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Die schwarze Dorfsuse.

Gemütlich saß der Pfarrer Althof eines Sonntagnachmittags unter einem alten schattigen Kastanienbaume mit den Seinen beim Kaffee und scherzte und plauderte heiter mit der ihn umgebenden Jugend. Er war ein Mann in den vierziger Jahren, unverheiratet; seine jüngere Schwester Mathilde führte ihm den Haushalt musterhaft. Wohl an die zwanzig Jahre waltete er schon hier in dem stillen Thüringer Dörfchen als treuer Seelsorger seines Amtes. Wegen seines menschenfreundlichen Charakters und seiner großen Pflichttreue erfreute er sich der aufrichtigsten Liebe und Verehrung seiner Gemeinde. Der Pfarrer wie auch seine Schwester waren beide sehr kinderlieb, daher vergingen auch keine Ferien, wo nicht Verwandte mit ihren Kindern in dem gastfreundschaftlichen, weinumrankten Pfarrhause Erholung suchten. Alle waren stets herzlich willkommen, und die kleinen Gäste ließen es sich sehr wohl sein bei dem freundlichen Onkel und bei der liebenswürdigen Tante, die immer für eine gute Verpflegung und allerlei Vergnügungen Sorge trugen. Keine Badereise hätte den Nichten und Neffen eine größere Freude sein können, als der Aufenthalt bei dem guten Onkel Pastor. Der große Garten mit den alten Obstbäumen und den Stachel- und Johannisbeersträuchern, der gepflasterte saubere Hof mit dem vielen jungen Vieh, die grüne blumige Wiese und der schöne Buchenwald, das alles entzückte die Stadtkinder. Jetzt, zur Zeit der großen Ferien, weilte des Pfarrers älteste verheiratete Schwester mit ihren drei Kindern, Gerda, Walter und Otto, hier. Mit ihnen war nun wieder munteres, frisches Leben in das sonst so stille Haus gezogen. Heute, am Sonntag, hatten sich die Kleinen noch Inspektors Mariechen und Lehrers Fritz und Grete einladen dürfen, so daß sie nun sechs an der Zahl waren. Das war sehr schön, und sie hatten sich auch vorgenommen, ordentlich im Garten und Feld herumzutollen. Zuerst aber ließen sie sich Tante Mathildens prachtvollen Topfkuchen sehr wohlschmecken und vertilgten mit größtem Appetit ein Stück nach dem andern.

»O seht nur, seht!« rief jetzt Walter Rheden, aufspringend, »was da für ein großer Schwarm Kinder den Hügel herabkommt!«

Neugierig liefen alle an den Gartenzaun und sahen dem sich nähernden Zuge lärmender Straßenkinder entgegen, in deren Mitte sich eine schmutzig und zerfetzt aussehende Frauengestalt nur mühsam weiterbewegen konnte. Die Unglückliche wußte nicht, wie sie sich vor ihren Verfolgern retten und sich durchkämpfen sollte. Je mehr sie sich mit Drohungen und Scheltworten zu wehren suchte, desto toller trieben es die bösen Buben. Sie warfen sie mit Sand und Blättern, die sie im Vorüberziehen von den Bäumen abrissen. Dabei riefen sie fortwährend unter furchtbarem Gelächter: »Schönes schwarzes Suschen! Schmutzkönigin!«

»Ach, das ist ja die schwarze Suse,« sagte jetzt Lehrers Fritz, »die Arme hat jedesmal, wenn sie sich nur sehen läßt, von den Straßenkindern so viel zu leiden, daß sie sich schon gar nicht mehr hinauswagt, wenn es nicht dringend nötig ist.«

Unwillig drohte der Pfarrer mit der Hand, was aber die unbändigen Rangen durchaus nicht zu bemerken schienen. Deshalb nahm er schnell seine Mütze und eilte, von Walter und Otto begleitet, der Bedrängten zu Hilfe. Als die übermütigen Knaben nun ihren Pastor kommen sahen, gaben sie sofort ihr Opfer frei und liefen, so schnell sie konnten, davon.

»Es ist schrecklich,« sagte der Pfarrer, als er seinen Platz vor der Türe wieder eingenommen hatte, »daß die gottlosen Schlingel das unglückliche Frauenzimmer immer wieder belästigen, trotzdem ich es ihnen unzählige Male untersagt habe.«

»Ja, es ist unbegreiflich,« stimmte seine Schwester Mathilde ein, »daß sowohl Gebrechliche wie alle, die etwas Besonderes haben, von herzlosen Leuten und Kindern verspottet und verlacht werden.«

»Arme Gebrechliche mit Spott und Hohn verfolgen, das können doch nur sehr schlechte und tierisch rohe Menschen,« bemerkte Frau von Rheden, die Mutter der drei Kinder. »Die Suse hat ja aber durchaus kein einziges Gebrechen, als daß sie schmutzig und verschroben ist, und das müßte doch jedem etwas Altes sein. Sie ist ja gewiß schon über zehn oder zwölf Jahre hier im Dorfe?«

»Ach! sie ist also nicht immer hier gewesen?« fragte Gerda ganz erstaunt.

»Rein, weißt du nicht, daß die Suse früher ein gar feines Stadtfräulein war?« beeilte sich Inspektors Mariechen sehr eilfertig zu antworten.

»Wirklich, Onkel? Ist das wahr!« riefen jetzt Gerda und Walter höchst verwundert.

»Jawohl, Kinder,« nickte der Onkel, »Mariechen hat ganz recht. Die Suse hat einst bessere Tage gekannt, denn ihre Eltern waren sehr angesehene und reiche Leute.«

»Hast du sie denn damals auch gekannt, Onkel? Sah sie nicht immer so garstig und unordentlich aus?«

»O nein, durchaus nicht, sie war sogar ein sehr schmuckes Mädchen, als ich sie. kennen lernte.«

Das war nun den Geschwistern sehr wunderbar, sie konnten es gar nicht begreifen, daß die häßliche Suse einst hübsch gewesen sein könnte, und sie bestürmten den Onkel noch mit weiteren Fragen.

»Kinder, ich habe jetzt augenblicklich keine Zeit zu vielen Erklärungen, denn ich habe noch einen nötigen Krankenbesuch zu machen,« sagte dieser, jetzt aufstehend. »Wenn ihr aber gern mehr über Suses Vergangenheit erfahren wollt, so bittet Mariechen darum, ihre Mutter ist mit ihr zur Schule gegangen, und sie wird wohl eure Neugierde befriedigen können.«

»Ach ja, bitte, Mariechen! erzähle uns, was du von ihr weißt,« riefen sie nun alle drei, ihre kleine Freundin umringend.

Obwohl die Geschwister die Suse schon immer hier gesehen hatten, so war sie ihnen doch vollständig gleichgültig bisher gewesen; erst heute, da sie hörten, daß sie früher eine andere gewesen, interessierten sie sich für sie.

Mariechen war auch gern bereit, zu erzählen, was sie wußte.

»Kommt, wir wollen nach dem Wäldchen gehen,« schlug Gerda vor, »da sich lagern und eine Geschichte hören, muß reizend sein.«

Damit waren alle gern einverstanden, und da auch die Mutter und Tante ihre Erlaubnis erteilten, zog die kleine Gesellschaft munter ab. Im Walde ließen sie sich in das weiche Moos nieder und aller Blicke richteten sich gespannt auf Mariechen, die auch sogleich mit großer Wichtigkeit begann: »Unser Großvater war Kantor in derselben Stadt, in der Susens Eltern wohnten, der Großvater hat sie sogar mehrere Jahre im Klavierspiel unterrichtet. Sie soll recht begabt, aber sehr träge und zerstreut gewesen sein, und deshalb hat sie auch in der Schule wenig gelernt. Die Mutter sagte, die Lehrer wären immer sehr unzufrieden mit ihr gewesen und hätten sie viel getadelt, weil sie zu nichts weiter Lust hatte, als Geschichten zu lesen. Darauf soll sie aber so arg gewesen sein, daß sie immer ein Buch in der Schultasche gehabt hat. Wenn die Lehrer oder Lehrerinnen dann etwas erklärt und dabei nicht auf sie geachtet haben, dann hat sie ihr Geschichtenbuch aufgeschlagen und sehr eifrig darin gelesen. Ueber ihre Lesewut soll sie dann die Wirklichkeit vergessen und ihre Jugend verträumt haben. Auf ihrer Eltern Ermahnungen hat sie nicht hören wollen, und diese sollen auch ihr einziges Kind zu sehr geliebt haben, um es mit Strenge zum Fleiß anzuhalten. Vielleicht glaubten sie auch, weil sie reich waren, hätte ihre Tochter es nicht nötig, sich sehr anzustrengen. Aber leider sollte es nur anders kommen. Als Suse eben erwachsen war, verlor ihr Vater durch Unglücksfülle plötzlich fein ganzes Vermögen und wurde nun ganz arm. Darüber grämten sich dann beide Eltern so, daß sie kurz hintereinander starben. Die arme Suse stand nun ganz allein und ohne die geringsten Mittel in der Welt. Das war wirklich sehr traurig, weil sie nichts gelernt hatte, womit sie sich ihr Brot hätte verdienen können. Reiche Verwandte, die sich ihrer annehmen konnten, hatte sie auch nicht, nur einen entfernten Onkel, einen Vetter ihres Vaters, der aber auch außer einem guten Gehalt weiter kein Vermögen und selbst eine große Familie hatte. Dennoch tat dieser, soviel er konnte; er brachte sie zu der verstorbenen Frau Pastor hierher und zahlte auch eine kleine Pension für sie. Er wollte, daß sie einen Haushalt führen lernen sollte, um sich dann dadurch ihren Unterhalt erwerben zu können. Obwohl Suse wußte, daß ihr Onkel sich das Geld für sie abdarben mußte, so war sie doch nicht zur Vernunft gekommen, sondern lebte nach wie vor in den Tag hinein; sie blieb ebenso trüge wie bisher und nur darauf erpicht, Geschichtenbücher zu lesen.«

»Hat denn das die Frau Pastor gelitten und sie nie gescholten?« fragte Walter.

»Die soll viel zu gut und nachsichtig gewesen sein, meinte die Mutter; es wäre für die faule Suse viel besser gewesen, wenn sie in eine recht strenge Schule gekommen wäre, vielleicht hätte sie sich dann doch zusammengenommen, und gebessert.«

»Nun, bitte, Mariechen, erzähle doch weiter,« baten jetzt die aufmerksamen Zuhörer, als diese plötzlich schwieg.

»Ja, weiter weiß ich auch nichts mehr, als daß sie unbrauchbar geblieben ist, und daß sie keiner haben wollte. Solange die alte Frau Pastor lebte, hatte sie die Suse bei sich behalten, trotzdem der Onkel eher starb, und die Pension dann ausgeblieben war. Nach dem Tode der Frau Pastor hat das Dorf sie als Ortsarme ernähren müssen, denn ihr Verstand soll sich mit der Zeit ganz verwirrt haben; vielleicht ist das von ihrem vielen Lesen gekommen. Zuweilen soll sie ganz stumpfsinnig sein, dann sich wieder einbilden, eine Prinzessin oder eine Königin zu sein. Deshalb eben rufen die Straßenkinder ›Schmutzkönigin‹ hinter ihr her.«

»Wenn auch die Suse an ihrem Schicksal allein die Schuld trägt, so kann sie mir doch leid tun,« sagte Grete mitleidig. »Wie muß sie wohl die Reue quälen, wenn sie klare Augenblicke hat und über ihr verfehltes Leben nachdenkt.«

»Ja, das ist wahr! Ich begreife nur nicht, daß sie sich nicht geändert hat und fleißig geworden ist, als sie arm geworden war,« meinte Walter.

»Ach, du,« belehrte Mariechen, »das ist gewiß nicht so leicht. Mein Vater sagt immer zu uns: ›Was Hänschen nicht lernt, lernt der Hans nimmermehr!‹ Deshalb ermahnen uns die Eltern oft, ja in der Jugend nichts zu versäumen, weil das später sehr schwer nachzuholen ist.«

»Vielleicht bessert sich die Suse doch noch,« bemerkte Lehrers Fritz, »der Vater hat uns einmal erzählt, daß jemand noch im Alter zur Einsicht gekommen ist.«

»Das wird wohl bei der Suse unmöglich sein, da ihr Verstand gelitten hat,« wandte Gretchen ein.

»Zuweilen soll sie ganz klar sein,« entgegnete Mariechen. »Meine Mutter hat sie schon oft sehr unglücklich und bitterlich weinend über ihr Geschick getroffen.«

In dieser Weise gaben die Kinder ihrer Teilnahme für Suse noch weiter Ausdruck, nur Gerda war sehr schweigsam geworden und sah still und nachdenkend vor sich hin.

»Seht nur, die Gerda ist ganz mäuschenstill, sieht sie nicht gerade so aus, als ob ihr die Petersilie verhagelt wäre?« neckte Otto lachend die Schwester.

»Ich weiß auch wohl weshalb,« nickte Walter schelmisch, »sie denkt darüber nach, daß sie ebenso wie Suse über ihr vieles Schmökern alles andere vergißt.«

»Ja, ja! so ist es auch, daran erinnert sie sich!« bekräftigte Otto. »Wie oft haben wir sie nicht in einem verborgenen Winkel lesend gefunden, wenn wir sie suchen sollten. ›Ach, sagt's doch nur nicht, ich schenke euch auch etwas Schönes!‹ kann sie dann immer so schön bitten.«

»Ach, ihr häßlichen Brüder, laßt doch nur die arme Gerda in Ruhe! Seht ihr denn nicht, wie nahe ihr schon das Weinen ist?« nahm sich Lehrers Gretchen der Gefoppten an. »Kommt nur, jetzt ist es schon die höchste Zeit, nach Hause zu gehen!«

»Ja, das ist wirklich wahr! Vielleicht wird sogar schon mit dem Abendbrot auf uns gewartet!« Damit sprangen alle eiligst auf und traten den Rückweg an.

In der Tat saß der Onkel Pastor mit Mutter und Tante auch schon beim Abendbrot, als die junge Gesellschaft eintrat.

»Nun, ihr Herumtreiber, seid ihr endlich da!« rief der Onkel den Eintretenden entgegen. »Wartet nur, ihr leichtes Völkchen, uns so zu beunruhigen; wir wollten euch eben suchen lassen, denn wir fürchteten schon, daß euch irgend etwas passiert sei!«

»Nein, Onkel, Mariechens Erzählung hat so lange gedauert,« entschuldigten sie verlegen ihr langes Ausbleiben.

»Na, dann setzt euch nur gleich an den Tisch, etwas haben wir euch noch übrig gelassen,« lud der gutmütige Onkel ein.

Dieser Aufforderung leisteten alle gern Folge, denn sie hatten alle tüchtigen Hunger mitgebracht. Die dicke Milch und die Schinkenschnitten, die ihnen Tante Mathilde zurecht machte, schmeckten nun auch zu prächtig.

»Onkel,« begann Walter, als er den letzten Bissen in den Mund gesteckt hatte, »weißt du, was Fritz gesagt hat?«

»Nein, mein Junge, das kann ich nicht wissen,« lächelte der Onkel, als Walter plötzlich eine Pause machte, weil ihm ein Krümel Brot im Halse stecken geblieben war. »Erzähle, was hat denn der weise Fritz so Wichtiges gesagt?«

»Er sagte, als Mariechen uns von Suses Faulheit erzählte, es wäre ganz gut möglich, daß sie noch fleißig würde. Glaubst du das wohl auch?«

»So recht wohl nicht, aber man soll keinen Menschen aufgeben, solange ihm Gott das Leben und damit noch Zeit zur Besserung schenkt. Bis jetzt sind leider meine vielen Versuche, sie zu bekehren, auf unfruchtbaren Boden gefallen.«

»Ach, Walter, laß nur jetzt die Suse,« rief der muntere Otto, als sein Bruder weitere Fragen an den Onkel richten wollte, »Mariechen hat uns ja doch genug von ihr erzählt. Kommt alle mit, wir wollen noch im Hofe Ball spielen!«

Walter war sogleich dabei, nur Gerda setzte sich mit einer Häkelarbeit zu dem Onkel ins Wohnzimmer an den runden Tisch, wo dieser die Zeitung las. Die Mutter mit der Tante waren auch noch hinausgegangen, um den herrlichen Abend im Freien zu genießen.

Verstohlen beobachtete der Onkel von der Seite die emsig arbeitende Nichte, denn bis jetzt hatte sie ihm noch nie Gelegenheit gegeben, ihre Tätigkeit zu bewundern. War einmal schlechtes Wetter, daß sie im Zimmer bleiben mußten, so hatte er sie immer nur mit einem Geschichtenbuch oder die Hände müßig in den Schoß gelegt gesehen.

»So fleißig, Gerda,« unterbrach der Onkel endlich, die Zeitung aus der Hand legend, das Schweigen. »Das gefällt mir, ein junges Mädchen muß nie unbeschäftigt sitzen.«

Statt einer Antwort auf des Onkels Lob warf Gerda hastig die Frage hin: »Onkel, ist es wohl unrecht, wenn man gern liest?«

»Wie sollte das wohl unrecht sein? Freilich kommt es immer darauf an, was man liest. Nützliche und lehrreiche Bücher können doch nur Herz und Gemüt bilden.«

»Gehören Geschichten- und Märchenbücher auch zu solchen?« kam es leise über Gerdas Lippen.

»Weshalb sollten sie denn nicht dazu gerechnet werden können?« fragte der Onkel. »Zur Unterhaltung und Freude der Jugend sind ja Märchen- und Geschichtenbücher da, damit sie in den Erholungsstunden von euch gelesen werden. Freilich darf dieses Vergnügen ebensowenig wie jedes andere ausarten, die Arbeit und Pflicht darf selbstverständlich darüber nicht vergessen werden.«

Betroffen schwieg nun Gerda, sie wußte genau, daß sie des Onkels letzte Worte auf sich anwenden konnte. Stets hatte sie sich allerlei Geschichten- und Märchenbücher zu verschaffen gewußt und sich dann darin so vertieft, daß sie gar nicht mehr an ihre Schularbeiten gedacht und diese dann flüchtig und schlecht gemacht hatte. Sie hatte nie eher Ruhe, bis sie den Schluß gelesen; kam sie bei Tage nicht so weit, so geschah es abends oder auch morgens im Bette. In der Schule hatte sie dann, statt aufmerksam zu sein, über das Gelesene nachgedacht und sich durch ihre Zerstreutheit der Lehrer Unzufriedenheit und Tadel zugezogen. Ebenso hatte sie durch ihre schlechte Zensuren, die sie stets heimbrachte, den Eltern vielen Kummer bereitet. Das wurde ihr auf einmal klar, und die trübsten Vorstellungen und Gedanken nagten an ihrem Gewissen und quälten sie noch bis in die Nacht hinein, so daß sie gar nicht einschlafen konnte.

Die Kinder wurden alle Abend bald nach neun Uhr zu Bette geschickt, während die Erwachsenen dann noch plaudernd im traulichen Wohnzimmer ein Stündchen beisammen saßen.

»Was mag heute nur der Gerda sein?« sagte der Onkel Pastor, »sie war heute so ganz anders als sonst. Während die Jungen noch draußen munter herumsprangen, saß sie still arbeitend an meiner Seite und forschte mich darüber aus, wie ich über das Lesen von Geschichtenbüchern dächte.«

»So, also das wollte sie wissen?« fragte ihre Mutter sehr verwundert. »Wollte Gott, daß sie endlich Vernunft annähme, wir haben nur die eine Tochter, und die macht uns viele Sorgen.«

»Inwiefern denn? Ich finde, sie ist doch sonst recht vernünftig und nett; vielleicht könnte sie für ihre zwölf Jahre schon ein wenig fleißiger sein.«

»Das wird sich schon noch finden,« begütigte Tante Mathilde.

»O nein, gerade der Fleiß ist es, der in der Kindheit anerzogen und geübt werden muß,« sagte die Mutter traurig. »Gerda möchte M liebsten den ganzen Tag mit Lesen zubringen; zu anderen ernsten Arbeiten ist sie stets unlustig, obwohl wir es gewiß nicht unterlassen, sie in Gutem und mit Strenge zu ermahnen.«

»Ah, daher kommt denn auch heute abend ihr nachdenkliches Wesen und ihre Frage wegen der Geschichtenbücher, meinte bedächtig der Onkel Pastor. »Mariechen hat ihr gewiß davon erzählt, daß die Suse es ähnlich gemacht hat. Gebe Gott, daß diese Einkehr gute Früchte trägt!«

Diese Wünsche und Hoffnungen sollten sich denn auch wirklich erfüllen. Sie hatte es sich tief zu Herzen genommen, daß sie dieselben Fehler wie Suse hatte, die dadurch um ihr Lebensglück gekommen war. Tapfer und mit aller Willenskraft suchte sie jetzt ihre Trägheit und Arbeitsscheu zu überwinden; vor allen: borgte sie sich keine Geschichtenbücher, um nicht wieder dieser Schwäche zu unterliegen. Es fiel sofort allen ihren Lehrerinnen und Mitschülerinnen auf, daß sie sich die größte Mühe gab, aufmerksam dem Unterricht zu folgen und infolgedessen auch gute häusliche Arbeiten lieferte. Mit großer Freude beobachteten dies die Eltern in der Stille, noch sagten sie aber kein lobendes Wort darüber, weil sie fürchteten, sie könnte durch zu frühe Anerkennung nachlassen und auf halbem Wege stehen bleiben. Erst, als ihre wackere Tochter ihnen zu den nächsten Ferien ein gutes Zeugnis überreichen konnte, auf dem nicht wie bisher: ›Unaufmerksam, Fleiß mangelhaft, häusliche Arbeiten ungenügend usw.‹ getadelt wurde, da gaben die beglückten Eltern ihrer Freude Ausdruck und schlossen ihr fleißiges Kind zärtlich in die Arme. Sie beschenkten sie auch und machten allen drei Geschwistern einen fröhlichen Tag, denn auch Walter und Otto hatten das beste Zeugnis von ihren Lehrern bekommen.

»Eigentlich schade,« sagten die übermütigen Knaben unter sich, »daß Wir die Gerda nicht mehr suchen müssen. Es war doch ein gar zu lustiger Spaß, wenn wir sie auf dem Boden hinter dem großen Kasten, oder hinter einem Busch hervorziehen und sie dann als unsere Gefangene hereintransportieren konnten.« – Wilde Jungen sind nun einmal nicht anders, sie necken gar zu gern, und nur wenige wollen es lernen, schon als kleine Herren auch zu ihrem Schwesterchen galant zu sein.

Gegen Weihnachten hatte der Onkel Pastor seiner Schwester und seinem Schwager seinen Besuch versprochen, und zu aller Freude hatte er dies Versprechen beizeiten erfüllt. Eines Vormittags war er, ohne sich vorher anzumelden, gekommen, um die Geschwister zu überraschen. Da war denn auch die Freude groß, als der liebe, seltene Gast so plötzlich eintrat, und er wurde von Schwager und Schwester aufs herzlichste bewillkommnet. »O, wie herrlich, liebster, bester Onkel, daß du wirklich gekommen bist!« begrüßten ihn die Kinder mit lautem Jubel, als sie mittags aus der Schule kamen und ihnen der so geliebte, verehrte Onkel entgegentrat. Alle hingen sich an seinen Hals und erdrückten ihn fast mit ihren stürmischen Liebkosungen. Dann überstürzten sie sich förmlich mit Fragen, jeder wollte etwas anderes wissen. »Was macht Fritz?« Wie geht es Mariechen?« »Ist Nero noch so wachsam?« Habt ihr viel Nüsse und Aepfel eingeerntet?« so frugen alle drei durcheinander. Gefällig beantwortete der Onkel die Fragen der Reihe nach. Es ging sowohl den kleinen Freunden wie auch dem treuen Nero gut, und Nüsse und Aepfel hatte es in Menge gegeben; sie sollten Zu Weihnachten eine ansehnliche Probe davon haben, versprach der Onkel.

»Jetzt verschont nun aber den Onkel mit euren ewigen Fragen,« gebot dann der Vater, »jetzt wollen wir zuerst Mittag essen und nachher unsern lieben Gast bis zum Abend für uns behalten. Hat der Onkel dann Lust, sich mit euch abzugeben, dann will auch ich nichts dagegen haben.«

Die Kinder hatten auch so viele Schularbeiten zu machen, daß sie sich gleich nach Tische daran machen mußten und auch vor Abend nicht fertig werden konnten. Dann aber saßen sie um den Onkel herum und hatten ihm tausenderlei Dinge zu erzählen und zu fragen.

Als der beliebte Kinderfreund nun alle Neuigkeiten ausgekramt hatte, sagte er: »Liebe Kinder, nach allen habt ihr euch erkundigt, nur nach einer eurer alten Bekannten, nach der Suse, nicht. Gerade für die habt ihr euch doch das letzte Mal so lebhaft interessiert, und nun scheint ihr sie ganz vergessen zu haben.«

»Ach ja, die Suse! Nein, lieber Onkel, vergessen haben wir sie nicht,« versicherten alle drei. »Ist sie gesund? Geht sie noch so schmutzig und zerfetzt und mit aufgelösten Haaren umher, und wird sie noch so verfolgt?«

»Nein, nichts mehr von alldem –«

»Was? Wie?« wurde der Erzähler von allen Seiten unterbrochen. »Oh! dann ist sie wohl inzwischen gestorben?«

»Nein, obwohl sie sehr krank war, so ist sie doch wieder gesund geworden. Und – kaum werdet ihr es wohl glauben können – die Spottnamen ›Schmutzkönigin‹ und ›schwarze Suse‹ verdient sie nicht mehr, da sie jetzt ganz weiß, nett und adrett aussieht.«

»Aber wie ist denn das nur möglich?« riefen alle, groß und klein, höchst erstaunt.

»Ja, seht ihr, wie sich das im Leben zuweilen gar wunderlich fügt. Die arme Suse bekam ein schweres Nervenfieber und wurde lebensgefährlich krank. Da sich aber keiner fand, der sie pflegen wollte, nahmen wir sie ins Haus. Tante Mathilde sorgte nun Tag und Nacht mit der größten Aufopferung für sie. Volle drei Wochen lag sie ohne Besinnung, und wir glaubten nicht, daß sie wieder gesund werden würde. Aber dennoch war es bei Gott anders beschlossen. Bei der sorgsamen Pflege genas sie allmählich wieder, und zwar nicht nur körperlich, sondern auch geistig und seelisch. Zu unserer großen Freude konnten wir, sobald das heftige Fieber nachgelassen hatte, wahrnehmen, daß sie vollkommen klar war. Während sie sonst alle Freundlichkeiten ihrer Nebenmenschen fast gleichgültig hinnahm, wußte sie jetzt nicht, wie herzlich sie uns ihren Dank ausdrücken sollte. In tiefer Bewegung küßte sie Tante Mathildens Hände und versprach, von nun an ein neues Leben beginnen zu wollen. Sie war hocherfreut, als wir ihr sagten, daß sie so lange bei uns bleiben solle, bis sie sich erst wieder vollständig erholt haben würde. Als sie sich so wohl fühlte, um etwas tun zu können, bat sie Tante Mathilde um die Erlaubnis, sich im Haushalte nützlich machen zu dürfen und man sah, welche Freude ihr das machte.«

»Aber, Onkel,« fiel Gerda ein, »verstand sie denn das? Mariechen hat uns doch erzählt, daß sie früher auch zu diesen Arbeiten keine Lust gehabt hätte.«

»Soviel ich gesehen habe, stellte sie sich ganz geschickt dabei an. Dumm und ungeschickt ist sie ja früher auch keineswegs gewesen, es fehlte ihr eben nur Lust und Liebe zur Arbeit.«

»Ist sie denn nun immer bei klarem Verstande geblieben?« fragte ihn der Schwager.

»Vollständig! Oft geschieht ja nach einer schweren Krankheit oder auch nach einer Gemütserschütterung eine Wandlung zum Guten bei manchen Menschen, und das ist nun auch bei Suse der Fall gewesen.«

»Wird sie sich aber auch nicht wieder allerlei dummes Zeug einbilden, wenn sie wieder allein leben wird?« fragte Walter.

»Sie braucht nie wieder allein zu leben,« beruhigte ihn hierüber der Onkel. »Vorläufig bleibt sie den Winter über bei uns, erst wenn sie sich vollständig erholt und gekräftigt hat, vielleicht zum Frühjahr, verläßt sie unser stilles Dorf, um wieder in ihre Heimatstadt zurückzukehren.«

»Ach, dann will sie wieder ein Stadtfräulein werden!« riefen die Kinder erstaunt.

»Nicht auf ihren Wunsch, das Schicksal führt sie wieder dorthin. Ein Jugendfreund ihres Vaters, der durch einen Zufall von ihr und ihrem Geschick gehört hatte, besuchte sie bei uns und bat sie, ihm den Haushalt zu führen. Er ist Witwer, hat auch vor einem Jahre seinen erwachsenen Sohn verloren und steht nun wie Suse allein. Ihr jetzt so freundliches, stilles Wesen gefiel ihm, und Suse willigte mit Freuden ein.«

»›O, wie danke ich dem lieben Gott, daß er mich noch zu etwas haben will,‹ sagte sie mit Freudentränen zu uns. Ich bin fest überzeugt, daß sie treu ihre Pflicht erfüllen und dem einsamen Mann das Leben so angenehm als möglich machen wird.«

»Warum hat der Freund ihres Vaters sich denn aber nicht schon damals, als ihre Eltern gestorben und sie arm und verlassen war, um sie gekümmert?« fragten die Kinder.

»Er weilte damals im Auslande, war auch wahrscheinlich nicht in der Lage, ihr helfen zu können, denn er soll erst dort sein großes Vermögen erworben haben.«

»Mariechen sagte damals, die Suse wäre so alt wie ihre Mutter, erst zweiunddreißig Jahre, dann ist sie ja auch zur Besserung noch nicht gerade zu alt,« bemerkte jetzt Walter.

»Mein Junge, sich zu bessern und Buße zu tun, dazu ist man nie zu alt,« erklärte der Onkel. »Der allmächtige Gott in seiner Gnade und Barmherzigkeit nimmt den reuigen Sünder zu jeder Zeit auf; auch wenn er erst in der zwölften Stunde den Weg findet, der zu seinem Herzen und ins ewige Vaterhaus führt.«


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