurde zwischen den Anhängern der alten und der neuen Lehre verhandelt. Aber der Kaiser grollte unversöhnt, und schwer und drohend lag die Zeit über den deutschen Landen.

Die mit Erasmus Hergedorf zu Luthers und Melanchthons Füßen gesessen hatten, standen im Amte, hatten tätigen Anteil an den Ereignissen der Zeit. Der Schmerz um den verlorenen, abtrünnigen Freund war verwunden; das Rätsel seines Schicksals und seiner Schuld brannte nicht mehr wie eine offene Wunde.

Doch vergessen wurde er nicht. Wenn die Unruhe der Zeit nach Männern rief, gedachten sie seiner stolzen, begnadeten Jugend, gedachten der Hoffnungen, die sie auf ihn gesetzt hatten; war er ihnen doch wie ein erwähltes Werkzeug des Höchsten erschienen.

Der Name Erasmus Hergedorf wurde genannt, wenn alte Freunde zu Rat und Tat zusammenkamen. Nur einer nannte ihn nie, Lukas Torstedt, der zu Eisenach im Amte saß. Der trug noch immer schwer an der alten ratlosen Trauer um den verlorenen Freund, der wollte die Hoffnung nicht aufgeben, doch noch einmal Licht in das Dunkel des unaufgeklärten Schicksals zu bringen.

Ihm selbst war es wohl ergangen; ein geliebtes Weib und zwei gesunde Knaben machten sein Leben freundlich und hell. Doch die Trauer, die er noch ungemildert um den Freund seiner Jugend trug, verdüsterte ihm oft das Gemüt, das die unruhigen Zeitläufte so schon schwer genug bedrückten. Er war keine Kampfnatur, und um ihn her in der Welt war nirgends Friede.

Er glaubte an keine Schuld des Freundes. Wohin ihn sein Grübeln auch führen mochte, eins stand ihm unerschütterlich fest: nur ein Ereignis von höchster Gewalt konnte Erasmus aus der Bahn geworfen und weltflüchtig gemacht haben, nicht Treulosigkeit, nicht Schwäche.

An einem grauen Spätherbsttage des Jahres 1532 kehrte der Pfarrherr Lukas Torstedt beim frühen Einbruch der Dämmerung von der Wartburg zurück, wo er das kranke Weib des Schloßhauptmanns mit geistlichem Zuspruch versehen und noch ein Stündchen mit dem wohlbefreundeten Herrn die Kunde aus Nürnberg besprochen hatte, die besagte, der Kaiser habe mit den protestantischen Fürsten Frieden geschlossen.

Nun schritt Lukas, von einem bewaffneten Diener begleitet, rüstig aus, doch so tief in Gedanken, daß er des Weges kaum achtete. Plötzlich aber, da sie den Wald eben hinter sich gelassen hatten, gewahrte er, daß sich der Knecht umwandte und in die Dämmerung hineinspähte. Schon vernahmen sie den schnellen Hufschlag und das rasch näherkommende Schnauben eines zu höchster Eile angetriebenen Rosses. Sie blieben stehen. Im nächsten Augenblick verhielt ein aus dem Zwielicht auftauchender Reiter sein Tier dicht neben ihnen.

»Mit Verlaub«, sagte eine gleichgültige Stimme, »ich suchte; doch da er den Fremden unwillkürlich näher ins [Zeile fehlt im Buch] stedt. Könnt Ihr mich bedeuten, wo ich ihn drinnen in der Stadt zu dieser Stunde finde?«

Der Pfarrherr wollte ihm entgegnen, er selbst sei der Gesuchte; doch da er den Fremden unwillkürlich näher ins Auge faßte, vergaß er die Auskunft. Auch lag ihm der spröde Klang der Stimme seltsam im Ohr.

Soweit er noch zu erkennen vermochte, saß der Reiter in einer zerrissenen Mönchskutte zu Roß. Die Züge verschwanden unter der tief in die Stirn gezogenen Kapuze; aber es schien dem Pfarrherrn, als sähen ihn ein Paar brennenddunkle Augen aus einem bleichen Antlitz unverwandt an. Es überlief ihn kalt.

Auch dem Knecht schien der Fremde, der sie auf der abendlich einsamen Straße so plötzlich angesprochen hatte, nicht recht geheuer. Er dachte wohl an seinen Auftrag, den geistlichen Herrn ungefährdet heimzugeleiten. So schlug er zur weiteren Vorsicht Feuer, entzündete eilig die für den Heimweg mitgebrachte Laterne und leuchtete dem sonderbaren Reiter unversehens ins Gesicht.

Währenddessen hatte der Pfarrherr unter dem Banne der antwortheischenden Augen seine in die Vergangenheit abgeirrten Gedanken wieder gesammelt und beeilte sich, Auskunft zu geben.

»Ich bin der Gesuchte«, sprach er zu dem beschatteten Antlitz empor. »Wenn Ihr ein Anliegen an mich habt, so folgt mir in mein Haus …«

Er schwieg bestürzt. Denn der Fremde hatte eine jähe Bewegung gemacht, als wollte er sein Tier herumreißen, um in das Dunkel hinter ihm zu entweichen. In diesem Augenblick traf das Licht der Laterne, an der Kutte emporgleitend, sein Gesicht; der Pfarrherr folgte mit den Augen, stieß einen lauten Schrei aus und warf sich dem scheuenden Pferde in die Zügel.

»Erasmus!«

Das Tier stand zitternd. Lukas hielt die Zügel umklammert, als fürchtete er, die Erscheinung könnte ihm wie ein Schatten unter den Händen zerrinnen.

»Erasmus«, wiederholte er, und die Stimme versagte ihm.

Der Mönch in der zerrissenen Kutte saß regungslos und hielt das Haupt tief gebeugt. Seine Hände, denen die Zügel entglitten waren, zuckten, als wollten sie sich dem Freunde entgegenstrecken; aber er schlang sie ineinander und stützte sich schwer auf den Hals des Tieres. Die Kapuze verbarg aufs neue seine Züge; Lukas starrte zu ihm empor.

Die Vergangenheit stand wieder auf. Er sah die Straßen Wittenbergs, den Hörsaal, die Linde vor dem Tore. Ein Vogel sang. Aus einem nie vergessenen Jugendantlitz sahen ihn zwei geisterhafte Schmerzensaugen trostlos an.

Ach, sie ruhten auch jetzt auf ihm! Er schüttelte die Erstarrung ab. Der Freund, der Wiedergefundene, wartete auf ein Wort.

Da hob er beide Hände zu ihm empor.

»Willkommen, tausendmal willkommen, in meinem Hause – und hier!« Und er schlug sich mit der geballten Faust auf die Brust.

»Laß uns eilen!«

Er rief den Knecht an, der verwundert von einem zum anderen sah, hieß ihn leuchten und folgte dem Voranschreitenden nach, das Pferd sorgsam am Zügel führend.

Erasmus Hergedorf aber, der flüchtige Mönch, saß mit geschlossenen Augen im Sattel und ließ sich willenlos führen, ließ es in schwerer Müdigkeit geschehen, daß ihn der Freund in sein Haus brachte.

 

Sie standen in der geöffneten Tür zu des Pfarrherrn Arbeitsgemach. Drinnen war es hell und warm. Der Mönch in der zerrissenen Kutte schauderte; sein Fuß stockte auf der Schwelle. Lukas legte ihm den Arm um die Schultern.

»Tritt ein«, bat er.

Der Mönch wandte ihm das hagere Antlitz zu. »Speise und Trank und Herberge für eine Nacht! Mehr nicht. Aber wisse, daß du einen Mörder über deine Schwelle geleitet hast.«

Lukas Torstedt erschrak nicht. Er senkte die Stirn nur tiefer. Wie eine erdrückende Last legte sich das Leid um das unwiederbringlich zerstörte Leben des Freundes auf seine Seele. Es kam nur das eine zum anderen, und eins war so schlimm wie alles.

»Alles, was du begehrst«, sprach er leise, »und eins dazu: – die alte Liebe.«

Und er führte ihn in das Zimmer.

Der Mönch tat drei Schritte und blieb stehen, wie im Raume verloren. Er sah sich nicht um; sein Blick schien nur noch nach innen zu gehen. Wie einen Blinden mußte ihn der Freund führen.

Als wären ihm auf der Folter alle Glieder zerbrochen, so sank sein Gast auf den gebotenen Sitz. Er sagte nichts. Sein Blick haftete an den Flammen, die um die Holzscheite lohten.

Das unruhige Licht gab seinen Zügen ein zuckendes Leben, so starr sie waren. Lukas betrachtete sie in scheuem Schmerz. Wie war es möglich, daß er dieses verheerte Antlitz beim trüben Schein der Laterne auf den ersten Blick erkannt hatte? Jetzt schien es ihm fast völlig fremd. Er dachte an das blühende Jugendgesicht des Freundes und fand seine Spur nicht mehr, fand nicht einmal das alte Leid. Das hagere Mönchsgesicht, das in die Flammen starrte, als sähe es in ihrem Licht Unsagbares, war wie entseelt von einer furchtbaren Erschöpfung, die jede Lebensregung ausgelöscht und nichts als ein letztes Warten zurückgelassen hatte.

Die Hausfrau kam, sah scheu auf den Fremden, der ihrer nicht achtete, und rüstete, schnell verständigt, den Tisch. Sich zurückziehend, heftete sie einen besorgten Blick auf den Gatten, der ihr mit behutsamer Gebärde bedeutete, sie möge guten Mutes sein. Dann berührte er des Freundes Schulter und lud ihn zum Mahl.

Fast schien der Anblick der Speisen Erasmus zu beleben. Doch da der Hausherr die Hände zum Gebet zusammenlegte, schoß aus der Tiefe seiner eingesunkenen Augen ein Blick voll Groll und Pein. Über den Tisch weg zog ihm der Mönch die Finger auseinander.

»Bete nicht! Du kannst mir nicht mit freier Seele die Speise segnen.«

Der Pfarrherr ließ ihn gewähren. Seine Liebe, sein namenloses Mitleid besiegten das Grauen, das ihn beschleichen wollte. Er legte dem Freunde, der teilnahmslos saß, die Speisen vor und füllte ihm den Becher.

Doch sein stummer Gast ließ die Hände sinken, noch ehe er sich halb gesättigt haben konnte. Lukas sah es und stand auf. Auch der Mönch erhob sich und schritt blindlings zu seinem alten Platz zurück.

Nach einer geraumen Weile hob er das Haupt.

»Ich habe heute einer Stunde gedacht, einer Stunde zwischen mir und dir. Wäre sie nicht gewesen, ich wäre jetzt nicht hier. Vor den Toren Wittenbergs steht eine Linde. Weißt du es noch? Weißt du die Stunde noch? Es war Frühling, und ein Vogel sang über uns im Gezweig. Damals fragtest du nach dem Kummer, der mich von euch entfernte. Ich aber sagte dir, daß du dich mit den anderen bald an mir ärgern werdest.«

Er richtete sich auf und sah dem Freunde zum ersten Male voll ins Gesicht, forschend und finster.

»Als die Nachricht Wittenberg erreichte, ich sei ein Mönch geworden, glaubtest du da, nun hätte ich das Ärgernis gegeben, von dem ich vorausschauend sprach?«

Lukas schüttelte das Haupt.

»Nie kam mir der Gedanke«, antwortete er rasch und entschieden. »Du konntest nicht den Verrat an allem erwägen, das damals deines Lebens Inhalt war.«

Der Mönch senkte den Blick.

»Ich wußte es. Du tatest recht. Fern war mir der Gedanke an Abfall und Verrat.«

Er verlor sich in Nachdenken.

»Meines Lebens Inhalt«, nahm er des Freundes Worte bitter wieder auf, »das war nicht die Lehre allein, so treu ich ihr anhing. An ihr hätte ich nie Verrat geübt. Was wußtest du davon, was meines Lebens Glück und Jammer war? Was wußtest du von den Wegen, die meine Gedanken gingen? Ein Ärgernis! Was ich zu tun entschlossen war, was zu tun ich dennoch fürchten mußte, was war es gegen das Ärgernis, das zu geben mein Schicksal wurde!«

Er verbarg das Gesicht in den Händen und atmete schwer. Lukas wartete geduldig. Was auch kommen mochte, es erschreckte ihn nicht. Wo keine Hoffnung mehr war, da war auch nichts zu befürchten.

Nach wenigen Augenblicken schon ließ der Mönch die Hände sinken.

»Ich bin entschlossen, ein Ende zu machen«, sprach er hart, und eine flüchtige Röte färbte sein bleiches Gesicht. »doch spare dein Mitleid! Ich leide nicht mehr.

Ihr habt mich nicht gekannt«, sagte er leiser. »Ich war nicht, der ich schien. Nur die eine Seite meines Lebens saht ihr; die andere lag in der Vergangenheit, an der ihr keinen Teil hattet – auch du nicht. Nicht allein, um der reinen Lehre zu dienen, war ich nach Wittenberg gekommen. Ich wollte vergessen. Es gelang mir schlecht! – Habe Geduld. Ich muß weit zurückgreifen, will ich dir die Schicksalsfäden aufdecken, die mich in die Tiefe gerissen haben … Du weißt, ich war meiner Eltern einziges Kind. Mein Vater war reich, einer der ersten Bürger der Stadt, meine Mutter aus altem Hause. Ich habe meine Mutter sehr geliebt.«

Einen Augenblick milderte sich sein harter Blick, als betrachtete er ein fernes, vielgeliebtes Angesicht. Ein Seufzer hob seine Brust. Dann fuhr Erasmus mit herber Stimme fort:

»Sie war eine zarte Frau mit sanften, blauen Augen. Meine Mutter starb, als ich sechzehn Jahre alt war. Schon damals zeigte sich der Fluch meines Wesens. Ich konnte nicht vergessen, nicht verwinden. Ich schrie, ich weinte, bis ich keine Tränen mehr hatte, suchte sie in allen Räumen, verweigerte Speise und Trank.

Mein Vater, selber bis ins Mark getroffen, wollte mich mit allen Mitteln meiner haltlosen Verzweiflung entreißen; die milden versagten wie die strengen, bis mich ein gefährliches Fieber auf das Krankenlager warf.

So sah sich mein Vater bald in Gefahr, auch den Sohn zu verlieren und der völligen Vereinsamung anheimzufallen.

Die Kunst der Ärzte versagte. Doch einer von ihnen, der kopfschüttelnd und machtlos an meinem Lager stand, riet meinem Vater, sich um Hilfe an einen Juden zu wenden, der in unserer Stadt lebte und, als ein Schüler des Paracelsus, von den Geheimnissen der Natur mehr erforscht hatte als irgendein anderer.

Mein Vater folgte dem Rat. Er hätte sich die Hilfe für mich aus der Hölle geholt, wenn Erde und Himmel sie verweigerten! Hätte er die Folgen geahnt, auf den Knien hätte er Gott angefleht, mich in meiner Kinderunschuld zu sich zu nehmen.

Aber wir Menschen können nicht unsere Taten messen.«

Erasmus schwieg, bückte sich und warf ein paar Buchenscheite ins Feuer. Als es hell aufloderte, fuhr er fort, ohne die Augen von dem Wechsel von Licht und Schatten abzuwenden:

»So stand der Jude noch desselbigen Tages an meinem Lager. Die Fieberschleier waren für kurze Zeit von meinem Geiste gewichen, und ich sah, flüchtig nur, aber in voller Klarheit und unvergeßlich, seine hohe, geschmeidige Gestalt, das edle Gesicht mit den stolzen, fast zarten Zügen. Aus seinen Augen, die freundlich auf mich herniedersahen, blickte eine tiefe, geduldige Weisheit und verhaltene Trauer.

Fortan glitt das fremde Antlitz neben dem meiner Mutter durch meine Fieberträume, seltsam tröstlich und mitleidsvoll.

Lange schien es, als wollte meine Krankheit auch seiner Kunst spotten. Lag ich des Morgens teilnahmslos wie ein Toter, so stieg im Laufe des Tages meine Erregung mit der Fieberhitze, bis mein Vater für meinen Verstand fast mehr zu fürchten begann als für mein Leben.

Da brachte ein Abend die nicht mehr erwartete Wende.

Ich hatte mich seit Stunden wie in Flammenpein auf meinem Lager gewunden, hatte in der Angst völliger Verlassenheit nach meiner Mutter geschrien, ohne auf meines Vaters Zuspruch zu hören. Da fühlte ich plötzlich eine leichte, kühle Hand auf meiner Stirn. Ich blickte auf und sah in zwei dunkle Augen dicht über mir, die meinen Blick festhielten, mitleidig, schmerzlich und unergründlich liebevoll.

Ich sah hinein in diese Augen, bis mir die Lider sanken. Die kühle Hand blieb auf meiner Stirn liegen. Ich fiel in einen tiefen Schlaf.

Als ich nach vielen Stunden erwachte, war es lichter Tag. Mein Vater saß bei mir, zum ersten Male lächelnd. Am Fußende des Lagers stand der Arzt. Ich suchte in seinen Augen und fand dieselbe Trauer, dasselbe Mitleid, die mich am Abend beglückt hatten, doch auch einen abweisenden Ernst, der mir weh tat.

Ach, es waren nicht die Augen, die mich geheimnisvoll angeblickt hatten, wie aus einer anderen Welt! Wem gehörten sie? Wann würden sie wieder über mir leuchten?

Eine unerträgliche Sehnsucht ergriff mich, eine Traurigkeit, die mich, den völlig Entkräfteten, aufs neue an den Rand des Grabes brachte. Doch da ich zu sterben glaubte, fühlte ich wieder die kühle Hand auf meiner Stirn und sah, in jäher Hoffnung mühsam die Lider hebend, aufs neue – und ach, wie gläubig und vertrauensvoll! – tief hinein in die wunderbaren, geisterhaften, bannenden Augen, die aus dem Dunkel auf mich herniederstrahlten.

Ich genas unter diesem Blick – mein Leib genas.

Tagelang sah ich nur den tiefen, warmen Glanz der auf mir ruhenden Blicke. Erst als die letzten Todesschatten wichen, fand ich mich eines Tages ganz verloren in der Betrachtung des schönsten Kindes, das ich jemals gesehen hatte.

Bald erfuhr ich den Zusammenhang. Der Meister hatte daheim von meiner Krankheit und Todesgefahr gesprochen. Er hatte niemand als seine Tochter Naemi, sein einziges Kind. Von schmerzlichstem Mitleid ergriffen, war sie ihm unbemerkt gefolgt, da er, wohl mit einer letzten, geringen Hoffnung, aufs neue zu mir eilte, hatte ihn an der Tür unseres Hauses eingeholt und unter Tränen gebeten, sie mit zu mir zu nehmen, bis er ihr, die er über alles liebte, willfahrt hatte.

Und hätte er sie zurückgewiesen, ich weiß es, wie ich mein Elend weiß, sie hätte doch den Weg zu mir gefunden! Eine dunkle Gewalt trieb sie, die aus den letzten Tiefen der Seelen aufsteigt, geweckt von einem Wort, einem Hauch, einem Gedanken. Nichts Irdisches widersteht ihr! – –

Ob meinem Vater zuerst eine bange Sorge kam oder dem Juden, ich weiß es nicht. Gleichviel! Das Kind verschwand aus meiner Nähe. Der unausbleibliche Rückschlag kam. Da ließen sie Naemi, die mir den ersten ruhigen Schlaf gebracht hatte, aufs neue zu mir.

Noch zweimal machten die Männer den Versuch, uns während meiner Genesung zu trennen; zweimal zeigte meine wilde Erregung, meine Erschöpfung ihnen das Gefährliche ihres Beginnens.

So kam alles, wie es kommen mußte.«

Wieder verstummte der Mönch; doch diesmal währte sein Schweigen länger. Die Vergangenheit schien ihn aufs neue in ihren Bann zu ziehen, wie damals unter der Linde. Lukas zweifelte nicht, daß dem Freunde die gleichen Bilder durch den Sinn zogen. Jetzt aber milderte kein freundlicher Zug die Starrheit seines Angesichts. Wie eine Maske mutete es an, hinter der sich das lebendige Antlitz verbergen mußte, menschlich, bewegt und leidensvoll. Lukas graute vor der steinernen Ruhe des Gastes.

Mit einer fast leblosen Stimme begann der Finstere aufs neue:

»Die Wochen, die nun folgten, waren für mich eine Zeit fast ungetrübten Glückes – so schien es mir. Ich war zu schwach, um Schmerz zu empfinden, und meine auf Gesundung gerichtete Natur ging jeder Erschütterung unbewußt aus dem Wege. Fast vermißte ich meine Mutter nicht mehr.

Sooft ich erwachte, fand ich die junge Naemi an meinen Kissen, und wahrlich, meine Mutter hätte mich nicht sorglicher behüten können! Selbst des Nachts, wenn ich erwachend ihren Namen rief, tauchte sie an meiner Seite auf, und das dunkle Haar fiel ihr in schweren Wogen über das weiße Gewand bis zu den Knien.

Dann sah ich sie an und badete mein ganzes Wesen in ihrer Schönheit.

Fürchte nicht, daß ich dich Schritt für Schritt an dem Geschehenen entlangführen will, das aus diesen Stunden entsprang und unser Schicksal wurde. Es kam, wie es kommen mußte. Als ich genesen war und das Haus wieder verlassen konnte, wurde ich Naemis unzertrennlicher Freund, treuer und zuverlässiger als ihr Schatten. Ihr Vater, der Zuneigung zu mir gefaßt hatte, duldete mich anfangs stillschweigend in seinem Hause und ließ mich später sogar an seine Bücher – wahre Schätze!

Er lehrte mich Latein und Griechisch und die Sprache seiner Väter.

Mit ihm las ich das Alte Testament, die Psalmen, den Talmud.

Dann saß Naemi zu unseren Füßen, und obwohl sie ihre leuchtenden Augen kaum von mir wandte und nicht aufzumerken schien, lernte sie mit mir und schneller als ich. Ihre Geistesklarheit, ihr lieblicher Ernst entzückten mich immer wieder, noch mehr fast als ihre unvergleichliche Anmut und Schönheit, die von dem schweren Leide ihres friedlosen Geschlechts verhüllt und verdunkelt wurde. Kaum entsinne ich mich, ob ich sie jemals lächeln sah; immer aber lag auf dem ausdrucksvollen Zuge ihrer Lippen ein Hauch von Liebe und Zärtlichkeit.«

Der Entrückte verbarg die Augen mit der Rechten, und um seinen eigenen Mund lag der Schatten eines Lächelns. Es erlosch schnell, und er fuhr fort, die Hand langsam sinken lassend:

»Mein Vater hätte mich warnen sollen. Aber er war in sich gekehrt und wortkarg, und oft schien es mir fast, als hätte er die während meiner Krankheit so leidenschaftlich hervorbrechende Liebe zu mir völlig vergessen.

Erst später erfuhr ich, was ihn damals bannte. Er kämpfte innerlich den schweren Kampf um die neue Lehre, um den Mut, ihr öffentlich zuzufallen. Durch alle Kreise zuckte der neue Geist, und jeder hatte genug mit sich selber zu tun. Die Juden aber – es waren ihrer nicht viele – hielten sich still, gaben kein Ärgernis und blieben unbehelligt.

Auch geschah es, daß Meister Ephraim, Naemis Vater, dem Bürgermeister der Stadt in schwerer Krankheit beisprang und ihn vom Rande des Grabes zurückriß. Das Wohlwollen des Einflußreichen erstreckte sich fortan großherzig auch auf seine Stammesgenossen.

So währte das heimliche Wesen zwischen dem Kinde und mir zwei Jahre. Nicht, daß Unerlaubtes geschehen wäre. Sie war stolz und keusch und fast männlichen Geistes. Aber eine geheime Macht zwang uns zueinander, und wir fühlten sie erschauernd, sooft wir uns erblickten, sooft wir uns in wachen Stunden der Nacht nacheinander sehnten.

Längst war ich auch dem Meister unentbehrlich geworden. Es beglückte ihn, mir die verborgenen Schätze seines Geistes zu zeigen, sein Wissen und seine Weisheit über mich auszugießen. Längst war ich der mit Ehrerbietung begrüßte Liebling der Bewohner der Judengasse, die ich Tag für Tag durcheilte, und der Ruf meiner Geisteskräfte breitete sich unter ihnen aus.

Meinem väterlichen Hause entfremdete ich mich immer mehr; es wurde immer öder. Nichts bot es mir als die Erinnerung an eine nie vergessene Tote. Wie oft habe ich ihren Rat, ihren Zuspruch in jenen Zeiten ängstlichen Glücks mit Schmerzen vermißt! Schlimm war es für mich, daß ich keine Mutter hatte.

Ich weiß nicht, wie lange es noch gedauert hätte, daß Naemi und ich wie gute Kameraden nebeneinander lebten, eines dem anderen unentbehrlich, eines mit dem anderen im Innersten verwachsen – ach, mehr als wir wußten –, wenn uns nicht eine jähe Wendung grausam aus unserem Traumleben gerissen hätte, über unsere hoffnungslose Liebe die schmerzlichste Klarheit verbreitend.

Etwas Furchtbares geschah. Mitten in die Zerwürfnisse und inneren Kämpfe der Glaubensspaltung hinein fiel die Kunde von einer ruchlosen Tat.

Ich hatte im Hause des Arztes häufig einen jüdischen Jüngling getroffen, der mir durch seine stets gleiche Traurigkeit, seinen grüblerischen Blick und seine Liebe zu den Büchern gleicherweise aufgefallen war. Er schrieb dem Meister wertvolle Schriften ab, die er sich verschaffte und die er zurückgeben mußte. Oft fand ich den Emsigen, in einer Fensternische verborgen, über das Pergament gebeugt.

Eines Tages aber brach er über seiner Arbeit in lautes Schluchzen aus. Er war in der Schrift, deren Wiedergabe ihm oblag, unversehens über das hohepriesterliche Gebet Christi für sich, seine Jünger und seine Gemeinde, wie Johannes es im 17. Kapitel wiedergibt, geraten, und die erhabene Trauer und Schönheit der Abschiedsworte des Herrn hatte sein, wie wir später erfuhren, von Glaubenszweifeln zerrissenes Gemüt aufs heftigste getroffen. Von jenem Tage an war er noch tiefer in sich gekehrt, versank er noch mehr in seine düstere Schwermut.

Eines Tages aber stand er in der Schule auf und verkündete seinem Vater und der ganzen Gemeinde, daß er ein Christ geworden sei.

Ich mache es kurz. Die Kunde schlug wie ein Blitz unter den Gliedern der Gemeinde ein. Jahrhunderte alter, tödlicher Haß, der dicht unter der Oberfläche geschlafen hatte, flammte auf; der Vater des Abtrünnigen drohte und bat; die Mutter verzweifelte in Tränen zu seinen Füßen. Nichts half. Sein Stamm verfluchte ihn. Er bat nur, seines Weges gehen zu dürfen.

Am Abend desselben Tages fand man ihn tot vor dem Weichbilde der Stadt. Sein Vater hatte ihn erschlagen wie Kain den Abel.

Der Täter gestand den Frevel ohne Reue und ohne Zaudern. Er verfluchte die Stadt, verfluchte die Christenheit im maßlosen Groll. Die alte Zwietracht entbrannte. Unüberbrückbar tat sich die Kluft zwischen den Christen und den Feinden des Herrn auf.

Auf Naemi und mich fiel das Unheil in ganzer Schwere.

Mein Vater verbot mir, jemals wieder einen Schritt in das Haus des Meisters zu setzen, verbot mir für alle Zeit den Umgang mit Naemi. Ephraim aber wies mich im zornigen Schmerz über den Undank der Stadt und das tausendfache, alte Leid, das seinem Volke von denen angetan worden war, die sich zu der Religion der Liebe bekannten, mit harten Worten von seiner Schwelle.

So kam der Jammer des drohenden Verlustes über uns, und wir erkannten, daß wir uns liebten, daß wir unentrinnbar, unauflöslich verbunden waren, von einem urmächtigen Verhängnis aneinander gekettet.

Der Rat erließ strenge Gesetze gegen die Juden, die es gewagt hatten, einen der Ihren, der sich zu Christus bekannt hatte, wie einen Verbrecher zu töten. Hatten sie doch die Tat, als sie unter ihnen ruchbar geworden war, nicht angezeigt, sie vielleicht gar vorausgesehen und gebilligt. Eine hohe Buße wurde ihnen auferlegt, jeder Verkehr mit den Bürgern der Stadt außerhalb des Ghettos untersagt. So waren die Juden mit einem Schlage in ihrem Handel und Wandel geknebelt, rechtlos gemacht, viele brotlos und heimatlos. Denn wie sollten sie bestehen, wenn sie sich nicht frei bewegen durften?

Ihrer viele verließen die Stadt.

Meister Ephraim blieb. Er war reich und konnte auch ohne Erwerb leben. Und er war ein Forscher, ein Mann der Bücher, den das äußere Geschehen nicht so tief ins Herz traf wie seine heißblütigeren Stammesgenossen. Vielleicht trotzte er auch; vielleicht baute er auf seine in Zeiten der Seuchengefahr so oft erwiesene Unentbehrlichkeit. Ich wußte es nicht.

Mir half sein Bleiben nichts. Ich schien von seinem Kinde wie durch einen Abgrund geschieden. War den Juden die ganze Stadt verboten, wie hätte sich ein Augsburger Bürger jetzt im Ghetto blicken lassen dürfen, wenn nicht ein Amt ihn hinberief? Ich durfte es am wenigsten wagen. Die freundlichen Gefühle, die mir die Juden entgegengebracht hatten, waren in Haß verkehrt. Sie hätten mich gesteinigt, wäre ich ihnen in ihrer dunklen Gasse unter die Augen getreten.«

Der Mann im Mönchsgewande bewegte sich unruhig.

»Ich brauche dir kaum zu sagen«, fuhr er fort, »daß wir schließlich dennoch zueinander fanden, mit nachtwandlerischer Sicherheit, getrieben und geleitet vom Zwange unseres Blutes. Wir trotzten der Gefahr. Erschien uns doch die Trennung schlimmer selbst als Folter und Tod.

Das Ghetto endete und endet noch heute in einem Winkel der Stadtmauer. Es ist ein wüster, nie betretener Platz. Dort scheiden sich die beiden Reiche. Wo die Judengasse ein Ende nimmt, erhebt sich eine uralte, vergessene Kapelle, früher ein Heiligtum, jetzt nur noch ein Zufluchtsort für Eulen und Dohlen. Ihr Dach ist zerfallen. Eingesunkene Grabhügel bezeichnen die Stätte des alten Gottesackers. Die Gegend ist von armem Volk bewohnt; die ehrbaren Bürger scheuen sie am Tage, um wieviel mehr bei Nacht.

Dort trafen wir uns. Im Schatten zweier Gräber kauerten wir, dicht an der Mauer, ein mächtiges, halb zur Seite gesunkenes Kruzifix über uns.

So gefährdete ich mich selbst und die Geliebte. Jammer und Sünde! Es mußte sich schrecklich rächen!

Wir sahen uns in Heimlichkeit und Gefahr fast einen ganzen Sommer lang, oft Nacht für Nacht, oft kaum einmal in einer endlos langen Woche. Der Herbst kam. Die Nächte wurden länger. Oft deckte uns völlige Dunkelheit. Kaum weiß ich, wie wir unsere Wege fanden.

Da geschah es, daß ich zehn böse Nächte hindurch auf der Treppe, die ich hinunterschlich, umkehren mußte, weil durch die geöffnete Tür aus meines Vaters Arbeitsgemach Lichtschein auf die Diele fiel. Er saß die Nächte wach in Unruhe und innerem Kampf.

Erst in der elften Nacht, als ich entschlossen war, das Äußerste zu wagen, gelang es mir, unbemerkt vorbeizukommen. Mein Vater war über seiner Bibel eingeschlafen.

Einen Augenblick stand ich und sah starr auf sein ergrautes Haar, das die Lampe beschien. Er war alt geworden, und ich hatte es nicht bemerkt.

Dann schlich ich vorüber und schloß die Tür auf, die durch Küche und Hof ins Freie führte.

Sobald ich die Straße erreicht hatte, begann ich zu laufen. Eine herzbeklemmende Angst trieb mich, eine Ahnung hereinbrechenden Unheils, die mir das Blut wie im Fieber durch die Adern jagte.

Ich erreichte den Friedhof, den Winkel zwischen den Gräbern. Ich flüsterte den Namen der Geliebten. Nichts regte sich. Ich tastete mit den Händen in dem tiefen Schatten, den mein Auge nicht zu durchdringen vermochte, schien es mir doch, als hörte ich Naemi atmen. Umsonst! Ich stand in der öden Nacht, allein, in tiefer Einsamkeit.

Furcht wandelte mich an und schreckte mich mit tausend Einbildungen. Wenn ihr Vater die Stadt verlassen hatte? Wenn sie ohne ein Lebewohl gegangen war? Wenn sie krank war und nach mir rief, wie ich früher nach ihr?

Schlimmer als das! Vielleicht war sie Nacht für Nacht hierhergeschlichen, hatte mich nicht gefunden und glaubte nun, ich wolle sie verleugnen und verlassen.

Da packte mich der Wahnsinn! Was auch geschehen mochte, ich wollte zu ihr, sie sehen, ihre Stimme hören! Nichts konnte schlimmer sein als diese furchtbare Unerreichbarkeit, als dieses Nichtwissen, hinter dem sich der Tod für unsere Liebe verbergen konnte.

Die verkommene Begräbnisstätte flößte mir plötzlich ein Grauen ein. Ich floh. Sinnlos stürzte ich davon in der Richtung nach ihrem Hause. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wäre meinem blinden Vorwärtsstürmen nicht Einhalt geboten worden. Vielleicht hätte ich mitten in der Nacht das ganze Ghetto wachgeschrien.

Aber ich lief meinem Vater in die Arme.

Er war erwacht, als ich die Tür von außen ins Schloß gezogen hatte, war in mein Zimmer hinaufgeeilt und mir, da er es leer fand, gefolgt.

Mit Gewalt brachte er mich zurück. Wir rangen; aber er überwältigte mich.

In meiner Kammer angelangt, verfiel ich in einen Zustand der Verzweiflung, der meinen Vater fürchten lassen mochte, ich hätte den Verstand verloren. Ich haderte mit Gott, der die Geliebte so schön geschaffen hatte, so gut und rein, so tapfer und klar, und der sie doch mit ihrem ganzen Volke ins Elend stieß. Ich erhob, sinnlos wütend, Vorwürfe gegen meinen Vater. Er hörte sie stumm an, das Gesicht in den Händen. Wohl mochten ihn Vorwürfe des eigenen Gewissens quälen, die verdienter waren als die meinen. Hatte er mich doch ungewarnt und unbeachtet meiner Wege gehen lassen.

Und ich war noch so jung!

Gegen Morgen verfiel ich fast unversehens, von dem heftigen Ausbruch erschöpft, in Schlaf.

Als ich erwachte, fand ich meine Tür verriegelt.

Mein Vater hatte dem Rat der Stadt den ganzen Handel anheimgegeben: ich war auf Befehl ihres Oberhauptes ein Gefangener in unserem eigenen Hause.

Da wußte ich, daß das Unheil hereingebrochen war, das ich am Abend vorausgesehen hatte – durch meine eigene Schuld, durch meine verbrecherische Unbesonnenheit.

Als ich es ganz begriffen hatte, kam die Verzweiflung wieder über mich und in doppelter Stärke. Ich warf mich auf den Boden, zerraufte mir das Haar. Die Angst um die Geliebte, von deren Schicksal ich nichts wußte, brachte mich fast von Sinnen. Der kalte Schweiß stand mir auf der Stirn. Was war geschehen? Was hatte man ihr getan? War sie der Zauberei beschuldigt, weil wir uns liebten? Endlich, da ich fast verging, fand ich das Weinen, und schwere Jammertränen stürzten mir über die Wangen.

In den Gassen herrschte ein lebhaftes Treiben. Was ging vor? Ich glaubte, das Armesünderglöckchen läuten zu hören. Wurde die Unschuldige gerichtet, deren ganzes Verbrechen war, daß sie mich, einen Christen, liebte?

Mein Vater, der mir am Morgen meine Gefangenschaft durch die verschlossene Tür kundgetan hatte, ließ sich nicht blicken. Es war totenstill im Hause. War er auch zum Marktplatz gegangen, um das unschuldige Blut fließen zu sehen?

Längst hatte ich mich überzeugt, daß ich weder durch Fenster noch Tür entrinnen konnte. So blieb ich meiner Angst wehrlos und ohnmächtig ausgeliefert. Es wurde Mittag, und jetzt vernahm ich wirklich den blechernen Klang des Glöckchens, das geläutet wurde, wenn ein armer Sünder seine Strafe erlitt.

Doch gleichzeitig hörte ich des Vaters Schritt auf der Treppe. Ich sprang vom Boden auf, stellte mich dicht neben die Tür. Als sie sich auftat, stieß ich den Eintretenden blitzschnell zur Seite und entfloh die Stiegen hinunter. Ich fand die Haustür verschlossen; aber ich entkam durch ein Fenster, das ich mit einem einzigen wütenden Griff aufriß.

Draußen fand ich die Straßen leer. Alles Volk mochte auf dem Marktplatz versammelt sein. Ungehindert stürzte ich vorwärts. Schon hörte ich durch den kalten Ton des Glöckchens ein Summen wie von einer erregten Menge; schon unterschied ich einzelne wilde Rufe, laute Schmähungen.

Um eine Ecke biegend, hatte ich den Markt vor mir. Er war an den Häusern hin gedrängt voll Menschen, alle Fenster besetzt, alle Dächer. Die Mitte war leer. Die Stadtknechte hielten sie frei.

Ich sah den Pranger ragen. Die Knechte des Henkers waren dort beschäftigt. Ich konnte nicht sehen, was sie taten.

Da bohrte ich mich durch die Menge wie ein Tier, mit gesenktem Kopf und zusammengebissenen Zähnen. Man wich mir aus. Niemand erkannte mich.

Einen der Stadtknechte, der mir den Weg versperrte, zur Seite werfend, erreichte ich die Mitte und die Stufen des Prangers. Ich hörte einen jammervollen Schrei, eine Stimme, die meinen Namen rief – ach, bis zur Unkenntlichkeit entstellt, und doch ein Klang, der mir alle Angst, alle Leidenschaft meiner verzweifelten Liebe aus den Tiefen des Herzens emporriß, wie die Posaune des Jüngsten Gerichts die Toten aus der Tiefe der Erde reißt!

Im nächsten Augenblick lag ich über die Stufen des Prangers hingestürzt, mit beiden Armen die nackten Füße der Geliebten umfassend, sie mit meinen Tränen überflutend.

Dann sprang ich auf. Mein Messer riß ich heraus, wollte die Stricke, die sie fesselten, zerschneiden.

Ich wurde gepackt und zurückgeworfen.

Aber ich wehrte mich mit der offenen Klinge, drang wieder vor, und sie schrie mich jammervoll an:

»Stich zu! Stich zu! Mache ein Ende! Wenn du mich lieb hast, erlöse mich aus der Höllenpein!«

Da sah ich, daß das Büßerhemd, das sie trug, an Schultern und Rücken von ihrem Blut naß war. Man hatte sie auf offenem Markte gegeißelt …

Ich stieß einen durchdringenden Schrei aus, ließ das Messer fallen und stürzte zu ihren Füßen nieder, ihre Knie umklammernd, mit zurückgeworfenem Haupte ihre Augen suchend. Sie beugte sich zu mir, so weit sie konnte. Ach, die Arme waren ihr auf dem Rücken gefesselt; blutgetränkte Stricke hielten ihren bebenden Leib an dem Schandpfahl aufrecht.

Aber um uns her versank die Welt. Wir sahen uns an, wußten nichts mehr als eines das andere. In einer einzigen, großen Flamme der Lust und Qual schlug unsere Liebe zusammen, einen einzigen, endlosen, tödlichen Augenblick lang!

Dann sank ihr das Haupt schwer auf die Schulter, und aus ihren Augen, die zu brechen schienen, traf mich ein letzter Blick, rätselhaft und dunkel, mit mehr als irdischer Liebe.

Ich aber schlug die Stirn an ihre Knie und schrie zu Gott um die Gnade eines gemeinsamen Todes.

Um uns her war Stille. Es war, als hätte die Ehrfurcht vor der Erhabenheit des Todes, vor dem Mysterium der Schönheit und der Liebe all diese Menschen ergriffen, die Rohen und die Abergläubischen, die Lüsternen, die Grausamen, die Besonnenen und die Gerechten. Keiner rührte sich, keiner wagte, die Hand nach mir auszustrecken. Ich hing am Leibe der Geliebten, deren Seele mich wie mit einem letzten Seufzer grüßte. Ich glaubte, mit ihr zusammen zu sterben, vereint im letzten Atemzuge, im letzten Schlage unserer Herzen.

Es war uns nicht vergönnt.

Als die Nacht, die mich umfangen hatte, wieder von meinen Sinnen wich, lag ich in meiner eigenen Kammer und wußte nicht, wie ich dahin gekommen war. Mein Vater beugte sich über mich, nicht mehr zornig – gramvoll und verstört, die Züge tief gefurcht.

Ich sprang auf und warf mich ihm zu Füßen. Ich wollte fragen und vermochte es nicht. Aber er antwortete meiner stummen Angst:

»Sie lebt. Man hat sie ihrem Vater zurückgegeben.«

Mich faßte Entsetzen.

»Sie lebt! Die Unselige! Das geistliche Gericht wird sie ergreifen!«

Mein Vater schüttelte den Kopf.

»Der Mönch von Wittenberg gibt keine Ruh. Da wird die arme Hexe leicht vergessen.«

Dann ließ er mich allein.

Es geschah, wie er gesagt hatte. Man vergaß sie. Der Zorn gegen die Juden, die sich verborgen hielten, schlief allmählich wieder ein. Die Welt war zu tief in Kampf verstrickt. Man vergaß schneller in jenen Tagen.

Auch mich, der ich die Menschen floh, ein fremdes Gesicht nicht ertrug und wochenlang keinen Schritt vor das Haus setzte, ergriff endlich das große Geschehen. Mein Vater wies mich leise, fast unmerklich darauf hin. So fand ich mich zu den Büchern zurück, schwer und langsam; viel schwerer und später auch zu den Menschen.

Der Meister Ephraim hatte den Boden gut bereitet; nun fiel die Saat in die offenen Furchen, eine andere wohl, als er geahnt hatte. Mit den Mühseligen und Beladenen kam ich zum Herrn, dem Mittler zwischen uns und dem unbegreiflichen, furchteinflößenden Gott.

Wie weit war ich noch von Luthers fröhlicher, weltbewegender Zuversicht entfernt!

Dennoch, meine Seele genas langsam, ob auch der Stachel zurückblieb. Ich sah Naemi nicht wieder; aber sie war Tag und Nacht in meinen Gedanken. Meine Liebe wuchs und ergriff immer mehr mein ganzes Wesen, mich ganz verhüllend in ihren dunklen, leidvollen Zauber. Ich zweifelte nicht, daß er auch die Geliebte umfing.

Noch erfuhr ich, daß sie nach schwerem Krankenlager genesen war. Dann verließ ich Augsburg. Zwei Monate später kam ich nach Wittenberg.«

Eine tiefe Stille trat ein.

Lukas wagte es nicht, den nunmehr ganz Versunkenen zu stören. Was hätte er auch fragen sollen? Waren doch alle Jugendrätsel gelöst. Was jetzt noch blieb, er zweifelte nicht, daß er es noch in dieser Nacht erfahren würde.

Endlich wandte sich der Freund zu ihm, und seine einsamen Augen sahen ihn an.

»Als ich unter der Linde vor den Toren Wittenbergs von dem Ärgernis sprach, das zu geben ich entschlossen war, da dachte ich an Naemi.«

Er hob die Hand und ließ sie mit einer duldsamen Gebärde sinken; ein Ausdruck heiligen Spottes, der seiner Jugend galt, verwandelte sein Gesicht.

»Ich träumte – von dem freien Geisteshauch der größten Männer neu belebt –, die Jüdin meinem Glauben zu gewinnen, die Getaufte als mein ehelich Weib heimzuführen.«

Erasmus sah den Freund an, als erwarte er ein Hohngelächter; aber Lukas begegnete ihm mit einem Blick tiefsten Erbarmens.

Das also war die Hoffnung gewesen, deren Spur er auf Erasmus' Antlitz gesehen hatte – ein Wahn, eine Täuschung, eine Unmöglichkeit!

Das Herz zog sich Lukas zusammen.

Und Erasmus fuhr fort, unbewegt, als spräche er von längst Verwundenem:

»Diese Hoffnung hielt mich aufrecht; sie führte mich an der Hand, da ich in meine Vaterstadt heimzog. War die Liebe nicht geschaffen, alles zu überwinden?

Dort aber wurde mir dicht vor den Toren eine Kunde, die mich für immer in den Abgrund stieß.

Ein Mann saß dort am Wege, mir durch Zufall oder Fügung wie ein Bote entgegengesandt, der Arzt, der jüdische Meister, Naemis Vater!

Ich wäre vorübergezogen und hätte ihn nicht erkannt, denn sein einst so dichtes, schwarzes Haar war dünn und weiß, seine hohe Gestalt gebrochen, sein Antlitz so tief durchfurcht, als trüge er allein die Schmerzenslast seines Volkes. Nur seine Augen erkannte ich, als sie mich aus nächster Nähe haßerfüllt anstarrten. Er hatte mich auf den ersten Blick erkannt, und ich kam ihm, wahrlich wie ein Spukbild aus der Hölle, ungerufen in den Weg.

Seine stiere Verzweiflung steckte mich an, noch ehe er ein Wort gesprochen hatte; er ersparte mir nichts. Das Schicksal war dennoch seinen Weg gegangen, mitten über das Herz der Unglückseligen, die ich liebte.

Das geistliche Gericht hatte sie ergriffen.

Es war die alte, furchtbare Geschichte. Ein Dominikaner, ein Hund Gottes!« – und der Mönch lachte mitten in seinem Bericht wild auf, daß es den Hörer kalt überlief –, »hatte sie gesehen und war von verbrecherischer Liebe zu ihrer reinen Schönheit ergriffen worden.

Sie widerstand ihm, da er sich an sie drängte, denn sie war keusch und tapfer. Das wurde ihr zum Verderben.

In einer Nacht wurde das Haus umstellt; die Häscher drangen ein. Vor den Augen des Vaters wurde die Wehrlose von ihrem Lager gerissen, gebunden und fortgeschleppt.

Sie verschwand in den Kerkern des heiligen Gerichts.

Das geschah an dem Tage, da ich mit dir unter der Linde saß.

Seitdem zog der Meister, ein wiedererstandener ewiger Jude, jedem verworrenen Gerüchte folgend, im Lande umher, die Straßen mit seinem Jammer füllend, den Menschen fluchend, Gott lästernd. Er suchte sein Kind.

Mich traf der grauenvollste seiner Flüche. Er vermochte meinen Jammer nicht mehr zu steigern; der hatte schon seinen Gipfel erreicht.

Meine Liebe wurde mir zum Dämon, zum Verderben. Ich vergaß meinen Vater, vergaß Luther und seine Lehre, vergaß und verschleuderte meine Zukunft.

Ich sah nur noch mit Ephraims Augen, die das Entsetzliche geschaut hatten, sah nur noch ihre Bande und Wunden, ihre unvorstellbare Qual, ihr Gefängnis, in dem nur das Grauen die Verlassenheit mit ihr teilte.

Ich sah das schönste Angesicht, das Gottes Sonne je beschienen hatte, in Nacht verborgen, entstellt von den Qualen der Folter, von Wahnsinn geschlagen, sah es im zuckenden Licht des für sie geschichteten Scheiterhaufens.

Ich mußte sie retten!

Die Welt versank mir.

Da ging ich ins Kloster und wurde ein Mönch.

 

Das war, was ihr erfuhrt; nicht aber wußtet ihr, daß ich unter meinesgleichen der schlimmste Spürhund wurde. Da war bald keine Hexe in den Kerkern des heiligen Gerichts, der ich nicht die letzte Beichte hörte, keine gefährliche Unholdin, der ich nicht widerstand. Weit in die Lande drang mein Ruhm. Wo alle versagten, wo der Teufel sichtbar triumphierte, da rief man mich, und wahrlich, ich bezwang und besiegte ihn.«

Er näherte seinen Mund dem Ohr des Freundes.

»Mit gar mancher rang ich so hart, daß ihr der Böse in meinem Beisein das Genick umdrehte. Ich hatte Gift! Mehr als einer half ich aus der Qual!«

Er lachte wieder, und seine eingesunkenen Augen schossen einen Blitz des Triumphes.

»Doch nirgends fand ich Ruhe; keiner konnte mich halten. Der Eifer Gottes trieb mich, sagten meine Oberen, die Klugen und Kalten, die Verschlagenen, die ich überlistete. Keiner durchschaute mich; keiner ahnte mein Geheimnis.

Ich aber suchte in ihren Kerkern und Folterkammern, vor den Schranken ihrer fürchterlichen Gerichte nur die Geliebte, die zu finden ich doch mehr fürchten mußte als die ewige Verdammnis, und nie hörte ich die Riegel kreischen, die rostigen Angeln sich mißtönig drehen, ohne innerlich in der Angst zu erbeben, ihr geschändetes Angesicht möchte sich mir aus dem Dunst entgegenheben; nie sah ich einen nackten Leib auf der Folter zucken, ohne den Entsetzensschrei des Erkennens schon auf meinen erstarrenden Lippen zu fühlen.

So trieb ich es jahrelang, und die Hölle in meiner Brust bevölkerte sich mit blutigen Gesichten hohnlachender Dämonen. Gott allein weiß, wie er mich vor dem Wahnsinn bewahrte. Vielleicht trieb er die Teufel aus durch ihren Obersten, denn heißer und verzehrender, tausendmal vernichtender als aller Höllenspuk folterte mich meine dem Wahnsinn verwandte Liebe.

Dennoch gab ich die Hoffnung nicht auf, gab mich die Furcht nicht frei. Ich wußte, daß ich nicht sterben konnte, ehe ich nicht noch einmal, zum letztenmal in dem Todes- und Himmelsabgrund der dunklen Augen versunken war.«

Eine jähe Erregung schien den Sprechenden zu packen. Aus seinem Blick brach eine Flamme, die aus der ewigen Pein emporzuzüngeln schien; aber sie erlosch; nichts blieb als die stumme Erwartung, die letzte, furchtbare Geduld, die weiß, daß der Tod kommt, und die nichts anderes mehr will.

»Vor zwei Nächten«, hub der Mönch mit erschöpfter Stimme aufs neue an, »zog ich als Gast, als Sendling meiner Oberen, in einem Kloster ein, dessen Abt mir nur zu gut bekannt war, ein Erbarmungsloser, ein Verworfener. Ich sollte eine Hexe, eine Unbekehrte, die seit Jahren der Folter und allen Drohungen, die dem feierlichsten Fluch der Kirche in beispielloser Verstocktheit trotzte, in der letzten Nacht vor ihrem Flammentode auf ein seliges christliches Ende vorbereiten, ihre unsterbliche Seele für den Himmel retten – so wollte es die ungeheuerlichste Heuchelei, die je das Angesicht der Erde besudelt hat.

Der Abt kannte auch mich und hatte ein geheimes Grauen vor mir. Als ich ihm an seiner Tafel gegenüber saß, stand die helle Angst in seinen Augen. Vielleicht starrten ihn aus meinen Zügen, mir selbst unbewußt, der Tod an und das Gericht.

Bald entfloh ich seiner Nähe, die mich mit Ekel erfüllte. Meine Seele war müde. Gleichgültig folgte ich dem Schließer, der mir den Kerker der Verurteilten öffnen sollte.

Zum ersten Male warnte mich nichts! Zum ersten Male wandelte mich keine Furcht an, ich könnte hinter der eisernen Tür die jahrelang Gesuchte finden!

Ich trat ein, und der Schließer versperrte hinter mir die Kerkertür. Meine Leuchte stellte ich in einen Winkel, tastete mich in der tiefen Dämmerung nach der Mauer, wo die Glieder einer schwer herabhängenden Kette das spärliche Licht anzogen, ich bückte mich und fühlte mit den Händen auf den Boden.

Ich fand kein Stroh, nur den kalten, nackten Stein.

Und dann berührte ich eine Schulter; meine Hand glitt an einem Arm herab und fühlte die Kette am Handgelenk.

Die Gefangene rührte sich nicht; sie lag in tiefem Schlaf. Ich kauerte neben ihr und wartete. Beten konnte ich nicht. Nie fanden meine Gedanken in solcher Stunde und an solchem Ort einen Gott, der sich erbarmen konnte. Der einzige Trost, den ich zu bringen vermochte, der kam nicht aus dem Unsichtbaren, den trug ich bei mir in einem kostbaren Fläschchen.

Wie lange ich so saß, ich weiß es nicht. Meine Gedanken begannen sich zu verwirren; vielleicht überwältigte mich die Müdigkeit; vielleicht griff der schwere Schlaf, der auf der Gefangenen lag, auf mich herüber. Träume suchten mich heim.

Ich lag wieder auf meinem Krankenbette, wie damals als Knabe, fühlte eine leichte, kühle Hand auf meiner Stirn, und die unergründlichen Augen sahen auf mich herab. Ich aber nahm die Hand, die meine Stirne kühlte, in meine beiden Hände, zog sie an meine Lippen und küßte sie, wie ein andächtiger Beter das Allerheiligste küßt.

Ich wußte nicht, wo ich war, nicht, was ich tat. Ich bückte mich und küßte die Hand, die ich noch in der meinen hielt und deren Fessel leise klirrte.

Da zuckte sie.

Die Gefangene erwachte und richtete sich jäh in ihren Ketten auf. Sie mochte meine Kutte fühlen, mochte gegen das spärliche Licht hinter mir den Umriß meiner Kapuze sehen. Einen ihrer erbarmungslosen Peiniger mußte sie neben sich glauben und wich schauernd vor mir zurück. Von ihren Lippen kam kein Laut.

Ich aber ergriff die Laterne, um ihr mein Antlitz zu zeigen, das die Verlorenen, die ich aufsuchte, noch nie geschreckt hatte, denn ich nahm die Maske ab, wenn ich zu den Todgeweihten ging.

Ich hob die Laterne, warf die Kapuze zurück. Das Licht fiel hell über meine Stirn.

Da hörte ich einen Schrei, eine wilde Bewegung, und durch das Klirren der Ketten klang mein Name an mein Ohr.

Die Laterne zerschellte auf den Steinen; mir aber hatte sie noch die Züge der Geliebten gezeigt, wie ihr die meinen. Auf den Knien lag ich, hielt ihren zuckenden Leib in meinen Armen und glaubte, das Herz müsse mir zerspringen. Sie war nackt in ihren Fesseln, und ich hatte nichts, sie zu verhüllen. In meine Arme bettete ich sie, barg sie in meinem Schoß, drückte ihr Haupt an meine Brust. Mit meiner Liebe, die nicht hatte sterben können, bedeckte ich ihre Blöße und ihre Not.

Sie stöhnte an meinem Herzen; dann wurde sie still. Es war, als ob sich der Abgrund der leeren Jahre, die hinter uns lagen, lautlos füllte.

Wohl uns, daß uns das Dunkel umgab und das Schweigen.

In meiner Brust erlosch die Hölle. Die Dämonen flohen. Ich hielt die Geliebte in den Armen, in voller Sicherheit! Die ganze Nacht war unser. Auf meinen Armen durfte ich sie mit mehr als göttlicher Barmherzigkeit in den Himmel heben. Die Allmacht war in meine Hand gegeben. Ich konnte ihre Fesseln lösen, ihr den Frieden bringen, die Erlösung aus Qual und Verlassenheit, von allen Schrecken des Gerichts. Kein Henker sollte sie berühren, das Tageslicht, die tausend Augen der gaffenden Menge, die Flammen des Scheiterhaufens sie nicht mehr verzehren. Sie war gerettet!

Wie tot lag sie in meinen Armen; aber ich hörte ihren Atem gehen. Dicht an der feuchten Mauer kniete ich, denn die Ketten, die sie an die Quadern schlossen, waren kurz. Sie klirrten bei der unmerklichen Bewegung, fast bei unseren schweren Atemzügen. Dennoch war sie frei, erlöst, geborgen.

Endlich fanden wir die Sprache wieder, beide im gleichen Augenblick. Und wir wußten lange nichts als unsere Namen. In ihren Klang, den zu wiederholen wir nicht müde wurden, legten wir unsere ganze Seele. Dann luden wir ab, einer in des anderen Erbarmen, die Last des Schmerzes und der Angst, der Verlassenheit und der Sehnsucht.

Keines ihrer Worte vergaß ich. Keines Menschen Ohr soll sie vernehmen. – –

Als der Morgen bleich durch das Gitter sah, nahm ich Abschied. Mit einem langen Blick umfaßte ich zum letzten Male die über alles geliebten Züge des lebensvollen Angesichts, das durch die Kerkernot gezeichnet, doch nicht zerstört war. Und ihre Augen hingen an den meinen. Mir schwindelte … ich versank in der leuchtenden Tiefe, aus der mich ihre Seele grüßte.

Dann hielt ich ihr den Kristall an die Lippen.

Sie trank und lächelte. Ich hielt die Sterbende in meinen Armen. Ihr Haupt sank in den Nacken zurück, und da ich es mit der Rechten stützte, floß das schwere Haar über meine Hand. Dann schloß ich ihr die Augen, ehe der Blick der Liebe erloschen war.

Ohne einen Laut, ohne Kampf und Zucken war sie entschlafen.

 

Ich hörte das Sünderglöckchen nicht, das seinen schrillen Ruf erhoben hatte, hörte das ferne Getöse der Menge nicht. Erst als draußen die Schlüssel des Kerkermeisters klirrten, erwachte ich aus meiner Betäubung.

Der Mann trat ein. Ich deckte die Tote mit meinem Leibe vor seinen Blicken. Die Schlüssel forderte ich von ihm, die er mir, als ihn mein Blick traf, zitternd überließ. Er entfloh. Ich schloß ihre Glieder aus den Fesseln, wohl wissend, daß er derweil das Haus wach schrie. Was kümmerte es mich!

Das Fläschchen mit dem Rest des Giftes, den sie mir zurückgelassen hatte – o Gott, mit welchem Blick des Dankes und der Liebe! –, in der Rechten verborgen, schritt ich hinaus, die geliebte Tote auf meinen Armen tragend. In die Kapelle trug ich sie, die ich am Abend vorher auf meinem Wege gesehen hatte. Dort riß ich die schwere, seidene Decke vom Altar und hüllte sie hinein.

Die Mönche, die mir begegneten, prallten entsetzt vor mir zurück. Wie der Todesengel mochte ich ihnen erscheinen, oder sie sahen in mir den Bösen selber, der sein Opfer getötet hatte und es triumphierend davontrug, gotteslästerlich in den geweihten Purpur des Altars gehüllt.

Daß ein Mensch sich solchen Frevels vermessen könnte, wie sollten sie es ahnen. Aber die Liebe wagt alles!

Unbehelligt kam ich ans Tor; dort aber versperrte mir der Abt selber mit den Beherztesten der Brüder den Weg. Ob er für seinen Krummstab fürchtete, wenn das Unerhörte, das geschehen war, ruchbar wurde, ob ihn der Haß seiner der meinen entgegengesetzten, im Innersten feindlichen Natur verblendete, ich wußte es nicht. Ich sah nur, daß er die Hand nach meiner Toten ausstreckte, daß er die Mönche gegen mich hetzte, sie mir zu rauben.

Da bettete ich die Stille zu meinen Füßen und sah mich um. Die Brüder wichen in bleichem Erschrecken zurück, einer nach dem anderen, wie mein Blick sie erfaßte. Der Abt aber, der Sinnberaubte, bückte sich nach dem Leichnam.

Da erwürgte ich ihn mit meinen nackten Händen.

Die Mönche flohen. Der Schrecken ging vor mir her. Das geliebte Haupt an meine Schulter bettend, schritt ich hinaus, auf den weiten Hof, zog ein Roß aus dem Stall, das gesattelt stand, wohl bereit für einen Boten, und schwang mich hinauf. Auf Seitenstraßen, die entvölkert waren, entwich ich der Stadt, entwich in die Berge, in den Schutz der Wälder.

Tief im Walde habe ich sie begraben. Sie liegt königlich in ihrem Purpur. Keines Menschen Blick wird je ihr Grab entweihen …«

Der Mönch hob die Augen. Durch die Starrheit seiner Züge rang sich ein Lächeln. Und leise endete er:

»Noch eine kurze Einsamkeit, und ich werde ihre Lippen, die ich küßte, als ich sie in ihrem Grabe bettete, wieder küssen im Paradiese. Noch eine kurze Dunkelheit, und ihre Augen werden mir leuchten. Denn denen, die viel geliebt haben, wird viel vergeben.«

Die Nacht war fast vergangen. Beide sprachen nichts mehr.

Dem Freunde war sein Recht geworden, das er sich erwirkt hatte. Das Dunkel war gelichtet, die Zweifel waren gebrochen, die Anfechtung bestanden. Alles war geschehen und gelöst. Er war nur noch ein Sterbender, der stummen Abschied nahm.

Da ihn Lukas zu dem ihm bereiteten Lager führen wollte, wehrte er ihm. Wo er stand, legte er sich nieder, duldete es, daß ihm der Freund ein Kissen unter das Haupt schob und ihn sorglich bedeckte, und schloß die Augen. Der Schlaf der Erschöpfung sank über ihn, kaum daß er lag.

Lukas hielt neben ihm Wache – bis zum Morgen. Und was ihn noch quälte, die Furcht, den Trank, den ihm die Geliebte gelassen hatte, in seiner Hand zu wissen, legte er Gott anheim. Sein zagendes Herz rang sich zur Ergebung durch. Er durfte, er konnte den Freund nicht zurückhalten.

Nie mehr kam Kunde von ihm.

In den tiefen Wäldern der nahen Berge ist Erasmus verschollen.


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