Claude Anet
Lydia Sergijewna
Claude Anet

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Dritter Teil

Der Winter ging vorüber. Eine unaufhörliche Spannung lag über Petersburg. Heftige Gemütsbewegungen hielten die Menschen in Atem. Angst und Hoffnung, Zweifel und Furcht lösten einander ab. Ende Februar näherten sich die deutschen Heere. Schon waren sie in Pskow, nur wenige Bahnstunden von der Hauptstadt entfernt. Würden sie die Unglücklichen, die hier in Angst, Kälte und Hunger zugrunde gingen, erretten kommen? Bei den Bolschewiki herrschte Ratlosigkeit und Bestürzung. Die Führer waren nach Moskau geflohen und bestürmten die Zentralmächte in ihren Telegrammen um Frieden, um welchen Preis immer. Trotzki hatte demissioniert, Semeonow war auch zurückgetreten. Er war ebenfalls in Moskau und intrigierte dort in kommunistischen Kreisen, jetzt, da er die Macht verloren hatte, mehr denn je auf sie erpicht.

Savinsky hatte ihn ohne Bedauern abziehen sehen. Die geheime Macht dieses Mannes, die er immer wieder auf sich lasten fühlte, war schon unerträglich geworden.

Lydia und Savinsky fanden in der Verwirrung, die in der Stadt herrschte, ihren Vorteil. Die bolschewistische Polizei war von der Übersiedlung ihrer Akten nach Moskau in Anspruch genommen, und ihre Belästigungen erfolgten mit weniger Eifer, als bisher. Es herrschte fast eine Art Waffenstillstand, den sie umsomehr genossen, als sie beinahe nur für einander, in fast vollkommener Abgeschiedenheit lebten. Auf einsamen Wegen durchstreiften sie die Vorstadt. Das Tauwetter hatte in diesem Jahr zeitig eingesetzt; die Straßen, die während des Winters wenig gekehrt und kaum instand gehalten wurden, hatten sich in kotige Teiche verwandelt. Lydia sprang wie eine Bachstelze von Stein zu Stein und lachte herzlich über ihren Geliebten, der weniger gelenkig als sie, öfter tüchtig einsank. Sie sahen einander täglich, speisten öfters mittags und abends zu zweit, und manchmal fand Lydia die Möglichkeit, auch die Nacht bei Savinsky zu verbringen. Nach der überhasteten Abreise eines seiner Freunde, hatte er nun auch dessen Wohnung zur Verfügung, und hier in der Fontanka, empfing er meist das junge Mädchen in einer Heimlichkeit und Einsamkeit, die von niemand gestört werden konnte. Die Fenster hatten den Ausblick auf den Kanal und auf den Garten, der auf dem rechten Ufer, oberhalb des ehemaligen Palais Paul, den Fontanka-Kanal begleitet. An heiteren Tagen war das Zimmer, in dem Lydia und Savinsky sich nachmittags aufhielten, in Sonne getaucht, und noch ihre letzten Strahlen, die über die kahlen Bäume des andern Ufers hereinfielen, streiften zärtlich über das Bett und ließen die goldene Haarpracht Lydias wie einen Heiligenschein aufleuchten. Savinsky betrachtete sie. Das matte Weiß ihres Körpers schimmerte wie antiker Marmor, der in der leuchtenden Glut italienischer Sonne geschaffen worden war.

»Bleibe einen Augenblick, bewege dich nicht«, sprach er. »Es ist als wäre die jungfräuliche Venus selbst herabgestiegen, mein Lager zu teilen. Rühre dich nicht, ich bitte dich darum und laß mich dich anbeten.«

Lydia liebte die aufgezwungene Ruhe nicht und behielt sie nur bei, um ihrem Freund gefällig zu sein. Doch er war der erste, der ihrer müde wurde.

»Kleine Göttin, schläfst du? Liebst du mich vielleicht nicht mehr? Willst du mir anvertrauen, durch welches Gebot der Unsterblichen du in dieses rauhe Skythien kamst, gerade jetzt, in einer Zeit, da die Menschen hier von einem bitteren, tollen Wahn befallen sind?«

»Einzig und allein, um Euch zu dienen.« Lydia war aufgesprungen und machte mit ausgebreiteten Armen einen tiefen Knicks vor ihm. »Einzig und allein, damit Ihr, mein Gebieter, Eure Freude an mir habt. Bis zu dem Tag, da ihr, meiner überdrüssig, mich dahin verbannt, woher ich kam.«

Einmal sprach sie unter zärtlichen Küssen:

»Ich begreife noch immer nicht, wie du mich lieben kannst. Ich bin ja doch bloß ein kleines Mädchen, unwissend und ungeschickt. Sicher spottest du im Geheimen über mich, wenn ich dich küsse . . . Was weiß denn ich? Nichts. – Wie läppisch muß ich dir doch vorkommen . . . Wütend bin ich, wenn ich daran denke. Beeile dich doch, mich alles zu lehren, damit ich vor dir nicht erröten muß.«

Dann sang sie auch wieder Lobeshymnen auf ihn.

»Du bist wie ein Felsen. Das war mein erster Eindruck . . . Erinnerst du dich des Tages, als auf dem Newski geschossen wurde? Rings um dich flohen die Menschen, wie ein wirbelnder Sturzbach. Nur du standest unbeweglich, als wärest du in der Erde versenkt. Ich fiel zu deinen Füßen und da blieb ich auch. Das ist der rechte Platz für mich. Ich zitterte vor Furcht, doch als du mich aufgerichtet hattest, war alle Angst verschwunden. Ich fühlte es als deine Bestimmung, mich zu hüten . . . Und wie schön du bist! . . . (Savinsky begann zu lächeln . . .) Ja, du bist schön, das sage ich nicht bloß, weil ich dich liebe. Ich sah es gleich damals und auch jetzt noch, glaub mir, vermag ich dich kritisch zu betrachten . . . Du hast ganz die Schönheit, wie ein Mann sie haben soll; Lord Douglas ist hinreißend, aber er ist ein Kind. Kann man sich einem Kind geben, wenn man selbst noch ein kleines Mädchen ist? Du aber kamst in deiner besten Zeit, gerade für mich zurecht . . .«

»Mit einer Menge Falten und Runzeln!«

»Falten! Wer wagt es zu behaupten, daß du Falten hast? Es ist dein Ausdruck, der nur deine Schönheit hebt und ihr das Männlich-Edle gibt, das ich so liebe.«

»Sprich nicht so zu mir, mein Glück ist zu groß, es ist eine Herausforderung an die Götter! . . .« –

Durch einige Monate schwelgten sie so im Glück. Alles schien sich zu vereinen, um ihr Entzücken an der Gegenwart zu mehren. Wenn sie der durchlebten Schrecken dachten, erinnerten sie sich daran, daß sie zusammen sie ertragen hatten, und der Gedanke an die gemeinsam überwundenen Gefahren ließ sie die jetzige Ruhe nur noch inniger genießen. An die Zukunft dachten sie nicht; die ganze Zukunft, die sie beschäftigte, war stets nur ihre nächste Begegnung. So groß war ihr Entrücktsein, daß sie niemals Pläne machten. Was aus ihnen werden sollte? Niemals tauchte diese Frage auf. Das mochten sich jene fragen, die in geregelten, gesellschaftlichen Beziehungen leben, in vorgezeichneten Bahnen, in einer Ordnung, die Bestand hat. Die konnten Pläne machen und sich vornehmen, was in sechs Monaten, ja, in einem Jahr geschehen sollte. Doch während jenes Erdbebens, in dem das alte Rußland zusammenstürzte – wer wäre da Narr genug gewesen, auch nur für den kommenden Tag zu sorgen? Das Heute war das einzig Gewisse, nur der Gegenwart wurde gelebt, und jede Freude, die man dem drohenden Schicksal ablisten konnte, war eine Gnade, ein unerwartetes Geschenk, das mit allen Sinnen doppelt genossen wurde. So wurde ihnen jeder neue Tag ihres Glücks eine kostbare Gabe. Die unvermeidlichen schalen Augenblicke einer Liebe, die sich in gesicherter Ruhe entwickelt, blieben ihnen erspart. Sie kannten weder die kleinen Zänkereien, die dem ersten Entzücken der Liebe zu folgen pflegen, noch die Verstimmungen eines vor der Welt ängstlich gehüteten Bundes; weder die Langeweile, die in der Übersättigung entsteht, noch die leeren Stunden, die manchmal jene Sicherheit des Besitzes begleiteten, die durch nichts bedroht wird. Jede einzelne ihrer Minuten wurde gewertet, denn im Unterbewußtsein fühlten sie bei jeder, es könne die letzte sein, und sie müßten ihre ganze Leidenschaft in diesem letzten Augenblick erschöpfen. Selbst das rauhe Petersburg lächelte ihnen zu; der Frühling kam in diesem Jahr vorzeitig, die Abende wurden länger, die Sonne eroberte von Tag zu Tag mit hellerem, kräftigerem Strahl den Himmel, und immer öfter strich ein Hauch von unendlicher Milde über die Zweige der noch toten Bäume, erweckte die schlummernden Säfte in ihren Stämmen und ließ wirre Hoffnungen in den Herzen der leidenden Menschen keimen. –

Die Schwierigkeiten in der äußeren Politik wurden indes überwunden. Der Friede war unterzeichnet. Die Deutschen, die wohl, wie das Manifest Leopolds von Bayern bewies, die Absicht gehabt hatten, sich in die inneren Angelegenheiten Rußlands einzumengen, waren von diesem Plan wieder abgekommen. Lenin vermochte jetzt sein kommunistisches Programm restlos zu verwirklichen und machte den Bürgerkrieg zu blutiger Wahrheit. Überall verfolgte man die vermeintlichen Anhänger des früheren Regimes; sie wurden eingekerkert, und man begann sie ohne Untersuchung und ohne Urteilsspruch hinzurichten. In Petersburg hatte Markus Salomonowitsch Uritzki, der Vorsitzende der Tscheka, die weitestgehenden Vollmachten erhalten und entwickelte eine furchtbare Rührigkeit. Kein Tag verging, ohne daß man von der Verhaftung einiger angesehener Leute erfahren hätte.

Der Kreis um Natalie Schupow-Karamin hatte bei der Aussicht, daß die Deutschen die Ordnung in Rußland wieder herstellen würden, überlaut gejubelt, um in die tiefste Verzweiflung zu verfallen, als der Vormarsch der ersehnten Armee zweihundert Werst vor Petersburg eingestellt wurde. Jetzt erklangen nur noch die Seufzer der wenigen Getreuen, die noch um Natalie geschart geblieben waren. Die Hausfrau selbst hatte einen doppelten Verlust zu beklagen, der sie schmerzlich traf. Lord Douglas war mit seinem Botschafter nach England abgereist und Semeonow war in Moskau . . .

So war sie also des Schutzes beraubt, den ihr, wie sie meinte, ein Mitglied des diplomatischen Korps, gegen die Hausdurchsuchungen hätte gewähren können. Obgleich die terroristischen Diktatoren ja durch die Verhaftung des rumänischen Gesandten bewiesen hatten, daß sie die Immunität der Diplomaten nicht allzusehr achteten. Und überdies hatte sie mit Semeonow einen zwar geheimen, aber mächtigen Verbündeten verloren. Trotz allem kamen Iwan Schupow und seine Gattin besser über das Elend dieser Zeiten hinweg, als ihre Freunde. Der dicke, immer leichenblasse Mann blieb stets der gleiche witzelnde Spötter, und Savinsky frug sich oft, welches wohl die verborgene Ursache dieser Sicherheit sein mochte. Er sah die Schupows übrigens jetzt seltener, doch hatte er das Gefühl, daß sie irgendeine unklare und gewiß nicht saubere Rolle spielten. Er achtete auf jedes Wort, das er vor ihnen sprach. Selten nur, wenn er sie anders nicht sehen konnte, traf er Lydia bei ihnen.

Oft aber war er jetzt beim Fürsten Sergius, der ihn immer wieder zu sich bat, ja, dem er geradezu unentbehrlich geworden schien. Eine merkwürdige innige Freundschaft war zwischen ihnen entstanden. Lydia war das geheime Band, das sie zusammenschloß, und oftmals frug Savinsky sich mit Staunen, ob sie nicht damals recht gehabt hatte, als sie meinte, ihr Vater wisse viel mehr von ihr, als man vermuten würde. Wirklich sprach der Fürst fast nur von seiner Tochter zu Savinsky; sie war das unerschöpfliche Thema ihrer Unterhaltungen. Niemals bedauerte er auch nur mit einem Wort, daß die Heirat mit Lord Douglas unterblieben sei; im Gegenteil, er schien fast froh darüber, daß Lydia den jungen Engländer zurückgewiesen habe.

»Ich wußte es ja,« sprach er mit stolzer Genugtuung, »daß sie diesen Burschen, wie schön er auch war, nicht erhören würde. Denn sie ist meine Tochter und ich kenne sie . . . Niemals würde sie etwas Banales tun!«

Und er blickte Savinsky voll ins Auge, als suchte er dessen Zustimmung.

Ein anderes Mal wurde er ausführlicher.

»Ich möchte, daß Sie mich verstehen . . . Ich behalte meine Tochter um mich, ich bin stolz auf sie, bis zum Ende soll sie bei mir bleiben, das in Gottes Hand steht . . . Glauben Sie nicht, daß dies Egoismus ist, ich kümmere mich nicht um mich, nur um sie. Ich fühle es, und da täusche ich mich nicht, daß Lydia jetzt glücklich ist . . . Woher ich das wohl weiß? Es ist schwer zu sagen. Vielleicht sehen Kranke, wie ich, die nur mit sich allein leben, Dinge, die anderen verborgen bleiben? Und es ist noch etwas, Nikolaus Wladimirowitsch . . . Mir ist's, als wenn sich viele, viele Fragen jetzt für mich klären würden . . . Ja, wenn man sich seinem Ende nähert und so wie ich, seit einem Jahr, den Zusammenbruch einer ganzen Welt beobachtet, dann sieht man manches ganz anders, als es früher erschien, viel einfacher . . . Ich glaube, daß gar viele Probleme, die unlösbar schienen, für uns jetzt gar nicht mehr vorhanden sind, und daß viele Hindernisse, die die Menschen zwischen sich und ihrem Glück gesehen haben, nur eingebildet waren . . . Ja, in solchen Tagen der Prüfung und in der Nähe des Todes versteht man so manches . . .«

Langsam nur hatte er diese Rede hervorgebracht, mit leiser Stimme, oft sich unterbrechend, als falle es ihm schwer, für seine Gedanken die richtigen Worte zu finden.

Und wie er verstummt war, entstand ein Schweigen, in dem Savinsky jenes Herüberschweben zärtlicher, wortloser Gedanken zu fühlen meinte, das Lydia einmal erwähnt hatte. Er war so ergriffen daß er nicht zu sprechen vermochte.

Als er eine halbe Stunde später den alten Herrn verließ, zog dieser ihn sanft zu sich nieder.

»Darf ich Sie umarmen, Nikolaus Wladimirowitsch? Sie sind mir sehr teuer . . .«

Savinsky neigte sich über sein Fauteuil. Die trockenen Lippen und der struppige Bart des Fürsten berührten sein Gesicht, und zugleich mit dem Kuß des Greises fühlte er eine warme Träne, die über seine Wange lief. –

Die Zeit verflog, und schon meldete sich der Monat Mai mit zarten Blättchen, die er auf den schwarzen Ästen keimen ließ. Savinsky und Lydia benützten die länger werdenden Tage zu Streifzügen durch die Stadt. Sie gingen die Newa-Quais entlang, deren Steinmauern die angeschwollene Flut nur mühsam bändigten; wie große, treibende Seerosen schwammen einige verspätete Eisschollen, die aus dem Ladogasee kamen, mit der Strömung. Jenseits der blauen Fluten des breiten Stromes zeichneten sich die Silhouetten der verschiedenartigen Prachtbauten gegen das bernsteinfarbene Leuchten des Abendhimmels; die roten Ziegel des Pagenkorps, die altertümlichen Säulen der Börse, das edle Bauwerk der Akademie der Wissenschaften. Die Luft war von jener leuchtenden Durchsichtigkeit, wie man sie nur in nördlichen Breiten findet. Lange ruhten sie träumend auf der Uferbrüstung und ließen ihre Blicke über die verankerten Schlepper gleiten. Die Schönheit dieser stillen Abendstunden erfüllte ihre Seele. Auch sie blieben schweigend, und ihre Gedanken schweiften in die Ferne, weit, weit fort von der Welt und der Revolution mit ihren Schrecken und ihren Leiden. Sie entführten sie in jene geheimnisvollen Lande von Lorenzo und Jessica, Troilus und Cressida, Hero und Leander – aller jener, die die Leidenschaft aus dem Kreise der Lebenden schied.

Es wurde spät, und doch konnten sie sich nicht zum Aufbruch entschließen.

»Bleiben wir, bis es Nacht ist«, bat Lydia.

Und die Stunden der Nacht kamen, doch noch ließ der Tag ihnen nicht den Sieg. Hinter sich zog er einen Glanz über den Himmel, der lange nicht ersterben wollte; schon waren die Sterne aufgegangen, doch die schimmernde Dämmerung wollte noch immer nicht weichen. Es war fast elf Uhr, ehe Lydia und Savinsky den Heimweg antraten. Langsam ausschreitend erreichten sie das Palais Volynski und, wie schon oft, trat Savinsky, ohne darauf zu achten, was die Dienerschaft davon denken würde, noch zu einer Tasse Tee bei Lydia ein.

Spät erst kam er nach Hause. –

Dann war die Zeit der hellen Nächte, die den Schlaf vertreiben, in denen die Zärtlichkeiten glühender werden, und es folgte der heiße, feuchte, gewitterschwüle Petersburger Sommer, der in den Wohnungen die Last der Kleider unerträglich werden läßt.

Die Stadt rings um sie fieberte. Die Ermordung der beiden Kommissare Volodorski und Uritzki hatte den unerhörtesten Terror entfesselt. Die Opfer der bolschewistischen Repressalien zählten nach Hunderten. Der Kreis der Freunde wurde immer enger. Viele waren geflohen, mehr noch im Gefängnis.

Lydia und Savinsky aber gingen ihren Weg und hörten nicht die Verzweiflungsschreie, die von allen Seiten aufstiegen.

 

Savinsky hatte von Spaßki Nachricht. Er lebte verborgen in Moskau, wenige Schritte vom Kreml, an einem Zusammenschluß gegenrevolutionärer Offiziere arbeitend. Er teilte Savinsky mit, daß er Ende August auf einige Tage nach Petersburg komme und mit Savinsky unbedingt sprechen müsse.

Savinsky verheimlichte es Lydia nicht. Er dachte ganz laut vor ihr, und es wäre ihm nicht eingefallen, irgend etwas vor ihr zu verbergen. Als sie erfuhr, daß er ihren Freund Spaßki besuchen wolle, erklärte sie, mit ihm zu gehen. Wenn eine Gefahr darin lag, dann wollte sie diese mit ihm teilen. Übrigens sei ihr Spaßki sehr sympathisch, und sie werde sich freuen, ihn wiederzusehen.

So erwartete Savinsky Lydia in seiner Wohnung, um mit ihr zu Spaßki zu fahren, der ziemlich weit auf dem anderen Newaufer abgestiegen war. Als er an dem Fenster Lydias Kommen entgegensah, bemerkte er einen Wagen, der vor seiner Türe stand. Der Kutscher war ein alter Mann mit weißem Bart und ganz kleiner Nase. Savinsky kam dieses seltsame Gesicht bekannt vor; er dachte nach und erinnerte sich plötzlich, daß er ihn ja hier, auch vor seiner Türe, vor zwei, drei Tagen erst gesehen hatte.

»Er ist von der Ochrana,« dachte er im Augenblick. »Wirklich, sie sind nicht sehr schlau. Sie könnten doch abwechseln lassen und sollten mir nicht zweimal nacheinander denselben Mann schicken, besonders nicht in eine so verlassene Gasse.« Aber der Gedanke, daß er neuerlich überwacht werde, war ihm sehr unbehaglich. Welche Gefahren drohten ihnen noch, Lydia und ihm. Man mußte auf der Hut sein. Diese unerwartete Mahnung an die Härte der Zeit störte eine ganze Weile sein Gleichgewicht.

Erst die Ankunft Lydias brachte ihn wieder zur Ruhe. Sie gingen zusammen auf die Straße, Savinsky wandte sich an den alten Kutscher:

»Was verlangst du bis zur Zabalkanski?«

»Welche Nummer, Barin?«

»Ich weiß die Nummer nicht, aber ich kenne das Haus, es ist beiläufig in der Mitte der Straße.«

»Für Sie fünfundzwanzig Rubel. Das ist nicht teuer.«

»Für einen Bourgeois, wie ich es bin, und heutzutage ist das noch viel zu viel,« erwiderte Savinsky launig. »Wir werden die Straßenbahn nehmen.«

Der Kutscher sagte nichts mehr. Savinsky und Lydia bogen in die Millionaja ein. Und während der Wagen in seinem humpelnden Trab dem Süden Petersburgs zufuhr, in welcher Richtung die Straße lag, nach der Savinsky den Kutscher gefragt hatte, eilten Savinsky und Lydia in einem anderen Wagen nach den nördlichen Vorstädten. Das letzte Stück bis zu dem angegebenen Haus gingen sie zu Fuß. Ein im Hausflur an einem Tisch sitzender Soldat beunruhigte Savinsky, die Gesellschaft Lydias hatte ihn bisher nicht zur Besinnung kommen lassen, welche Unvorsichtigkeit es war, das junge Mädchen so leichtfertig in ein Abenteuer mitzuverwickeln, das gefährlich werden konnte. Aber der Soldat blickte nicht einmal nach ihnen hin, und ohne sonst jemand zu begegnen, stiegen sie die Treppe zu jener Wohnung hinauf, die Savinsky bezeichnet worden war.

Eine zierliche, junge Frau öffnete ihnen die Türe. Der Anblick Lydias schien sie zu überraschen, sie war verlegen, und ihr fragender Blick richtete sich auf Savinsky. Er lächelte.

»Beunruhigen Sie sich nicht«, sprach er, »Madame gehört zu mir.«

»Madame« gefiel Lydia über alle Maßen.

Ohne ein Wort zu erwidern, führte die junge Frau sie in einen Salon, in dem sie allein blieben.

Es war, ein großes, nüchternes Zimmer. In einer Ecke erkannte man an einem noch gedeckten Tisch, daß dort zwei Personen gegessen hatten.

»Bei wem sind wir hier?« frug Lydia mit leiser Stimme.

»Gewiß bei anständigen Leuten, aber wie sie heißen, weiß ich nicht. Unser Freund hat mehrere solche Wohnungen hier, in denen man ihn verbirgt, aber selbst mir vertraute er niemals die Namen seiner Wirte an . . . Und er hat recht, denn sein Spiel ist nicht nur für ihn, sondern auch für jene gefährlich, die ihn beherbergen.«

In diesem Augenblick öffnete sich die Türe und Andreas Iwanowitsch Spaßki trat ein. Sein energisches Gesicht erhellte sich zu freudigem Lächeln, als er Lydia erblickte. Sofort eilte er auf sie zu.

»Lydia Sergijewna, welche Freude für mich! . . . Sie wissen gar nicht, wie viel ich an Sie gedacht habe, aber ich hätte es niemals gewagt, Sie zu bitten, hierher zu kommen.«

Im Handumdrehen waren sie alle drei in einer reizenden Vertrautheit. Anfangs hatte Savinsky Lydia mit »Sie« angesprochen, als sie ihn aber unbekümmert duzte, hatte auch er sich keinen Zwang auferlegt, und bald unterhielten sie sich, wie wirklich gute Freunde. Spaßki erzählte von seiner Tätigkeit und seinen Plänen. Er hatte eine ernste Kampforganisation geschaffen, die schon bei dem Aufstand in Jaroslaw ihren Wert erwiesen hatte. Perm war ihren Händen, mit Koltschak und den Tschecho-Slovaken hatten sie sich dort vereinigt. Ganz Sibirien war von dem Joch der Bolschewiki befreit. Er selbst wolle nun zu Koltschak zurück, da dieser scheinbar schlecht beraten sei.

»Und Ihnen, Nikolaus Wladimirowitsch, wollte ich vorschlagen, mitzukommen. Petersburg bietet nichts Interessantes mehr. Man kann hier nichts tun. Die Verbündeten stehen in Archangelsk. Wir werden uns mit ihnen vereinigen. Im nächsten Frühjahr ziehen wir alle zusammen gegen Moskau.«

Savinsky erkannte ihn unverändert; furchtlos gegen jede Gefahr, mit unverminderter Begeisterung und von dem gleichen unerschütterlichen Willen zum Sieg beseelt, der durch keinen Mißerfolg gedämpft worden war. Lang berieten sie über die ganze Situation. Spaßki redete Savinsky zu, seinen Vorschlag anzunehmen.

»Und ich?« frug Lydia plötzlich.

»Sie, Lydia Sergijewna? Sie werden natürlich mit uns kommen, bei uns helfen. Die ein wenig ermüdende Reise zum Ural wird Sie wohl nicht abschrecken, und die dritte Klasse wird Ihnen doch nicht zu hart sein, hoffentlich werden es auch nicht die letzten hundert Kilometer sein, die wir im Sattel machen müssen. Für Nikolaus Wladimirowitsch habe ich schon einen Paß vorbereitet; er wird seinen allzu bekannten Namen ablegen und sich in einen harmlosen Petrof verwandeln.«

»Und ich werde Frau Petrowna sein!« rief Lydia entzückt.

»Ja, wir werden einfach hinzufügen, daß Genosse Petrof mit seiner Frau reist.«

Sie schieden mit der Verabredung, für den zweitnächsten Tag an einer anderen Adresse.

Aber am nächsten Tag, als Savinsky eben allein bei Tisch saß, brachte ihm ein Soldat ein Billet von Spaßki. »Man weiß, daß ich hier bin. Ich muß sofort abreisen. Ihr Paß anbei. Ich erwarte Sie in Perm. S.«

Der Paß lautete auf Iwan Illitsch Petrof, Händler in Leinen aus Wladimir, der in Begleitung seiner Frau reise. Noch am gleichen Tage übergab Savinsky diesen Paß dem Portier seiner Wohnung in der Fontanka, der ihn vom Kommissariat bestätigen ließ, so daß Savinsky nun eine zweifach amtlich beglaubigte Identität besaß.

»Jetzt muß ich mir nur noch meinen Bart wachsen lassen,« meinte er zu Lydia.

»Glaubst du, daß dies wirklich nötig ist?« frug sie wenig entzückt.

»Leider gibt es zu viele Leute hier, die mich kennen,« meinte er, »aber für den Augenblick kann Nikolaus Wladimirowitsch Savinsky noch ungefährdet hier leben.«

 

Der Herbst kam mit seinen Regengüssen. Bald auch zeigte sich der erste Schnee.

»Wir werden frieren, mein Kind«, meinte Savinsky zu Lydia.

»Ich, in deinen Armen niemals!« erwiderte sie lachend.

In seiner Wohnung in der Apotheker-Passage sah sich Savinsky genötigt, das Speisezimmer außer Gebrauch zu setzen, um mit seinem Brennholz, das er nur kümmerlich ersetzen konnte, zu sparen. Nur Wohnzimmer und Schlafzimmer wurden noch geheizt. In der Fontanka war immerhin noch für zwei, drei Monate Holz vorrätig. Im Palais des Fürsten Sergius waren nur noch die Zimmer, die nach dem Quai zu lagen, bewohnbar. Bei den Schupows waren die Schwierigkeiten geringer, denn Natalie hatte, man wußte nicht woher, etwa zwanzig Saginen vom schönsten Birkenholz bekommen. Militärfuhrwerke hatten sie eines Tages gebracht. Der Kreis ihrer Besucher war wieder enger geworden; jetzt war es nur noch ein knappes Dutzend russischer Freunde und einige Herren der neutralen Gesandtschaften, an die sie ihr Lächeln verschenkte.

Semeonow war in Petersburg wieder aufgetaucht. Unter Trotzki, als Kriegsminister, war er wieder zur Gunst gelangt und zum Militärkommandanten der Stadt ernannt worden. Savinsky hatte von seiner Rückkehr mit wenig Freude erfahren. Trotzdem sah er ihn zuweilen. Es schien, als wäre Semeonow mit seinen Erfolgen auch etwas menschlicher geworden. Der Triumph des Bolschewismus, auf den er spekuliert hatte, erfüllte ihn mit größter Genugtuung. Er war mit Leib und Seele dabei, die rote Armee zu organisieren, die der Lieblingsgedanke Trotzkis war.

»Wir werden das Reich mit seinen natürlichen Grenzen wieder herstellen,« meinte er eines Tags zu Savinsky, »und vielleicht sogar in einer Ausdehnung, die es früher niemals hatte. Die Aufgabe ist jetzt eine leichte; Europa ist durch den Krieg erschöpft, die Unzufriedenheit ist eine allgemeine. Die Opfer waren zu groß. Und dann hassen einander jetzt alle Völker. Es gibt gar kein Europa mehr, nur ein unglaubliches Durcheinander von entgegengesetzten Leidenschaften und Interessen. Nur wir stellen all diesen einander befehdenden Gegnern eine allumfassende Lehre und unseren Glauben daran entgegen. Wir werden Großes vollbringen, ich hatte es ihnen prophezeit . . . Und Sie, wie lange wollen Sie noch mit uns trotzen? Sie sehen doch, welche Stellungen wir allen denen geben können, die sich ehrlich mit uns verbinden. Sie haben doch den Ausspruch Lenins gelesen, daß er jenem Mann, der die Finanzen des Staates in Ordnung bringt, eine halbe Milliarde geben will.«

Savinsky zuckte müde mit den Achseln. Er fühlte sich zu Debatten nicht aufgelegt. Er begnügte sich mit einer lässigen Antwort.

»Vielleicht haben Sie recht, Leo Borissowitsch. Leidet fühle ich mich einer solchen Aufgabe nicht gewachsen.«

»Überlegen Sie es noch, Nikolaus Wladimirowitsch! Denn die Zeiten sind so, daß man nur mit uns, oder gegen uns sein kann. Nur ganze Männer können jetzt bestehen. Unentschlossene werden zermalmt. Und unsere Gegner! . . . Denken Sie an meine Worte! Sie werden mich nicht Lügen strafen.«

Das war wieder der alte Semeonow mit seinen unverhüllten Drohungen, und Savinsky verließ ihn voll der trübsten Ahnungen.

Sich dem Bolschewismus anschließen, das stand wohl außer jeder Frage. Sich zum Komplizen all der Greuel zu machen, die Rußland mit Blut überschwemmten und rund um ihn alle seine alten Freunde vernichteten, daran war ja nicht einmal zu denken. Und schließlich, was vermöchte er zu tun? Wie sollte die wirtschaftliche Katastrophe, dieser Sturz ins Grundlose, dem Rußland zurollte, noch aufgehalten werden?

Wie lange konnte er aber dann noch sein Leben hier fortsetzen? Jeder Tag vermehrte die Schwierigkeiten und Gefahren. Wohin sollte man sich wenden? Perm und Koltschak? Ukraine? Wie Lydia fortbringen, von der er sich nicht zu trennen vermochte? Der alte Fürst gelähmt, die Fürstin willenskrank, unfähig ihr Boudoir zu verlassen. Mit ihnen allen nach Finnland gehen, wenn er sie dazu bestimmen könnte? Aber würde er dort die gleiche Freiheit wie in Petersburg haben, Lydia fünf bis sechs Stunden täglich zu sehen? Seine Frau und seine Kinder waren wohl in England, aber würde Sonja dann nicht zu ihm kommen? Wie sollte er sie daran hindern? Und immer war der eine Gedanke bestimmend: er konnte auf Lydia nicht verzichten.

Und die Angst war wieder da, die Angst vor der furchtbar drohenden Ungewißheit, die Angst, die alles Tun und Denken lähmte, die die Kehle zuschnürte. Nur bei Lydia fand er noch seine Ruhe, hätte er sich da von ihr losreißen können? Er ward ihrer nicht überdrüssig, sie seiner nicht müde. Jeder Tag vermehrte nur die Bande, die um beide geschlungen waren, und knüpfte sie enger. Hatte er denn überhaupt gelebt, bevor er sie kannte? Könnte er ohne sie weiterbestehen? Mit ihr besprach er offen alle seine Kümmernisse, er verheimlichte keinen seiner Gedanken. Vor ihr dachte er laut, wie er sagte, und in all der Beklemmung, die die Furcht in die ganze Stadt pflanzte, gab es nichts Erquickenderes, als die restlose Offenheit und das ungetrübte Vertrauen, das zwischen ihnen herrschte.

Das erstemal, als er freimütig ihrer beider Lage vor ihr beleuchtete, berührte er nur furchtsam die Möglichkeit einer Rückkehr seiner Frau nach Finnland.

Lydia unterbrach ihn sofort, als sie verstanden hatte, worauf er anspielte. Weinend umschlang sie seinen Hals.

»Genüge ich dir denn nicht mehr?« schluchzte sie. »Bist du meiner satt? . . . Liebst du mich schon nicht mehr?«

Sie klammerte sich an ihn, sie war verzweifelt, sie konnte kaum sprechen. Vergeblich bemühte sich Savinsky sie zu beruhigen, ihr das Sinnlose ihrer Zweifel klarzumachen. Sie hörte nichts, sie jammerte und weinte wortlos vor sich hin. Als dieser Ausbruch endlich nachließ, schien sie vollkommen verwandelt. Sie wurde unnatürlich ruhig und sprach mit sichtlich erzwungener Gefühlslosigkeit zu dem verblüfften Savinsky:

»Ich verstehe ja, daß du hier viele Gefahren auf dich nimmst und daß du es nur meinetwegen tust. Du kannst eingesperrt werden und noch ärgeres kann geschehen. Kann ich dir's denn verargen, wenn du Furcht hast? . . . Warum also streiten? Es gibt nichts dagegen zu sagen. Bereite deine Abreise vor, ich werde dir in allem behilflich sein. Ich aber werde Rußland nicht verlassen . . . Lieber will ich hier sterben, als anderswo leben . . .«

Länger vermochte sie nicht an sich zu halten. Sie warf sich auf den Divan, bohrte ihr Gesicht in die Polster und ein nervöser Weinkrampf schüttelte ihren ganzen Körper. Als Savinsky sich bestürzt über sie neigte, nahm sie seinen Kopf in ihre beiden Hände und schluchzte: »Verzeih, verzeih . . . Ich bin ein schlimmes Kind . . . Aber ich bin so unglücklich . . . verlaß mich nicht, du, der du mein bist . . . Ich folge dir, wohin du willst . . . du bist der Herr; ich will nichts, als dir dienen . . .«

Und sie bedeckte ihn mit leidenschaftlichen Küssen. Savinsky drückte sie an sich, seine Wange wurde feucht von ihren Tränen und er vermochte nur zu stammeln: »Lydotschka, meine Lydotschka, ich sagte dir's doch schon vor langer Zeit: Niemals werde ich dich verlassen!«

 

Am Tage nach dieser Szene, die beide in gleicher Weise erschüttert hatte, fand Lydia, als sie gegen drei Uhr in die Wohnung Savinskys kam, Anjuschka ganz verstört vor. Um zehn Uhr vormittags war ein Kommissar mit einem Soldaten dagewesen und hatte Savinsky in einem Auto zur Präfektur abgeholt. Da ihm nicht einmal Zeit geblieben war, ein paar Zeilen an Lydia zu schreiben, wie es sein Wunsch gewesen, ließ er ihr durch Anjuschka sagen, daß es sich vermutlich nur um ein Verhör handeln dürfte und daß er hoffe, nachmittags wieder frei zu sein. Wenn dies nicht der Fall sei, werde er ihr durch einen der Gefangenen, die täglich entlassen werden, Nachricht senden. – Lydia erbleichte und mußte sich auf die alte Frau stützen, die sie sorglich umfaßte. – Savinsky im Gefängnis! Ohne sie! Sicher durch ihre Schuld . . . Heftig bereute sie die Worte, zu denen sie sich gestern hatte hinreißen lassen! Und sie sollte untätig warten? Nein, keinen Augenblick wollte sie versäumen. Zu Semeonow mußte sie eilen . . . Der Zwang, zu handeln, gab ihr Kräfte. Eiligen Schrittes strebte sie dem Generalstabsgebäude auf dem Schloßplatz zu und verlangte nach dem Stadtkommandanten.

Glücklicherweise war er zufällig da. Als ihm Lydia gemeldet wurde, ließ er sie sofort hereinbitten. Es war zwar schon länger als ein Jahr her, daß er Lydia zuletzt gesehen hatte, aber trotzdem war selbst der unempfindliche Semeonow über die Veränderung in ihrem Aussehen verblüfft. Damals war sie noch ein halbes Kind gewesen und jetzt stand ein Weib in seiner vollsten Blüte vor ihm und selbst in dem Zustand namenloser Angst und Verstörtheit, in dem sie bei ihm eintrat, verleugneten ihre Züge nicht die wunderbare Schönheit. Und dieses zuckende Antlitz, diese großen entsetzten Augen ließen Semeonow die Tiefe eines der Leidenschaft geweihten Lebens erkennen, wie er sie bisher nicht einmal geahnt hatte. Zum ersten Male meldete sich das Mannesherz in seiner Brust und als Lydia mit einem Verzweiflungsschrei ihm die Worte entgegenwarf: »Nikolaus Wladimirowitsch ist im Gefängnis!«, da beruhigte er sie und ein sonderbares, nie gekanntes Gefühl, das beinahe Eifersucht sein konnte, stieg in ihm auf.

»Machen Sie sich keine Sorge,« sprach er schließlich, »ich werde mich sofort der Sache annehmen.«

Und er griff nach dem Telephon, das vor ihm auf dem Tisch stand. Aber Lydia faßte seine Hand und hielt sie zurück.

»Er ist hier nebenan, zwei Schritte, in der Gorokhovaja. Gehen wir hinüber.«

Semeonow blickte sie erstaunt an. Wie mußte sie lieben! Aber er widersprach nicht und ging mit ihr. Im Treppenhaus, ehe sie auf die Straße traten, meinte er noch: »Warten Sie lieber hier, Lydia Sergijewna, ich kann Sie doch nicht in die Gorokhovaja mitnehmen. Ich komme sofort zurück.«

Aber Lydia schüttelte entschieden den Kopf.

»Ich werde auf der Straße warten. Aber kommen Sie nur, jeder Augenblick ist kostbar . . .«

Während sie eilig dahinschritten, sprach Semeonow eindringlich: »Da ich Sie endlich sehe und da Sie doch Einfluß auf Nikolaus Wladimirowitsch haben, muß ich Ihnen sagen, daß Sie ihm einen großen Dienst erweisen könnten. Er ist bedroht, das ist wahr . . . Vielleicht gelingt es mir noch einmal, die Sache zu ordnen, aber, Lydia Sergijewna, er muß sich mit uns verständigen, er muß mit uns zusammen arbeiten. Wir brauchen ihn . . . Bringen Sie ihn doch dazu! Sonst könnte es sein, daß ich nicht immer genügend Einfluß habe, um ihn zu retten . . .«

»Ja, ja,« erwiderte Lydia, die immer einen halben Schritt vor ihm herlief, ohne gehört zu haben, was er sagte. »Sie haben recht . . . Aber beeilen wir uns . . . Später werden Sie mir erklären . . .«

Sie standen vor der Präfektur. Semeonow trat allein ein. Zehn Minuten später kam er wieder zu Lydia heraus, die regungslos und bleich an der gleichen Stelle stand, an der er sie verlassen hatte.

»Die Sache ist erledigt. Aber es sind noch einige Formalitäten zu erfüllen. Ich habe angeordnet, daß man mir ihn ins Generalstabsgebäude bringe. Wenn Sie auf ihn warten wollen, kommen Sie zu mir hinauf: dort ist's warm. Ich kann Sie nicht auf der eisigen Straße lassen.«

Lydia folgte ihm ohne Widerspruch. Sie war müde, sie fror. Seitdem sie Savinsky angehörte, hatte sie noch keine Stunde erlebt, in der sie sich so namenlos elend gefühlt hätte.

Semeonow nahm das Thema wieder auf, das er auf dem Weg zum Gefängnis berührt hatte. Savinsky, meinte er, sei ständig in ernster Gefahr; schon heute sei seine Freilassung nur unter großen Schwierigkeiten möglich gewesen. Und, da er Lydia als glühende Patriotin kannte, entwickelte er mit schwungvoller Beredsamkeit die Pläne für die Vereinigung aller russischen Gebiete unter der roten Fahne und für die Aufhebung der ruchlosen Zerteilung, die die erste Revolution verursacht hatte. Auf diesem Gebiet war er in seinem Element.

Er war hinreißend. Er beschwor die großen Erinnerungen aus der französischen Revolution und wenn Lydia es nicht zu würdigen vermochte, wieviel Geist in der Anspielung auf den jungen unbekannten Bonaparte lag, der seinen Weg im Schatten Robespierres begann, so war es nur, weil sie sich gar keine Mühe dazu gab. Aber, es ist wahr, Lydia hörte kaum zu. – »Daß Savinsky noch immer nicht kommt!« – An nichts anderes vermochte sie zu denken. So lange er nicht wieder frei war, konnte sie keine Ruhe finden. Und ihr Geist war mit viel tiefergehenden Fragen erfüllt, als es die Pläne Semeonows waren. Die Frage Finnlands, ihre Abreise dorthin, die Rückkehr Sonjas, das waren jetzt die Probleme ihres Lebens. Lydia fühlte sich wie erschlagen. Und doch mußte sie auf Semeonows Fragen antworten. Er setzte ihr eben auseinander, daß es auch für sie selbst nötig sei, in einem Amt eine Stelle anzunehmen; niemand würde leben können, ohne für die Sowjets zu arbeiten. Er könnte sie als Sekretärin in den Generalstab nehmen und würde ihr eine interessante Tätigkeit verschaffen.

Sie lächelte schwach.

»Ich danke Ihnen, Leo Borissowitsch, Sie sind sehr liebenswürdig . . .«

Und plötzlich sprang sie auf und stürzte zur Türe. Savinsky war eingetreten.

»Da bist du,« rief sie. »Endlich hab' ich dich wieder!«

Alles, selbst die Anwesenheit Semeonows, der sie sprachlos betrachtete, hatte sie vergessen. Wenige Minuten später zog sie ihren Freund fort, ihm kaum Zeit lassend, Semeonow zu danken. –

 

Wochen vergingen. Noch einmal wurden der Weihnachtsabend und der Neujahrstag in Traurigkeit und Elend begangen. Die Hoffnung auf Erlösung wurde von Tag zu Tag geringer. Jetzt mußte ja der Sommer erst wieder abgewartet werden, ehe man damit rechnen durfte, daß Koltschak und Denikin ihre Offensive in Sibirien und im Süden wieder aufnehmen konnten. Würde sie ihnen gelingen? Nichts war ungewisser und bis dahin mußten die eisigen Wintermonate trotz mangelhafter Ernährung und unzureichender Beheizung überwunden werden. Oft war Lydia jetzt sorgenvoll und sie machte sich wegen ihres Trübsinns Vorwürfe. Nur Freude und Heiterkeit hätte sie ja ihrem Freund mit ihrer Jugend schenken wollen. Denn sie mußte ihn ja für alles entschädigen. War er denn nicht nur ihretwegen hier in Petersburg, von den Seinen getrennt, täglich aufs neue bedroht und in Gefahr? Und doch konnte sie sich nicht entschließen, abzureisen. Und wenn schon sie die Kraft aufbrächte, wie hätte sie ihre zu Haus vergrabene Mutter, ihren bewegungslosen Vater, der den Anstrengungen einer Reise nicht mehr gewachsen war, dazu bringen können? Und würden sie denn Pässe bekommen? Diese Schwierigkeiten erschienen ihr unüberwindlich. Doch das größte Hindernis fand sie immer wieder in sich selbst.

Da trat wieder einmal ein neues Ereignis ein, das die ganze Lage von Grund auf veränderte.

Eines Nachmittags im Januar kam sie zu Savinsky, der eben sein einsames Mahl beendet hatte, das er an einem kleinen, knapp an den Kamin des Wohnzimmers gerückten Tischchen einnahm. Ihr Gesicht war erregt und aus ihren ersten Worten schon erfuhr Savinsky, was sich ereignet hatte.

»Denk dir nur, auch bei uns war heute nacht eine Hausdurchsuchung. Aber, Gottlob, niemand wurde verhaftet. Man suchte nach verborgenen Waffen und nach Schriftstücken . . . Wenigstens war es noch zu einer annehmbaren Stunde, knapp vor Mitternacht, noch niemand war zu Bett . . . Das Komische war nur, daß derselbe Iwanow da war, der damals hier gewesen ist, du erinnerst dich doch, Liebster? Er erkannte mich selbstverständlich, machte aber vor den anderen keinerlei Bemerkung. Erst als wir einen Augenblick allein waren, hat er mich angelächelt und mir gesagt, daß ich noch ebenso schön sei. Denk dir nur . . . Mein armer Papa war wundervoll. Gar kein Schrecken, kaum ein Erstaunen. Es schien, als hätte er längst mit ihrem Kommen gerechnet und sei nur darüber verwundert gewesen, daß es sich so verzögerte. Iwanow entschuldigte sich höflich bei ihm und sie waren kaum zehn Minuten in seinem Zimmer. Mit Mama war's schon anders. Lange dauerte es, bevor sie ihr Zimmer öffnete, – sie hatte sich mit ihrer Zofe eingesperrt – und als wir eintraten, – das errätst du nicht! – hatte sie ihre große Hoftoilette angelegt, mit dem ganzen Familienschmuck, den sie noch hat. Sie zitterte wie Espenlaub, die arme Mama, aber mit unglaublicher Würde sprach sie: ›Meine Herren, ich bin bereit, Ihnen zu folgen. Entschuldigen Sie, daß ich Sie solange warten ließ.‹ Sie wollte kein Wort, das man zu ihr sprach, anhören. Iwanow suchte vergeblich, sie zu beruhigen, ihr zu erklären, daß es sich nur um eine Hausdurchsuchung handle. Sie wiederholte unaufhörlich: ›Ich werde Ihnen zeigen, wie eine wahre Russin zu sterben weiß.‹ Nun, weißt du, zuerst hatte ich Lust zu lachen, dann aber fühlte ich ein solches Mitleid mit ihr, daß mir die Tränen kamen . . . Auf einmal riß sie mich an sich und sagte zu den Kommissaren: ›Ich hoffe, daß die Mutter Ihnen genügen wird; erlauben Sie, daß ich meine Tochter noch einmal küsse.‹ Es war herzzerreißend. Endlich gingen sie hinaus und ließen Mama halb ohnmächtig in den Armen Katjas . . . Und ich mußte sie noch durch alle übrigen Räume führen, in denen man vor Kälte schepperte. Um halb zwei erst gingen sie fort und hatten natürlich nicht das Geringste gefunden, außer einem alten Säbel von Papa, den sie gar nicht mitnahmen. – Die Soldaten aber haben diesmal einiges gestohlen.«

Lydia stockte plötzlich, als hätte sie noch etwas zu sagen, wovor sie aber zurückschrecke. Savinsky, der sie nicht aus den Augen ließ, sah, daß sie mit einem Male nachdenklich wurde; ihre Stirn zog sich zusammen, ihre Augen wichen seinem Blick aus. Sie kam zu ihm heran, legte ihren Kopf auf seine Schulter und blieb lange stumm.

»Wie geht es deinen Eltern heute?« frug er endlich.

Lydia richtete sich plötzlich auf.

»Ich will dir alles sagen . . .,« fing sie entschlossen an. »Papa ist wohl, was eigentlich verwunderlich ist. Schon lange ist es ihm nicht so gut gegangen. Heute morgen machte er ganz allein, nur auf seine Stöcke gestützt, einige Schritte in seinem Zimmer und pfiff sein altes Lieblingslied, das ich seit der Revolution nicht mehr von ihm hörte . . . Aber die arme Mama ist ganz verstört . . . Es ist ein wahres Drama . . . Denk dir, sie hat sich gar nicht wieder niedergelegt. Nein, nur einen Gedanken hat sie: fort aus Rußland. Sogar noch in der Nacht hat sie einzupacken begonnen. Den ganzen Vormittag hat sie mit Katja gepackt. Und fort und fort wiederholte sie: ›Nicht einen Tag bleib' ich mehr in einem Land, in dem man Frauen so behandelt . . .‹ Ich weiß nicht, aber ich glaube fast daß sie ein wenig den Kopf verloren hat. Heute früh wollte sie unbedingt den General Wasiljew auf den Finnländer Bahnhof schicken, um Plätze für Stockholm zu reservieren. Sie dachte, daß man noch wie früher Fahrkarten ins Ausland bekomme. Schließlich mußte der arme General wirklich zur Bahn gehen und als er dann natürlich mit leeren Händen zurückkam, machte sie ihm eine schreckliche Szene, warf ihm vor, daß es nur seine Schuld sei, daß man ihn zu nichts mehr brauchen könne und schließlich erklärte sie, daß nur du allein ihr alles richten könntest, kurz, sie will dich sehen. Sie hat mich zu dir geschickt, sie erwartet dich.«

Wieder entstand ein langes Schweigen. Lydia blieb an Savinsky geschmiegt, als wagte sie nicht, ihn anzusehen. Er hörte das stürmische Klopfen ihres Herzens. Fragen mußte er sie nicht, er wußte, woran sie dachte, warum sie litt. Er streichelte sie zart und mit leiser Stimme beruhigte er sie.

»Wo wir auch sein werden, wir bleiben zusammen, meine kleine Lydia . . . Sei ruhig, ich bitte dich.«

»Ich fühle, daß ich dich verlieren werde!« schluchzte Lydia.

Und verzweifelt klammerte sie sich an ihn.

 

Nun mußte die Abreise vorbereitet werden und vor allem waren die Pässe zu besorgen. Lydia hatte erklärt, daß sie Rußland nicht eher verlassen werde, bevor nicht Nikolaus seinen Paß in Ordnung habe. Unter seinem eigenen Namen die Ausreisebewilligung zu erlangen, war natürlich ausgeschlossen. Zum Glück besaß er noch den von Spaßki zugesandten Paß für Iwan Illitsch Petrof, Leinenhändler. Sollte er versuchen, unter diesem Namen das benachbarte Estland zu erreichen? In Reval hielten sich gerade zu dieser Zeit ausländische Einkäufer für Leinen auf, es war nicht unmöglich, daß dieser Vorwand genügen würde. Oder wäre es besser, auf Schleichwegen nach Finnland zu entkommen? Es gab schon ganze Schmugglerzentralen, die einen für zwanzigtausend Rubel über die Grenze brachten. Lydia war sehr gegen diesen Weg, den sie für gefährlicher hielt, während Savinsky meinte, daß er sicherer wäre. Sie wollte indes, daß er diesen Ausweg nur als allerletzten wähle, wenn er kein Visum bekommen könne. So leitete er zunächst alle Schritte ein, um für den Paß Petrofs die Ausreisebewilligung zu erhalten.

Lydia indes hoffte von Semeonow für sich und die Ihren die nötige Bewilligung zu erhalten, um nach Finnland reisen zu können. Der alte Fürst hätte, obwohl die Besserung in seinem Befinden andauerte, eine längere Reise nicht ertragen. Die Fürstin befand sich in größter Unruhe. Die Koffer standen gepackt und verschlossen umher, sie selbst legte ihr Reisekostüm nicht mehr ab. Ihre Beziehungen zu dem alten Wasiljew hatten plötzlich eine vollständige Wandlung erfahren; sie behandelte ihn als einen vollkommen nutzlosen Menschen, als ein ganz überflüssiges Ding, das man nur gerade noch um sich duldet. Sie verzieh es ihm nicht, daß er damals die Fahrkarten nicht gebracht hatte und beachtete ihn kaum. Fürst Sergius übte täglich ein paar Schritte in seinem Zimmer und pfiff kriegerische Weisen dazu. Er war um das Schicksal Savinskys sehr besorgt; Lydia beruhigte ihn, ohne ihm Einzelheiten zu verraten, durch die Mitteilung, daß Savinsky zwei Tage nach ihnen in Helsingfors eintreffen werde.

Lydia ging endlich zu Semeonow, da bei den Paßstellen die Erteilung von Reisebewilligungen eingestellt war.

Er hörte ihre Wünsche mit entgegenkommendster Liebenswürdigkeit an und erhob keinerlei Schwierigkeiten betreffs des Fürsten und seiner Gattin. Er versprach, sich beim Kommissar für auswärtige Angelegenheiten zu verwenden. Das beklagenswerte Leiden des alten Herrn rechtfertige zweifellos eine Kur im Ausland. Ein Arzt werde ihn untersuchen und sein Urteil abgeben, aber das sei bloß eine Formalität, die Sache könne schon jetzt als bewilligt betrachtet werden.

Semeonow war zu ihr von vollendeter Ritterlichkeit. Es wurde ihr schwer, in seiner Gegenwart nicht zu vergessen, daß er einer der Führer dieser schrecklichen bolschewistischen Partei sei, die ganz Rußland in angstvoller Spannung hielt und der Menschenleben so wenig bedeuteten. Er war elegant, gepflegt, äußerlich ein Weltmann aus der guten alten Zeit. Konnte wirklich diese schmale weiße Hand so viele Todesurteile unterzeichnet haben? Er hatte doch Savinsky gerettet . . . Aber hatte er ihn nicht auch verhaften lassen? Wie rätselhaft, wie undurchdringlich war doch dieser Mensch!

Indessen sagte er ihr Liebenswürdigkeiten und Schmeicheleien, in der offensichtlichen Absicht, einen angenehmen Eindruck auf sie zu machen.

»Ich begreife,« sprach er schließlich, »daß Ihre Eltern Petersburg verlassen wollen und ich werde alles tun, um ihnen di« Abreise zu erleichtern. Aber Sie, Lydia Sergijewna, warum wollen Sie fort? Wenn Sie bloß ein alltägliches junges Mädchen wären, würde ich es noch verstehen, daß Sie eine Stadt verlassen, in der die Ordnung noch nicht vollkommen ist, in der man hungert und friert. Aber Sie stehen doch hoch über all diesen kleinlichen Klagen. Ich weiß, daß Sie mutig sind, man erschreckt Sie nicht so bald . . . Sollten Sie denn das wunderbare Gefühl, heute in Rußland zu leben, nicht begreifen können? Niemals war ein Land der Gegenstand eines großartigeren Versuches, als der, den wir unternehmen. Die ganze Welt blickt auf uns. Unser Fieber hat die Grenze Rußlands überschritten, hat Europa angesteckt und geht übers Meer. Eine neue Menschheit wird aus dieser Krankheit auferstehen. Und hier, in Rußland, wird sie ihre ersten Schritte tun . . . Rußland wird sie der Welt zum Geschenk machen. Niemals haben wir Schöneres, Höheres geschaffen! Denken Sie doch an unsere großen Männer, an unsere Panslavisten, an Dostojevsky, den Sie so lieben. Alle fühlten es schon lange, daß Rußland dazu auserwählt sei, die neue Formel zu finden, die die Welt ersehnt. Nun, Lydia Sergijewna, wir sind es, die diese neue Formel bringen und jetzt, da das neue Rußland seine ersten Worte lallt, jetzt wollen Sie es verlassen, um in der Fremde ein leichtes, müßiges Leben zu führen, nur um den Unbequemlichkeiten des heutigen Petersburg auszuweichen? . . . Lydia, Lydia, verzeihen Sie meine Offenheit, aber das ist Ihrer nicht würdig!«

Er hatte Lydia damit gerade an ihrer empfindlichsten Stelle getroffen, denn es verging ja kein Tag, an dem sie nicht selbst es beklagte, Rußland verlassen zu müssen und die neuen Argumente, die ihr Semeonow brachte, fanden ihr vollstes Verständnis. So folgte sie ihm auch willig auf das Gebiet, das er ihr wies und eine lebhafte Unterhaltung kam in Gang, an der Semeonow die größte Freude hatte.

Schließlich aber kam Lydia doch auf ihre Reisepläne zurück.

»Mein Vater ist seinem Ende nahe. Er liebt nichts außer mir, ich kann ihn nicht verlassen. Aber glauben Sie mir, Leo Borissowitsch, ich werde in Helsingfors sehr unglücklich sein. – Zunächst schon hasse ich die Finnländer . . .«

»Bravo!« rief Semeonow entzückt. »So spricht eine echte Russin! Sie werden sehen, Lydia Sergijewna, was wir mit unserer Armee zustande bringen! Aber wenn Sie fort gehen . . .« Er unterbrach sich, zögerte, blickte Lydia gerade an, und fügte hinzu: »Werden Sie wirklich die Kraft haben, uns zu verlassen?«

Und ohne ihr Zeit zur Antwort zu lassen, frug er unvermittelt: »Was sagt übrigens unser Freund Nikolaus Wladimirowitsch zu all dem? Sie wissen doch, ihn lassen wir unter keinen Umständen weg.«

Lydia, durch diesen unerwarteten Angriff überrascht, errötete. Dieser Semeonow war doch ein gefährlicher Mensch, sie hatte ihn vom ersten Tage an richtig beurteilt . . . Wie gerne hätte sie ihm, der glaubte, er könne ihr gefallen, ihre wahre Meinung ins Gesicht geschrien. Sie biß sich auf die Lippe und begnügte sich mit den abweisenden Worten: »Das müssen Sie ihn selbst fragen, Leo Borissowitsch.«

Eine Woche später waren die Pässe der Volynskis in Ordnung, sogar Katja war nicht vergessen worden.

Savinsky arbeitete indessen daran, das Visum für Iwan Illitsch Petrof zu bekommen. Das Geld spielte bei den Ämtern noch immer eine wirksame Rolle und endlich konnte Savinsky den schön ausgefertigten Paß mit allen Stempeln und Klauseln Lydia zeigen. Aus Furcht vor einer neuen Hausdurchsuchung behielt Savinsky den Paß nicht bei sich in der Wohnung, sondern er verbarg ihn in einem Zimmer der Fontanka.

Die Volynskis sollten mit dem Frühzug nach Finnland abreisen, er aber am gleichen Abend nach Reval. Von dort nach Helsingfors zu gelangen war eine Leichtigkeit.

Seit vierzehn Tagen schon ließ er seinen Bart wachsen und eine dunkle Brille hatte er auch gekauft, um nicht erkannt zu werden, falls er auf dem Bahnhof oder im Zug Bekannte treffen sollte.

Am Tage vor ihrer Abreise war Lydia sehr überrascht, von Semeonow ans Telephon gerufen zu werden. Er wünschte ihr eine gute Reise und eine baldige Rückkehr. Es waren Weisungen an die Grenzbehörden gegeben worden, ihnen alle Formalitäten zu erleichtern; außerdem würde Semeonow, um dem alten Fürsten die Beschwerden einer Schlittenfahrt zu ersparen, sein eigenes Auto schicken, das ihn zur Bahn bringen werde. Er schloß mit den Worten: »Ich habe alle Maßnahmen getroffen, um sicher zu sein, daß Sie bald zurückkehren.«

Was sollten diese rätselhaften Worte wohl bedeuten?

Das junge Mädchen fühlte sich sehr beunruhigt. Semeonow erschien ihr wie ein mit teuflischen Kräften ausgestattetes Wesen. Wie weit mochten seine finsteren Machenschaften wohl reichen?

Den letzten Nachmittag verbrachte sie bei Savinsky. Sie erzählte ihm nichts von den Abschiedsworten Semeonows. Wozu sollte sie ihn beunruhigen? Sie dachte auch nur an die Abreise am nächsten Morgen, die sie zumindest auf drei oder vier Tage von ihrem Freund trennen würde. Mit dem Gedanken, ihn allein, selbst nur für wenige Stunden in Petersburg zurückzulassen, konnte sie sich nicht abfinden; sie ließ sich von ihm versprechen, daß er sich tagsüber nicht auf der Straße zeigen werde. Nachmittags sollte er in seiner zweiten Wohnung in der Fontanka bleiben und von dort, erst als es dunkel würde, zum Baltischen Bahnhof gehen. Im Zug dürfe er mit niemand sprechen und gleich nach seiner Ankunft in Reval müsse er ihr ins Hotel Kemp nach Helsingfors telegraphieren. Diese genauen Einzelheiten, die sie ihm einschärfte, ließen ihre Unruhe wieder lebhaft aufleben. Sie versuchte sie vor ihm zu verbergen, aber es gelang ihr nur schlecht. Und Savinsky selbst beschlich eine herzbeklemmende Ahnung, daß er seine schöne, junge Freundin zum letzten Male in den Armen hielt. Die düstersten Befürchtungen wuchsen in beiden. Schließlich wurde die Stimmung in dem kleinen Zimmer so drückend, daß sie fast erleichtert aufatmeten, als für Lydia die Zeit gekommen war, nach Hause zurückzukehren. Savinsky begleitete sie bis in ihr Zimmer. Hier nahmen sie Abschied.

Als er zu seiner Wohnung zurückkehrte, war es ihm, als ob zwei Männer in Zivil ihm folgten. Er blieb an der Ecke der Millionnaja stehen, um eine Zigarette anzuzünden. Die Zwei gingen an ihm vorbei und schienen ihn nicht zu beachten. Aber als er sein Haustor öffnete, glaubte er die gleichen Männer auf dem gegenüberliegenden Fußsteig zu bemerken.

Am nächsten Tag verließ er erst um zwei Uhr seine Wohnung. Er gebrauchte die Vorsicht, über die Dienertreppe zu gehen und den Hof zu durchqueren, so daß er auf dem Marsfeld herauskam. Es waren viele Leute auf der Straße, die dem Kanal entlang führt, aber er bemerkte niemand Verdächtigen und erreichte ohne Zwischenfall die Wohnung in der Fontanka.

Er eilte ans Fenster und beobachtete hinter den Vorhängen verborgen, den Quai. Einige Schiffer standen, auf Kunden wartend, an das Geländer gelehnt, hinter dem die holzbeladenen Barken schaukelten. Der Himmel war klar und die Sonne sandte ihre schrägen Strahlen herüber. Das friedliche Winterbild, das er vor Augen hatte, beruhigte ihn nur wenig. Seitdem Lydia von ihm fort war, wollte die Furcht vor einer Verhaftung, eine lächerliche, unbegründete, aber nicht abzuschüttelnde Furcht nicht von ihm weichen; jeden Augenblick sah er auf die Uhr. Noch fünfzehn Stunden, noch zwölf, noch zehn Stunden bis zur Grenze! Und mit jeder Minute, die verrann, schien ihm die Zeit, die er noch vor sich hatte, ins Unendliche anzuwachsen. Er hatte keine Gedanken mehr. Sein leeres Gehirn schien ganz damit erfüllt, die Sekunden zu zählen. Gegen fünf Uhr nahm er einen Schluck Tee und ein paar Brötchen zu sich. Um sechs Uhr, als es schon vollkommen finster war, verließ er endlich das Haus. Die kalte Luft tat ihm wohl, seine Nerven beruhigten sich. Er ging mit raschen Schritten bis zum Newski-Prospekt, nahm dort einen Schlitten und ließ sich bis in die Nähe des Baltischen Bahnhofs bringen. Er hatte bloß eine kleine Handtasche bei sich.

Eine dichtgedrängte Menge belagerte das Holzgitter, dessen Eingangstüre durch zwei Soldaten bewacht wurde. Man mußte einen Erlaubnisschein besitzen, um den Bahnhof betreten zu dürfen. Savinsky hatte sich damit versehen und wies ihn vor. Im Bahnhof selbst war das Gedränge weniger stark. Der Zug nach Reval stand schon bereit. Savinsky schritt auf einen Wagen zweiter Klasse zu.

Eben, als er den Fuß auf das Trittbrett setzte, hörte er hinter sich eine Stimme: »Nikolaus Wladimirowitsch . . .«

Instinktiv drehte er sich um.

Ein Herr in Zivil mit einem kurzen, blonden Bart stand hinter ihm.

»Begleiten Sie mich aufs Bahnhofskommissariat, Nikolaus Wladimirowitsch.«

Savinsky folgte ihm, ohne jeden Versuch des Widerspruchs.

Nach all den vielen Stunden voll Angst, die hinter ihm lagen, fühlte er jetzt eine seltsame Entspannung, eine Ruhe, die ihn fast erlösend überkam. Das Schicksal hatte eingegriffen . . .

Eine Stunde später war er in der Gorokhovaja eingeliefert. Sein Aufnahmeprotokoll besagte: »Unterstützte von Petersburg aus alle Aufstandsbewegungen gegen die Republik der Sowjets, stand mit Spaßki in Verbindung, wurde am 1. März auf dem Baltischen Bahnhof, bei dem Versuch, mit einem falschen Paß die Grenze zu erreichen, verhaftet.«

 

Ein grauer Oktobertag lag über der alten Stadt Pskow. Ein leicht bedeckter, nebeliger Himmel, den stellenweise die Sonne fast durchbrach, wölbte sich über den mittelalterlichen Wällen und über der altertümlichen Kirche mit den fünf goldenen Kuppeln, die den Kreml überragt. In den engen Straßen der Stadt hatte in den letzten Tagen eine gewaltige Bewegung geherrscht. Trupps von versprengten Soldaten der weißen Armee Judenitsch, die im Süden operiert hatte, durchzogen sie in drängender Unordnung, während die Hauptmacht, die schon bis vor die Tore Petersburgs gelangt war, noch entlang dem finnischen Meerbusen in der Richtung auf Narwa in heftige Rückzugskämpfe verwickelt war. Tag und Nacht war das verstörte Pskow vom Knarren und Dröhnen der über das holperige Pflaster rumpelnden Karren des Armeetrains erfüllt. Überladen mit Proviant und Material, mit Flüchtenden und Verwundeten ächzten sie die Sergijewskaja entlang. Die mageren, kleinen Pferde waren bis zum herabhängenden Kopf mit einer Kotkruste bedeckt, denn die Herbstregen hatten das ganze Land in einen Morast verwandelt. Peitschenknallen und Flüche, Kommandos und Schreie hatten die Tage gestört und die Nächte zu einem wüsten, nervenerschütternden Angsttraum gemacht. Und über allem ruhelos quälend, peinigend, zermürbend, das Dröhnen und Knarren, Ächzen und Dröhnen . . .

Und dann die Stille. Die beängstigende Stille. Nur noch einige müde, hinkende Nachzügler, Soldaten, schmutzig, abgezehrt, vornüber geneigt, ohne Waffen, zerlumpt und zerfetzt schlichen gegen Norden.

In der Stadt selbst war nur noch eine kleine Abteilung vom roten Kreuz zurückgeblieben und auch die war schon marschbereit. Sie war in dem gleichen geräumigen Holzhaus am äußersten Nordrande der Stadt untergebracht, das während des Weltkrieges General Rußki, der die Nordarmee gegen die Deutschen befehligte, Quartier geboten hatte. Die gelbe, angeschwollene Vilejka strömt hart vorbei. Die Verwundeten, die hier in Pflege gewesen waren, hatte man schon vor zwei Tagen evakuiert. Jetzt lag nur noch ein junger Artillerist da, der hoffnungslos an Typhus erkrankt war. Der Stabsarzt hatte ihn diesen Morgen besucht und gemeint, daß er die Reise nicht überstehen würde. »Er kann's kaum noch vierundzwanzig Stunden machen,« war sein Urteil. »Die Hausmagd soll sich um ihn bekümmern.« Und sein Pferd besteigend wünschte er der Oberin, Fürstin Lisa Barbarin, eine glückliche Reise, da sie ihm mit der einzigen Pflegeschwester, die bei ihr geblieben war, und einem jungen Studenten der Medizin, der gebeten hatte, die beiden Frauen begleiten zu dürfen, einige Stunden später folgen sollte.

Dieser Mediziner, Anton Antonowitsch Lonkowski, kaum zwanzig Jahre alt, war ein reizender, fröhlicher Junge, der aller Welt gefällig und von allen geliebt war. Zur Teestunde rezitierte er den Schwestern Verse von Lermontow, oder er trällerte Romanzen, zu denen er sich auf der Balalejka begleitete.

Jetzt ging er im Zimmer, in dem ein bescheidener Imbiß aufgetragen war, und der Samowar zu summen begann, auf und ab und plauderte dabei mit der Fürstin, die an einem zum Fenster gerückten Tisch ihre Abrechnungen beendete. Sie war schon über fünfzig, derb, häßlich und unweiblich. Aber man vergaß all dies, sobald man ihre Augen sah, aus denen nur Güte und Liebe strahlten, eine vollkommene Selbstverleugnung und ein Aufopfern für die Leiden der anderen. Ihr Gatte, General der Donarmee, war ein Jahr vorher in ihrer Gegenwart von den Bolschewiki in den Straßen von Nowo-Tscherkask ermordet worden; sie selbst war dann in die Krim geflohen, nach Konstantinopel und Frankreich gereist, aber lange hatte sie es dort nicht ausgehalten. Sie kehrte nach Finnland zurück und trat trotz ihres Alters dem roten Kreuz bei, das die Expedition der Korps Judenitsch begleitete.

»Nun also,« sagte Lonkowski, »jetzt ist alles bereit, Lisa Iwanowna, in einer halben Stunde wird unser Wagen vorfahren. Sie werden über die drei Rösser staunen, die ich aufgetrieben habe. Prachtvolle Tiere! Wie schnell auch die roten Teufel vorwärtskommen, vor morgen Mittag können sie nicht hier sein. Wir sind dann schon lange in Sicherheit. Ich habe schon alles für uns eingepackt. Tee, Zucker, Brot, Eier, zwei kalte Hühner und einen Tiegel Marmelade, den mir ein englischer Offizier verehrt hat. Aber wo ist Lydia Sergijewna?«

»Sie ist noch in unserem Zimmer.«

Der Student blieb vor der alten Dame stehen, die indes den Blick nicht von ihren Papieren hob. Da er aber den unbezähmbaren Wunsch hatte, von Lydia Sergijewna zu sprechen, bildete dies kein Hindernis für ihn, und er begann von neuem.

»Welch wundervolles Mädchen! Immer bei ihrem Dienst. Nichts wird ihr zuviel. Es wird wenige Krankenschwestern geben, die die Arbeiten, denen sie sich unterzieht, ausführen wollten . . . Aber wie ernst sie ist! Mir ist es noch nie gelungen, sie zum Lachen zu bringen. Und was ich für Unsinn vorbrachte! Das höchste, das ich erzielte, war ein Lächeln . . . Ach, wenn wir viele solche Frauen hätten, dann wäre Rußland bald wieder das erste Land der Welt.«

Jetzt hob die Fürstin ihren Kopf und blickte Lonkowski, dessen Begeisterung sie ansteckte, an.

In diesem Augenblick öffnete sich die Türe und der mit einem weißen Tuch umwundene Kopf der Magd erschien, die Lonkowski bat, zu dem Kranken zu kommen, der in Fieberphantasien lag. Der Mediziner folgte ihr sofort.

Die Fürstin blieb allein und ihre Blicke schweiften sinnend durch das Fenster auf die Vilejka, die träge dahinfloß. Aber ihre Gedanken blieben bei ihr, deren Name eben gefallen war. Vom ersten Tage, da sie Lydia kennen gelernt hatte, war eine zärtliche Liebe zu dem Mädchen in ihr erwacht. In der qualvollen Herzensnot, in der Lydia lebte, hatte sie der gütigen Freundin nichts verschwiegen: Savinsky am Abend ihrer Abreise verhaftet, seit acht Monaten im Gefängnis. Wenig hatten sie von ihm gehört, fast nur durch Gefangene, die entlassen worden waren. Er klagte nicht, er schien ziemlich wohl zu sein. Vor das Revolutionsgericht war er immer noch nicht gestellt worden. Aus allen seinen Nachrichten, die fast nie schriftlich waren, erkannte ihr erfahrener Blick hauptsächlich das eine, daß er Lydia nicht beunruhigen wollte. Das junge Mädchen aber hatte sich immer wieder zu Hoffnungen verleiten lassen und zweifelte nicht daran, daß Semeonow, der durch die Gunst Trotzkis zu immer größerem Einfluß gelangt war, ihren Freund beschütze. Es mußte doch noch ein Rest von menschlichem Empfinden in diesem seelenlosen Automat geblieben sein, das ihn abhielt, einen Mann hinrichten zu lassen, mit dem ihn einst freundschaftliche Bande verknüpft hatten. Savinskys Leben lag nur in seiner Hand. Deswegen verfolgte Lydia auch fieberhaft das wechselnde Spiel der Petersburger Intriguen, und mit heißen Wünschen erhoffte sie Trotzkis Verbleiben. Vor ihr lag nur ein Ziel, dem sie zustrebte: Nach Petersburg zurückkehren!

Ihr Vater hatte sich diesem scheinbar wahnsinnigen Gedanken bis zu seinem Tode, der ihn zu Ende des Sommers in der Nähe Helsingfors ereilte, niemals ernstlich widersetzt. Alle Bemühungen Lydias, von den Behörden endlich doch die Erlaubnis zur Rückkehr nach Petersburg zu erhalten, verfolgte er mit fieberhafter Ungeduld – Bemühungen, von denen Lydia nicht ahnte, daß sie so lange vergeblich bleiben mußten, bis Savinsky endlich den Wünschen Semeonows gefügig geworden wäre. – Daß er seine Tochter unglücklich sah, das untergrub des alten Fürsten letzte Kräfte.

Die Oberin seufzte. Das abgezehrte, leidende Gesicht des hageren Greises hatte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis gegraben. Damals, als Lydia mit ihr nach Reval reisen wollte, hatte er sie zu sich gebeten und ihr in mühsam hervorgewürgten Worten sein Kind anvertraut. Nie würde sie den trostlos trauervollen Blick seiner Augen vergessen. –

Und welche Schicksale hatten sie seit ihrem Aufbruch von Helsingfors durchlebt.

Anfangs, das Vordringen der Armee Judenitsch mit wehenden Fahnen und begeisterter Zuversicht bis in die Vororte Petersburgs. Damals war Lydia wie umgewandelt. In rastloser Unruhe schien sie einherzuschweben wie eine flatternde Möwe, die dem Schiffe voraus dem Lande zustrebt. Eine heiße Glut hatte aus ihren wundervollen Augen geleuchtet.

Dann aber kamen die bösen Zeiten. Niederlagen und Rückzug und schlimme Gerüchte von Massenhinrichtungen in Petersburg . . . Lydia wurde verschlossen und hielt sich abseits. Sie sprach kaum mehr, sie lachte nie. Aber auch keine Klage kam über ihre Lippen. Sie blieb in sich versunken, als grüble sie einem einzigen, schweren Gedanken nach, als kämpfe sie mit einem verzweiflungsvollen Entschluß. Wo würde diese glühende Seele hintreiben?

Lisa Iwanowna wagte es nicht, sich diese Frage zu beantworten. Sie erhob sich seufzend. Heute sollten sie ja wieder weiter! Pskow verlassen und nach Estland zurück! Lange noch würden die roten Wimpel auf dem Winterpalais in Petersburg und dem Kreml in Moskau flattern! –

Lonkowski kam wieder herein. Seine strahlende Heiterkeit, mit der er sich auf die gemeinsame Reise mit Lydia Sergijewna freute, war der Fürstin, deren Herz mit Lydia blutete, unerträglich.

»Wir müssen essen,« mahnte er, »der Wagen wird gleich da sein.«

Geräuschlos öffnete sich die Tür, Lydia glitt herein und nahm schweigsam bei Tisch Platz.

Sie trug die schwarze Tracht der barmherzigen Schwestern. Ihre blonden Haare waren nach altrussischer Sitte in zwei Flechten über die Stirn geschlungen, und ihr abgemagertes Gesicht erschien in der Schwesternhaube noch schmäler und kindlicher. Einige widerspenstige Locken aber sprengten die strengen Fesseln und leuchteten goldig funkelnd aus dem dunklen Rahmen, als wollten sie bezeugen, daß stärker als aller Wille – Macht und Drang der Jugend seien! In ihrem bleichen Antlitz standen, fast dunkel, die großen Augen. Ihr Blick war nach innen gekehrt und ließ nichts von ihren Gedanken erraten.

Sogar Lonkowski fiel es auf, daß sie noch versunkener, erstarrter schien als sonst, obgleich er kein aufmerksamer Beobachter war, denn in dem großen Rausch der Liebe, der ihn fern von aller Wirklichkeit entführte, konnte er wohl nicht die Kaltblütigkeit aufbringen, Lydia zu studieren. Mit jener Schwärmerei, die ihn in Gegenwart Lydias oft überkam, rief er aus:

»Was für Augen haben Sie doch seit einiger Zeit, Lydia Sergijewna! Wie Gebirgsseen, so grundlos, tief und klar. Die Ufer spiegeln sich darin, Bäume und Felsen, Schnee und der Himmel – aber von dem, was auf Ihrem Grunde ruht, lassen Sie nichts erkennen . . .«

Lydia lächelte schwach, aber sie erwiderte nichts.

Wortlos hielten sie ihr Mahl, bis der Student das Schweigen nicht mehr aushielt und von seinen Wegen durch die Stadt, die er vormittags gemacht hatte, zu erzählen begann.

»Man sieht keinen einzigen besser gekleideten Menschen mehr. Wohin mögen sich diese Unglücklichen nur versteckt haben? Selbst die armen Leute haben Furcht; ich habe mit einigen Frauen gesprochen. ›Was können sie uns wegnehmen? Wir besitzen ja nichts!‹, sagen sie, aber sie fürchten sich vor den Repressalien der Roten, vor Verschleppungen und Hinrichtungen. Es ist wie ein Angsttraum, glauben Sie mir . . .«

Die Fürstin Barbarin, die nur Lydia ängstlich im Auge behielt, erschauerte.

»Ich bitte Sie, Anton Antonowitsch, sprechen Sie nicht von diesen Greueln.«

Lonkowski verstummte, überrascht durch den Klang ihrer Stimme. Eine Weile später begann er wieder und wandte sich mit seinen Worten hauptsächlich an die junge Pflegerin.

»Der Bürgerkrieg ist das Schrecklichste . . . Und ich kenne nur ihn. Russische Soldaten sind es, die gestern hier abzogen und russische Soldaten werden morgen hier einmarschieren . . . Und diese unglückliche Bevölkerung hier, die nicht weiß, warum sie leiden muß! Wozu das alles? Welch blutiger Wahnsinn ist über dieses Land gekommen . . . Erinnern Sie sich der Klage des Bettlers aus Boris Godunow: ›Oh gramvolle Tage, unselige Zeit! Strömt aus eure Klage von Hunger und Leid . . .!‹? Und was wird aus uns? – Emigranten! Sind denn wir dazu geschaffen, in der Fremde zu leben? Ach, Lydia Sergijewna, gar oft frage ich mich, warum ich denn nicht in Moskau blieb. Vielleicht müßte ich Schnee auf den Straßen schaufeln, aber es wären doch wenigstens russische Straßen, Straßen, in denen ich jedes Haus kenne . . .«

Die Fürstin verfolgte mit mütterlicher Sorge den Eindruck dieser Worte auf dem Gesicht ihrer jungen Freundin. Erst sah sie, wie Lydia erbleichte, dann aber spiegelte sich zu ihrer Überraschung der Ausdruck eines tiefen Friedens in den Zügen des Mädchens. Alles Leid schien von Lydia abgestreift. Die Oberin selbst fühlte beim Anblick dieser starren Ruhe in dem rührend schönen Antlitz ein Erbeben. Sie konnte dieses Schweigen Lydias und den Ausdruck ihrer unergründlichen Augen nicht länger ertragen . . .

Hastig wandte sie sich an Lonkowski:

»Bitte, sehen Sie doch nach, Anton Antonowitsch, ob der Wagen bereit ist.«

Als hätte Lydia die Gedanken der Fürstin erraten, erhob sie sich. Kaum hatte der junge Mann das Zimmer verlassen, setzte sie sich neben ihre Beschützerin, schlang den Arm um ihren Hals und lehnte zärtlich den Kopf an ihre Schulter. Die Fürstin hauchte einen Kuß in ihr Haar. Und Lydia begann leise zu reden.

»Ich muß mit Ihnen sprechen, Lisa Iwanowna. Ich hätte es schon früher tun sollen . . . Aber ich werde Sie betrüben, ich weiß es, und deshalb zögerte ich so lange . . . Doch jetzt ist der letzte Augenblick, jetzt muß es sein . . . Sie haben es ja vielleicht schon erraten, was ich Ihnen sagen will . . . Mir scheint es fast . . . Ich fahre nicht mit Ihnen, ich – bleibe hier.«

Die Fürstin fuhr erschreckt auf.

Aber Lydia legte ihr zart die Hand auf die Lippen und flüsterte weich:

»Ach, ich weiß das ja alles . . . Sagen Sie nichts . . . Aber auch bei den Roten gibt es doch menschliches Fühlen . . . Und es bleibt mir ja keine andere Wahl. Ich muß ja . . . Es ist die letzte Möglichkeit, nach Petersburg zu kommen . . .

Sie wandte den Blick ihrer reinen Augen auf die gefurchten Züge der selbst durch vieles Leid geprüften Oberin. Diese blickte sie lange schweigend an. Sie schien auf dem Grund ihrer Seele zu lesen und erkannte die Überzeugung, nicht anders handeln zu können, wie eine stetig lohende Flamme, die nichts zu verlöschen vermag.

Da nahm sie dieses liebliche, mutige Köpfchen in ihre Hände, küßte dreimal die zarte Stirne, machte betend ein großes Zeichen des Kreuzes und sprach einfach:

»Der gütige Gott wird dich beschirmen, mein Kind.« –

Eine Viertelstunde später zogen drei Pferde den Wagen aus Pskow, in dem aufrecht unter ihren Schleiern die alte Fürstin saß, und ein junger Student seine Tränen nicht zu verbergen suchte . . .

 


 


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