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Es war heiliger Abend, unzählige Sternlein flimmerten am klaren Himmel und strahlten wie Diamanten auf der schneebedeckten Erde. Frohes, reges Leben herrschte noch in allen Straßen, und freudige Erwartung lag auf allen Gesichtern der hin- und herwogenden Menge. Jeder hatte noch eine eilige Besorgung, Dienstmädchen wurden nach verspäteten Geschenken zur Schneiderin oder Putzmacherin geschickt, und Väter oder Mütter, die von ihrer Arbeit heimkehrten, kauften noch eiligst ein Bäumchen und Spielzeug für die Kleinen. Heut am frohen Weihnachtsabend hatte doch jedermann das Bedürfnis, zu erfreuen und Liebe zu üben.
Auch die beiden Geschwister, die jetzt aus dem stattlichen Hause am Markte huschten, waren von diesem Wunsche beseelt. Der zwölfjährige Robert trug ein mit Lichtern und Zuckerwerk geputztes Bäumchen gar vorsichtig, während seine um ein Jahr jüngere Schwester Jenny ein großes Paket im Arme hatte. Es waren die Kinder des Professors Westermann, die den Waisen ihrer vor einigen Wochen verstorbenen Wäscherin bescheren wollten, und es erfüllte ihre guten, mitleidigen Herzen mit seliger Freude, daß sie das Bäumchen und die Spielsachen für den kleinen Buben von ihren Ersparnissen gekauft hatten.
»Wie wird das niedliche Karlchen sich freuen!« sagte Jenny zu ihrem Bruder, indem beide über den Platz eilten und in eine schmale Seitengasse einbogen. Vor einem kleinen grauen Häuschen standen sie still und schauten nach den noch dunklen Giebelfenstern hinauf. An einem derselben hatte schon über eine Stunde der kleine vierjährige Karl gestanden und sich über die vielen unzähligen Sternlein gefreut. »Sieh, Gusti,« hatte er immer wieder seiner Schwester zugerufen, »der liebe Gott hat schon den Weihnachtsbaum im Himmel angesteckt, jetzt schickt er auch das Christkindchen auf die Erde! Hast du auch eine Lampe auf den Flur gestellt, daß es die Treppen herauffinden kann?«
Traurig sah die erwachsene Schwester auf das vergnügte Brüderchen, das so zuversichtlich Weihnachtsgaben erwartete.
»Zu uns kommt das Christkindchen heute nicht, mein liebes Karlchen,« sagte sie wehmütig, »denn seit wir unsere gute Mutter verloren haben, sind wir sehr arm; ich allein kann kaum so viel verdienen, um uns Essen und eine warme Stube zu verschaffen.«
Als sie nun bemerkte, wie sich das Mündchen des Kleinen zum Weinen verziehen wollte, fügte sie tröstend hinzu: »Weine nur nicht, mein herziger Liebling, nächstes Jahr werde ich wohl so viel erwerben, um dir ein Bäumchen bescheren zu können.«
Daß dazu Geld gehöre, konnte aber das kleine Karlchen noch nicht begreifen, daher ließ er sich auch in seinem Glauben nicht irre machen. Sein trübes Gesichtchen klärte sich wieder auf, und mit großer Bestimmtheit versicherte er: »Das Christkindchen kommt doch zu uns!« Plötzlich horchte er auf, sprang in höchster Erregung vom Stuhl und rief jauchzend: »Jetzt, Gusti, jetzt kommt es die Treppen herauf!«
Da klopfte es auch schon leise an die Tür, und Alfred und Jenny traten ein.
Sehr enttäuscht sah der Kleine die Geschwister an. »Habt ihr das Christkindchen nicht gesehen?« fragte er hastig.
»Jawohl, Karlchen, es läßt dich schön grüßen und hat uns auch viele hübsche Sachen für dich gegeben,« nickte ihm Jenny geheimnisvoll zu. »Dreh dich nur ganz schnell um und sieh nicht her, dann wollen wir dir sogleich alles aufbauen.«
Der kleine drollige Mann sprang nun seelenvergnügt auf die Schwester zu und verbarg seinen braunen Krauskopf singend und lachend in ihren Schoß.
Alfred holte schnell das Bäumchen, das er hinter die Tür gestellt hatte, herein und zündete die bunten Lichter an. Inzwischen hatte Jenny ihr großes Paket ausgepackt und Spielzeug und einen Anzug von ihrem jüngsten Brüderchen auf des Kleinen Platz gelegt. »Nun dreh du dich um, Auguste, jetzt kommst du an die Reihe.« Dann füllte sie noch einen Teller mit Aepfeln, Nüssen und Pfefferkuchen, legte ein warmes Tuch und eine schwarze Schürze daneben, sowie einen Festkuchen und Lebensmittel. Die gute, mitleidige Frau Professor hatte in freundlichster Weise für die verwaisten Kinder ihrer verstorbenen fleißigen Wäscherin gesorgt.
War das nun eine Freude und ein Glück! Wie ein Hampelmännchen sprang das selige kleine Karlchen umher und wußte vor Freude gar nicht, was er zuerst in die Hand nehmen sollte. Mit Entzücken warf er seinen bunten Ball in die Höhe, blies dann auf seiner Trompete, kramte die Arche Noah aus, immer wieder jubelnd: »Und das alles ist mein! all die schönen Sachen hat mir das Christkindchen vom Himmel gebracht; gewiß hat es mir die liebe Mutter geschickt!« Triumphierend rief er seiner Schwester zu: »Siehst du, Gusti, ich wußte es ja, daß der liebe Gott das Christkindchen auch zu uns schicken würde, die Mutter hat mir gesagt, daß es für alle Menschen auf die Welt gekommen ist!« So plapperte er in seligster Freude immerwährend, das Mäulchen stand nicht einen Augenblick still. Jenny und Alfred konnten sich gar nicht von dem lustigen Kleinen trennen, beide empfanden tief, wie beglückend das Gefühl ist, zu geben und andern Freude bereiten zu können. Endlich erinnerten sich die beiden aber doch, daß es Zeit zur Rückkehr sei und daheim vielleicht schon mit der Bescherung auf sie gewartet würde. »Adieu, Karlchen,« riefen sie dem tanzenden Kleinen zu, reichten Auguste die Hand und entzogen sich schnell ihren bewegten Dankesworten.
Die Mutter hatte schon ihr geheimnisvolles Walten in der Weihnachtsstube beendet und wartete sehnlichst auf ihre beiden Aeltesten. »Wie nur Alfred und Jenny so lange bleiben können,« sagte sie ungeduldig; »die armen Kleinen müssen ihretwegen auf die ersehnte Freude warten.«
»Da sind sie!« rief der Vater, als jetzt die Hausglocke gezogen wurde; »nun werde ich auch sogleich den Baum anstecken.«
Wie immer strahlte auch heute bei Professors ein prächtiger, mit Gold und Silber geschmückter Weihnachtsbaum. Nachdem die Kinder unter Klavierbegleitung mit den Eltern ›Stille Nacht, heilige Nacht‹ gesungen, und die beiden Kleinsten ihre Gedichte aufgesagt hatten, wurden alle, auch die beiden Dienstmädchen, zu ihren Plätzen an den Weihnachtstisch geführt. Wie alle Eltern ihre Kinder gern erfreuen, so hatten auch der Professor und seine Gattin die Wünsche ihrer Lieblinge erfüllt. Jubelnd standen die vier Geschwister um den Weihnachtsbaum, immer eines dem andern seine Bewunderung zurufend. »Sieh doch nur, Jenny, dieses prächtige Buch, das ich mir nur so ganz heimlich gewünscht und diese schöne silberne Taschenuhr!« rief Alfred außer sich vor Freude.
»Herrlich!« stimmte Jenny gesällig bei; »aber sieh nur, was ich alles bekommen habe, diese entzückende Kommode mit Puppenwäsche und diese wundervollen Schlittschuhe!«
Als eben Willy und Männe die älteren Geschwister zu ihren Plätzen ziehen wollten, wurde ein leises eigentümliches Pochen, wie von Kinderhänden, an der Tür vernehmbar. Der Professor öffnete selbst, und herein schwebte, leicht wie eine Elfe, ein dreijähriges, blondlockiges Mädchen, schön wie ein Weihnachtsengel. Mitten in der Stube blieb sie stehen, klatschte entzückt in die Händchen und jauchzte: »O, wie schön ist es hier, hier will ich bleiben!« Und mit erhobenen Aermchen hüpfte das liebliche Kind auf die Frau Professor zu, umschlang ihre Kniee und legte das Lockenköpfchen zutraulich in ihren Schoß.
»Ach, Mama, eine lebendige Weihnachtspuppe hat dir der liebe Gott geschenkt!« kamen neugierig, die Kleine betrachtend, Willy und Männe angesprungen.
»Ach, du heißt auch Mama!« frohlockte jetzt das Kind. »Ei, nun hat Milly wieder eine Mama! Ich darf doch bei dir bleiben?« bat es dann und küßte zärtlich die Hände und Kleider der Frau Professor. »Meine andere Mama lag so kalt in einem großen Kasten, und viele Männer haben sie heute früh fortgetragen!«
Mitleidig und gerührt richteten sich aller Blicke auf das fremde Kind, das so vertrauensvoll und herzlich um Aufnahme bat.
»Wenn wir nur erst wüßten, wem das Kind gehört, und wie es so allein auf die Straße gekommen ist?« sagte der Professor, als die Kleine auf alle Fragen nur die eine Antwort zu geben wußte, daß sie Milly heiße und ein großer Mann in einem langen schwarzen Rock gesagt habe, ihre Mama sei bei dem lieben Gott im Himmel.
»Vielleicht ist es das Kind der Dame, die drüben im Hotel gestorben und heute früh beerdigt ist,« bemerkte jetzt die Köchin. »Die Christel erzählte nur, daß sie ein kleines Mädchen hinterlassen habe, das ihre Herrschaft wohl so lange behalten würde, bis sich die Angehörigen melden.«
Aus dem Gesichtchen der Kleinen, die die Sprecherin unverwandt angesehen hatte, war der frohe Ausdruck gewichen, und beide Händchen vor die Augen haltend, brach sie in lautes Weinen aus.
Liebreich nahm die Frau Professor das arme Geschöpfchen auf ihren Schoß und suchte sie mit zärtlichen Worten und Liebkosungen zu beruhigen.
»Milly darf doch hier bleiben, bis die Mama vom Himmel wiederkommt?« schluchzte sie immer wieder.
Mit tiefem Mitgefühl umstanden alle die kleine Waise, die heute am Abend der Freude so verlassen umherirrte. »Weine nicht, du liebes kleines Kind,« trösteten Willy und Männe, »wir wollen auch sehr schön mit dir spielen, du sollst nun unser Schwesterchen sein und immer bei uns bleiben!«
»Anna, erkundigen Sie sich doch sogleich drüben, ob es wirklich das Kind der Dame ist, und wie es so allein auf die Straße kommen konnte,« wandte sich die Frau Professor an die Köchin.
Diese entfernte sich sogleich und kam nach einer Viertelstunde wieder zurück.
»Ja, gnädige Frau,« berichtete sie, »die Kleine ist das Kind der Dame, die drüben gestorben ist. Niemand weiß, wer sie war, auch nicht, woher sie kam und wohin sie wollte. Sie kam krank an, verlor in der Nacht schon das Bewußtsein und starb am frühen Morgen.«
»Hatte sie denn keine Papiere bei sich, woraus man Näheres erfahren konnte?« fragte der Professor.
»Nein, in dem kleinen Koffer, den sie bei sich hatte, befanden sich nur Wäsche und Kleidungsstücke; außerdem noch ein Portemonnaie mit Gold und zwei großen Geldscheinen.«
»Hat denn aber niemand Zeit gefunden, sich des armen Kindes anzunehmen?«
»Ja, Herr Professor, die Christel sollte es beaufsichtigen, aber die Kleine soll sehr lebhaft gewesen sein, bald nach dem Christkind, bald nach der Mama gefragt haben. Da ist die Christel wohl ein bißchen ungeduldig geworden und hat sie einen Augenblick allein gelassen.«
»Unverantwortlich!« sagte der Professor unwillig.
So leise das Mädchen auch seine Mitteilungen machte, so hatte das Kind doch alles verstanden.
»Es war so dunkel, Mama, und Milly hat sich gefürchtet,« fiel es, jetzt wieder weinend und sich fest an die Frau Professor schmiegend, ein.
»Weine nicht, mein Herzchen, du bleibst nun bei uns, wir alle wollen dich sehr lieb haben und mit dir spielen,« suchte diese das schluchzende Kind zu beruhigen.
»O, wie herrlich!« jubelten Alfred und Jenny, »das süße Weihnachtspüppchen bleibt nun für immer bei uns!«
»Vorläufig wollen wir es behalten,« stimmte der Vater bei, »ich hoffe, die Angehörigen der Kleinen werden sich bald melden.«
»Das denke ich auch, aber wenn sich wider Erwarten keines meldet, dann bist du doch gewiß damit einverstanden, daß ich das liebe kleine Wesen behalte?« bat die Gattin.
»Nein, liebe Hedwig, so leid es mir tun würde, aber das wäre wirklich nicht möglich.«
»Aber warum denn nicht?«
»Nun, bedenke doch, daß wir außer meinem guten Einkommen kein Vermögen und vier eigene Kinder haben.«
»Ach, lieber Mann, bei vieren geht auch noch das fünfte mit durch. Der liebe Gott wird es uns gewiß nicht fehlen lassen, wenn wir die kleine verlassene Waise aufnehmen.«
Der Professor war ein edler, großmütiger Charakter, und es war nicht schwer, ihn zu einer guten Tat zu bereden.
Als jetzt die Kleine angstvoll und flehend die kleinen Händchen erhob: »Milly darf doch bleiben, Milly will auch alle sehr lieb haben!« da war der gute Mann schon besiegt, alle seine Bedenken schwanden bei der rührenden Bitte des armen Kindes.
»Willst du so gern bei uns bleiben, soll ich auch dein Papa sein, Töchterchen?« beugte er sich zu dem kleinen Geschöpfchen nieder und hob es in die Höhe.
»Ja, du liebes Papachen, Milly will dich sehr lieb haben, wenn du auch ganz anders aussiehst als Millys erster Papa!«
»Wie sah denn dein erster Papa aus, mein Kleinchen?«
»Millys erster Papa hatte schwarze Haare und viel mehr als du, und er machte immer so schöö–ne Mu–sik.« –
»Jedenfalls ein Künstler,« sagte die Frau Professor, »der wird sich sicher bald melden, und dann werde ich mein herziges Pflegetöchterchen wieder los.«
»O nein, o nein!« riefen alle vier Geschwister, die Kleine umringend und liebkosend, »es soll immer bei uns bleiben und unser Schwesterchen sein!«
»Unser lebendiges Weihnachtspüppchen!« frohlockte Jenny, das Kind immer wieder zärtlich küssend.
Die kleine Milly stimmte jetzt in die allgemeine Freude mit ein und tat so zutraulich zu den Kindern, als hätte sie immer zu ihnen gehört.
Obgleich nach Weihnachten in vielen Zeitungen Bekanntmachungen betreffs des Kindes erfolgt waren, so war doch keine Meldung irgend eines Angehörigen eingegangen. Schon war der Winter dem Frühling gewichen, und noch immer war die kleine Milly Professors Pflegetöchterchen geblieben. Heimlich wünschten alle, sogar der Professor, das herzige Kind für eigen behalten zu können. Es war ein so artiges, munteres und zärtliches Geschöpfchen, die Freude und der Liebling des ganzen Hauses. Wenn der Professor von seinen Vorlesungen heimkehrte, kam sie sogleich angelaufen, begrüßte ihn sehr herzlich und rief: »Hier, du liebes Väterchen, hier hast du deine warmen Schuhe, die Mama hat dir auch so etwas Schönes zum Trinken gekocht!«
»Ei, Liebling, was denn?«
»Es sind Eier darin, auch Zucker und noch etwas aus einer großen Flasche.« Eiergrog meinte sie.
»Na, Schätzchen, dann sage nur der Anna, daß sie es gleich bringt. Brrrrr! mich friert auch so sehr,« schäkerte er dann mit der kleinen Schmeichelkatze.
Auch die Kinder hingen mit der innigsten Liebe an dem neuen Schwesterchen; in der ersten Zeit hatten sie immer gefürchtet, daß es nicht mehr da sein könnte, wenn sie aus der Schule kämen. Nun sie es aber jedesmal fanden, schwand allmählich diese Besorgnis, und sie gaben sich dem frohen Gedanken hin, daß das herzige Kind für immer zu ihnen gehöre. Bald hatte auch die Kleine ihre Vergangenheit ganz vergessen, und sie sah in dem Professor und seiner Gattin ihre wirklichen Eltern. Im Anfange hatte sie zuweilen noch von ihrem ersten Vatti und Mutti, wie sie ihre verlorenen Eltern nannte, erzählt. Ihr Vatti hätte sie hoch in die Luft gehoben und ihr Bonbons und Spielsachen mitgebracht, wenn er weit weg gereist war. Als sie ihn einmal mit Mutti habe wiederholen wollen, sei ihre Mutti zu dem lieben Gott in den Himmel gegangen. »Nun hat aber Milly wieder ein Vatti und eine Mutti und eine Jenny, einen Alfred, eine Männe und einen Willy,« zählte sie dann der Reihenfolge nach auf, einen nach dem andern stürmisch umarmend.
* * *
Sieben Jahre sind seit jenem Weihnachtsabend dahingegangen, als die damals dreijährige kleine Milly auf so wunderbare Weise in die Familie Westermann eingetreten war und Heimat und Elternliebe gefunden hatte. Wieder ist der frohe Christabend da, leider aber sieht es dieses Mal so ganz anders als sonst in dem bisher so glücklichen Hause des Professors aus. Der unerbittliche Tod hatte den lebensfrohen, tatkräftigen Mann vor einigen Wochen jäh und plötzlich dahingerafft. Der treue, sorgende Gatte und liebevolle Vater war den Seinen entrissen worden, und ihr Schmerz war unbeschreiblich. Leider machte sich ihnen der herbe Verlust auch in den äußeren Verhältnissen sehr fühlbar. Der Verstorbene war nur immer darauf bedacht gewesen, den Seinen das Leben so angenehm wie möglich zu machen; nie hatte er bei seiner steten Gesundheit und Kraft daran gedacht, daß ihn ein schneller Tod ereilen könnte. Trotz seines großen Gehaltes hatte er wenig Ersparnisse gemacht und es auch unterlassen, seine Gattin in irgend eine Kasse einzukaufen.
Mit banger Sorge mußte sich nun die gebeugte Witwe die Frage vorlegen: ›Was soll aus meinen Söhnen werden?‹ Alfred studierte bereits über ein Jahr Medizin, wie sollte sie die Mittel zu seinem weiteren Studium schaffen? In einigen Monaten mußte sich auch Willy für einen Beruf entscheiden, und für Hermann und Milly mußte Schulgeld gezahlt werden. Die geringen Mittel konnten nur sehr kümmerlich zu den nötigsten Bedürfnissen des täglichen Lebens ausreichen. Jenny hatte zum Glück vor einem halben Jahre ihr Examen als Lehrerin bestanden und hatte auch schon zu Neujahr eine Anstellung in einer höheren Töchterschule erhalten. »Gräme dich nicht um Alfred und Willy, Mütterchen,« tröstete sie, wenn sie in das sorgenvolle Antlitz der Mutter sah, »mein Gehalt reicht wohl für beide, und das Schulgeld für Hermann und Milly verdiene ich sicher mit Privatstunden.«
»Du gutes, opferwilliges Kind!« sagte dann wehmütig die Mutter, »dein schwer verdientes Geld willst du alles für die Geschwister hingeben und dich ganz vergessen?«
»Aber Mamachen, das kann mich doch nur beglücken, wenn ich dir diese Sorge abnehmen kann,« wehrte die gute Tochter das Lob der Mutter ab.
»Mache dir nur meinetwegen keinen Kummer, liebste Mama,« bat auch Alfred, »da die Mittel zu meinem weiteren Studium fehlen, werde ich etwas anderes ergreifen und dahin streben, dir möglichst bald eine Stütze zu werden.« Obwohl er mit ganzer Seele an seinem Studium hing, und es ihm bitter schwer geworden wäre, diesem entsagen zu müssen, so ließ er doch die Mutter nichts davon merken.
Die kleine Milly war nun schon ein großes verständiges Mädchen von zehn Jahren, sie hatte keine Ahnung davon, daß sie nicht die Tochter ihrer Pflegeeltern war. Mit innigster Liebe hing sie an Vater, Mutter und Geschwister, und war untröstlich über den Verlust ihres über alles geliebten Väterchens. Während sie sich bisher wie ein glückliches Kind auf den Weihnachtsabend gefreut hatte, sah sie heute traurig aus die hübschen kleinen Geschenke, die Jenny ihr aufgebaut hatte. »Aber, Herzchen, freust du dich denn gar nicht ein wenig?« fragte die Mutter, die Kleine zärtlich in die Arme schließend.
»Wenn doch unser gutes Väterchen bei uns wäre,« brach das Kind in krampfhaftes Schluchzen aus.
Die tapfere Jenny, die stets bemüht war, ihren tiefen Schmerz still zu tragen und die Ihrigen zu trösten, zog das weinende Schwesterchen auf ihren Schoß und suchte sie liebreich zu beruhigen. »Sieh nur, mein Kleinchen, die Sachen dieses niedlichen Tragepüppchens habe ich alle selbst genäht,« sagte sie, »auch dieses Schürzchen habe ich dir gestickt, wir wollen es gleich einmal umprobieren.«
Da wurde plötzlich die Hausglocke so hastig gezogen, daß sich alle verwundert und fragend ansahen. Wer konnte wohl heute und so spät noch kommen?
»Ein Herr ist draußen, der die gnädige Frau allein zu sprechen wünscht,« meldete gleich darauf das Mädchen, der Frau Professor eine Visitenkarte überreichend.
»Ein mir vollständig unbekannter Name,« sagte diese, Jenny die Karte überreichend. »Im Salon ist aber nicht geheizt; Kinder, da müßt ihr schon alle so lange ins Nebenzimmer gehen! Anna, bitten Sie den Herrn, hier einzutreten.«
Ein großer, schlanker, sehr fein gekleideter Herr in mittleren Jahren mit krausem dunklen Haar und großen, schwermütig blickenden blauen Augen trat ein.
»Gnädige Frau werden gütigst verzeihen,« begann er, sogleich den ihm dargebotenen Platz einnehmend, »daß ich heute und zu dieser Stunde erscheine; aber nur eine für mich sehr wichtige Angelegenheit konnte mich dazu veranlassen. Ich will mich möglichst kurz fassen, um Sie nicht lange zu stören. Sie sehen einen armen, einsamen Mann vor sich, der Frau und Kind vor Jahren auf rätselhafte Weise verloren und die Welt nach den Teuren durchsucht hat, ohne die geringste Spur entdecken zu können. Ich bin ein Sänger und als solcher oft auf Kunstreisen. Vor sieben Jahren folgte ich einem Rufe nach Südamerika, und da unser kleines Töchterchen gerade an den Masern erkrankt war, so konnten mich die Meinen nicht wie sonst begleiten. Die Trennung auf so lange Zeit wurde uns sehr schwer, und ich war glücklich, als ich endlich wieder Heimreisen konnte. Sehr erfreut schrieb ich meiner Gattin, daß ich das Christfest mit ihnen zu feiern hoffte, ihr aber den Tag meines Eintreffens noch nicht genau bestimmen könnte. Unvorhergesehener Ereignisse wegen verzögerte sich aber leider meine Heimkehr um acht Tage, so daß ich erst am Sylvesterabend ankam. In seligster Freude eilte ich nach Hause; wie groß war aber nun mein Schreck, als ich die Wohnung dunkel und verschlossen fand, und nur der Hauswirt sagte, daß meine Frau mit dem Kinde mir schon beinahe acht Tage vor Weihnachten entgegengereist sei. In der sicheren Hoffnung, sie meiner harrend in Hamburg in dem Hotel zu finden, wo wir immer zusammen logiert hatten, begab ich mich sofort dorthin. Sie können sich wohl meine Verzweiflung denken, gnädige Frau, als ich hörte, daß sie auch da nicht sei. Infolge der großen Aufregung und Angst erlag ich einem Nervenleiden, von dem ich erst nach einem halben Jahre so weit genesen war, um weitere Schritte unternehmen zu können. Aber, wie ich bereits erwähnte, waren meine verzweifelten Bemühungen und Umherreisen vergebens, und ich mußte mich der traurigen Gewißheit hingeben, daß die Geliebten nicht mehr unter den Lebenden weilen könnten. Jetzt, da ich nun alle Hoffnung begraben hatte, führt mich der Zufall oder eine gütige Vorsehung in dieses Städtchen, das ich auf meinen vielen Reisen bisher noch nie berührt hatte. Ich trank nach meiner Ankunft im Gastzimmer eine Tasse Kaffee und wurde dabei Zeuge einer Unterhaltung zweier Herren, die sehr angelegentlich darüber sprachen, daß gestern vor sieben Jahren eine Dame mit einem dreijährigen kleinen Mädchen hier krank angekommen und gestorben sei, daß man trotz aller Nachforschungen nicht hätte ermitteln können, wer sie gewesen und woher sie gekommen. In ihren Sachen hätte sich unter anderen ein Billett nach Hamburg gefunden, und die Kleine habe gesagt, daß sie den Papa abholen wollten.
Eine leise Hoffnung durchschauerte mich bei diesen Worten, ich trat zu den Herren und bat, nur alles sagen zu wollen, was ihnen über diesen Vorfall bekannt sei. Aber sie wußten nur noch zu berichten, daß die kleine Waise in Ihrem werten Hause eine glückliche Heimat und Elternliebe gefunden habe. Da hatte ich nun keine Ruhe, ich mußte sogleich Gewißheit haben. Ich würde mein liebes Töchterchen sofort erkennen, sie hatte eine große Aehnlichkcit mit ihrer Mutter und außerdem ein kleines Mal am rechten Arm.«
»Glücklicher Vater, eine köstliche Weihnachtsgabe ist Ihnen zuteil geworden!« rief jetzt die Frau Professor, die teilnahmsvoll und mit stummem Erstaunen bis dahin zugehört hatte, »Sie haben Ihr geliebtes, schmerzlich betrauertes Kind wiedergefunden: ich zweifle keinen Augenblick mehr daran, daß unsere kleine Milly Ihr Töchterchen ist,« und die Tür des Nebenzimmers öffnend, rief sie: »Milly, komm schnell herein!«
»Ja, sie ist es! Meine süße kleine Camilla, mein schmerzlich beweintes Töchterchen!« rief der von tiefer Bewegung überwältigte Vater, auf die eintretende Kleine zueilend und sie mit Freudentränen emporhebend und fest ans Herz drückend. Das ahnungslose Kind wußte gar nicht, wie ihm geschah, fragend und ängstlich sah es die Mutter an. Als ihr diese nun erklärte, daß der fremde Herr ihr Vater sei, stammelte sie weinerlich: »Aber unser liebes Väterchen ist doch tot.«
»Wir müssen ihr Zeit lassen, sich an den Gedanken zu gewöhnen,« sagte tröstend die Frau Professor, »ihr Kinderverstand kann es so schnell nicht fassen; sie hat ein zärtliches, weiches Gemüt, und Sie werden ihr kleines Herz gewiß sehr bald gewinnen.«
Der mitleidigen Frau tat der arme Vater, den: es großen Schmerz bereitete, daß sein wiedergefundenes Kind seine Gefühle nicht sogleich zu erwidern vermochte, sehr leid. Sie lud ihn herzlich ein, den Abend in ihrer Familie zu verleben, was er auch mit Freuden annahm. Er lernte nun auch gleich die ganze Familie kennen und fühlte sich sehr wohl unter den guten, liebenswürdigen Menschen. Immer wieder nahm er die kleine Milly auf seinen Schoß und konnte sich an dem liebreizenden Kinde gar nicht satt sehen. Zu seiner großen Freude tat sie auch bald ganz zutraulich, doch als er sie dann fragte: »Willst du deinen armen Papa, der dich so lange gesucht hat, auch lieb haben und zu ihm kommen?« antwortete sie sehr bestimmt: »Ja, lieb will ich dich haben, aber zu dir kommen nicht.«
»So willst du mich also einsam und allein lassen?«
»Nein, das will ich nicht, sagte sie mit einem Blick in des Vaters traurige Augen, mit denen er sie so wehmütig und zärtlich ansah; »aber die Mama, Jenny und die Brüder müssen auch mit.« Liebkosend hatte sie dabei ihre Aermchen um seinen Hals geschlungen.
Flehend sah der Künstler die Frau Professor an: »Darf ich die Bitte meines Kindes erfüllen, wollen Sie ihm auch ferner Ihre mütterliche Liebe und Ihren Schutz angedeihen lassen? Sie würden mich glücklich machen, wenn Sie mit Ihren lieben Kindern mit mir in einem Hause wohnen und mir gestatten wollten, wie ein Vater für Ihre Söhne zu sorgen. Bisher haben nur meine erworbenen Güter keine Freude gemacht; wenn ich meinem tiefsten Herzensbedürfnis folgen und Ihnen meine unaussprechliche, innige Dankbarkeit mit der Tat beweisen könnte, dann würden sie erst Wert für mich erhalten.«
»Mama,« fiel jetzt die kleine Milly hastig ein, »du sagtest doch heute, daß wir an der unteren Wohnung genug hätten, dann könnte ja der Papa die obere nehmen und immer mit uns zusammenbleiben.«
Dieser kluge Vorschlag des Kindes fand des Vaters größten Beifall, und da die Frau Professor schließlich auch bereit war, auf seine Bitte einzugehen, so wurde diese Angelegenheit schon heute abend erledigt. Der Künstler, der bisher ein so ruheloses Leben geführt hatte, ließ sich nun häuslich in dem Ort nieder, wo seine Gattin ruhte, und wo er sein einziges Kind wiedergefunden hatte. Bald nach Neujahr konnte er die Etage des stattlichen Hauses beziehen, das der verstorbene Professor über zwanzig Jahre allein mit den Seinen bewohnt hatte. Durch sein bescheidenes, herzgewinnendes Wesen gewann sich der bis dahin so einsame Mann bald die Zuneigung seiner Umgebung und die zärtliche Liebe seines Töchterchens. Die kleine Milly hatte er in der Obhut ihrer treuen Pflegemutter gelassen, oft aber war sie bei ihrem lieben Väterchen oben und erheiterte ihn mit ihrem fröhlichen Geplauder. Auf seine Bitte hatte ihm die Frau Professor gewährt, die Mahlzeiten bei ihr einzunehmen. Auch die Abende verlebte er oft in der liebenswürdigen Familie, in deren Mitte er sich sogleich sehr heimisch gefühlt hatte. In der zartesten Weise suchte er seine große Dankbarkeit mit der Tat zu beweisen, und der gebeugten Witwe alle Sorgen abzunehmen. Alfred konnte seine Studien fortsetzen, und Willy sich nach seiner Neigung der Naturwissenschaft widmen, und die bangende Mutter konnte nunmehr um die Zukunft ihrer Söhne ganz beruhigt sein.
Die Güte und Mildtätigkeit des verstorbenen Professors und seiner Gattin, die trotz ihrer eigenen vier Kinder einst die kleine verlassene Waise in ihr Haus und an ihr Herz genommen hatten, fanden jetzt ihren schönsten Lohn.
Nachdem die Zeit den Schmerz der Hinterbliebenen um den teuren Entschlafenen in sanfte Wehmut verwandelt hatte, lebten sie alle glücklich und zufrieden. Sie feierten auch wieder frohe Weihnachtsabende, und das Christkindchen zog mit seinen Gaben der Liebe in ihr Haus und in ihre Herzen ein.