Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Jacob Grimm

Ein Volk ist der Inbegriff von Menschen, welche dieselbe Sprache reden. Das ist für uns Deutsche die unschuldigste und zugleich stolzeste Erklärung, weil sie mit einmal über das Gitter hinwegspringen und jetzt schon den Blick auf eine näher oder ferner liegende, aber ich darf wohl sagen einmal unausbleiblich heranrückende Zukunft lenken darf, wo alle Schranken fallen und das natürliche Gesetz anerkannt werden wird, daß nicht Flüsse, nicht Berge Völkerscheide bilden, sondern daß einem Volk, das über Berge und Ströme gedrungen ist, seine eigne Sprache allein die Grenze setzen kann. Dies mächtige Sprachgefühl hat den Menschen von jeher ihre erste Weihe gegeben und sie zu jeder Eigentümlichkeit ausgerüstet. Wer nach jahrelangem Auswandern wieder den Boden seiner Heimat betritt, die mütterliche Erde küßt, in wessen Ohr die altgewohnten Laute dringen, der fühlt was er entbehrt hatte und wie ganz er wieder geworden ist.

Allen edeln Völkern ist darum ihre Sprache höchster Stolz und Hort gewesen. Welchen großen gewaltigen Baum hat die unsere getrieben, dessen Wachstum wir nun schon fast zweitausend Jahre in der Geschichte verfolgen können! Zwar seine Krone ist ihm abgehauen worden, die gotische Sprache, aber das untergehende Volk der Goten hat uns ein teures Vermächtnis hinterlassen, ein Denkmal das noch hinreicht, um über den Gehalt einer Sprache zu urteilen, ohne die wir gar nicht im Stande wären, weder die feste Regel aller nachherigen Entfaltungen deutscher Zunge, noch volle Einsicht in ihren Zusammenhang mit den übrigen alten Sprachen zu gewinnen. Auch ein anderer Zweig unserer Sprache ist ausgestorben, jener siegreichen Franken Sprache, die dem überwundnen gallischen Volk ihren Namen mitteilten, ihre Sprache nicht verleihen konnten. Die Franken wichen dem geistigen Eindruck des romanischen Idioms, aber eine Masse Wörter, deren Zahl größer ist, als man sich einbildet, war aus der deutschen Sprache in die französische übergetreten, und der ganze in Sitte und Gesinnung noch viel stärker waltende Einfluß des germanischen Elements hat dem gallischen Volke überhaupt neues Leben und frische Kraft eingehaucht. Aber noch ein Hauptast unserer Sprache, den der sächsische Volksstamm über das Meer nach Britannien verpflanzte, nachdem er Jahrhunderte lang dort in kräftiger Ausbildung sich behauptet hatte, konnte zwar nicht gleich dem fränkischen völlig erliegen, doch eine ganz eigentümliche Rückwirkung romanischer Zunge erfahren. Daraus ist jene wundersame Mischung deutscher und römischer, dem ersten Anschein nach unvereinbarer Stoffe hervorgegangen, welche den Grundcharakter einer weltherrschend gewordnen Sprache, wie man die englische gewiß nennen kann, festsetzte. Bekanntlich hat dieser Zusammenfluß in der Weise stattgefunden, daß ihr sinnlicher und leiblicher Bestandteil aus der deutschen, ihr geistiger und abstrakter hingegen aus der französischen entnommen ward; und da Sprachformen und Denkungsart der Völker unsichtbar ineinander greifen, so heißt es nicht zuviel behauptet, daß die Natur der deutschen und französischen Sprache in vollen Anschlag kommen müsse, wenn man ein Volk verstehen will wie das englische, das seit Elisabeth die Geschichte, seit Shakespeare die Literatur mitzulenken gewohnt ist. Wir sehen also unsere Sprache und ihre Geschichte auf einer Seite an die des klassischen Altertums reichen, auf der andern mit denen der mächtigsten Völker unserer Gegenwart unzerreißbar zusammenhängen.

Welches Los ist aber uns, die wir im Herzen Europas wohnen geblieben sind, selbst gefallen? Wir, aus deren Schoß seit der Völkerwanderung zahllose Heldenstämme nach dem ganzen Westen entsandt wurden, auf deren Boden immer die Schlachten der Entscheidung geschlagen, die kühnsten Aufschwünge des Geistes vorbereitet zu werden pflegen, ja wir hegen noch Keime in uns künftiger ungeahnter Entwickelungen. Aus der Vielheit unserer Mundarten haben wir allmählich eine Sprache gewonnen, die ohne Pracht und Eitelkeit ihren Grundzug, das ist schlichte Treue, festhält, die schon im Mittelalter liebliche Frucht getragen und auch nach langer Versäumnis regeste Verjüngungskraft bewahrt hat. Seit Luther ist die Herrschaft des hochdeutschen Dialekts unabänderlich festgestellt und willig entsagen alle Teile Deutschlands einzelnen Vorteilen, die jede vertrauliche Mundart mitführt, wenn dadurch Kraft und Stärke der aus ihnen allen aufsteigenden gemeinschaftlichen und edelsten Schriftsprache gehoben wird.

 

Kein Volk auf Erden hat eine solche Geschichte für seine Sprache, wie das deutsche. Zweitausend Jahre reichen die Quellen zurück in seine Vergangenheit, in diesen zweitausenden ist kein Jahrhundert ohne Zeugnis und Denkmal. Welche ältere Sprache der Welt mag eine so lange Reihe von Begebenheiten aufweisen? und jede an sich betrachtet vollkommnere, wie die indische oder griechische, wird sie für das Leben und den Gang der Sprache überhaupt in gleicher Weise lehrreich sein?

 

Sprache ist der volle Atem menschlicher Seele, wo sie erschallt oder in Denkmälern geborgen ist, schwindet alle Unsicherheit über die Verhältnisse des Volks, das sie redete, zu seinen Nachbarn. Für die älteste Geschichte kann da, wo uns alle andern Quellen versiegen oder erhaltne Überbleibsel in unauflösbarer Unsicherheit lassen, nichts mehr austragen als sorgsame Erforschung der Verwandtschaft oder Abweichung jeder Sprache und Mundart bis in ihre feinsten Adern oder Fasern.

Aus der Geschichte der Sprachen geht zuvorderst bedeutsame Bestätigung hervor jenes mythischen Gegensatzes: in allen findet Absteigen von leiblicher Vollkommenheit statt, Aufsteigen zu geistiger Ausbildung. Glücklich die Sprachen, welchen diese schon gelang als jene nicht zu weit vorgeschritten war: sie vermählten das milde Gold ihrer Poesie noch mit der eisernen Gewalt ihrer Prosa.

 

Jede edle Sprache hat zwei gegenüber stehende Perioden gehabt: auf die der inneren, epischen Stärke folgte die andere ihrer glänzenden, weichen, drastischen Entfaltung. In jener zeigt sich der vollere Typus, ohne Übermaß, still und rein erwachsen. Allein wie der Geist selbst will und soll sich die Sprache dehnen und lüften, Äste, Zweige und Laub überwachsen die alte Einfachheit, und mögen sich auf eine neue Weise stellen, ordnen und befestigen. Darum ist jetzt der innere Bau des Deutschen anmutiger, weiter, allein kleiner und schwächer, als er vor fünfhundert oder tausend Jahren war; auch muß er darin ärmer sein, als das verschlossen gebliebene Isländische, welches doch wiederum in einzelnen Dingen von noch andern Sprachen, selbst unedleren, übertroffen wird. Was hieraus folgt, ist, daß eine Vergleichung einseitig werden muß, wo alt und neu über und unter dem Punkt der Gleichung liegen. Das Leben hat die Sprache seine Wege geführt, und es regt sich eine Gerechtigkeit dawider, daß man zurückmesse. Den höheren und niederen Weg dürfen wir aber erkennen, und also auch urteilen, daß, wie sich das Italienische und Spanische über dem Französischen entfaltet hat, das Hochdeutsche großartiger als das Niedere, das Schwedische als das Dänische sei. Ein solches Urteil geht gleichsam nur auf das öffentliche, und es gibt keine Mundart die nicht noch eine eigentümliche Häuslichkeit hätte, gegen die man sich mit aller und jeder Zusammenstellung vergehen könnte.

 

Die Sprache zeigt sich überall haushälterisch, sie wendet die kleinsten, unscheinlichsten Mittel auf und reicht damit doch zu großen Dingen hin. Jeder Verlust wird aus der Mitte des Ganzen ersetzt, aber zugleich von dem Ganzen empfunden, so daß in dem Leben der Sprache zwar eine Änderung, doch nirgends eine Hemmung erfolgt. Sie hat also auch die andere mütterliche Eigenschaft, die Unermüdlichkeit, und gleicht nach A. W. Schlegels schöner Bemerkung einem Eisengerät, das, wenn es schon zerbrochen wird, nicht verloren geht, sondern aus den Stücken immer neu geschmiedet werden kann. Wäre sie verschwenderisch und verdrossen, so würde sie sich in kurzem erschöpfen, verwirren oder ermattet liegen bleiben.

Ihr Gang ist langsam, aber unaufhaltbar, wie der der Natur. Stillstehen kann sie eigentlich niemals, noch weniger zurückschreiten. Doch hindert die Richtung, welche das Ganze genommen, einzelne Teile, Wörter und Formen nicht, gleichsam am Wege hinten zu bleiben und noch eine Zeitlang fort zu währen. Die Nachwelt schont solche Versteinerungen, die sie nicht mehr begreift, bis sie endlich auch zerfallen. Die Deklination der Kardinalzahl zwei mag zur Erläuterung dienen; bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts erhielt sich zwen für das männliche, zwo für das weibliche Geschlecht, zwei für das Neutrum, heutzutag wird dieser durchaus richtige, gute Unterschied nicht mehr gefühlt und aus der Acht gelassen. Die Endung »o« im Pl. Fem. war seit vielen Jahrhunderten in allen andern Wörtern ausgestorben, nur in dem einzigen zwo geblieben. Jeder sein Zeitalter durchlebende Mensch wird sich gewisser Wörter, Bedeutungen, Wendungen besinnen, die noch in seiner Jugend üblich waren, nachher sich veränderten oder verloren. Man kann die Verschiedenheit in der Vergleichung der besten Schriftsteller von funfzig zu funfzig Jahren ziemlich wahrnehmen. Es wäre daher töricht zu glauben, daß unsere heutige Sprache in Zukunft bleiben würde, wie sie jetzt ist; ihre Formen werden sich unverhinderlich weiter abschleifen, und es ließen sich sogar Beispiele ausfinden, bei welchen dieses wahrscheinlich zunächst der Fall sein wird. Von diesem langsamen, ruhigen Gang unterscheide ich aber den durch äußere Ursachen herbeigeführten und beförderten Verfall einer Sprache. Bei edlen, blühenden Volksstämmen scheint sie gleichsam still zu stehen, wenigstens geschieht die Bewegung ganz verdeckt und wirkt in dem großen Gleichgewicht des Ganzen selten störend. Die Sprache verwilderter Stämme schwankt dagegen in ungleicheren, schnelleren Schwingungen.

Dennoch, wie keine Sprache in allen ihren Teilen gleichmäßige Vollkommenheit zeigen kann, so hat selbst die geringste Mundart einzelne Vorzüge, die ihr eigen geblieben, aufzuweisen. Überall und notwendig mischen sich Abweichungen unter die organischen Bestandteile. Ohne Vergleichen und Zusammenstellen des Verschiedenen wäre die Geschichte der Sprache unausführbar; selbst gesunkene Sprachen sind der sorgsamsten Untersuchung wert; der Schatten, den sie werfen, läßt uns die lichte Seite der übrigen oft erst erkennen.

 

Die Sprache, wie das Volk selbst in Gaue und Hunderte, der Stamm in Äste und Zweige, zerfällt in Dialekte und Mundarten; doch pflegt man mit beiden letzten Ausdrücken selten genau zu sein, da, wenn Dialekt als Sprache gesetzt wird, auch seine Mundarten sich zu Dialekten erheben. Es kann aber die Sprache wiederum, je höher ins Altertum aufgestiegen wird, als Dialekt oder gar Mundart einer früheren, weiter zurückliegenden erscheinen. Dialekte sind also große, Mundarten kleine Geschlechter.

Jede Sprache unterliegt geistigen wie leiblichen Einflüssen. Geistig wird sie durch Poesie und Rede ausgebildet und in ihrer Reinheit von den Dichtern erhalten und erhöht. Treten Schrift, Grammatik und endlich Vervielfältigung im Druck hinzu, so gewinnen diese Handhaben entschiednere Gewalt über die Sprachregel und gestatten von ihr nur schwer und langsam Ausnahmen. Immerhin tut das Vorgewicht des Geistes der Natur der Sprache einigen Zwang, weil die dichterische Kunst im einzelnen irren kann und das mündliche ungefesselte Wort, obwohl ungeschickter, sich freier bewegt. Zu Haus, unter den Seinen, redet der Mensch nachlässiger, aber behaglicher und vertrauter als gegenüber Andern und Fremden oder selbst beim Niederschreiben seiner Gedanken. Das Verhältnis der Mundarten und Dialekte erscheint stufenweise ebenso. Jede Mundart ist Volksmundart, heimlich und sicher, aber auch unbeholfen und unedel, dem bequemen Hauskleid, in welchem nicht ausgegangen wird, ähnlich. Im Grunde sträubt sich die schämige Mundart wider das rauschende Papier, wird aber etwas in ihr aufgeschrieben, so kann es durch treuherzige Unschuld gefallen: große und ganze Wirkung vermag sie nie hervorzubringen.

Leiblichen oder physischen Eindruck auf die Sprache nenne ich den durch Veränderung des Bodens und der Himmelsgegend entspringenden. Die Sprache in ihren Grundbestandteilen wird von dem einwandernden Volke mitgebracht, allein sie kann durch langen Aufenthalt im Gebirge, in Wäldern, auf Ebenen und am Meer anders gestimmt und in abweichende Mundarten gebracht werden. Erfahrung lehrt, daß Bergluft die Laute scharf und rauh, das flache Land sie weich und blöd mache. Auf der Alpe herrschen Diphthonge und Aspiraten vor, auf dem Blachfeld enge und dünne Vokale, unter Consonanten mediae und tenues. Die merkwürdigste Eigenheit unsrer Sprache, die Lautverschiebung, scheint minder physisch als geistig zu erklären.

Sollen Dialekte sich setzen und lebendige Sprachen aus ihnen ersteigen, so bedarf es schon eines gewissen Raums an Gebiet, innerhalb dessen die Entfaltung eintrete; von zu dicht nebeneinander gedrängten Dialekten werden einige gehemmt und erstickt, wie nicht mit gleichem Gezweige alle Äste des Baums sich ausbreiten. Für den Ast entscheidet die Gunst der Luft und des Lichts, für die Sprache unter allen Einwirkungen den Ausschlag gibt das Gedeihen der Poesie. Da nun die Poesie auf drei Wegen ausgeht, als Epos, Lyrik und Drama, das Epos am Alter das erste, das Drama das jüngste ist und das lyrische Lied in der Mitte steht: so wird die Sprache am reichsten entwickelt sein, in welcher sich alle Stufen der Dichtkunst ungestört dargetan haben.

Alle Mundarten und Dialekte entfalten sich vorschreitend, und je weiter man in der Sprache zurückschaut, desto geringer ist ihre Zahl, desto schwächer ausgeprägt sind sie. Ohne diese Annahme würde überhaupt der Ursprung der Dialekte wie der Vielheit der Sprachen unbegreiflich sein. Alle Mannigfaltigkeit ist allmählich aus einer anfänglichen Einheit entsprossen, und wie sämtliche deutschen Dialekte zu einer gemeinschaftlichen deutschen Sprache der Vorzeit, verhält sich die deutsche Gesamtsprache wiederum als Dialekt neben dem littauischen, slavischen, griechischen, lateinischen zu einer älteren Ursprache. Die Besonderheit dieser Sprachen mag schon in Asien entsprungen sein, gewiß war sie dort nicht so entschieden und scharf bestimmt wie späterhin. Alle Mundarten und Dialekte liefen Gefahr sich ins Unendliche zu splittern und zu verwirren, wäre dem nicht eine weise Schranke gestellt durch das Übergewicht der sich niedersetzenden größeren Schriftsprachen, wie die Herrschaft großer Völker dem Zerfahren der einzelnen Stämme steuert und die im Kleinen unvermögenden Kräfte zu einem mächtigen Ziele sammelt. Herrschende Sprachen verzehren, schonungslos aber wohltätig, eine Masse von Eigenheiten, günstigen und nachteiligen, deren Schalten der großen Wirkung des Ganzen nicht zugute kommen würde. Wie es den Bäumen des Waldes versagt ist, alle Äste – dem Ast, alle Zweige in gleicher Reihe zu treiben, so werden auch Sprachen, Dialekte, Mundarten neben- und durcheinander gehindert und zugleich gefördert: zwischen zurückbleibenden ragen erblühende desto herrlicher vor.

 

Zur Zeit, wo deutsche Sprache in der Geschichte auftritt, ist sie von allen urverwandten Zungen charakteristisch und spezifisch abweichend, obwohl ihnen in einzelnem noch weit näher als heutzutage; ihre eignen Dialekte hingegen scheinen unbedeutender und unentschiedner als in der Folge.

Man kann den gotischen, gleich dem äolischen der griechischen Sprache, den altertümlichsten und formreichsten Dialekt der deutschen nennen; vergleichende Sprachforschung wird sich seiner am liebsten bedienen, um die Erscheinungen unserer Sprache den urverwandten anzureihen. Beide Dialekte, die vielleicht einmal leiblich in Thrakien zusammenstießen, sind sich auch darin ähnlich, daß nur Bruchstücke ihres Reichtums, Brocken von der Fülle des großen Gastmahls hinterblieben. Doch reicht unsere Kenntnis von der äolischen Mundart lange nicht an die durch Ulfilas der Geschichte unserer Sprache bereitete Bestimmtheit.

Aus der hochdeutschen Sprache weht uns gleichsam dorische Bergluft an, und jonische Weichheit mag sich im Altsächsischen, Angelsächsischen und Friesischen finden; auch haben die Angelsachsen mit aus ihrer Heimat noch alte Stücke des Epos gebracht. Fast der ganze althochdeutsche Zeitraum war der Entfaltung aller Volksdichtung hindersam, im mittelhochdeutschen erwachten Lied und Epos mit einer Fülle, der die niederdeutsche Sprache nur im niederländischen Dialekt einiges entgegenzusetzen hat; mittelniederländische Lieder zeigen gegen mittelhochdeutsche gehalten schwächere Poesie und viel geringere Anlage zur Kunst des Reims.

Als Luther den Glauben, zugleich die Sprache reinigte und hob, langsam aber nach der Verwilderung des 17. Jahrhunderts endlich im 18. mächtige Dichter erstanden, war das Übergewicht hochdeutscher Sprache völlig entschieden. Nichts ist unverständiger als den Untergang des niederdeutschen Dialekts zu beklagen, der längst schon zur bloßen Mundart wieder herabgesunken und unfähig war, wie der hochdeutsche zu nähren und zu sättigen. Während sich alle hochdeutschen Stämme der höheren Schriftsprache beugen, der niederdeutsche Stamm bereits die niederländische, in gewissem Sinn die englische Sprache hergegeben hat, wäre es ungerecht und unmöglich der niedersächsischen Bevölkerung ein Anrecht auf Schriftsprache einzuräumen; Niedersachsen und Niederländer hätten im rechten Augenblick zugleich eine niederdeutsche Gesamtsprache der hochdeutschen an die Seite setzen müssen. Es war jedoch besser, daß es unterblieb und daß nunmehr alle Deutschen mit gesammelter Kraft einer einzigen Sprache pflegen, die gleich der attischen streben sollte über allen Dialekten zu schweben.

Innerhalb dieser Einheit und Verschiedenheit hat sich die ganze Geschichte deutscher Sprache entfaltet. Wir dürfen sechs bestimmt unterschiedne Zungen ansetzen, welche der Schrift teilhaft geworden ihre Eigentümlichkeit behaupteten: die gotische, hochdeutsche, niederdeutsche, angelsächsische, friesische und nordische. Von ihnen ist die gotische ganz, ohne daß etwas Neueres an ihre Stelle getreten wäre, erloschen; die hochdeutsche hat ihre Lebenskraft und Bildsamkeit bewährt und davon in drei Zeiträumen unverwerfliches Zeugnis abgelegt; die niederdeutsche wurde zersplittert, man kann annehmen, daß ihr edelster Teil mit den Angelsachsen auszog, aus dem Schoß der angelsächsischen Sprache aber erhob sich, mit starker Einmischung des romanischen Elements, verjüngt und mächtig die englische Sprache. Zur Volksmundart herabgesunken ist der Friesen und Chauken Sprache, und ein Gleiches gilt von einem großen Teil der altsächsischen, doch so, daß aus den Trümmern eines andern Teils eine eigne niederländische Zunge neu erstand, obschon diese nicht ganz mit der altsächsischen Grundlage zusammenzufallen, sondern noch batavische oder fränkische Stücke in sich einzuschließen scheint. In Skandinavien sind sich altnordischer, schwedischer und dänischer Dialekt fast so zur Seite gestellt, wie auf dem festen Lande gotischer, hochdeutscher, niederdeutscher; man hätte besonders dort nach gründlicher Auffassung des schwedischen und gotischen Elements zu streben. Es haben sich also bis auf heute nur fünf deutsche Sprachen auf dem Platz behauptet: die hochdeutsche, niederländische, englische, schwedische und dänische, deren künftige Schicksale nicht vorausgesagt, vielleicht geahnt werden dürfen. Wie in den Völkern selbst tut sich auch in den Sprachen, die sie reden, eine unausweichliche Anziehungskraft der Schwerpunkte kund, und lebhaft erwachte Sehnsucht nach festerer Einigung aller sich zugewandten Stämme wird nicht nachlassen.

Unsere heutigen Volksmundarten enthalten gewissermaßen mehr als die Schriftsprachen, d. h. in ihnen stecken auch noch genug Überreste alter Dialekte, die sich nicht zur Schriftsprache aufschwangen. Aus diesen Volksmundarten wäre für die Geschichte unsrer Sprache Erkleckliches zu gewinnen, wenn sie planmäßig so untersucht und bearbeitet würden, daß sich in ihnen jene Spuren einzelner bedeutender Völkerschaften ergäben und man ermittelte, welcher großen Reihe jede angehört habe. Für solchen Zweck aber müßte weniger nach seltnen, der Schriftsprache fremden Wörtern, vielmehr nach dem Verhältnis aller entscheidenden Laute, Formen und Ausdrücke geforscht werden, seien diese gleich heutzutage die gangbarsten. Dem Gang und steigenden Fortschritt aller Mundarten überhaupt angemessen ist es aber auch, daß eine große Zahl derselben sich erst in späterer Zeit hervorgetan haben und ihre Eigenschaften in früherer noch gar nicht zu erwarten sind.

 

Die Geschichte macht uns mit den Eigentümlichkeiten der alten wie der neuen Sprache bekannt.

Je weiter wir zurückgehn desto größer ist noch ihre sinnliche Gewalt. Die alte Sprache ist rein, voll und wohltönend in ihren Lauten; ohne das Rauhe und Harte irgend zu scheuen, hat sie Milde und Weichheit; ihre Biegungen und Gelenke sind rnannigfalt, frisch und schwungkräftig; in der Syntax zeigt sie freie, leichte Bewegungen, deren Anmut und Kühnheit überraschen; ein außerordentlicher Wortvorrat bietet unabgenutzte Wurzeln dar in fast vollständiger Entfaltung. Man kann diese innere leibliche Stärke der alten Sprache vergleichen dem scharfen Gesicht, Gehör, Geruch der Wilden, die einfach in der Natur leben und sich gesunder, behender Gliedmaßen erfreuen. Es waltet überhaupt mehr unbewußte Kraft als verbraucht wird, und manches Geheimnis, nach dem niemand fragt; zwischen den Gesetzen der Laute und Flexionen besteht noch ein wunderbarer Zusammenhang, den bloß der unempfundne Gebrauch erhält.

In der neuen Sprache rinnt das Blut schon schwerer; der Wohllaut ist nicht mehr so ungesucht da, sondern wird durch sorgsame Vermeidung der Härten gewahrt, er ist negativ geworden, während der alte positiv war; die Flexionen erscheinen abgeschliffen und müssen durch allerhand Künste ersetzt werden; die Bewegung erfolgt steifer und genau gemessen; beträchtlich hat sich die Zahl der Wurzeln gemindert, weshalb häufigere Umgestaltungen und Zusammensetzungen unvermeidlich werden. Von dem zauberhaften Widerschein der Formen ist weniges übrig, sie sehen eintönig, trüb und verworren aus.

Allein jene Vorzüge wie diese Mängel sind auch von eignen Nachteilen und Vorteilen begleitet: der geistige Fortschritt der Sprache scheint Abnahme ihres sinnlichen Elements nach sich gezogen, wo nicht gefordert zu haben.

Mitten in aller Formenfülle des Altertums herrscht oft Unbeholfenheit oder Verschwendung; sparsames Haushalten mit geringeren aber desto gewisseren Mitteln gab auf die Länge größere Befriedigung. Dort gebricht es dem Anmutigen nicht selten an Würde, dem Kühnen an Geschick, zumal dem Ganzen an Einstimmung, so daß oft die rechte Wirkung wo sie nahe zu erreichen war dennoch ausbleibt. Weil sich Licht und Schatten gegenseitig nicht ermäßigen, spielen lebhafte Farben allzu grell nebeneinander; Wort- und Satzverhältnisse sind noch ohne Perspektive und kein Hintergrund wird geöffnet. Die neue Sprache versteht es gelinder aufzutragen, Eindrücke zu berechnen und von dem Zufälligen das Notwendige zu scheiden. Des schwebenden Flugs verlustig, ihre Schritte nicht selten zu doppeln und zu kreuzen gezwungen, behält sie das vorgesteckte Ziel fester im Auge. Allenthalben bleiben ihr Ausgleichungen und kleine Nachhülfen zur Hand: denn selbst in grammatischen Auxiliarverbindungen, so lästig sie schleppen können, beruhen zugleich günstige Feinheiten und leise Wendungen des Ausdrucks, von denen die Sprache vorher keine Ahnung hatte. Sie ist jetzt in ihr männliches Alter eingerückt, welches weiß was es will und vermag.

Die Vollkommenheiten des ehmaligen Zustandes sind beneidenswert aber unwiederbringlich; den Gewinn, den die heutige Sprache, indem sie jenen allmählich entsagte, errungen hat, dürfen wir nicht für zu teuer gekauft halten. Damals war weder Armut noch Roheit, aber nun gelten andrer Reichtum und andre Bildung. Ein Hauptvorteil, die durch Niederschlagung der Dialekte gegründete Herrschaft größerer vaterländischer Spracheinheit, konnte eben nur in der Dämpfung sinnlicher Bestandteile errungen werden.

So war es unserm Volke beschieden. Man würde diesen Versuch, in allgemeinen Grundzügen beiden Gegensätzen und ihrer Versöhnung gebührendes Recht angedeihen zu lassen, mißdeuten, wenn daraus gefolgert werden sollte, unserm Altertum fehle das geistige, oder der Gegenwart das sinnliche Element ganz. Beide berührten sich von Anfang an, wie sie sich immer berühren und gegenseitig stützen werden; bloß das Vorherrschen des einen und des andern hat damit bezeichnet sein sollen. Noch weniger folgt daß andern Sprachen ein gleicher Gang geboten gewesen sei: die lateinische, vorzüglich aber die griechische tun dar, wie selbst ein Gipfel ihrer Verfeinerung erstiegen werden konnte, ohne daß die Vollkommenheiten der alten Form unterzugehn brauchten. Daß einer frühen Durchdringung beider Elemente schon vor fünfzehnhundert Jahren unsere Sprache an sich kein bedeutendes Hindernis in den Weg legte, zeigt die Prosa des Ulfilas. Es scheint nur, daß die Völker der neueren Zeit, nicht allein das deutsche sondern auch die romanischen, obgleich fast jedes in eigentümlicher Weise, eine Verwilderung und Unterbrechung ihrer Bildung zu bestehn hatten, aus welchen sie nicht, ohne die sinnlichen Vorzüge ihrer Sprachen großenteils daran zu geben, hervor gingen. Welche endlichen Gewinne ihnen ebendaher noch erwachsen können, läßt sich erst in zukünftigen Jahrhunderten ganz überschauen. Gleich den neueren Völkern haben auch die neueren Sprachen ihre eigne Aufgabe zu lösen, die von den Standpunkten des Altertums fern liegt, und über deren letztem Erfolg Dunkel schwebt.

Geringere Schwierigkeit hat es das Verhältnis zwischen unsrer Schriftsprache und den unter dem Volke lebendigen gemeinen Mundarten anzugeben. Diese enthalten das vielgestaltige Material der entweder nie zur höheren Ausbildung gelangten oder wiederum versunkenen besonderen Dialekte einzelner deutscher Stämme: es wird oft gar nicht zu ermitteln stehn, welche beider Ursachen über das Schicksal der Mundart entschieden habe. In der Regel ist es die Macht der Poesie, durch welche unter begünstigenden äußeren Bedingungen die Herrschaft einer Sprache vor der andern bestimmt wird. Der zurückbleibende Dialekt fristet auf kargem Boden und ungepflegt, in immer enger werdende Grenzen abgeschlossen sein kümmerliches Dasein, kann aber durch die treue Anhänglichkeit des Volks sehr lange Zeit aufrecht erhalten werden. So ist z. B. der hessische, der thüringische Dialekt niemals der Schrift und Dichtkunst teilhaftig, der friesische oder sächsische seiner Bildung nachher verlustig geworden; jene beiden hat früher, diese erst später die Gewalt der hochdeutschen Zunge niedergedrückt, doch muß gegenüber dem Friesischen auch das Niederländische und Dänische in Betracht kommen, so schmal und langgestreckt war die Mundart. Wer nun heute die friesische oder sächsische Sprache schriftlich zu fassen unternimmt, befindet sich in gleicher Lage mit dem, der schwäbisch, schweizerisch oder bairisch schreibt und dichtet: ihnen allen entgeht der Hauptvorteil gehobener, gereinigter Mitteilung, allein sie vermögen kleine Vorzüge immer noch zu behaupten.

Dazu kommt, daß bei der großen Menge deutscher Volksstämme unseres Altertums, die sich in der Folge verschmolzen und verminderten, Mischungen und Zusammenflüsse einzelner Dialekte, oft gedrängt und dicht neben einander, eintreten mußten, die, neben der Verwahrlosung, welcher sie im ganzen ausgesetzt waren, ihre Eigentümlichkeit störten und verwirrten. Dadurch gerieten sie in neuen Nachteil gegen die sich freier und einfacher bewegende Schriftsprache. Wie bedeutend ab weicht jetzt die Mundart des nordfriesischen oder westfriesischen Volks untereinander und von der, in welcher die Rechtsbücher aufgezeichnet wurden? Wer es sich unterfangen wollte, unterscheidende Merkmale selbst derjenigen Völker, die Sitz und Grenze am wenigsten änderten, in ihrer heutigen Sprache aufzufassen, würde im allgemeinen scheitern, obwohl sich einzelne Spuren ohne Zweifel immer noch entdecken lassen und solche Forschungen mit allen hier einschlägigen Mitteln sorgsam getrieben werden sollten.

Dem Volksdialekt ist einiges eigen was unserer Schriftsprache abgeht. Traulich und zwanglos schmiegt er sich mit voller Sicherheit an die Vorstellungen, welche er auszudrücken hat; nicht selten stehn ihm auch gefällige Formen neben rauhen und derben zu Gebot. Er hat einzelne der höheren Sprache längst aufgegebne Tugenden des Altertums bewahrt, dafür aber im großen, wie jene, niemals gewonnen. Es gebricht ihm an Adel, Würde und regelnder Einstimmung; da wo der Gedanke die Sprache bald fesseln, bald lösen, aber mit sich fortführen soll, wird die Vulgarsprache ohnmächtig. Sie hält nach dem, was vorhin über den Gegensatz alter und neuer Sprache gesagt wurde, eine Art Mitte zwischen beiden. Von dem Wohllaut der alten Formen besitzt sie, wie zufällig, kleine Teile, hat aber den Keim zur Veredlung eingebüßt, der in den Dialekten des Altertums gelegen war; es ist einiges von der größeren Gewandtheit des neuen Ausdrucks zu ihr eingedrungen, nur daß sie deren nicht vollkommen mächtig noch recht deutlich sich bewußt wird. Sie steht also gegen die Eigentümlichkeit beider Erscheinungen zurück, und ist immer im Verlieren begriffen.

Für das Studium der Sitte, des Glaubens und zugleich der Sprache unsrer Vorzeit behauptet die genaue Kenntnis der Mundarten keinen geringern Reiz, als auch die der Volkslieder, des Aberglaubens und aller gemeinen Überlieferungen hat. Im angelegentlichen Gebrauch dieser Quellen bin ich es gewahr geworden, welche Schätze daraus zu heben, welche Ergänzungen der schriftlichen Denkmäler darin versteckt sind; zur unmittelbaren Auferbauung unserer Poesie und Sprache können sie nicht gereichen. Wie mich dünkt, darf die historische Grammatik weniger den bunten Wirrwarr der mundartlichen Lautverhältnisse, als Bruchstücke einzelner Flexionen, Wortbildungen und selbst Strukturen berücksichtigen, die sich allerwärts unter dem Volk erhalten haben.

 

Wer unsere alte Sprache erforscht und mit beobachtender Seele bald der Vorzüge gewahr wird, die sie gegenüber der heutigen auszeichnen, sieht anfangs sich unvermerkt zu allen Denkmälern der Vorzeit hingezogen und von denen der Gegenwart abgewandt. Je weiter aufwärts er klimmen kann, desto schöner und vollkommner dünkt ihn die leibliche Gestalt der Sprache, je näher ihrer jetzigen Fassung er tritt, desto weher tut ihm, jene Macht und Gewandtheit der Form in Abnahme und Verfall zu finden. Mit solcher Lauterkeit und Vollendung der äußeren Beschaffenheit der Sprache wächst und steigt auch die zu gewinnende Ausbeute, weil das Durchsichtigere mehr ergibt als das schon Getrübte und Verworrene. Sogar wenn ich Bücher des sechzehnten, ja siebzehnten Jahrhunderts durchlas, kam mir die Sprache, aller damaligen Verwilderung und Roheit unerachtet, in manchen ihrer Züge noch beneidenswert und vermögender vor als unsere heutige. Welchen Abstand aber auch von ihnen stellte die edle, freie Natur der mittelhochdeutschen Dichtungen dar, denen angestrengteste Mühe zu widmen unvergleichlichen Lohn abwirft. Doch nicht einmal aus ihrer Fülle schienen alle grammatischen Entdeckungen von Gewicht müssen hergeleitet zu werden, sondern aus sparsam fließenden fast versiegenden althochdeutschen und gotischen Quellen, die uns unserer Zunge älteste und gefügeste Regel kund taten. Es gab Stunden, wo für abhanden gekommene Teile des Ulfilas ich die gesamte Poesie der besten Zeit des dreizehnten Jahrhunderts mit Freuden ausgeliefert haben würde. Den leuchtenden Gesetzen der ältesten Sprache nachspürend, verzichtet man lange Zeit auf die abgeblichenen der von heute. Allein auch sie weiß schon ihren Anspruch zu erheben und verborgene Anziehungskräfte auf uns auszuüben. Nicht nur ist der neue Grund und Boden viel breiter und fester als der oft ganz schmale, lockere und eingeengte alte, darum aber mit sichererem Fuße zu betreten, sondern jener Einbuße der Form gegenüber steht auch eine geistigere Ausbildung und Durcharbeitung. Was dem Altertum doch meistens gebrach, Bestimmtheit und Leichtigkeit der Gedanken, ist in weit größerem Maße der jetzigen zu eigen geworden, und muß auf die Länge aller lebendigen Sinnlichkeit des Ausdrucks überwiegen. Sie bietet also einen ohne alles Verhältnis größern, in sich selbst zusammenhängender, und ausgeglichenen Reichtum dar, der schwere Verluste, die sie erlitten hat, vergessen macht, während die Vorzüge der alten Sprache oft nur an einzelnen Plätzen, abgebrochen und abgerissen, statt im ganzen wirksam erscheinen. Bei allen durch die Zeit hervorgebrachten Verschiedenheiten waltet im großen dennoch eine beträchtliche durchblickende Gemeinschaft zwischen alter und neuer Sprache, die in allen ihren Wendungen und Sprüngen zu belauschen überraschende Freude macht. Wenn auf zahllose Stellen unserer Gegenwart Licht aus der Vergangenheit fällt, so gelingt umgedreht es auch hin und wieder, im Dunkel liegende Flecken und Gipfel der alten Sprache eben mit der neuen zu erhellen. Manches im Altertum Vorragende beruht ganz auf sich selbst und läßt außerhalb seiner Schranke sich weiter nicht verfolgen; die ungleich größere Masse des heutigen Sprachschatzes wird durch überfließende Belege lehrreich begründet. Wahr ist, die alte Sprache leistet der Grammatik bessere Dienste, aber für Auffassung der Wortbedeutungen wird die neue offenbar wichtiger. Die gotische Formlehre, wo wir sie nur anrühren, trägt zehnfach mehr Frucht als die neuhochdeutsche, doch die Magerkeit eines gotischen oder selbst althochdeutschen Glossars gegen das Mittelhochdeutsche springt ins Auge – wie könnte das Mittelhochdeutsche sich messen mit einem neuhochdeutschen Wörterbuch?

Die Wiederanfachung der klassischen Literatur im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert hatte den Abstand der einheimischen, wissenschaftlich unausgebildeten Sprache von der griechischen und lateinischen sehr fühlbar gemacht und nun begann die Kluft zwischen ihnen und jener desto schroffer vorzutreten. Unsre eigne Muttersprache, welche doch, seit jene klassischen Zungen aus dem Leben verschwunden waren, vor allen europäischen ehmals zuerst sich geregt und eignes Lebens fähig erzeigt hatte, mußte bald nur für eine dienende Handlangerin, für die Brücke gelten, über welche man aus dem Schlamm heimischer Barbarei ans Gestade jener beiden – vielmehr die hebräische, heilig gehaltne hinzugerechnet – der drei einzig vollkommnen Sprachen schreite; die Beschaffenheit einer rein menschlichen, uns unmittelbarst nahe liegenden wundervollen Gabe zu erwägen, fiel lange gar niemand ein. Man war weder gewohnt noch darauf eingerichtet, hinter dem, was seiner Natur nach feine und tiefe Regel haben muß, sie auch wirklich zu suchen, und schleppte für den oberflächlichsten Gebrauch fortwährend sich mit mageren leeren Behelfen, die der Sprache selbst keinen Nutzen, nur empfindlichen Schaden zufügten. Die klassischen Sprachen waren gelehrt und zünftig, die deutsche wurde nicht in die Lehre genommen und in keine Zunft gelassen.

 

Oft hört man die deutsche Sprache eine durchsichtige nennen und der Vorzug, manche ihrer Bildungen offen darzulegen, soll ihr auch billig eingeräumt bleiben; helle Durchdringbarkeit, wenn diese überhaupt irgend einer neueren, d. h. in die neue Zeit reichenden alten Sprache zustehen kann, muß ihr aber ihrem größten Bestandteil nach abgesprochen werden. Wir gewahren allerdings, daß z. B. Band, Bande, Bendel, Binde, Bund, Bündel, bündig sämtlich auf binden zurückgehn und daß es sich bei vielen andern Wörtern auf ähnliche Weise verhält; die meisten starken Verba bilden einen Kreis von Ableitungen um sich, deren Nähe zu ihrer Wurzel unverkennbar ist, so sehr man auf seiner Hut sein muß, um nicht durch den Schein von Ähnlichkeiten getäuscht zu werden. Nicht selten verleiten Lautübergänge, selbst falsche Schreibungen auf unrechte Spur, wie z. B. tauen: rorare, und tauen: solvi, liquescere, sogar in den Wörterbüchern gemischt werden, da doch beide ganz verschiednen Wurzeln entsprießen. Im ganzen aber kann bei weitem nur die Minderzahl deutscher Wörter das Gefühl ihrer Abstammung bewahrt haben, der beträchtlichste Teil derselben ist uns wenigstens auf den ersten Anblick dunkel und undurchschaubar geworden, so lebendig uns der Begriff vor Augen steht, den wir heute mit ihnen verbinden. Wer vermag es, die sinnlichsten Ausdrücke wie Wasser, Luft, Erde, Feuer, Ei, Vogel, Tier, Kraut, Gras alsogleich auf ihre deutsche Wurzel zurückzuführen? Der Grund aller dieser Benennungen scheint uns innerhalb der Grenze unserer Sprache fast oder ganz verschlossen. Noch viel mehr aber wird uns die Herkunft abgezogner Vorstellungen wie: denken, glauben, hoffen, und zahlloser anderer entrückt liegen. In jedem Pronomen und Zahlwort, in jeder Partikel, wenn wir ihre Deutung unternehmen, trotz einzelnen Analogien und Bildungstrieben, die darin aufzuleuchten scheinen, tritt uns zuletzt ein undurchdringliches Dunkel entgegen und aller Aufschluß scheint uns wie mit Brettern verschlagen.

 

Über das Pedantische in der deutschen Sprache

Wer gelobt hat darf auch einmal schelten. Ich war von Jugend an auf die Ehre unsrer Sprache beflissen, und wie, um mich eines Platonischen Gleichnisses zu bedienen, die Hirten hungerndem Vieh einen grünen Laubzweig vorhalten und es damit leiten wohin sie wollen, hätte man mich mit einem altdeutschen Buch durch das Land locken können. Als es mir hernach gelang einige vormals verkannte Tugenden dieser Sprache, da sie von Natur blöde ist, aufzudecken, und ihr den Rang wieder zu sichern, auf welchen sie unter den übrigen von rechtswegen Anspruch hat: so konnte es nicht fehlen, daß ich auch vielerlei Schaden kennen lernte, an dem sie offen und geheim leidet. Es scheint nun aller Mühe wert uns über solche Gebrechen nichts zu verhehlen, denn wenn sie schon nicht ganz zu heben sind, beginnt doch ein ernstes Gemüt von seiner Angewöhnung abzuweichen und sich liebevoll auf den besseren Pfad zu kehren, der ihm gezeigt worden ist; Ernst und Liebe stehn uns Deutschen, nach dem Dichter, wohl, ach die so manches entstellt.

Erwäge ich die Schwächen unsrer Sprache, von denen sie am meisten gedrückt ist, nicht bloß im einzelnen sondern allgemeinen, so stellt sich mir eine ihrer Eigenschaften heraus, die ich zum Gegenstand näherer Betrachtung machen will und nicht anders bezeichnen kann, als es am Eingang geschehen ist.

Da die innersten Vorzüge und Mängel der Sprachen stärker als man wähnt und sogar mehr als andere Besitztümer mit der sinnlichen wie geistigen Natur und Anlage der Völker, welchen sie gehören, zusammenhängen, so kann es nicht befremden, daß ich in der Art und Weise der Deutschen überhaupt oft schon die Richtung wieder finde, die ich im Begriff stehe zu schildern. Sie greift, von der bessern Seite genommen, ein in unsere bedächtige Genauigkeit und Treue, und es würde schwer halten sie mit Stumpf und Stiel auszurotten, ohne diesen trefflichen Grundzug unseres Charakters mit zu verletzen. Das Pedantische aber, glaube ich, wenn es früher noch gar nicht vorhanden gewesen wäre, würden die Deutschen zuerst erfunden haben. Man versetze sich in einen Kreis von Diplomaten, denen es obliegt in verwickelter Lage die Geschicke der Länder zu wägen, und forsche, von welcher Seite aus in Kleinigkeiten hundert Anstände und Schwierigkeiten erhoben werden, in der Hauptsache der Verhandlung leichtestes Nachgeben und Ablassen eintrete; es kann keine andere als die der deutschen Gesandten sein, und unsere Nachbarn haben ihren Vorteil daraus zu ziehen lange schon verstanden. Eben das ist Pedanterei, im Geringfügigen eigensinnig zu widerstreben und nicht zu gewahren, daß uns daneben ein großer Gewinn entschlüpft, daher auch im Lustspiel der Pedant jedesmal der Braut, um die er geworben hat, verlustig geht. Er hat für das Neue keinen Enthusiasmus, nur Krittelei, für das Hergekommene taube Beschönigungen, ohne allen Trieb ihm auf den Grund zu sehn.

In der Sprache aber heißt pedantisch, sich wie ein Schulmeister auf die gelehrte, wie ein Schulknabe auf die gelernte Regel alles einbilden und vor lauter Bäumen den Wald nicht sehn; entweder an der Oberfläche jener Regel kleben und von den sie lebendig einschränkenden Ausnahmen nichts wissen, oder die hinter vorgedrungnen Ausnahmen still blickende Regel gar nicht ahnen. Alle grammatischen Ausnahmen scheinen mir Nachzügler alter Regeln, die noch hier und da zucken, oder Vorboten neuer Regeln, die über kurz oder lang einbrechen werden. Die pedantische Ansicht der Grammatik schaut über die Schranke der sie befangenden Gegenwart weder zurück, noch hinaus, mit gleich verstockter Beharrlichkeit lehnt sie sich auf wider alles in der Sprache Veraltende, das sie nicht länger faßt, und wider die Keime einer künftigen Entfaltung, die sie in ihrer seichten Gewohnheit stören.

Es würde mir nun leicht sein, wenn ich bloß ins einzelne gehn wollte, Beispiele zu greifen, die das Bild des Pedanten keinen Augenblick verkennen lassen. Er schreibt mogte für mochte, weil nach »mögen« blickend er vom schönen uralten Wandel der Consonanten nichts weiß und sich weder auf Macht, noch das lateinische agere actus besinnt. Ein Engländer oder Franzose würde lachen, geschähe ihnen Anmutung deminutif oder deminutive zu schreiben; aber der Deutsche meint sich schämen zu müssen wollte er länger di für de behalten, seit ihm die Philologen eingebildet haben, nur de im lateinischen Worte sei recht. Überhaupt entstellt der Pedant ungern fremde Wörter, und möchte wie Tataren für Tartaren, Petrarca für Petrarch, Chamomille für Kamille wieder einführen; zur Hauptangelegenheit aber wird es ihm teutsch für deutsch zu schreiben, weil es heiße Teutonen, da doch das lateinische T gerade der schlagendste Grund für das deutsche D in diesem Wort ist und niemand darauf verfällt, Tietrich an die Stelle von Dietrich, worin dieselbe Wurzel steckt, zu setzen. Am allermeisten in seinem Wesen fühlt er sich, wenn Sachkenntnisse ihn ermächtigen die Sprache zu bessern; er wird seiner schwindsüchtigen Frau nicht Eselsmilch, nur Eselinnenmilch zu trinken anraten, und selbst den unschuldigen Namen der Euphorbia cyparissus, Wolfsmilch, wäre er nach solcher Analogie zu berichtigen versucht, obgleich auch die Wölfin ihre Milch nicht gegeben hat, als dies Kraut erschaffen wurde. Zeichenlehrer, Rechenmeister kommen dem Pedant höchst albern vor und werden durch Zeichnenlehrer, Rechnenmeister ersetzt, als dürfte unsre Sprache irgend in eine Zusammensetzung den baren Infinitiv aufnehmen. »Am ersten Mai« zu setzen vermeidet er, es müsse heißen »am ersten des Mais«, nämlich Tage. In der Syntax sind ihm Unterschiede nahe liegender Konstruktionen zuwider, wie zwischen Wein trinken und Weines trinken, zwischen was hilft mich? und was hilft mir? dort soll bloß der Akkusativ, hier bloß der Dativ gerecht sein. Keine einzige aller europäischen Sprachen hat so ungebärdige schlecht beholfne Übertragungen technischer und grammatischer Ausdrücke hervorgebracht, vom Zeugefall, Klagefall und Ruffall an bis zur anzeigenden und bedingenden Art herab, wie sie in deutschen Büchern stehn.

Man sollte glauben, daß bei dem schönen ihr eignen Hang zu schmuckloser Einfachheit unsere Sprache vorzugsweise für Übersetzungen geschickt sei; und bis auf einen gewissen Grad gibt sie sich auch gern dazu her. Es heißt jedoch den Wert dieser unter uns allzusehr eingerissenen unersättlichen Verdeutschungen fast jedes fremden Werkes von Ruf übertreiben, wenn sogar behauptet worden ist, einzelne derselben seien so gelungen, daß sich aus ihnen der Urtext, wenn er abhanden käme, herstellen lassen würde. Ich wenigstens bekenne, keinen Begriff davon zu haben, daß selbst aus Schlegels oder Vossens Worten ein Shakespeare oder Homer auferstehen sollte, so gewaltig wie der englische und griechische in ihrer wunderbaren Schönheit. Was übersetzen auf sich habe, läßt sich mit demselben Wort, dessen Akzent ich bloß zu ändern brauche, deutlich machen: übers etzen ist übersetzen, traducere navem. Wer nun zur Seefahrt aufgelegt, ein Schiff bemannen und mit vollem Segel an das Gestade jenseits führen kann, muß dennoch landen, wo andrer Boden ist und andre Luft streicht. Wir übertragen treu, weil wir uns in alle Eigenheiten der fremden Zunge einsaugen und uns das Herz fassen sie nachzuahmen, aber allzutreu, weil sich Form und Gehalt der Wörter in zwei Sprachen niemals genau decken können und was jene gewinnt dieser einbüßt. Während also die freien Übersetzungen bloß den Gedanken erreichen wollen und die Schönheit des Gewandes daran geben, mühen sich die strengen das Gewand nachzuweben pedantisch ab und bleiben hinter dem Urtext stehn, dessen Form und Inhalt ungesucht und natürlich zusammenstimmen. Nachahmung lateinischer oder griechischer Verse zwingt uns die deutschen Worte zu drängen, auf die Gefahr hin dem Sinn Gewalt anzutun; übertragne Prosa pflegt alsogleich breiter zu geraten, wie beim Hinzuhalten des Originals in die Augen fällt. Vordem, eh die treuen Übersetzungen aufkamen, kann man beinah als Regel annehmen, daß zwei lateinische oder griechische Verse zu vier deutschen Zeilen wurden; so sehr versagte sich unsere Sprache gedrungnem, gedankenschwerem Ausdruck. Es wäre undankbar die große Wirksamkeit unumgänglicher Übersetzungen in der Geschichte unsrer Sprache, deren älteste Denkmäler geradezu darauf beruhen, herabsetzen zu wollen; ich finde daß der Gote Ulfilas, der vom Fuße des Haemus her deutschen Laut auf ewige Zeiten erschallen ließ, mit bewunderungswerter Treue und fast fessellos sich den Formen des Urtextes anschloß; aber schon die frühsten unvollendeten Versuche in hochdeutscher Mundart reichen ihm lange nicht das Wasser.

Dieser Standpunkt der deutschen Sprache gegenüber den Werken fremder Zunge fiel zu allererst ins Auge; ich will aber noch weiter ins Allgemeine vorschreiten und aus unserer Sprache selbst einzelne Züge hervorheben, die mir zugleich von der Sitte und Gewohnheit unseres Volks unzertrennbar scheinen und desto mehr zu statten kommen. Wie vermögen wir in Übersetzungen die volle Einfachheit der Alten zu erreichen, wenn uns in unsrer täglichen Ausdrucksweise unbesiegbare und fast persönliche Hindernisse im Weg stehn? Wir sind dann genötigt doppelter Sprache zu pflegen, einer für das Buch, einer andern im Leben, und können die größere Wärme des Lebens nicht unmittelbar dem Ausdruck des Buchs lassen angedeihen. Persönlich darf ich vor allem nennen, was die Bezeichnung der Person in der Rede selbst angeht.

Oft habe ich mir die Frage gestellt, wie ein Volk, das durch sein Auftreten den lebendigen Hauch der fast erstorbnen Freiheit in Europa anfachte, ein Volk dessen rohe Kraft noch frisch und ungekünstelt war, allmählich den unnatürlichsten und verschrobensten Formen der Rede verfallen konnte? Die Tatsache selbst, wie gleichgültig sie uns heute trifft, ist so ungeheuer und so vielfach mit unsrer Lebensart verwachsen, daß die Betrachtung nicht unterlassen mag darauf zurück zu lenken. Unsere Sprache verwischt den von der Natur selbst eingeprägten Unterschied der Person und der Einheit auf törichte Weise. Den Einzelnen, der uns gegenüber steht, reden wir unter die Augen nicht mit dem ihm gebührenden du an, sondern gebärden uns als sei er in zwei oder mehr Teile gespalten und müsse mit dem Pronomen der Mehrzahl angesprochen werden. Dem gemäß wird nun zwar auch das zu dem Pronomen gehörige Verbum in den Pluralis gesetzt, allein das attributive oder prädicierende Adjektivum im Singularis gelassen, einem Grundsatz der Grammatik zum Trotz, welcher gleichen Numerus für Subjekt, Prädikat und Verbum erfordert.

Zur Entschuldigung dieses unvernünftigen Gebrauchs, auf dessen Ursprung ich hernach zurück kommen werde, läßt sich allerdings anführen, daß die ganze neue Welt willig ähnliche Bürde trägt und z. B. in der französischen Sprache, deren Adjektivflexion für das Prädikat besser erhalten ist als die unsrige, jenes grammatische Gleichmaß ebenso verhöhnt wird, da es heißt vous êtes bon, vous êtes bonne, also neben dem Pluralis des Verbums der Singularis des Adjektivs eintritt. Was scheint unpassender als zu sagen: Unglücklicher, Ihr seid verloren, statt des einfachen: miser periisti! Es ist die schwüle Luft galanter Höflichkeit, in der ganz Europa seinen natürlichen Ausdruck preisgab; wir Deutschen aber sind nicht dabei stehn geblieben, sondern haben den Widersinn dadurch pedantisch gesteigert, daß wir nicht einmal die zweite Person in ihrem Recht, sondern dafür die dritte eintreten lassen, wozu wiederum das begleitende Verbum in die tertia pluralis gestellt wird, während das Adjektivum den Singularis beibehält. Also statt des ursprünglichen, allein rechtfertigen: du bist gut, verwöhnten wir uns erst: Ihr seid gut, und endlich zu sagen: Sie sind gut, gleichsam als sei eine dritte, gar nicht anwesende und nicht die angeredete Person gemeint. Welche Zweideutigkeiten aus dieser Verstellung der Formen allenthalben hervorgehn können, welche Verwirrung des Possessivums verursacht wird, da die Pluralform aller Geschlechter der weiblichen des Singularis begegnet, leuchtet von selbst ein. Nur das habe ich beizufügen, daß die dritte statt der zweiten Person im Pluralis gerade eine beklagenswerte Eigenheit der herrschenden hochdeutschen Mundart ist, indem die übrigen bis auf geringe Anflüge des Verderbnisses wenigstens die zweite Person in ihrem natürlichen Recht ungekränkt lassen.

Ein kleiner oder großer Trost, zugleich die volle Verurteilung des Mißbrauchs, bleibt uns der, daß die alles läuternde und gern lauter in sich aufnehmende Poesie fortwährend den Gebrauch des herzlichen einfachen du in der Anrede geheiligt, ja verlangt hat, und könnte uns von irgendher eine Rückkehr zu dem Weg der Natur gezeigt werden, so müßte es durch sie geschehn. Auch bedient sich noch heute die zutrauliche, jener falschen Zier müde Rede und sogar die feierliche Anrufung Gottes des edeln du, das der alte Franke ebenso festgemut seinem Könige zurief, wenn er ein: heil wis chuninc! heil dû herro, liobo truhtîn, edil Franko! erschallen ließ.

Es darf als bekannt vorausgesetzt werden, daß fast alle heutigen Sprachen, und schon einige der älteren, sich des Artikels bedienen, der ursprünglich, wie sein Name andeutet, die Wirkung eines Gelenkes hat, das die Demonstration des einen mit der Relation eines andern Satzes verbindet. Er sollte die Begriffe und noch nicht die Flexion bestimmen helfen. Als sich aber diese in den neueren Sprachen abzustumpfen begann, pflegte sie ihn gleichsam zu ihrem Beistande heranzurufen, und wie zugezogne Hilfsvölker sich der Festung, die sie bloß mitwehren sollten, endlich selbst bemeistern, geschah es, daß der Artikel allmählich für die erlöschende oder erloschne Flexion unentbehrlich wurde, wenn er auch, näher angesehn, niemals ganz in ihren Begriff überging.

Die romanische Sprache schlug aber hier einen von der deutschen verschiedenen und, wie mich dünkt, glücklicheren Weg ein. Sie erkor sich zum Artikel nicht das erste, strengere Demonstrativum, sondern mit vorteilhaftem Griff das zweite, gelindere. Der romanische Artikel stammt aus dem lateinischen »ille, illa«, dessen liquider Laut jeder Verwandlung und Verschmelzung der Form außerordentlich günstig war. Der deutsche gleich dem griechischen Artikel besitzt dagegen den eigentlich demonstrativen stummen Linguallaut, der schon an sich unfügsamer als jene Liquida erscheinen mußte. Während nun im Romanischen das gelenke, sich leicht an die Präpositionen »a« und »de« schmiegende »l« durch die Bank wohllautige und gedrungne Formen zeugte, welche den untergegangnen Casus umschreiben und das alte Suffix der Flexion durch ein neues Präfix ersetzen halfen, blieb der deutsche Artikel meistenteils unbeholfen. Aus seinem »d«, wenn es sich frühzeitig zur Anlehnung und Elision dargegeben hätte, wäre noch Vorteil zu ziehen gewesen; allein der pedantische Hang zu voller deutlicher Form widerstrebte, und es sind eigensinnig nur ausnahmsweise die Formen: »am, im, zum, beim, zur« für: »an dem, in dem, zu dem, bei dem, zu der« verstattet geblieben, da doch die ältere Sprache noch einige mehr, wie »zen« für »ze den« zulässig fand, was sich unbedenklich in die heutige Gestalt »zun« hätte wandeln mögen; warum wäre nicht »ar« für »an der«, gleich dem »zur«, und anderes mehr willkommen gewesen? Die althochdeutschen und mittelhochdeutschen Dichter hatten noch einige günstige Anlehnungen des gekürzten Artikels an die Präpositionen eingeführt, mochte der Artikel von diesen selbst abhängen oder einem zwischentretenden Genitiv gehören; wie »zes« für »ze des«, »enents« für »enent des, jenseit des«, welchen allen die jüngere Sprache überbedächtig wieder entsagte; das sind keine geringen Dinge, vielmehr solche, die unmittelbar jeden Satz behend oder schleppend machen können. Man halte unserm deutschen »der Mann, des Mannes, dem Manne« das ital. »luomo, de luomo, a luomo«, oder das franz. »lhomme, de lhomme, à lhomme« entgegen; wir haben hier sogar voraus, daß unsere Flexion noch zureicht und uns keine Präposition zu helfen braucht. Der Romane hat diese nicht gescheut, sondern in seinen Gewinn verwandt, und »del, al«, die genau übersetzt »von dem, zu dem« enthalten, sind ihm zu Wohllaut und deutlicher Kürze ausgeschlagen. Ich gebe immer noch nicht die ehrwürdigen Überreste unserer uralten Flexion dafür hin, aber diese hätten wir weit mehr zu unserm Nutzen handhaben können.

Ist unsere heutige Nominalflexion abgewichen von ihrer ehmaligen Fülle und Bedeutung, so hat sich dagegen die herrliche und dauerhafte Natur des deutschen Verbums fast nicht verwüsten lassen, und von ihr gehn unzerstörbar Klang und Klarheit in unsere Sprache ein. Die Grammatiker, welche ihre Sprachkunde auf der Oberfläche, nicht in der Tiefe schöpften, haben zwar alles getan, um den Ablaut, der die edelste Regel deutscher Conjugation bildet, als Ausnahme, die unvollkommene Flexion als Regel darzustellen, so daß dieser der Rang und das Recht zustehe jene allmählich einzuschränken, wo nicht gar aufzuheben. Fühlt man aber nicht, daß es schöner und deutscher klinge zu sagen: buk, wob, boll (früher noch besser wab, ball) als: backte, webte, bellte, und daß zu jener Form die Participia: gebacken, gewoben, gebollen stimmen? Im Gesetze des Ablauts gewahre ich den ewig schaffenden wachsamen Sprachgeist, der aus einer anfänglich nur phonetisch wirksamen Regel mit dem heilsamsten Wurf eine neue dynamische Gewalt entfaltete, die unserer Sprache reizenden Wechsel der Laute und Formen zuführte. Es ist sicher alles daran gelegen ihn zu behaupten und fortwährend schalten zu lassen.

Mit dem Ablaut eng zusammen steht ein anderes Gesetz von geringem Umfang, doch in das höchste Altertum aufreichend. Gleich der lateinischen und zumal griechischen besitzt unsere Sprache gewisse Verba, deren Form Vergangenheit, deren Begriff Gegenwart ausdrückt, weil in ihnen das Gegenwärtige unmittelbar auf das Vergangne gegründet, so zu sagen, aus ihm erworben ist. Wenn es heißt: ich weiß, so gibt diese Form ein Präteritum kund, am sichtbarsten dadurch, daß die dritte Person den Ausgang »t« nicht annimmt, der zur Form des Präsens erfordert wird, wie umgekehrt alle Präterita ihn nicht haben. Ich weiß, will eigentlich sagen: ich habe gesehn, und entspricht dem lat. vidi, griech. ???οίδα, wie wissen dem lat. videre, griech. ίδεϊν. Auf solche Weise läßt sich die allmählich sehr beschränkte Zahl anderer Wörter dieser Klasse gleichfalls auslegen, und da sie fast alle aushelfen, d. h. die meisten Auxiliaria hergeben, folglich in der Rede oft wiederkehren, so verleihen sie, abgesehen von ihrer sinnigen Gestalt, dem Ausdruck wiederum angenehmen Wechsel. Sie sind als wahre Perlen der Sprache zu betrachten, und der Verlust eines einzigen von ihnen zieht empfindlichen Schaden nach sich. Nun sind aber, wie ich sagte, mehrere von ihnen heute ganz aufgegeben, andere in ihrer Eigenheit angetastet worden. Dahin gehört z. B. das Wort taugen, welches der älteren Sprache gemäß flektieren sollte: taug, taugst, taug, und im Grunde aussagt: ich habe mich geltend gemacht, dargetan, daß ich vermag. Noch Opitz, Christian Weise und manche Spätere schreiben das richtige »taug«, nicht »taugt«, auf welches sich unmittelbar anwenden läßt, daß es ein Taugnichts sei, wenn schon ein ziemlich alter, da ihn bereits einzelne Schreiber des vierzehnten Jahrhunderts einschwärzen. Den Sprachpedanten war aber taug mit seinem der Verdichtung entgangnen Diphthong ein Greuel, wie ihnen darf, mag und soll unbegreiflich sind, und sie haben wirklich ihr taugt, etwa nach der Analogie von brauchen braucht, saugen saugt, durchgesetzt, wie man auch bei den sonst aufgeweckten Schwaben zu hören bekommt: er weißt, statt: er weiß, oder uns allen »gönnt« das edlere »gan« verdrängt hat.

Kaum in einem andern Teil unsrer Grammatik würde was ich hier tadle greller vortreten, als in der Syntax, und Beispiele liegen auf der Hand. Es sei bloß erinnert an das lästige Häufen der Hilfswörter, wenn Passivum, Präteritum und Futurum umschrieben werden, an das noch peinlichere Trennen des Hilfsworts vom dazu gehörigen Participium, was französischen Hörern den verzweifelnden Ausruf »j'attends le verbe« abnötigt. Solch eine Scheidewand, wäre es bloß tunlich sie zu ziehen, nicht notwendig, könnte der Rede Abwechslung verleihen; daß sie fast nirgends unterbleibt, bringt den Ausdruck um Raschheit und Frische. Noch empfindlicher ist mir die aufgegebne alte einfache Negation, der in unserer früheren Sprache ihr natürlicher Platz unmittelbar vor dem Verbum zustand, das verneint werden soll. Anstatt des got. »ni ist«, ahd. »nist«, mhd. »en ist«, haben wir ein »ist nicht«, d. h. dies »nicht« aus einer hinzutretenden bloßen, eigentlich nihil aussagenden, Verstärkung zur förmlichen Negation erhoben, die in den meisten Fällen dem Verbum nachschleift. Schwerlich konnte der Sprache etwas Ungelegneres widerfahren, da die behende fließende Partikel schwand und durch eine mit ihr selbst schon zusammengesetzte gröbere ersetzt wurde, die nicht länger im Stand war, da wo sie in der Rede erwartet werden muß, zu erscheinen. Der gestiftete Schade leuchtet ein, sobald wir die alte Ausdrucksweise zur neuen halten, das got. ni karôs ist: ne cures, ahd. ni churi, statt unsers: weine nicht, sorge nicht; wie kurz ist das ahd. ni ruochat, mhd. en ruochet, lat. nolite: sorget nicht, wo wir den Eindruck der Verneinung immer erst hinten fühlbar werden lassen. Auf die Frage, bist du hie? folgt mhd. die Antwort: ich en bin; heute muß sie lauten: ich bin nicht hier, weil wir antwortend zugleich das Adverb des Fragenden zu wiederholen pflegen; für acht jetzt fünfzehn Buchstaben, statt des leichtrollenden Bluts trägeren Pulsschlag. Kurz über dem pedantischen Hervorholen eines, sparsam angewendet, die Verneinung stärkenden Worts ist uns die einfache, fast allen andern Sprachen zu Gebot stehende Negation wie ein Vogel aus dem Käfig entflogen, und wir haben nur das Nachsehn. Es wird aber fruchten von diesen aus Flexion und Syntax geschöpften Beispielen fortzuschreiten zu solchen, die bei der Wortbildung aufgesucht werden können, wo sich die Praxis der deutschen Sprache im Verhältnis zu benachbarten fremden noch deutlicher kund tut.

Man hat im Überschwang den Reichtum und die Überlegenheit unsrer Sprache hervorgehoben, wenn von dem mannigfalten Ausdruck ihrer Wortableitungen und Zusammensetzungen die Rede ist. Ich vermag lange nicht in dies Lob einzustimmen, sondern muß oft unsere Armut in Ableitungsmitteln, unsern Mißbrauch im Zusammensetzen beklagen.

Eine Menge unserer einfachsten und schönsten Ableitungen ist verloren gegangen, oder sieht sich so eingeschränkt, daß die Analogie ihrer Fortbildung beinahe versiegt. Einige fremde völlig undeutsche Bildungen haben dagegen unmäßig gewuchert, das ist ein deutliches Zeichen für den Abgang eigner, deren Stelle jene vertreten. Ich wüßte kein gelegneres Beispiel zu wählen als das der zahllosen Verba auf »ieren«, die von den Regierenden oben bis zu den buchstabierenden und liniierenden Schülern hinab wie Schlingkram den ebnen Boden unsrer Rede überziehen. Eine nähere wegen ihres Ursprungs gepflogne Untersuchung mag hier als Exkurs oder Auslauf vorgelegt werden; sie liefert ungefähr hundert (jetzt hundert und sechzig) mhd. Wörter dieser Art und leicht mögen ihrer noch zwanzig zugefügt werden können; es ergibt sich, daß man vor der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts nicht das geringste in Deutschland von dergleichen Wörtern wußte und daß sie erst mit der höfischen, auf romanische Quelle hingewiesnen Poesie eingebracht, man muß aber gestehn, recht pedantisch eingebracht worden. Denn bei Entlehnung fremder Wörter versteht sich doch von selbst, daß man sich bloß des Wortes zu bemächtigen suche und seine fremde Flexion fahren lasse. Das »r« war nun hier bare romanische Form des lateinischen Infinitivs, die außer ihm in jedem andern Modus alsbald verschwindet, und es muß als die rohste Auffassung ausländischer Wortgestaltung angesehn werden, daß der Deutsche in seine Nachahmung das infinitivische Zeichen aufnahm und charakteristisch überall bestehen ließ, sein eignes Zeichen aber noch dazu anhängte: außer dem Fleisch des genossenen Apfels ließ er sich auch den Griebs dazu wohl schmecken. Daß durch solche Wörter manche vollautende Formen (alarmieren, strangulieren) in unsere Sprache geraten sind, ist unleugbar, aber sie stimmen nicht mit ihrer fremdartigen Betonung zu unsern Wörtern und führen Steifheit mit sich. Wie viel taktvoller zu Werk ging die romanische Sprache, als sie sich ihrerseits einige deutsche Verba, wenn auch nur sparsam, anzueignen bewogen fand, z. B. das ital. albergare, franz. herberger nach unserm herbergen, ahd. heribergon bildete oder noch früher ihr guardare garder aus unserm warten. Hätte sie hier nach Analogie von parlieren charmieren verfahren, so wäre ein alberganare herbergener, ein guardanare gardener entsprungen. Meine Ausführung zeigt, daß -ieren seiner fremden Art gemäß eigentlich nur fremden, lateinisch-romanischen Wörtern zustehen konnte; als es aber einmal bei uns warm geworden war, versuchte man es auch an deutsche Stämme zu hängen, und ihm deutsche Partikeln voran zu schicken. Wie verschieden sich die ahd. und nhd. Sprache benahm, wenn lateinische Wörter deutsch gemacht werden sollten, kann das Beispiel von schreiben ahd. scrîban lehren, das man frühe aus scribere bildete, während später conscribere und rescribere sich in conscribieren rescribieren verdrehte. Dort verfuhr man natürlich und sprachgemäß, hier widernatürlich und pedantisch.

Die Leichtigkeit des Zusammensetzens im Deutschen hat man ohne hinreichenden Grund zu der Fülle griechischer Zusammensetzungen gehalten. Schlechte ungebärdige Zusammensetzungen leimen ist keine besondere Kunst, in tüchtigen müssen die einzelnen Wörter besser gelötet und aneinander geschweißt sein. Eine echte Zusammensetzung ist erst dann vorhanden, wenn sich zwei Wörter gesellen, die los und ungebunden im Satz nicht nebeneinander stehn würden; wir Deutschen haben aber eine Unzahl sogenannter Composita, die für sich konstruierte Wörter bloß etwas enger aneinander schieben und dadurch nur steifer und unbeholfner machen; die Wörter fangen zuletzt gleichsam selbst an sich für zusammengefügt zu halten und wollen nicht mehr getrennt auftreten. So hat sich in Eigennamen ein vorangestellter Genitiv nach und nach fester angeschlossen und läßt sich nicht mehr verrücken. Königsberg, Frankfurt war ursprünglich Königs Berg, Franchono Furt, wo die Franken eine Furt durch den Main gefunden hatten; aus Franken Furt entstellte man zuletzt das unverständliche Frankfurt. Verba wie aufnehmen, wiedergeben, niederschreiben sind ebensowenig wahre Composita, was sich augenblicklich bei der Umstellung: ich nehme auf, gebe wieder, schreibe nieder zeigt. Erst dann entspringt hier Zusammensetzung, wenn die Partikel untrennbar geworden ist, wie in jenem übersetzen: vertere, während übersétzen: traducere, trennbar bleibt.

Solcher Zusammenschiebung ungemeine Tunlichkeit im Deutschen verführt ohne alle Not nichtssagende Wörter zu häufen und den Begriff des einfachen Ausdrucks nur dadurch zu schwächen. Wenn hier in Berlin jemand hingerichtet worden ist, liest man an den Straßenecken eine »Warnungsanzeige« angeheftet. Nun will warnen sagen: Gefahr weisen, an Gefahr mahnen; in jener Zusammensetzung steckt also unnützer Pleonasmus, der bald wie avertissement d' avertissement lautet, das ital. avvertimento bedeutet Warnung und Anzeige. Ein bloßes Warnung oder Verwarnung wäre nicht allein sprachgemäßer, sondern auch kräftiger, so kräftigen Stil die blutige Bekanntmachung auch ohne Rücksicht auf die gebrauchten Worte an sich redet.

Wo andere Sprachen einzelne Wörter aneinander reihen, pflegen sie häufig zu kürzen und das einleuchtendste Beispiel liefern uns Zahlwörter; es ist lästig was man jeden Augenblick im Munde hat in ganzer Breite aufzusagen. Wie günstig unterscheidet sich das französische treize, quatorze, quinze, seize von unserm dreizehn, vierzehn, fünfzehn, sechzehn; zum Glück haben wir mindestens eilf und zwölf seit der ältesten Zeit verengt, und daß unser hundert die allerstärkste Stümmlung voraussetzt, ahnen die wenigsten: es ging hervor aus taihuntaihund, wie das lat. centum aus decemdecentum usw. Die Pedanten, welche kaum achzehn, sechzehn, siebzehn in achtzehn, sechszehn, siebenzehn berichtigt haben, werden erschrecken zu hören, wie viel ihnen hier zu tun übrig bleibt.

Man sollte meinen eine ganze Zahl deutscher Zusammensetzungen seien bloß aus Trägheit entsprungen oder in der Verlegenheit, für einen neuen, ungewohnten Begriff den rechten Ausdruck zu finden. Da wo unsere alte Sprache einfache Namen hatte, suchte die neuere immer ihre gröberen Zusammensetzungen unterzuschieben, wie z. B. die deutschen Monatsnamen lehren, und schon Karl der Große stellte mit seinen Vorschlägen kein Meisterstück auf. Die Composition ist alsdann schön und vorteilhaft, wenn zwei verschiedne Begriffe kühn gleichsam in ein Bild gebracht werden, nicht aber, wenn ein völlig gangbarer einfacher Begriff in zwei Wörter verschleppt wird. Unser himmelblau oder engelrein ist allerdings schöner als das französische bleu comme le ciel, pur comme un ange; aber ich stehe ebensowenig an, dem lat. malus, pomus, dem franz. pommier den Vorzug zu geben vor unserm Apfelbaum. Denn mit der belebteren Vorstellung eines Baums, woran Äpfel hangen, ist uns in den meisten Fällen gar nicht gedient, und jedermann wird es passender finden, daß wir Eiche sagen und nicht auch etwa Eichelbaum. Die Vergleichung anderer Sprachen lehrt, daß jeder Obstbaum von seinem Obst füglicher durch bloße Ableitung als durch Zusammensetzung unterschieden werde. Aber auch für abstrakte Begriffe ist die abgeleitete Form vorzüglicher als die zusammengesetzte, z. B. das franz. maladie von malade besser als unser Krankheit, welches eigentlich ordo oder status aegroti ausdrückt. Deutschland pflegt einen Schwarm von Puristen zu erzeugen, die sich gleich Fliegen an den Rand unsrer Sprache setzen und mit dünnen Fühlhörnern sie betasten. Ginge es ihnen nach, die nichts von der Sprache gelernt haben und am wenigsten die Kraft und Keuschheit ihrer alten Ableitungen kennen, so würde unsre Rede bald von schauderhaften Zusammensetzungen für einfache und natürliche fremde Wörter wimmeln; das wohllautende Omnibus muß ihnen jetzt unerträglich scheinen, und statt auf die nahliegende Verdeutschung durch den Dativ Pluralis »allen« zu geraten, wird ein steifstelliges Allwagen, Gemeinwagen, Allheitfuhrwerk oder was weiß ich sonst für ein geradbrechtes Wort vorgefahren werden. Selbst der Ausdruck, dessen ich hier nicht entraten kann, ich meine das Wort Zusammensetzung, ist schlecht geschmiedet und aus dem losen zi samana sezzunga entsprungen. Welcher Franzose würde »ensembleposition« dem natürlichen »composition« vorziehen? Genug hiervon ist gesagt, um allen, die meines Glaubens sind, Enthaltsamkeit im Anwenden der Zusammensetzungen und Eifer für den erneuten Gebrauch guter und alter Derivative anzuempfehlen.

 

Die Sprache gleich allem Natürlichen und Sittlichen ist ein unvermerktes, unbewußtes Geheimnis, welches sich in der Jugend einpflanzt und unsere Sprechwerkzeuge für die eigentümlichen vaterländischen Töne, Biegungen, Wendungen, Härten oder Weichen bestimmt; auf diesem Eindruck beruht jenes unvertilgliche, sehnsüchtige Gefühl, das jeden Menschen befällt, dem in der Fremde seine Sprache und Mundart zu Ohren schallt; zugleich beruhet darauf die Unlernbarkeit einer ausländischen Sprache, d. h. ihrer innigen und völligen Übung. Wer könnte nun glauben, daß ein so tief angelegter, nach dem natürlichen Gesetze weiser Sparsamkeit aufstrebender Wachstum durch die abgezogenen, matten und mißgegriffenen Regeln der Sprachmeister gelenkt oder gefördert würde, und wer betrübt sich nicht über unkindliche Kinder und Jünglinge, die rein und gebildet reden, aber im Alter kein Heimweh nach ihrer Jugend fühlen. Frage man einen wahren Dichter, der über Stoff, Geist und Regel der Sprache gewiß ganz anders zu gebieten weiß, als Grammatiker und Wörterbuchmacher zusammengenommen, was er aus Adelung gelernt habe und ob er ihn nachgeschlagen? Vor sechshundert Jahren hat jeder gemeine Bauer Vollkommenheiten und Feinheiten der deutschen Sprache gewußt, d. h. täglich ausgeübt, von denen sich die besten heutigen Sprachlehrer nichts mehr träumen lassen; in den Dichtungen eines Wolfram von Eschenbach, eines Hartmann von Aue, die weder von Deklination noch von Konjugation je gehört haben, vielleicht nicht einmal lesen und schreiben konnten, sind noch Unterschiede beim Substantivum und Verbum mit solcher Reinlichkeit und Sicherheit in der Biegung und Setzung befolgt, die wir erst nach und nach auf gelehrtem Wege wieder entdecken müssen, aber nimmer zurückführen dürfen, denn die Sprache geht ihren unabänderlichen Gang.

 

Zwischen Recht und Sprache waltet eine eingreifende Analogie. Das gemeinschaftliche Wesen beider setze ich darin, daß sie zugleich alt und jung. Sie beruhen auf einem alten undurchdringlichen Grund und auf dem Trieb, sich ohne Aufhören neu zu erfrischen und wiederzugebären. Dieses Neue hängt aber fest zusammen mit dem Alten, und ebensowenig könnte das Alte in seiner anfänglichen oder früheren Gestalt verharren, als das Neue von vornen herein aus eigner Kraft errichtet werden. Sprache und Recht haben eine Geschichte, d. h. es besteht zwischen ihnen ein Band, welches Altertum und Gegenwart, Notwendigkeit und Freiheit mit einander verschmilzt. Wer bloß die Forderungen der Gegenwart stillen möchte, ohne auf die Vergangenheit zu hören, der vergibt gerade dem Rechte der Gegenwart, indem er die Zukunft ermächtigt, dereinst ebenso mit ihm zu verfahren. Wer dagegen starr die Vergangenheit festzuhalten sucht, der entzieht auf das seltsamste der Gegenwart, was dieser die Zukunft ja wieder zuerkennen müßte, und haut den Ast, auf dem er selbst fußt, törichterweise ab. Unsere Sprache ist althergebracht, von unsern Vorfahren auf uns vererbt, und wir vermögen sie fortzubilden, zu verfeinern, nicht aber aus eigner Machtvollkommenheit in ihren Fundamenten zu erschüttern. Das Recht hat zu seiner Unterlage die Sitte, d. h. Herkommen und Landgebrauch. Sitte und Sprache sind aber nicht unvernünftig, sondern es ist ihnen, kann man sagen, Vernunft angeboren, weil sich in beiden ein geheimnisvoller Ursprung mit den unaufhörlichen Einwirkungen der menschlichen Freiheit vereinbart.

 

Vielfach angeregt worden ist die Frage, in wie weit unsere Sprache reingehalten und gereinigt werden müsse? Eben hierüber läßt sich ratschlagen und durch gemeinsame Besprechung ermitteln, was der Einzelne für sich allein kaum zu beschließen wagt; orthographischer Fortschritt, dessen Notwendigkeit jedermann absieht, wird allein auf diesem Wege vor dem Vorwurf unüberlegter und störender Neuerung zu schützen sein. Mir scheint, daß keine Reinigung gewaltsam geschehen dürfe, daß man den aus alten und benachbarten neuen Sprachen zu uns dringenden Wörtern gar nicht ihren Eingang wehren könne, wohl aber sich besinnen müsse, alsogleich einem jeden derselben Sitz und Stimme in unserer Wohnung einzuräumen. An eines solchen fremden Wortes Stelle würde mancher schönere, unserer Sprache zusagendere Ausdruck aus ihrem eignen Vorrat geschöpft oder geschaffen werden können, und der glücklichen Eingebung des Dichters ist es verliehen seiner im rechten Augenblick des Bedarfs habhaft zu werden; er läßt sich nicht kalt ausprägen, nüchterne Wortbildungen haben unserer Sprache größeren Schaden gebracht als Nutzen. Sünde ist es fremde Wörter anzuwenden da wo deutsche gleich gute und sogar bessere vorhanden sind, aus unverantwortlicher Unkenntnis des gültigsten einheimischen Sprachgebrauchs. Soll ich mich kurz aussprechen: unsere Sprache muß viel mehr rein gehalten und erkannt, als willkürlich gereinigt und unbefugt erweitert werden. Aber die meisten erkennen sie nicht in ihrer ganzen Tugend.

 

Gegen die Puristen, wie sie heutigestags unter uns aufgetreten sind, wird sich jeder erklären, der einen richtigen Blick in die Natur der deutschen Sprache getan hat. Sie wollen nicht nur alles Fremde bis auf die letzte Faser aus ihr gestoßen wissen, sondern sie überdem durch die gewaltsamsten Mittel wohllautender, kräftiger und reicher machen. Die Gesinnung, welcher das Abwerfen des verhaßten Fremden recht ist und an sich selbst möglich scheint, verdient unbedenklich geehrt und gehegt zu werden, nur sollte man sich bescheiden, daß schon zur Ausmittelung der seit allen Zeiten eingeschlichenen undeutschen Wörter eine tiefe Forschung vorhergehen müßte, wenn auch die noch jetzt tunliche Entfernung derselben eingeräumt werden könnte. Sodann muß mit Dank und Vertrauen anerkannt werden, wie die edle Natur unserer Sprache seit fünfzig Jahren so manches Unkraut ganz von selbst ausgejätet hat, und dies allein ist der rechte Weg, auf dem es geschehen soll; ihr sind alle Gewächse und Wurzeln in ihrem Garten aus der langen Pflege her bekannt und lieb, – eine fremde Hand, die sich darein mischen wollte, würde plump mehr gute Kräuter zerdrücken und mitreißen, als schädliche ausrotten oder würde mit stiefmütterlicher Vorliebe gewisse Pflanzen hervorziehen und andere versäumen. (Abstrakte Wörter, d. h. Geistigwerdung sinnlicher Wurzeln, entspringen nur mit den Ideen selbst. Nimmt eine Sprache fremde Wörter auf, so zeigt sie entweder daß sie noch unreif für die damit verbundenen Begriffe ist, oder daß ihr diese unnationell, unanständig sind. So erscheint als ein Vorteil, daß man die französische Hof- und Galanteriesprache bei ihren Wörtern gelassen; wären sie übersetzt worden, so müßte der Deutsche außer der Sache auch die Wörter übel empfinden. Der Gebrauch lateinischer Wörter in Wissenschaft und Philosophie erscheint auch nicht gerade ungünstig, vielmehr mag das Still- und gleichsam Brachliegen der deutschen Sprache durch lange Zeiten hindurch der darauf gefolgten Fruchtbarkeit und Frische nützlich geworden sein. Mit dem, wozu man sie wirklich brauche, gehen auch die neuen Wörter auf.) Der Geist aber, welcher gewaltet hat, wird auch ins Künftige fühlen, wie viel des Fremden bleiben könne oder dürfe und wo die Zeit erscheine, da das noch Anstößige am besten abgelegt werde, wenn wir nur selbst Herz und Sinn, was die Hauptsumme ist, der das übrige nachfolgt, unserm Vaterland getreu bewahren. Der andere Grundsatz neuer Sprachreinigung, durch Ausscheidung einzelner Buchstaben und Umlaute, so wie durch gezerrte Vervielfachung gewisser Bildungsmittel Wohllaut und Wortreichtum zu vermehren, scheint mir aufs höchste verwerflich. Wollte man ihm Raum geben, so würde unsere mit Ehren zum Mannesalter heranreifende Sprache, der die früheren vollen Formen jetzt nicht mehr anstehen, einer verlebten Schönheit gleichen, die sich durch falsche Künste jugendlich, durch Flitterstaat ansehnlich machen möchte, und in welcher bald unser eigenes Bild nicht mehr zu erkennen wäre. Diese Sprachkünstler scheinen nicht zu fühlen, daß es kaum eine Regel gibt, die sich steif überall durchführen läßt; jedes Wort hat seine Geschichte und lebt sein eigenes Leben, es gilt daher gar kein sicherer Schluß von den Biegungen und Entfaltungen des einen auf die des andern, sondern erst das, was der Gebrauch in beiden gemeinschaftlich anerkennt, darf von der Grammatik angenommen werden. Es ist ein großes Gesetz der Natur, das auch in der Sprache Anomalien und Mängel neben den uns erkennbaren Regeln bestehen lassen will, ja es wäre ohne dieses keine Verschiedenheit und Besonderheit der aus einem Quell geflossenen Mundarten denkbar, wogegen die vollständige gleichartige Entwicklung aller Wurzeln, wie jeder unmäßige Reichtum, wieder arm machen würde. Auf jeden Fall ist soviel einleuchtend, wenn man beabsichtigte, das Gebiet der jetzt vorhandenen Wörter und Formen zu erweitern, daß die gründlichste, durchdringendste Kenntnis aller Eigenschaften und Triebe der Sprache vorausgesetzt werden müßte, um die vermeintlichen Lücken und Schwächen von nicht bloß einer Seite zu beleuchten und die vorgeschlagene Ergänzung oder Besserung vernünftig zu berechnen. Was aber bisher zur Frage gebracht worden ist, scheint mir dürftig aus dem bloßen heutigen Bestand, vollends ohne alle eingehende Berücksichtigung der früheren Grundlagen hergegriffen, und man kann sich selten dabei der Bedenklichkeit erwehren, warum gerade ein oder einige Gegenstände und nicht ebensogut viele andere angeregt werden sollen. Hunderte solcher neuen, ungetauften Wörter in Scharen zusammentreiben, ist keine besondere Kunst, nach weniger Zeit wären die Wörterbücher zwar um tausende reicher, aber der Verlust von zehn Wurzeln und Formen, die wir vor Zeiten wirklich einmal besessen, könnte durch den unwillkommenen Zuwachs nimmermehr ausgeglichen werden. Die Sprache hat mancherlei Schaden erlitten und muß ihn tragen. Die wahre, allein zuträgliche Ausgleichung steht in der Macht des unermüdlich schaffenden Sprachgeistes, der wie ein nistender Vogel wieder von neuem brütet, nachdem ihm die Eier weggetan worden; sein unsichtbares Walten vernehmen aber Dichter und Schriftsteller in der Begeisterung und Bewegung durch ihr Gefühl.

 

In unsern Tagen, und wer frohlockt nicht darüber? wird lebhaft gefühlt, daß alle übrigen Güter schal seien, wenn ihnen nicht die Freiheit und Größe des Vaterlands im Hintergrund liege. Was aber helfen die edelsten Rechte dem, der sie nicht handhaben kann? Kaum ein anderes höheres Recht geben mag es als das, kraft welches wir Deutsche sind, als die uns angeerbte Sprache, in deren volle Gewähr und reichen Schmuck wir erst eingesetzt werden, sobald wir sie erforschen, reinhalten und ausbilden. Zur schmählichen Fessel gereicht es ihr, wenn sie ihre eigensten und besten Wörter hintan setzt und nicht wieder abzustreifen sucht, was ihr pedantische Barbarei aufbürdete; man klagt über die fremden Ausdrücke, deren Einmengen unsere Sprache schändet, dann werden sie wie Flocken zerstieben, wann Deutschland sich selbst erkennend, stolz alles großen Heils bewußt sein wird, das ihm aus seiner Sprache hervorgeht. Wie es sich mit dieser Sprache im guten und schlimmen bisher angelassen habe, ihr wohnt noch frische und frohe Aussicht bei, daß ihre letzten Geschicke lange noch unerfüllt sind und unter den übrigen Mitbewerbern wir auch eine Braut davon tragen sollen. Dann werden neue Wellen über alten Schaden strömen.

 

Wer aber kann der Zukunft heimliche Wege alle spähen? Einer großen Weltordnung angemessen war, daß im Lauf der Zeit dichte Wälder wichen vor rankenden Reben und mehltragenden Halmen, die beim Anbau des Erdbodens immer breitere Strecken einnahmen; so auch scheinen unter auseinander gelaufenen, im weiten Raum zerarbeiteten, später sich wieder berührenden Sprachen endlich nur solche des Feldes Meister zu werden, die nährende Geistesfrucht gebracht und geboren hatten.

Nicht starr und ewig wirkendem Naturgesetz, wie des Lichts und der Schwere, anheim gefallen waren die Sprachen, sondern menschlicher Freiheit in die warme Hand gegeben, sowohl durch blühende Kraft der Völker gefördert als durch deren Barbarei niedergehalten, bald fröhlich gedeihend, bald in langer, magerer Brache stockend. Nur insofern überhaupt unser Geschlecht am Widerstreit des Freien und Notwendigen unausweichlichen Einflüssen einer außerhalb ihm selbst waltenden Macht unterliegt, werden auch in der menschlichen Sprache Vibration, Abdämpfung oder Gravitation dürfen gewahrt werden.

Wohin uns aber ihre Geschichte den Blick auftut, erscheinen lebendige Regungen, fester Halt und weiches, nachgiebiges Gelenk, unablässiges Recken und Falten der Flügel, ungestillter Wechsel, der noch nie zum letzten Abschluß gelangen ließ; alles verbürgt uns, daß die Sprache Werk und Tat der Menschen ist, Tugenden und Mängel unserer Natur an sich trägt. Ihre Gleichförmigkeit wäre undenkbar, da dem neu Hinzutretenden und Nachwachsenden ein Spielraum offen stehen mußte, dessen nur das ruhig Fortbestehende nicht bedarf. Im langen, unabsehbaren Gebrauch sind die Wörter zwar gefestigt und geglättet, aber auch vernutzt und abgegriffen worden oder durch die Gewalt zufälliger Ereignisse verloren gegangen. Wie die Blätter vom Baume fallen sie von ihrem Stamm zu Boden, und werden von neuen Bildungen überwachsen und verdrängt: die ihren Stand behaupteten, haben so oft Farbe und Bedeutung gewechselt, daß sie kaum mehr zu erkennen sind. Für die meisten Einbußen und Verluste pflegt aber beinahe auf der Stelle und von selbst sich Ersatz und Ausgleichung darzubieten. Das ist das stille Auge jenes hütenden Sprachgeistes, der ihr alle Wunden über Nacht heilt und schnell vernarben läßt, alle ihre Angelegenheiten ordnet und vor Verwirrung bewahrt, nur daß er einzelnen Sprachen seine höchste Gunst, andern geringere erwiesen hat. Das ist auch, wenn man will, eine Naturgrundkraft, die aus den uns angebornen, eingepflanzten Urlauten unerschöpflich hervorquillt, dem menschlichen Sprachbau sich vermählt, jede Sprache in ihre Arme schließt. Doch jenes Lautvermögen steht zum Sprachvermögen wie der Leib zur Seele, welche das Mittelalter treffend die Herrin, den Leib den Kämmerer nannte.

Von allem, was die Menschen erfunden und ausgedacht, bei sich gehegt und einander überliefert, was sie im Verein mit der in sie gelegten und geschaffenen Natur hervor gebracht haben, scheint die Sprache das größte, edelste und unentbehrlichste Besitztum. Unmittelbar aus dem menschlichen Denken empor gestiegen, sich ihm anschmiegend, mit ihm Schritt haltend, ist sie allgemeines Gut und Erbe geworden aller Menschen, das sich keinem versagt, dessen sie gleich der Luft zum Atmen nicht entraten könnten.


 << zurück weiter >>